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Ein schwerer Fall von Leben Ellen Homes liebt es, ihre Mitmenschen zu beobachten – sie selbst aber möchte nicht gesehen werden. Sie versteckt sich hinter zu vielen Kilos und ihr Gesicht hinter langen Haaren. Nachts putzt sie in einem Riesensupermarkt. Eines Tages trifft Ellen im Bus eine junge Frau: Temerity ist blind, sprüht vor Lebensfreude, hat keinerlei Berührungsängste. Sie ist der erste Mensch seit langem, der Ellen «sieht». Die folgt ihr fasziniert und rettet sie prompt vor zwei Handtaschendieben. Fortan ist nichts mehr, wie es war. Temerity lockt Ellen gnadenlos aus der Reserve. Zusammen fangen die beiden ungleichen Freundinnen an, sich einzumischen – immer da, wo jemand sich nicht wehren kann oder wo Unrecht geschieht. Sehr schnell wirbeln sie jede Menge Staub auf ... «Die gefühlvolle, bewegende Geschichte einer Frau auf der Reservebank des Lebens. Ein Buch für jeden, der sich jemals unbedeutsam gefühlt hat. Und wer hat das nicht? Ein wunderbarer, unwiderstehlicher Roman über eine Frau, die man so schnell nicht mehr vergisst.» (Kristin Hannah)
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Shari Shattuck
Tage wie Salz und Zucker
Roman
Aus dem Englischen von Nicole Seifert
Rowohlt E-Book
Dieses Buch ist für alle, die je das Gefühl hatten, nicht zu zählen.
Du zählst.
Dein Wesen leuchtet so stark und so rein wie das jedes anderen.
Gelegentlich, wenn auch nicht sehr häufig, fragte Ellen Homes sich, wie es so weit gekommen war, dass sie hundertzweiundzwanzig Kilo zugenommen hatte und gleichzeitig verschwunden war. Nicht dass sie unbedingt eine Antwort gebraucht oder auch nur hätte hören wollen, denn kurz gesagt war unsichtbar sein alles, was Ellen Homes sich seit jeher gewünscht hatte.
Ihre Mutter – ein Substantiv, das sie mangels einer unbedenklichen Alternative gebrauchte – hatte anscheinend an irgendeinem Punkt vergessen, dass sie eine Tochter hatte. Ellen erinnerte sich nur dunkel an jene Frau, die ihre Wodkaflaschen und ihre Glaspfeife zusammengepackt und sie dann mit fünf Jahren in dem versifften Zimmer einer Drogenhilfe-WG allein gelassen hatte. Das Einzige, woran sie sich gut erinnern konnte, waren quälender Hunger und die Freude über die Zimtschnecke, die ihr irgendwann jemand gab. Aber die Einzelheiten des Lebens mit dieser Frau, insbesondere dieses speziellen Tages, erstickte Ellen enthusiastisch und effizient am liebsten unter synthetischer, milchfreier Dessert- oder Bratensoße.
Auch ihre Erinnerungen daran, wie die Polizei sie gefunden und Sozialarbeitern übergeben hatte, sowie an die verschiedenen Pflegefamilien, denen sie dann aufgezwungen wurde, waren lückenhaft – besser, sie löschte sie ganz aus. Ellen war schließlich in ein Wohnheim abgeschoben worden. Dort hatten Erwachsene wie Kinder sie gleichermaßen verhöhnt oder ignoriert. Da sie Letzteres vorzog, hatte Ellen Ausweichmanöver ersonnen und es vermieden, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem sie eine stille Wachsamkeit an den Tag legte und den Kontakt mit anderen auf das Nötigste beschränkte.
