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Saskia Luka

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Beschreibung

Drei starke, eigensinnige Frauen leben plötzlich unter einem Dach: Maria, die vor Kurzem ihren Mann verloren hat, ihre siebzehnjährige Tochter Anna, die nach ihren Wurzeln forscht, und Marias Mutter Lucia – ohne es so recht zu wollen, wurde sie von Maria aus ihrem kleinen Dorf in Kroatien nach Bayern umgesiedelt. Für alle Beteiligten ist diese Konstellation Herausforderung genug. Doch Maria lässt zudem eine grundlegende Frage nicht los: Wenn einem mit dem Tod der großen Liebe die einzige Heimat genommen wurde, wo fängt man an, nach einer neuen zu suchen? Eine berührende Liebeserklärung an das Leben mit seinen vielen Unwägbarkeiten und plötzlichen Abschieden.

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INHALT

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ÜBER DIE AUTORIN

Saskia Luka wurde 1980 in Köln geboren. Nach ihrem Studium der Germanistik in Bonn arbeitete sie in Berlin im Bereich Presse und Öffentlichkeitsarbeit und als freie Texterin. Saskia Luka ist verheiratet und hat zwei Kinder. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Berlin und auf der dalmatinischen Insel Brač.

ÜBER DAS BUCH

Drei starke, eigensinnige Frauen leben plötzlich unter einem Dach: Maria, die vor Kurzem ihren Mann verloren hat, ihre siebzehnjährige Tochter Anna, die nach ihren Wurzeln forscht, und Marias Mutter Lucia – ohne es so recht zu wollen, wurde sie von Maria aus ihrem kleinen Dorf in Kroatien nach Bayern umgesiedelt. Für alle Beteiligten ist diese Konstellation Herausforderung genug. Doch Maria lässt zudem eine grundlegende Frage nicht los: Wenn einem mit dem Tod der großen Liebe die einzige Heimat genommen wurde, wo fängt man an, nach einer neuen zu suchen?

Eine berührende Liebeserklärung an das Leben mit seinen vielen Unwägbarkeiten und plötzlichen Abschieden.

 

Für Ivan, den Mutigen

FRÜHLING

1

Sie blieben nicht lange und es gab nicht viel Zeit für Erinnerungen. Nachdem Maria die Sachen ihrer Mutter in zwei Koffern verstaut und diese vor die Tür getragen hatte, führte sie Lucia an der Hand hinaus. Sie verschloss die Tür des Steinhauses mit dem absurd schweren, verzierten Schlüssel, der auch in eine Schlosstür oder zu einem geheimen Verlies gepasst hätte. Maria stopfte ihn in ihre Handtasche, fischte nach ihrer Dose mit den Zigarillos und dem Feuerzeug und steckte sich eins an. Während sie tief inhalierte, blickte sie in Richtung der Felder, dorthin, wo das Geröll zur Straße wurde. Sie schaute den Weg entlang und zu den Bergen am Horizont, erinnerte die Weite und speicherte die Farben ab, unendliche Blau- und Grüntöne. Sie blies den Rauch aus, der einen Moment schwer in der Luft hing, und ihr Blick kehrte zurück zum Schotterpfad, der so lange der einzige Weg in ihrem Leben gewesen war. Sanft geschwungen, ohne Abzweigungen und jeder Stein unter ihren nackten Kinderfüßen mit seinem eigenen Klang, wenn sie barfuß zum Stall gelaufen war, zum Backhaus, zu den Nachbarn. Au, au, au. Ein Weg, der überall hinführte, hinauf zur Kirche, zum Laden, zu den Feldern, zum nächsten Dorf und durch die blauen Berge.

Maria schaute ihre Mutter an und überlegte, wie viel sie davon noch sehen konnte. Verloren stand Lucia unter dem Wein, der auf der Veranda rankte und saure hellgrüne Früchte trug. Sie war sehr klein geworden und trug wie immer mehrere schwarze Röcke und Unterröcke übereinander, und ein schwarzes Kopftuch, das heute nicht ihren Mund bedeckte, sondern auf die Schnelle unter dem Kinn geknotet war und ihr faltiges rundes Gesicht umschloss. Ihre schwarzen Knopfaugen blickten aus dem knittrigen Gesicht durch Marias Rauchwolke, dann ließ Lucia den Kopf hängen und es gab für sie nichts mehr zu sehen, außer schwarze Socken und klobige Schuhspitzen neben einem Grasbüschel, das aus den Steinen wuchs. Maria griff nach Lucias Arm und hakte ihn unter. Sie rauchte weiter und beobachtete die ersten Insekten, die sich in die Mittagsstunde verirrt hatten. Wie Minihelikopter. Sonst war es still. Diese Stille war es, die Maria immer als Erstes wiedererkannte. Und die sie aus allen Stillen der Welt erkennen würde. Diese Stille war so tief, dass jedes Geräusch umso klangvoller war. Vogel-Dolby-Surround hatte Anna das in einem Sommer genannt. Aber dieser Sommer war lange her.

Maria blickte zum Auto hinüber. Sie sah ihren Mann Georg, der lässig und mit dem Rücken zu ihr an der Beifahrertür lehnte, auch er schaute in die Berge. Aus den geöffneten Autofenstern wehte Musik herüber, und Maria schüttelte sich leicht, bis die Georgblase zerplatzte. Sie würde wenden müssen, dachte sie. Und, dass dies der Ort war, an dem sie immer an früher dachte. An das Gefühl bei der Ankunft, an das Gefühl bei der Abreise, als sie ihre Tochter Anna bei Lucia gelassen hatten, an den Sommer, als Anna neben dem Haus die Walnüsse vom Baum geschlagen hatte, immer auf der Hut vor den Schlangen, und sie schrecklich mit ihr geschimpft hatte, weil der grüne Saft der Früchte die Kleider ruinierte, und jetzt an Georg.