An eins allerdings erinnerte sich Ellen, nämlich daran, wie sie den Schatten gesucht hatte, um dem Abscheu zu entgehen, dem sie im Hellen begegnete. Sie fand dunkle Ecken und Dachkammern, in denen sie sich verstecken konnte, hortete abgepackte Lebensmittel, wann immer sie welche bekommen konnte. Sie lernte, ihr glattes braunes Haar länger zu tragen, sodass es die linke Seite ihres Gesichts verdeckte, sie vor der Welt verhüllte und die Narbe versteckte, durch die ihr linkes Auge immer halb geschlossen und ihre Sicht eingeschränkt war. Da es jeder Mensch, dem sie bisher begegnet war, vorzog, sie nicht anzusehen, reichte oft schon ein halber Schritt nach hinten oder seitliches Wegdrehen, um etwaigen prüfenden Blicken auszuweichen oder gar nicht erst wahrgenommen zu werden. Ellen wurde sehr gut darin, nicht da zu sein, sogar wenn sie da war.
Mit neunzehn bemerkte sie erstmals ihre vollständige visuelle Abwesenheit. Ellen hatte einem Mann, der frustriert auf den Busfahrplan starrte, zaghaft ihre Hilfe angeboten. Er fuhr zusammen, als wäre er von einer Geisterstimme angesprochen worden. Sein Blick zuckte an ihr vorbei, hielt dort, wo ihr Gesicht sein musste, kurz inne, dann straffte der Mann sich und eilte davon.
Ellen hatte das gefreut, sie war ganz begeistert gewesen, weil es sich endlich auszahlte, ein Leben lang die Fähigkeiten kultiviert zu haben, die notwendig waren, um zwischenmenschliche Interaktion abzuwenden. Dass sie nicht nur nicht angesehen, sondern dass durch sie hindurchgesehen wurde, fühlte sich genau richtig an.
Ellen schwelgte in ihrer Anonymität. Sie lernte, sich ihre optische Abwesenheit auch bei der Arbeit – in der nächtlichen Putzkolonne eines Costco-Großmarktes – zu erhalten, auf bevölkerten Straßen, wo die Leute ihre Körper verschoben, wenn sie sich näherte, als wichen sie vor einem kalten Luftzug zurück, und, das war das Beste, in ihrer winzigen Wohnung, wo sie den Großteil ihrer Zeit damit verbrachte, zu verfolgen, was ihre Nachbarn trieben.
War es anfangs nur eine wichtige Überlebensstrategie gewesen, still aus dem Schatten heraus zu beobachten, wurde es mit der Zeit zu Ellens größter Leidenschaft. Das echte Leben faszinierte sie – solange sie nicht mitzumachen brauchte. Die seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich sehen lassen musste, erschöpften sie. Es war einfach zu anstrengend und öffnete dem Mitmachen Tür und Tor – eine Aussicht, die sie noch mehr entsetzte, als die, keine Snacks mehr im Haus zu haben, oder – undenkbar – keinen Schinkenspeck.
Mit vierundzwanzig hatte Ellen ihre Unsichtbarkeit so weit perfektioniert, dass sogar ihr Kater, Maus, sie kaum noch wahrzunehmen schien. Ellen und Maus teilten das Einzimmerapartment und die Liebe zum kalorienreichen Exzess – insbesondere Schinkenspeck –, sonst allerdings nicht viel.
Die Eingangstür der engen Wohnung ging in das einzige Zimmer, von dem aus eine kleine Treppe zur Kochnische führte, an deren Rückwand sich eine Hintertür mit einem kleinen Fenster befand. Durch drei Schichten, bestehend aus einem verschmutzten Gitter, dreckigem Glas und Eisenstäben, konnte Ellen in einen winzigen Hof sehen, der mit Kieseln von der Farbe ausgeblichener Grabsteine bedeckt war. Es war ein trostloser Ort. Da war kein tröpfelndes Wasserspiel, das den Widerhall der Mauern gedämpft hätte, und auch an wohltuendem Grün herrschte äußerster Mangel. Gelegentlich bemerkte Ellen einen Grashalm, der sich seinen Weg zwischen den scharfkantigen Granitbrocken hindurch gebahnt hatte. Aber es ließ sich nicht vermeiden, dass das Gewächs bald verstarb, nachdem es sein Ziel schließlich erreicht und einen Blick auf die unwirtliche Umgebung geworfen hatte, die gekrönt wurde von einem klitzekleinen Fleck versmogten, schmutzigbraunen Himmels. Ellen stellte sich vor, dass sein letzter Gedanke – sofern Pflanzen Gedanken hatten – gewesen war: Dann bin ich lieber Stroh.
Über diesen schmalen Hinterhof hinweg konnte sie in die Küchen der Nachbarn sehen, die sie so umsichtig mied. In dem Fenster gegenüber hing ein unerfreulich blickdichtes Tuch, von der Sonne gebleicht und mit Nägeln befestigt, nachdem es von dem dort lebenden Paar, wie sie beobachtet hatte, so lange in Form gezogen worden war, bis es ihr die Sicht in diese einzige andere Obergeschosswohnung komplett verwehrte. Aber im Erdgeschoss waren zwei Wohnungen, deren Mieter so bequem oder so verzweifelt waren, dass sie sich nie die Mühe gemacht hatten, irgendeine Art Vorhang anzubringen – wahrscheinlich, dachte Ellen, weil ihnen nie in den Sinn gekommen war, dass sich jemand für ihr Leben interessieren könnte.
Denn ihr Leben war nicht interessant, außer für Ellen natürlich, die beständig davon fasziniert war, wie die Bewohner, die sie als ihre Haustiere betrachtete, ihre Zeit verbrachten. Das Mädchen in 1B nannte sie Heidi, weil sie ihre blonden Haare, wenn sie nicht für die Arbeit angezogen war – Cocktailkellnerin oder Prostituierte, den Klamotten zufolge –, zu Zöpfen flocht, die schlaff zu beiden Seiten ihres frischgewaschenen rosa Gesichts herunterhingen. Dem Mann in 1A hatte sie den Namen T-Bone gegeben, weil er so mager war wie eine Rippe und sein Kopftuch, das er offenbar entschlossen war, zu tragen, bis es abfaulte, die Farbe von rohem Fleisch hatte.
Seit ein paar Monaten schwoll Heidis Körpermitte an. Aus der fußballgroßen Wölbung unter ihrem gespannten T-Shirt schloss Ellen, dass sie jetzt im achten Monat war, weshalb sie ihrer Beschäftigung – woraus auch immer sie bestand – derzeit nicht nachging. Jetzt verbrachte Heidi den Großteil ihrer Zeit in der Wohnung, schrie ihr Spiegelbild an oder saß weinend am Küchentisch. Ellen verfolgte Heidis Tun mit dem Eifer eines Sportfans in den Play-off-Runden. Heute Abend machte Ellen sich mit einer Tüte Chips in der einen Hand und einem Tinkerbell-Stift in der anderen auf einem der linierten Schulblöcke Notizen, die ihr Arbeitgeber ihr zu diesem Zweck so großzügig wie unwissend gespendet hatte. «Heidi holt ein Bier», schrieb sie und zermalmte eine Handvoll Cheddarchips zu Brei. «Überlegt zehn Minuten lang, ob sie es trinken soll, und stürzt es dann in fünfundvierzig Sekunden runter.» Eine Minute später fügte sie hinzu: «Erbricht Bier ins Waschbecken.»