Anna saß im Wagen auf dem Beifahrersitz. Sie hatte Kopfhörer auf den Ohren und blätterte in einem Magazin. Es geschah noch ab und zu, dass Maria vergaß, was passiert war, und sie Georg vor sich sah, in der Stadt, im Garten, im Haus. Einige Wochen lang hatte sie sich eingeredet, dass er nur fortgegangen war, vielleicht für etwas länger, weil sie wusste, dass es sich mit dieser Leere nicht leben ließ. Wenn sich das Bild auflöste, war der Moment schlimmer als der davor. Maria trat das Zigarillo aus und kramte erneut in ihrer Handtasche. Diesmal holte sie eine kleine Tablette heraus, die sie auf der Zunge zergehen ließ.

Maria zog Lucia am Arm und führte ihre Mutter die kleine Steintreppe zum Weg hinunter. Lucia trippelte in kleinen Schritten neben ihr zum Wagen.

»Wir lassen deine Augen operieren«, sagte Maria.

Lucia antwortete mit einem uneindeutigen Laut, und Maria versuchte, ihre Mutter zum Einsteigen zu bewegen. Fortbewegungsmittel ängstigten sie und vom Benzingeruch wurde ihr schlecht. Sagte sie jedenfalls. Maria redete auf Kroatisch auf sie ein, aber Lucia blieb davon völlig unberührt neben dem Auto stehen. Maria redete weiter. »Jetzt mach schon, Mama. Das Flugzeug wartet nicht.«

Anna stieg aus, nahm die Kopfhörer ab. »Baba«, begrüßte sie ihre Oma und ihre Stimme klang schüchtern. Sie küsste sie auf die alte Haut, und Lucia betastete sie mit steifen Fingern.

»Steig ein«, unterbrach Maria. Was für eine bekloppte Idee. Maria versuchte jetzt, ihre Mutter ins Auto zu schieben, aber Lucia rührte sich nicht.

»Los jetzt«, sagte Maria unwirsch. »Ajde.«

Lucia kannte keine Eile. Maria blickte auf die Uhr. Zeit tickte davon. Die Berge schwiegen. Wenn ich nur einen von euch zur Seite schieben und das Meer sehen könnte, dachte Maria, dann würde ich es hier vielleicht aushalten. Anna kletterte auf die Rückbank und streckte den Arm nach Lucia aus. Maria schob. Lucia nahm ihr Kopftuch ab und umwickelte damit sorgfältig ihren ganzen Kopf und das Gesicht. Nur die Augen ließ sie frei. Mit einem jammervollen Seufzer kletterte sie endlich zu Anna auf die Rückbank. Maria schloss die Tür hinter Lucia und ließ sich erschöpft auf den Fahrersitz fallen, warf die Tasche neben sich und startete den Motor.

»Die Koffer, Mama«, sagte Anna.

Maria zog die Handbremse und sprang noch einmal aus dem Wagen, eilte den Weg hoch und holte die Koffer.

»Los gehts«, murmelte sie, und langsam fuhren sie durch das Dorf, das jetzt den Schlangen gehörte. Vorbei an der ehemaligen Dorfkneipe und dem einzigen Laden, der schon lange geschlossen war, an leeren Steinhäusern und Ställen, an verwaisten Feldern und überwucherten Wegen. Maria hatte gedacht, dass Lucia hier sterben würde, aber sie war die letzte Überlebende. Und alles lag nun verlassen da. Der weiße Stein knirschte unter den Rädern und knallte gegen das Blech, als sie an der Kirche die Kurve nahmen.

»Baba in München«, sagte Anna. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

Im Rückspiegel sah Maria, wie Anna ihre Oma betrachtete. Maria sagte nichts.

Anna schlug ihr Magazin auf. »Das ist wie ein Astronaut –«, sie hielt inne, »im Zirkus.«

Maria musste lachen. Sie öffnete die Fenster. »Sie wird sich schon daran gewöhnen.« Sie lächelte Anna im Rückspiegel zu.

Und wir auch, dachte sie. Irgendwie. Hoffentlich. Es war zumindest nicht ausgeschlossen. Sicher war es gut für Anna, dass ihre Oma jetzt in der Nähe war. Ganz bestimmt. Der Gedanke begleitete sie die Berge hinunter, Kurve um Kurve, während Lucia auf der Rückbank stöhnte.

Im Tal fuhren sie durch enge Straßen.

»Hier hast du die Katze überfahren«, rief Anna plötzlich, »erinnerst du dich?«

»Nein«, sagte Maria, um die Geschichte abzukürzen.

»Sie war noch ein Baby«, sagte Anna.

»Das ist doch ewig her«, erwiderte Maria genervt.

Im Flugzeug hielt Anna die knochige Hand ihrer Baba, die, den Kopf an das Fenster gelehnt, leise vor sich hin wimmerte. Ihr Gesicht war noch immer unter ihrem schwarzen Tuch verschwunden und Maria wusste nicht, ob sie weinte, weil sie traurig war oder weil ihr auch im Flugzeug schlecht wurde. Doch schon rollten ihre eigenen Tränen unter den großen Gläsern der Sonnenbrille hinab, die sie den Flug über anbehielt, und ließen sich nicht stoppen. Sie weinte um ihre Mutter, die nicht mehr ohne sie leben konnte, und weil sie nicht mehr nach Dalmatien zurückkehren würde. Jedenfalls nicht lebend. Und sie dachte an Milan, ihren verstorbenen Bruder, der auch nicht mehr nach Hause gekommen war. Und an Georg, der sie überredet hatte, ihre Mutter zu holen und sich um sie zu kümmern. Weil Familie Familie ist. Ganz einfach, hatte er gesagt. So einfach war das. Und so schwer.

Am Flughafen in München mussten sie Lucia für die Passkontrolle das Gesicht freimachen. Als sie endlich zu Hause ankamen, wirkte sie in dem großen Haus noch kleiner und in ihren Röcken sonderbar und fremd. Anna warf die Jacke auf den Stuhl in der Diele und verschwand sofort in ihrem Zimmer.