Ellen ließ ihren Blick zum nächsten Fenster wandern und sah T-Bone. Das Interessanteste, was T-Bone tat, war, große Tüten Marihuana in kleinere umpacken. Heute Abend saß er in seinem Polstersessel und rauchte das, was er, wie Ellen zufällig gehört hatte, Bob’s Big Boy nannte. Die Enge des Hofs sandte das Echo jeglichen Geräuschs ungedämpft in ihre Wohnung hinauf, weshalb es möglich war, alles zu hören, was sie hören wollte, und unmöglich, nicht zu hören, was sie nicht hören wollte. T-Bone hielt sich auf der Fensterbank eine traurige Topfpflanze, die er heute mal wieder vergessen hatte zu gießen – ein Vergehen, das Ellen pflichtbewusst vermerkte. Sie hatte eine ansehnliche Sammlung dieser Notizblöcke, und wenn sie das Brett betrachtete, auf dem sie sie sammelte – ein jeder versehen mit den entsprechenden Daten –, hatte sie das Gefühl, etwas geleistet zu haben.
Nichts los heute Abend, dachte Ellen, als sie den Block zuschlug und ihn in ihre große Tasche fallen ließ. Angesichts des bevorstehenden Betretens der Außenwelt strich sie sich anfallartig wiederholt die Haare über die linke Wange. Eine unbewusste Übung, wie bei einem Athleten, der sich dehnt, bevor er mit dem Training beginnt. Für die Arbeit zog sie die verwaschene schwarze Hose mit dem Gummizug und ein schwarzes Shirt an. Mürrisch betrachtete sie die Sohle ihres linken Turnschuhs, die sich an der Spitze löste und bei jedem Schritt flappte. Sie würde neue Schuhe kaufen müssen, aber mit Hilfe einer cleveren Kombination von Einfallsreichtum und einem halben Meter Klebeband ließ sich diese unangenehme Aufgabe noch etwas aufschieben. Nachdem sie die notwendigen Maßnahmen ergriffen und das Ergebnis einem Praxistest unterzogen hatte, um zu sehen, ob es wenigstens die Nacht über halten würde – eine Runde durch das Apartment, die insgesamt achtzehn Schritte erforderte –, füllte sie etwas Trockenfutter in Maus’ Schüssel, schnallte ihre Bauchtasche um, deren Riemen sie mit einem Kindergürtel verlängert hatte, nahm die große Tasche mit dem Notizbuch und überprüfte, ob auf der Vordertreppe auch keine Menschen saßen, ehe sie sich hinauswagte.
Der kurze Weg zur Bushaltestelle war von Menschen verstopft, die auf ihrem abendlichen Nachhauseweg waren, aber wie gewöhnlich leerte sich der volle Bürgersteig für sie so weit, dass sie vorbeigehen konnte. Ein Grüppchen wartete ungeduldig auf den Zwölferbus, dessen Druckluftbremse zischend einen scharfen Tadel von sich gab, als er am Bordstein hielt. Ellen nahm ihren Platz in der Schlange ein, frei gemacht von Leuten, deren Blick nur leicht flackerte, wenn er die Stelle streifte, an der sie stand. Sie stieg die zwei hohen, mit Gumminoppen besetzten Stufen hoch und ließ sich auf einen freien Doppelsitz fallen, womit sie faktisch anderthalb Plätze in Anspruch nahm. Egal, wie voll der Bus war, nie setzte sich jemand auf den Rest des Platzes neben ihr. Sie verbrachte die Zeit damit, ihre Aufmerksamkeit auf einen Fahrgast nach dem anderen zu konzentrieren, als würde sie die Programme wechseln, um etwas Faszinierendes oder wenigstens Informatives zu sehen zu bekommen. Zuerst schaltete sie auf einen jungen Mann, der seine jüngere Freundin drangsalierte, aber die ängstliche Passivität des Mädchens langweilte sie bald. Sie zappte zu einer älteren Frau, die einen einsamen Monolog hielt, und dann zu einem Mann, der flink die Stufen des Busses hochsprang. Er plumpste auf einen Behindertensitz, stellte seine Sporttasche neben sich und schlug eine Zeitung auf. Ellen nahm ihren Notizblock zur Hand und schrieb: «Gesunder Typ sitzt auf Behindertenplatz.» Nachdem sie diese Ordnungswidrigkeit verzeichnet hatte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem jungen Paar zu. Das Mädchen wirkte jetzt weniger ängstlich, eher genervt von den Sticheleien des Jungen. Ellen verspürte ein erwartungsfrohes Kribbeln. Den Bleistift bereit, beschloss sie, bei diesem Programm zu bleiben, und machte es sich bequem, um das Schauspiel zu genießen.