»Nimm die Tasche mit«, rief Maria hinter ihr her, aber da schloss Anna schon die Tür. Wie ein Koffer stand Lucia im Flur. Maria schob sie in die Küche und setzte sie auf einen Stuhl. Sie hatte aufgehört zu wimmern und war nun vollkommen stumm. Maria wickelte Lucia aus ihrer Jacke, dann die Flasche Olivenöl und den Rakija aus ihren Schutzumhüllungen, mehreren Lagen Zeitungspapier und Plastiktüten, mit festem Klebeband verzurrt und wie für eine Weltreise vorbereitet.

»Sie wird sich schon daran gewöhnen«, sagte Maria wie zu sich selbst und packte die üblichen Mitbringsel aus, Pršut, Käse, Kekse, Kaffee, Brot.

Maria wusch sich die Hände in der Spüle, schnitt ihrer Mutter Brot und Schinken ab und goss sich selbst ein Glas Schnaps ein. Sie betrachtete Lucia, die unbeweglich am Küchentisch saß. Der Rakija brannte.

Lucia hatte ihr Kopftuch ein paar Mal auf- und zugebunden und schließlich unter dem Kinn verknotet. Jetzt saß sie da, die Hände auf dem Bauch gefaltet, und man sah ihr gar nichts an. Maria öffnete die Fenster und die Tür, die von der Küche in den Hof führte, und herein kam die erste warme Luft des Jahres. Maria hatte ein mulmiges Gefühl. Ihre Mutter war hier.

»Lass mich kurz eine rauchen«, sagte sie. »Dann zeig ich dir dein Zimmer.«

Sie ging hinaus. »Es wird schön«, sagte sie, »du wirst schon sehen.«

Lucias Ankunft wirbelte viel Staub auf. Das Obergeschoss des Gartenhauses war fast fertig ausgebaut, damit Marias Werkstatt nach oben ziehen und unten Wohnraum für ihre Mutter entstehen konnte. Ein heller Raum mit Blick in den Garten. Ein kleines Bad wurde eingebaut. Zur Küche musste Lucia nur über den Hof. Zu Marias Arbeitsraum führte eine Außentreppe, und sie hatte nun sogar eine kleine Veranda. Ihre Skulpturen und Schalen waren mit ihr in den oberen Stock gezogen, sie hatte ihrer Mutter nur eine dagelassen: ein Wesen, das an einen Engel erinnerte. Ihre Mutter hatte ihm ein Kruzifix um den Hals gehängt. Daneben lag ihre Bibel, in der sie oft blätterte, obwohl sie nicht lesen konnte, und über deren Seiten sie mit ihren Fingern strich, als ob sie in Blindenschrift beschrieben wären. Der Schaukelstuhl, den Maria für ihre Mutter auf dem Flohmarkt gekauft und aufwendig restauriert und blau angestrichen hatte, blieb leer. Maria hatte gedacht, dass ihre Mutter hier ihre kratzigen Wollsocken stricken würde. Die Kniestrümpfe für kalte Wintertage, von denen einige unbenutzt in dem antiken Schrank in der Diele lagen, in dem Maria ihre Winterjacken und Schuhe verstaute und vor dessen Spiegel sie den Lippenstift nachzog und ihr langes Haar richtete, wenn es klingelte. Aber Lucia strickte nicht mehr.

Die ersten Wochen, bis ihre Wohnung fertig war, schlief Lucia im Wohnzimmer, weil sie die Treppe zum Gästezimmer nur mühsam hinaufkam. Sagte sie. Lucias wenige Dinge waren Maria im Weg. Sie stolperte über ihre Hausschuhe. Auch dass Lucia eine alte Wolldecke über das Sofa breitete, bevor sie sich setzte, störte sie. Und dann schloss aus irgendeinem Grund die Tür des Dielenschranks nicht mehr und sie öffnete sich ständig knarrend wie durch Geisterhand. Als Maria sie schließen wollte, erblickte sie im Spiegel Lucia, die auf dem Sofa saß und ihr Haar kämmte. Ihre Mutter war vollkommen weiß geworden. Schneeweiß. In den Nächten schlief Maria schlecht. Sie hörte, wie Lucia auf dem Weg zur Toilette an den Türrahmen oder die Garderobe stieß, wie sie sich in dem kleinen Bereich der Diele verlief, wie sie irrtümlich die Küchentür öffnete und mit schlurfenden Schritten kehrtmachte.

Dann wurde Lucias grauer Star operiert, und es wurde ruhiger. Nach ein paar Wochen konnte sie in ihr Zimmer einziehen und nun drang nur noch früh am Morgen der leise Ton des Radios aus der Küche zu Marias Schlafzimmer herauf. Ihre Mutter würde nun hier sein, bis zu ihrem Tod. Maria überlegte, wie lange das sein würde und wie sie ihren toten Körper nach Kroatien bringen würde. Im Flugzeug oder im Auto. Die Tote im Kofferraum. Bevor sie unter der kalten Steinplatte liegen würde, wo ihr Mann und einer ihrer Söhne schon auf sie warteten. Maria rollte sich auf die andere Seite des Bettes und vergrub, ohne die Augen zu öffnen, den Kopf in Georgs Kissen. Anna musste zur Schule und Maria zwang sich aufzustehen. Sie duschte, zog sich an, weckte Anna auf dem Weg nach unten in die Küche. Georg und Anna hatten immer gemeinsam gefrühstückt, während sie selbst nur einen Mokka getrunken hatte. Vor elf Uhr aß sie nichts. Jetzt versuchte sie, Anna etwas Gesellschaft zu leisten und zumindest ein Brot mit ihrem Kaffee hinunterzuspülen. »Anna«, rief sie nach oben, um sicherzugehen, dass Anna auch wirklich aufstand. Langsam war sie alt genug, aber gerade war nicht der richtige Zeitpunkt, noch mehr Gewohnheiten zu ändern, außerdem hatte sie in diesem Schuljahr bereits viel Unterricht verpasst. Erst kurz vor der Kroatienreise hatte sich herausgestellt, dass Anna wochenlang nicht in der Schule gewesen war, und Maria wusste immer noch nicht, wo sie die ganze Zeit verbracht hatte. Aber sie traute sich einfach nicht, Anna zu fragen.

Von oben schallte nun Musik, trotzdem stellte Maria auch in der Küche das Radio an. Auf dem Küchentisch lag ein Stapel Fotoalben. Maria blätterte durch ein paar Seiten, schob sie beiseite und deckte den Tisch, nahm ihren Kaffee und trat aus der Küche in den Hof, um das erste Zigarillo des Tages zu rauchen. Es war Frühling geworden. Asche fiel zwischen ihre nackten Füße. Sie sah hinab auf ihre sorgfältig lackierten Nägel. Der zweite Zeh war länger als der erste. Bei Anna auch. Ihr Blick fand das Muttermal an der Außenseite ihrer rechten Ferse. Wie bei Anna. So oft hatte sie sich vergewissert, es so oft mit Anna verglichen. Sie löschte das Zigarillo in ihrem Kaffeerest, als Anna in die Küche kam.

»Warst du in Georgs Zimmer?«, fragte Maria und setzte sich zu Anna an den Tisch.

»Ja. Warum?« Anna beschmierte ein Brot mit Nutella.

»Ich weiß nicht, nur so. Du hast einfach die Fotos rausgeholt?«, fragte Maria.

»Ich hab sie mit Baba angeschaut, ist das jetzt verboten?« Anna sah sie an. Die dicken blonden Locken waren frisch gewaschen und geföhnt, die Augen geschminkt. Sie hatte versucht, die Sommersprossen mit Make-up zu überdecken, und die Fingernägel rot lackiert.

»Nein.« Maria schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich bin nur dabei, alles zu sortieren, und will nicht, dass da irgendwas durcheinanderkommt«, sagte Maria streng und ihre Stimme zitterte ganz leicht.

»Ich hab nur die Fotoalben rausgesucht und ich glaube, Baba fand das schön.« Die Haare standen wie eine Mähne um Annas Kopf und ließen ihr Gesicht noch zarter erscheinen. Die blauen Augen leuchteten in ihrem schwarzen Rahmen aus Kajal und Mascara.

»Ja, das ist doch eine sehr gute Idee.« Maria fasste sich wieder. »Fotos haben wir uns ewig nicht angesehen.«

»Sie waren jedenfalls super staubig. Überhaupt ist das Zimmer komplett eingestaubt, da muss man wirklich unbedingt sauber machen.« Anna kaute.

»Ich bin dabei.« Maria goss sich eine neue Tasse Kaffee ein, biss in ihr Brot und spülte sofort mit Kaffee nach.

»Willst du Kaffee?«

»Lieber Tee.« Anna schaute sie plötzlich aufmerksam an. »Ich sehe dich nie in dem Zimmer.«

Maria schaute zurück. »Doch, doch, ich bin schon dabei, das braucht etwas Zeit.« Sie versuchte es mit einem überzeugenden Ton, sprang plötzlich auf und schaltete den Wasserkocher an.

»Wir können das auch zusammen machen«, sagte Anna. »Du musst dich nicht allein durchquälen.« Sie beschmierte ein weiteres Brot mit Nutella und packte es in eine Papiertüte.

»Hast du gehört, Mama?«

Maria zögerte. »Ich will das allein machen. Ist doch schön, sich zu erinnern.«

Was sollte daran schön sein, Erinnerungen in Kisten zu legen. Maria schauderte. Sie hatte Angst, dass die Tür zu ihrer Erinnerung zufiel und sie für immer verschwand.

»Für immer gibt es nicht«, murmelte sie, »das weißt du doch.«

»Was meinst du?«, fragte Anna

»Ach nichts«, sagte Maria.

»Du redest ständig mit dir selbst.«

Maria hängte einen Teebeutel in Annas Tasse und goss heißes Wasser drüber.

»Verwandle das Zimmer nicht in ein Museum, so mit anfassen verboten, okay?« Anna zog am Faden und ließ den Teebeutel wippen.

Maria nickte.

»Mist«, sagte Anna plötzlich, »ich muss los.« Hastig packte sie die Brottüte in ihre Tasche, stieß den Stuhl zurück, dass er wackelte, und stürmte in die Diele.

»Bis später.«

Anna öffnete die Haustür.

»Anna«, rief Maria in den Flur.

»Ja?«

»Vielleicht können wir die Fotos doch zusammen durchsehen. Ich würde sie gerne sortieren und vielleicht digitalisieren.« Maria zögerte. »Was meinst du?«

»Klar«, kam es aus dem Flur. Ungeduldig.

»Da sind auch noch so viele Dias. Wir können sie auch noch mal Lucia zeigen …«

»Ich muss los.«

»Wenn ihr das Spaß macht …« Maria goss den Tee in die Spüle, und Anna schlug die Tür zu. »Tschüss.« Das Gartentor quietschte wie üblich, dann war es still. Hatte sie das Radio ausgestellt? Maria erinnerte sich nicht.