Als die Türen sich an der nächsten Haltestelle fauchend öffneten, wurde sie von diesem vielversprechenden Szenario jedoch abgelenkt. «Ist das der Zwölfer?», hörte Ellen eine Frau mit klarer Stimme rufen und freute sich. Sowohl an der Stirn als auch an den Seiten des Busses war deutlich die Nummer zwölf zu erkennen. In der Hoffnung, mindestens die Kapriolen einer Exzentrikerin, wenn nicht die einer völlig Verrückten zu sehen zu bekommen, wartete sie begierig, welche Entwicklung die Sache nehmen würde.
Die genuschelte, teilnahmslose Antwort des semikatatonischen Fahrers schien die Frau zufriedenzustellen, und Ellen beobachtete neugierig, wie ein weißer Stock mit roter Spitze seinen Weg in den Bus fand, gefolgt von einer jungen Frau mit dunklem Haar, das in Kaskaden unter einer schreiend orangefarbenen Mütze herabfiel. Obwohl es draußen schon fast dunkel war, trug die Mittzwanzigerin eine Sonnenbrille. Mit nach vorne gestreckter Hand tastete sie nach einem freien Behindertenplatz. Der Mann mit den Laufschuhen raschelte ärgerlich mit der Zeitung, als sie seine Schulter streifte, und sagte gereizt: «Hier ist besetzt. Dahinten sind noch freie Plätze.»
Wie ihr verächtliches Lächeln deutlich zeigte, wusste sie, dass er da nicht hingehörte, und hielt Leute wie ihn für besonders ekelhafte Silberfischchen. Das Mädchen ertastete sich seinen Weg den Gang hinunter und war wenige Schritte von Ellen entfernt, als der Bus sich schlingernd wieder in den Verkehr einfädelte und sie stolperte. Sie fiel auf die Knie, ein Arm fuhr auf den Sitz neben Ellen nieder. Das Mädchen fand sein Gleichgewicht wieder und rappelte sich auf, wobei sie sich an der Rückenlehne festhielt.
«Mir geht’s gut», rief sie in amüsiertem Ton in den Bus voller Menschen, die ihr geflissentlich ihre Hilfe verwehrten. «Kümmern Sie sich nicht um mich, retten Sie ihr eigenes Leben!» Mit einem hellen, höhnischen Lachen glitt sie neben Ellen, wobei sie in Kontakt mit Ellens schwabbelnden Oberschenkeln und Taillenwülsten kam.
«Oh, tut mir leid», sagte sie, sich Ellen halb zuwendend. «Ich hab Sie gar nicht gesehen.» Dann lachte sie wieder, holte ein Buch hervor und schlug es auf einer weißen Seite mit strukturierter Oberfläche auf, die mit einem Bändchen markiert war. «Gesicht: hübsch», vermerkte Ellen, ohne dieser Eigenschaft besonderen Wert beizumessen. Es war ihr jetzt wieder halb zugewandt, als studiere sie irgendein faszinierendes Objekt rechts über ihnen.
«Tut mir leid, wenn ich nerve», sagte das Mädchen, «aber könnten Sie mir Bescheid geben, wenn wir an der Grant Avenue sind?»
Ellen spürte, wie ihre vernachlässigte Stimme ihr im Hals steckenblieb. Sie war angesprochen worden. Natürlich konnte das Mädchen sie nicht besser sehen als jeder andere, schlechter sogar, aber sie hatte sie gespürt. «Äh, okay», murmelte Ellen.
«Ich war schon immer von der Freundlichkeit fremder Leute abhängig», sagte das Mädchen mit südlichem Akzent. Dann fügte sie aus dem Mundwinkel hinzu: «Kann ich allerdings nicht empfehlen; die meisten sind Arschlöcher.» Sie legte den Kopf zurück, und es brach ein derart herzhaftes Gelächter aus ihr heraus, dass Ellen sich körperlich angegriffen fühlte und sich schützend gegen das kalte Fenster drückte. Das Mädchen bemerkte Ellens Reaktion nicht oder kümmerte sich nicht darum und begann, mit den Fingern über die leeren weißen Seiten ihres Buches zu streichen.
Obwohl es Ellen durcheinanderbrachte, dass das Mädchen sie – wenn auch unvollständig und ungebetenerweise – zur Kenntnis genommen hatte, klang das unerschrockene Lachen in ihr nach. Noch ein paar Blocks lang dachte sie daran herum, wobei sie jedes Mal zusammenzuckte, wenn das blinde Mädchen unvermutet über einen Witz kicherte, den ihre Finger aus den Hubbeln herausgelesen hatten.
Es war gar nicht mal die Tatsache, dass man sie bemerkt hatte, obwohl das neu war. Ellen wusste, dass nur der zufällige Körperkontakt dem blinden Mädchen ermöglicht hatte, sie wahrzunehmen. Nein, es beschäftigte sie vor allem, dass diese junge Frau – die eine lächerliche Mütze trug, ungefähr von der Größe, Farbe und Form eines abgebrochenen Verkehrskegels – sich kein bisschen um die Menschen um sie herum scherte, nicht mal um jene, die sie unverhohlen anstarrten. Sie konnte sie nicht sehen, also spielten sie keine Rolle.
Das war eine Offenbarung, die auf Ellen die Wirkung einer kleinen, lokal begrenzten Explosion hatte und eine schmale Verwerfungslinie der Panik aufbrach. Vielleicht hatte sie sich das Falsche gewünscht. Ihr kam ein Gedanke. Vielleicht ist es besser, nicht sehen zu können, als unsichtbar zu sein. Ellen wurde von einer seltsamen Eifersucht ergriffen; kalte grüne Finger glitten über ihren Brustkorb und pressten ihr den Magen zusammen. Sie spürte förmlich, wie sich scharfe Fingernägel in das gut entwickelte Organ bohrten.
Ellen sah auf die Uhr. Wie üblich war sie eine Stunde zu früh dran – eine Vorsichtsmaßnahme, die es ihr gestattete, sich die Aufgabenliste anzusehen und mit der Arbeit zu beginnen, bevor der Rest der Truppe in die Umkleide gestolpert kam. Sie hatte locker fünfundvierzig Minuten Zeit, falls sie beschloss, zwei Haltestellen früher auszusteigen. Warum nicht? Plötzlich überwältigt von dem Bedürfnis, mehr über diese einmalige Person neben sich herauszufinden, blies Ellen den Staub von ihrem Mumm und räusperte sich.
«Nächster Halt Grant Avenue», sagte sie.
Das Mädchen kippte ihren Mandarinenzylinder zur Seite, woraufhin er abknickte wie ein Gänseblümchen am Tag, nachdem es gepflückt worden ist. «Ja, das habe ich mir gedacht. Danke.»
Ellen hoffte, ihr zögerndes Grunzen würde als Antwort genügen.
Das Mädchen steckte ihr Buch ein und stand auf, wobei sie sich an der Rückenlehne vor sich festhielt. «Einen schönen Tag noch», sagte sie.
Ellen sah in die Dämmerung. Dass das Mädchen ausstieg, erfüllte sie mit einem seltsamen Widerwillen, und so riskierte sie eine Annäherung. «Ähm. Es ist schon fast Nacht.»
Das Mädchen warf sich die Umhängetasche über die Schulter und griff nach dem Stock. Sie wandte sich Ellen wieder zu und beugte sich vor. «Für mich ist ständig Mitternacht, Baby.» Wieder dieses Lachen, so mächtig, dass es in Ellen ein Nachbeben auslöste und der Riss in ihrem Schutzschild noch ein paar Millimeter weiter aufbrach.