Bis zum späten Nachmittag arbeitete Maria in ihrer Werkstatt. Es war ein unerwartet heißer Tag geworden und der Schweiß tropfte auf ihre nackten Füße. Maria wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab, hielt die Scheibe an, holte einen Block Ton. Sie bereitete ihn sorgfältig vor und fertigte eine tischhohe Skulptur, die schnell Gestalt annahm, aber der richtige Ausdruck des Gesichts brauchte Zeit und Maria wurde ungeduldig. Sie ging auf die Veranda, und der Ton trocknete an ihren Händen, als sie sich ein Zigarillo ansteckte und einen tiefen Zug nahm. Anna war nach Hause gekommen. Maria beugte sich weit über das Geländer, um besser sehen zu können. Anna saß mit Lucia in der Küche. Unschlüssig pflückte Maria einige Blätter des Flieders ab. Im letzten Frühling, als Anna dachte, sie würde ihren ersten Liebeskummer nie verkraften, hatten sie den Flieder in den Hof gepflanzt. Wochenlang hatten sie Annas Weinen ausgehalten und irgendwann hatte sie Hendrik vergessen, so hieß die unglückliche Liebe, und sie hatten darüber gelacht. Der Flieder wuchs üppig. Maria legte sich Worte zurecht für Anna, aber zurzeit erreichten sie sie meist nicht. Anna hörte ihr einfach nicht zu. Wie gegen eine Wand rennen. Maria zog ein weiteres Zigarillo aus der Tasche ihres Kittels, stützte die Arme auf das Geländer und dachte an Georg und ihre Diskussionen um das Rauchen. Sie rauchte zu viel, Georg hatte recht gehabt. Seit er tot war, gab sie ihm in allem recht. Als er lebte, wollte sie recht haben. Um jeden Preis. Was hast du davon?, hatte er gefragt. Den Kopf geschüttelt. Recht haben nützt niemandem. All ihre Gespräche war sie noch mal durchgegangen und alle hatten nun einen anderen Schluss, und sie wünschte, er wäre in der Nähe, jetzt, da sie so großzügig mit der Wahrheit war.

Ihr Großvater war Schmuggler gewesen. Er hatte eine Scheune voller Tabak gehabt und die Kinder hatten ihn in Zeitungspapier gewickelt geraucht. Da war sie sieben Jahre alt gewesen. Sie konnte nicht aufhören zu rauchen, mit einem Schmuggler als Großvater. Ende der Diskussion. Warum wollte Georg das nicht verstehen?

Maria streute die Blüten auf den Boden, ging die Verandatreppe hinunter und über den Hof in die Küche. Sie würde Anna sagen, dass sie nun noch besser wusste, wie sich das angefühlt hatte mit Hendrik. Im Vorbeigehen strich sie Anna über den nackten Arm und spürte eine Gänsehaut. Sie wusch sich an der Spüle die Hände und setzte Wasser für Kaffee auf. Die Mokkakanne hatte Lucia mitgebracht, ein Relikt aus Marias Kindheit. Maria stand barfuß auf den kalten Fliesen. Wenn sie als Kind morgens noch im Nachthemd vor dem Herd gestanden und darauf gewartet hatte, dass das Wasser zu kochen begann, hatte sie sich einen Mittelscheitel gezogen, als stünde sie vor einem Spiegel. Sie hatte die eleganten Frauen betrachtet, die sie aus Zeitschriften ausgeschnitten und an die Wände gehängt hatte. In Gedanken flocht sie nun die langen Haare zu zwei schweren Zöpfen, nahm die Haarnadeln nacheinander aus dem Mund und steckte die Zöpfe an ihrem Kopf fest.

Anna konjugierte serbokroatische Verben, bildete Sätze, und plötzlich lag Maria ein Wort auf der Zungenspitze. Sie wollte ihre Tochter verbessern und ihr die dalmatinische Aussprache vorsprechen, aber sie hatten schon einmal über einen Buchstaben gestritten. Das verschwundene J in Marias Namen. Maria schluckte das bittere Wort herunter und ließ den Mokka vom kleinen Löffel in das sprudelnde Wasser gleiten. Sie zählte die Löffel ab, rührte, Maria genoss das zischende Geräusch, als der Kaffee hochkochte, und nahm ihn erst im letzten Moment vom Herd. Als der Krieg plötzlich in den Wörtern war und sie verrieten, woher man kam, war die Sprache für Maria unmöglich geworden. Sie goss den Kaffee in drei kleine Tassen und stellte sie vor Lucia und Anna auf den Tisch.

Seit Lucia da war, besuchte Anna einen Serbokroatischkurs, das Gelernte erzählte sie Lucia. Sie waren eine ungewöhnliche Lerngruppe. Lucia schwieg oder schnalzte mit der Zunge, von der ganzen Grammatik hatte sie noch nie in ihrem Leben gehört, Anna hingegen machte große Fortschritte. Lucia und Anna verstanden sich ohne viele Worte, aber nun hatten sie ein eigenes Thema. Es war auch das Thema, das Maria ausschloss aus ihrem Bund, schließlich war sie es gewesen, die es versäumt hatte, Anna die Sprache richtig beizubringen. Das war der schwarze Fleck, um den nicht nur Lucia, sondern ferne Verwandte, Dorfbewohner, Fremde, alle Menschen, denen sie je in Kroatien begegnet waren, gekreist waren wie die Fliegen. Ein Makel, der an ihr klebte, den sie nicht loswurde und der zu Marias Erstaunen nicht nur Missgunst, sondern sogar Hass erzeugt hatte.

Die Sonne schien durch das Fenster auf Annas Haar, und Maria musste plötzlich an diesen Sonntagnachmittag auf dem Spielplatz denken. Anna war damals vielleicht vier oder fünf Jahre alt gewesen. Mit einer Freundin hatte sie Stöcke für ein Spielhaus gesammelt und war völlig in ihr Spiel versunken gewesen. Drei größere Jungen waren dazugekommen, hatten sich vor den Mädchen aufgebaut und gefragt: Seid ihr eigentlich Deutsche? Die Frage hatte Maria kurz zusammenzucken lassen. Sie hatte die Mädchen beobachtet, wie sie dastanden, in Sonnenlicht getaucht. Anna hatte schon damals wilde blonde Locken gehabt, und Maria erinnerte sich sehr genau an ihren Blick. Neugierig und fragend. Anna hatte die Jungen angeschaut, bis sie selbst geantwortet hatten: Wir sind nämlich Ausländer.

Die Jugoslawen gingen auf die Realschule, die Türken auf die Hauptschule. Anna ging aufs Gymnasium. Maria hing ihren Gedanken nach.

»Fehlt er dir wirklich so, der Migrationshintergrund?«, fragte sie Anna und drehte die kleine Kaffeetasse.

»Was ist das denn wieder für eine Frage?«, fragte Anna genervt. Sie konzentrierte sich auf ihre Vokabeln.

Die Küchentür stand noch offen. In den Kübeln im Hof steckten die ersten Blumen ihre grünen Spitzen aus der Erde. Anna und Lucia saßen auf der Küchenbank, an den großen Kachelofen gelehnt. Die Fotoalben waren verschwunden, ein paar von Annas Schulbüchern lagen nun auf dem Tisch. Anscheinend hatte Anna schon Hausaufgaben gemacht. Maria saß ihnen gegenüber. Anna sah blass und müde aus.

»Hast du was gegessen?«, fragte Maria.

»Ja.«

»Was macht die Schule?«

»Okay.« Nur das Rühren der Löffel in den Tassen war zu hören, das Ticken der Wanduhr über der Küchentür, in der Ferne klopfte ein Specht.

Lucia nippte an ihrem Kaffee.

»Hast du was gegessen?«, fragte Maria ihre Mutter.

»Später«, sagte Lucia. »Später.«

Wie immer trug Lucia Schwarz. Sie hatte ein Kopftuch umgebunden und die Hände auf dem Bauch unter ihren hängenden Brüsten gefaltet. Später war eins ihrer Lieblingswörter. Lucia hatte alle Zeit der Welt.

»Warst du spazieren?«

»Später.«

»Wollt ihr Kuchen?«

»Nein«, sagte Anna, und Lucia schüttelte den Kopf.

Maria betrachtete den unberührten Schokoladenkuchen und fühlte sich plötzlich einsam. Sie schnitt sich ein großes Stück ab, aber als sie hineinbiss, bekam sie den Kuchen kaum hinunter.

»Du warst nicht ehrlich«, sagte Anna.

Maria schluckte schwer.

»Warum?«, fragte sie erstaunt. Mit Ehrlichkeit nahm gerade Anna es eigentlich nicht sehr genau.

»Wir sind keine Deutschen«, sagte Anna, mit diesem für sie in letzter Zeit so typischen Ernst.

»Ach.«

»Nicht wirklich jedenfalls.«

»Das erstaunt mich. Und wer entscheidet das?«, fragte Maria.

»Du jedenfalls nicht.« Anna zog die Beine hoch auf die Küchenbank und umschlang ihre Knie mit beiden Armen.

»Das kann doch wohl jeder für sich selbst entscheiden«, sagte Maria.

»Nein. Eben nicht«, sagte Anna.

»Dann eben nicht«, sagte Maria. Sie hatte oft genug versucht, es Anna zu erklären.

»Anna, ich will hier nicht fremd sein. Punkt.«

»Stattdessen hast du es allen so verdammt leicht gemacht«, sagte Anna. »Man kann nicht einen Buchstaben aus seinem Vornamen streichen, dazu ein deutscher Mann und ein neuer Nachname und das wars dann.«

»Fang nicht schon wieder damit an«, fuhr sie Anna an. »Was ist schlimm daran, es sich etwas leichter zu machen? Ich hänge nicht an dem Buchstaben.« Maria murmelte etwas auf Kroatisch, und Lucia bekreuzigte sich. »Ich habe damit überhaupt kein Problem.«

Anna sagte nichts mehr.

»Was ist eigentlich genau dein Problem?« Sie blickte Anna an. »Es gibt doch gar kein Problem. Wir müssen auch nicht ständig Unterschiede kreieren und uns abgrenzen. Du wirst dich im Gegenteil erst finden, wenn du mal über Grenzen hinausgehst.«

»Sag mir nicht immer, was ich tun soll.«

»Was suchst du denn?«

»Vielleicht meine Wurzeln«, sagte Anna leise.

»Bist du hier nicht verwurzelt? Was für ein Quatsch, Anna.«

»Für mich nicht.«

»Hättest du gerne was Exotisches?«

»Nein.«

»Willst du anders sein als die anderen?«

»Nein.«

»Oder sein wie die anderen? Anna, ich verstehs nicht.« Marias Ton war scharf.

Anna schwieg.

»Sagst du jetzt nichts mehr?«

Anna presste den Mund zusammen.

»Das Leben hier ist allein meins.« Maria sprach nun ruhiger. »Mein Leben hat keine Nationalität.«

»Doch, deutsch«, warf Anna ein.

»Ich bin Mensch. Darüber diskutier ich nicht mehr. Und übrigens, Anna, noch heute schicken sie Flüchtlinge in ein unbekanntes Land zurück. Ist das ihre Heimat? Du bist frei, mit deinem deutschen Pass kannst du gehen, wohin du willst, tun, was du willst. Ganz schöner Luxus, plötzlich um deine verlorene Identität zu weinen.«

»Das ist nicht fair.« Anna weinte inzwischen. »Du kannst nicht alles entscheiden.« Vor Wut brach ihre Stimme.

Sie ist so sensibel, dachte Maria.

Lucia gab klagende Laute von sich und nahm Anna in den Arm, drückte sie an sich. Dann lutschte sie weiter an einem Zahnstocher.

»Für mich ist Kroatien wichtig. Ich interessiere mich eben für deine und Omas Heimat.«

»Das kommt etwas plötzlich.«

»Na und«, gab Anna zurück.

»Vielleicht habe ich es den anderen einfach gemacht, aber das interessiert mich nicht. Du denkst, ich habe mich angepasst?«

»Ja.«

»Und ich finde, ich bin mir verdammt treu geblieben.« Maria strich die Krümel zusammen, die vom Frühstück übrig geblieben waren.

Sie stand auf und warf die Krümel in die Spüle. Anna hatte den Kopf auf die Knie gelegt und schaute sie nicht mehr an.