Der Stock klickte den Gang hinunter, die Druckluftbremse zischte unzufrieden, und als die Neonmütze wippend aus Ellens Blickfeld verschwand, hatte sie das Gefühl, als wäre ihr etwas gestohlen worden. Ohne nachzudenken sprang sie auf, um dem Mädchen zu folgen. In der Eile schlug ihre riesige Tasche gegen die Zeitung des Arschlochs, das die Behindertensitze in Beschlag genommen hatte, und riss sie mitten entzwei. «Scheiße!», rief der Mann, aber Ellen war schon halb aus dem Bus. Fast klemmten die Türen ihr wogendes schwarzes Zelt von einem Oberteil ein, als sie sich schlossen.
Die Menge war eine graubraune Masse, alle auffälligeren Farbpigmente wurden von der Dämmerung verschluckt, aber die fluoreszierende Mütze der Fremden wippte auf den ruhigen Wellen der Pendler wie eine Leuchtboje. Als Ellen ihr hinterhereilte, tauchte noch etwas anderes in ihrem Augenwinkel auf. Zwei Männer hatten sich aus einem Hauseingang gelöst und folgten dem Mädchen mit der Konzentration von Jägern. Mit ihren schmutzigen Jeans und Baseballkappen fielen sie auf in dem gehobenen Innenstadtviertel, das überwiegend von Männern und Frauen in Anzügen bevölkert war sowie von Eltern in Lycra-Yogahosen mit passenden Oberteilen, die hinter dreirädrigen Kinderwagen herjoggten und dabei mit Hilfe ihrer teuren Armbanduhren ihren Puls überprüften. Schlagartig wurde Ellen klar, dass sie nicht die Einzige war, die sich für das blinde Mädchen interessierte, was ihr extrem unfair vorkam. Sie war ihr zuerst gefolgt, und sie wollte sie für sich haben. Ellen zurrte ihre Bauchtasche fest und ging weiter.
Nach drei Blocks bog das Mädchen in eine schmale Gasse ein, gefolgt von den beiden Männern. Die Nachhut bildete eine zunehmend entschlossene Ellen, die das Mädchen inzwischen als ihre Sache betrachtete und die beiden Männer als Feinde. In der Sackgasse, über die man lediglich Zugang zu den umliegenden Gebäuden hatte, waren keine anderen Fußgänger unterwegs. Ihr Ende bildete eine Backsteinmauer, vor der ein großer Container stand. Er war leer und wurde von einer hellen Straßenlaterne beleuchtet. Das Mauerwerk der hohen Wände wurde auf beiden Seiten der Gasse von mehreren großen Metalltüren unterbrochen. Das Mädchen holte im Gehen einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche, ohne dass ihr Stock aufhörte zu klopfen. Die Männer sahen sich um und blickten in die belebte Avenue hinter sich. Keiner von beiden bemerkte Ellen, die sich nicht weit von der Straßenecke entfernt an die Mauer presste, den Blick hatte sie auf einen Polizeiwagen gerichtet, der an einer roten Ampel stand. Dann setzte sich der Verkehr in Bewegung, und die Gasse war wieder sicher vor den prüfenden Blicken der Polizei.
Die Männer richteten ihre räuberische Aufmerksamkeit erneut auf das Mädchen, und Ellen folgte ihnen vorsichtig die Gasse hinunter. Es war, als stünde das Fenster offen, durch das sie normalerweise nur hindurchsah, als hätte sie sich nach drinnen gewagt, statt von draußen zuzusehen. Dieses kribbelige Gefühl war ihr fremd, es war ein unbequemes Gefühl, so viel stand fest, aber auch nicht nur unangenehm.