»Streitet nicht«, mischte sich Lucia ein.

»Das verstehst du nicht«, sagte Maria laut. Sie sprach Kroatisch mit Lucia und Deutsch mit Anna.

Sie erklärte Lucia kurz, worum es ging, und Lucia sah traurig aus.

»Schrei doch nicht so«, sagte Anna. »Sie ist nicht taub.«

»Lass sie«, sagte Lucia. »Lass sie einfach.«

»Ein einziges Durcheinander«, sagte Maria und fuhr sich durch die Haare.

»Du hast mir die Sprache ja nicht richtig beigebracht«, sagte Anna.

»Das weiß ich«, sagte Maria.

Anna zuckte mit den Schultern.

»Ich bin die Einzige, die dafür sorgt, dass wir überhaupt miteinander sprechen«, sagte Maria.

»Das stimmt doch gar nicht«, protestierte Anna. »Ich bemühe mich auch.« Sie war wütend und pfefferte ihr Vokabelheft durch die Küche.

Lucia sah aus, als ginge sie in Deckung.

»Jetzt schau nicht so«, fuhr Maria ihre Mutter an, dann baute sie sich vor Anna auf.

»Als Ausländerin hätte ich es hier nie geschafft.« Maria ging durch die Küche hinaus in den Hof. Sie zündete ein Zigarillo an.

»Ich habe versucht, ich zu sein«, sagte sie zu sich selbst. »Mehr nicht.« Die Vögel sangen in den Bäumen und in weiter Ferne brummte ein Rasenmäher. Aus der Küche kam Schweigen. Sie inhalierte tief, den Rauch und den Duft des Flieders.

2

Nach dem Abendessen trafen sie sich in Georgs Zimmer. Auch Lucia kam herauf und nahm auf dem Sofa Platz. Maria fand eine Flasche im Bücherregal, selbst gebrannten Rakija, der für die Reise mit mehreren Lagen Plastikfolie umwickelt und sehr gewissenhaft mit Klebeband verklebt worden war. Ein Mitbringsel von irgendwann. Maria befreite den Schnaps vom Plastik und nahm Gläser von einem goldfarbenen Tischständer, der sechs Schnapsgläser trug. Ein kitschiges Souvenir. Sie goss ein und schüttete, da die Gläser staubig waren, den Inhalt aus dem Fenster, füllte die Gläser erneut und reichte sie Lucia und Anna. Dann nahm sie selbst eins und stellte die Flasche neben sich.

Anna holte einige Kisten mit Fotos. Sie setzten sich auf den Boden und begannen den Inhalt der Kisten durchzusehen.

»Ganz schön durcheinander alles«, sagte Anna. »Warum willst du sie denn ausgerechnet jetzt sortieren? Hier gibt es doch genug zu tun.« Sie sahen sich um. Überall im Zimmer stapelten sich Dinge. Auf dem Boden und den Regalen türmten sich Bücher, Zeitschriften, Platten, Notizbücher, auf dem Schreibtisch Rechnungen und Papiere, vergilbte Zeitungen und ausgeschnittene Artikel. Der Papierkorb war voll, Papierkugeln lagen daneben. Nicht getroffen. Georg hatte viel gearbeitet und wenig aufgeräumt. Er mochte Durcheinander und Bücherstapel. Er hatte oft an seinem Schreibtisch gesessen, Musik gehört und nach draußen in den Garten geschaut, oder auf dem Sofa gelegen und gelesen. Die Tür hatte immer offen gestanden. Auf dem Schreibtisch vertrocknete der Blumenstrauß, den Maria ihm zum Hochzeitstag geschenkt hatte. Über dem Stuhl hing Georgs Jacke.

»Ich will jetzt alles sortieren. Das kann nicht für immer Georgs Zimmer bleiben«, sagte Maria entschieden.

»Warum denn nicht?« Anna sah unglücklich aus.

»Ohne ihn gibt es kein Zimmer.« Draußen wurde es langsam dunkel und Maria machte Licht an.

»Du willst es jetzt schon ausräumen?«

»Die Fotos will ich seit zwanzig Jahren sortieren, endlich Fotoalben haben.«

»Das sind aber viele«, sagte Anna, als wäre ihr die Lust vergangen. Sie öffnete eine weitere Kiste.

»Ja.«

»Schau mal. Das ist schön. Kann ich das haben?«, fragte Anna und reichte Maria ein Foto.

»Da haben wir uns gerade erst kennengelernt.« Maria wischte das Bild mit dem Ärmel ihres Pullovers ab. »Leg es dort in die Kiste.« Maria gab Anna das Foto zurück.

»Ich will mir die alle noch mal in Ruhe ansehen, danach kannst du damit machen, was du willst.«

Anna legte das Foto behutsam in die weiße Schachtel, die Maria ihr reichte.

Georg an diesem Aussichtspunkt oberhalb von Trogir, von wo aus die Straße staubig den Berg hinabfloss zum Meer. Die Hitze hatte sie leer gefegt. Zur anderen Seite lag die Altstadt. Georg hatte die Augen zusammengekniffen, als stellte er den Blick scharf. Vielleicht hatte er versucht, die unzähligen Kirchtürme der kleinen Altstadt unter ihm zu zählen, Kirchen waren seine Leidenschaft, oder er hatte den Punkt gesucht, wo später die Sonne ins Meer eintauchen und das Wasser färben würde wie flüssiges Gold.

Eigentlich brauchte Maria keine Fotos. Sie hatte die Erinnerungen in ihrem Inneren gespeichert.

»Oh, das bin ich – und Lucia.« Anna freute sich.

»Wie du aussiehst! Offensichtlich hast du Beeren gepflückt und Walnüsse. Das da ist der Walnussbaum.« Maria tippte auf das Bild.

Anna zeigte das Foto Lucia, die sehr schläfrig wirkte.

»Der Walnussbaum, ach, ach, wisst ihr, der wurde gefällt.«

Maria war überrascht, dass Lucia plötzlich so munter wurde.

»Was für ein schöner Baum«, sagte Anna.

»Was? Warum haben sie ihn gefällt?«, fragte Maria.

»Irgendeiner hat was von negativen Energien erzählt, da war es um den Baum geschehen. Ein Jammer, so viele Jahre hat er dort gestanden.«

»Und du glaubst das nicht?«, fragte Anna.

»Ein Walnussbaum?«, fragte Lucia. »Was soll an einem Walnussbaum schlecht sein? Misstrauisch und abergläubisch waren die Leute nach dem Krieg.«

»Misstrauisch und abergläubisch waren sie auch schon vor dem Krieg«, entgegnete Maria.

Lucia zuckte mit den Schultern.

Sie wischten die Fotografien ab. Maria hustete.

»Schon krass, dass du da aufgewachsen bist«, sagte Anna und studierte das Foto, das Georg, Maria und Anna, vielleicht zweijährig, vor Lucias Haus zeigte. Maria trug ein schickes blaues Kostüm, Schuhe mit sehr hohen Absätzen, schwere goldene Ohrringe und roten Lippenstift, Georg Cordhosen und Vollbart. Er hielt ihre Hand und Annas.

»Und warum ist das so krass?« Maria lachte.

»Du siehst einfach nicht aus, als kämst du von da.«

»Aha. Wie sieht man denn aus, wenn man von da kommt?«

»Wie Baba zum Beispiel. Du willst immer aussehen, als kämst du aus New York.«

»Ach wirklich?« Maria musste grinsen.

»Was Papa da anhat. Cordhosen! Und dieser Bart. Aber du siehst wirklich wunderschön aus, Mama.«

»Ehrlich? Gib mal her. Wie aus New York?«

»Wie ein Star«, sagte Anna.

Beide betrachteten das Foto. Jung war sie, das Haar reichte ihr fast bis zur Taille. Wann war all die Zeit vergangen? Es fühlte sich an, als wäre ein ganzes Leben vorbei.

»Hier ist ja auch nicht gerade New York«, stellte Anna fest.

»Nein.« Maria lachte. »Nicht wirklich.«

»Warum lebst du dann hier?«, wollte Anna wissen.

»Georg wollte hierher, hauptsächlich wegen dir. Raus aus der Stadt. Dann haben wir dieses Haus gefunden.« Maria sprach nicht weiter. Georg war gelernter Restaurateur. Er hatte an Kirchen im ganzen Land gearbeitet, auch im Ausland. Oft war er monatelang fort und Maria einsam gewesen. Schließlich hatte er den Job an den Nagel gehängt. In den letzten Jahren hatte er Artikel über Kunst und Architektur veröffentlicht, aber seine Kirchen fehlten ihm. Die Handarbeit. Deshalb hatten sie das Haus gekauft. Es war ein alter Hof und stand teilweise unter Denkmalschutz.

»Ich fühle mich wohl hier«, sagte Maria. »Der Anfang war nicht so leicht.« Sie dachte nach. Der Anfang war nun lange her. Das Leben hatte große Schritte gemacht, und es ließ sich nicht ergründen, was genau Anfang war und was Ende.

»Ich kann hier gut arbeiten.« Maria machte eine Handbewegung, als verscheuche sie eine Fliege.

»Bila!« Anna schwenkte ein Bild.

Das Tier blickte mit seinen klugen Augen direkt in die Kamera.

»Das hat Georg gemacht. Das kommt auch in die weiße Schachtel«, sagte Maria.

»Weinst du, Mama?«, fragte Anna und rückte näher.

»Ach, ich mochte diese Kuh einfach.« Maria musste plötzlich lachen. Sie hickste. Lachen und Weinen ergaben bei ihr immer Schluckauf.

»Meine Güte, schon wieder ein Foto vom Walnussbaum. Auf jeden Fall auch von Georg. Weißt du, was lustig ist?«, fragte Maria plötzlich.

»Nein«, sagte Anna.

»Lucia hat ihr ganzes Leben nie geflucht. Jedenfalls nicht wie die Kroaten, du weißt schon, so anstößig, laut und fantasievoll.«

»Du findest das gut?«

»Es ist ein Spiel, ein Wettbewerb, sie stacheln sich an und werden immer einfallsreicher …«

»Sexistisch. Und vulgär«, sagte Anna.

»Ja. Jedenfalls hat Lucia das nie gemacht, aber einmal war sie so wütend – ich habe vergessen, worum es ging – da hat sie aus voller Seele geschrien: Möge dir eine Walnuss auf den Kopf fallen! Dann ist sie davongestapft, und wir haben uns halb totgelacht, Milan und ich.« Anna schaute sie an.

»Stell dir das vor.« Maria dachte an die Szene und lachte laut.

»Findest du das nicht wahnsinnig witzig?« Maria vermisste Milan und goss sich einen weiteren Schnaps ein. Lucia schlief ruhig und tief auf dem Sofa, und Maria trank das Glas leer. »Es war lustig«, sagte sie sehr ernst.

Anna stand langsam auf und imitierte Lucias Hand- und Körperhaltung, auf Kroatisch schrie sie den Fluch.

Dann sagte sie: »Eine Ameise soll dich beißen, in den dicken Zeh. Nein, ein Adler soll dich holen und mit dir davonfliegen.«

Sie betrachteten Lucia.

Lucia schlief unbehelligt wie tiefes Wasser, auf dem sich die Wellen hoben und senkten. Anna breitete eine Decke über sie.

»Sie sitzt nur herum«, sagte Anna plötzlich ernst.

»Vielleicht mag sie herumsitzen einfach. Das hat sie in ihrem Leben sehr wenig getan.«

»Den ganzen Tag? Ich weiß nicht«, sagte Anna. »Ist ihr nicht langweilig?«

»Sie führt jetzt ein Leben wie eine Königin.«

»Schrecklich.«