Plötzlich beschleunigten die Männer ihre Schritte, und das Mädchen blieb stehen, neigte den Kopf und horchte, dann eilte es weiter. Als die Männer sie einholten, fuhr sie herum, den Riemen ihrer Tasche fest im Griff. Ellen sah ein Messer aufblitzen und verspürte einen körperlichen Schmerz in der Brust, schluckte einen scharfen, stillen, entsetzten Atemzug hinunter. In der nächsten Sekunde fuhr das Messer hinab, und das Mädchen schrie auf und duckte sich, dann richtete sie sich wieder auf. Sie selbst war heil geblieben, aber von ihrer Tasche hielt sie nur noch den Gurt in der Hand, der jetzt nutzlos herabhing. Noch während die Männer mit ihrer Tasche in Richtung der Avenue rannten, erholte sie sich. «Ihr erbärmlichen Arschlöcher!! Polizei! Polizei!», schrie sie in das Echo ihrer eigenen Worte.
Ellen drückte sich an die Mauer, deren rußige Patina dieselbe Farbe hatte wie ihre verwaschenen schwarzen Klamotten. Ihr Herz raste. Die Männer kamen auf sie zugesprintet, den Blick auf die große Straße, ihren Ausweg, gerichtet, nur wenige Schritte von Ellen entfernt. Als sie auf ihrer Höhe waren, verfestigte sich in ihr ein schlaffes Gefühl, und ohne es geplant zu haben, stellte sie dem Dieb, der ihr am nächsten war, ein Bein. Er fiel hin, ließ die gestohlene Tasche los, um sich abzustützen, seine Hände klatschten auf den rohen Asphalt und rutschten noch ein Stück, wobei er sich böse die Haut aufschürfte. Sein Komplize – mit dem Prinzip Kameradschaft offenbar nicht vertraut – blieb nicht etwa stehen, sondern lief um die Ecke und verschwand wie eine Ratte, nachdem auf dem Dachboden das Licht angegangen ist.
Die Tasche lag auf dem Bürgersteig. Ellen flitzte hin und griff danach, während der verhinderte Handtaschendieb den Kopf schüttelte und verzweifelt nach Luft schnappte. Wie ein Goldfisch, dessen irregeleiteter Satz in die Freiheit jäh auf dem Küchenfußboden geendet war, blickte er um sich, sichtlich erstaunt sowohl über den Sturz als auch über das scheinbare Fehlen einer Ursache. Ellen näherte sich ihm von hinten und trat dem Mann kräftig auf den Spann seines Turnschuhs, woraufhin er ein Jaulen von sich gab, einen erstickten Ausdruck des Schmerzes.
«Hau ab, du Arschloch», kreischte Ellen, und ihre Stimme, diese Lautstärke nicht gewohnt, war ein einziges heiseres Krächzen. Das Arschloch rappelte sich auf, streckte die zerkratzten, blutenden Hände von sich und lief davon, ohne sich noch einmal umzusehen.
Die Tasche an ihre hämmernde Brust gedrückt, ließ Ellen sich gegen die rauen Steine sinken. Sie zitterte nach dieser unerwarteten Konfrontation so heftig, dass sie fürchtete zusammenzubrechen.
Es dauerte eine ganze Minute, bevor sie etwas anderes als das panische Klopfen ihres Herzens hören konnte. Als es so weit war, wurde ihr bewusst, dass es außerhalb ihres Kopfes seltsam still war. Das Mädchen hatte aufgehört, nach der Polizei zu rufen, stand ruhig da und horchte.
«Hallo?», fragte sie zögernd. «Wer ist da?»
«Alles in Ordnung», japste Ellen. «Ich bin’s, die Frau … aus dem Bus. Ich …» Sie sog ihre Lunge voll Luft und versuchte, den Sauerstoff zu dem scharfen Schmerz in ihrer Brust zu leiten. «… habe Ihre Tasche.»
Einen Moment lang war es still, dann sagte das Mädchen: «Echt?» Es klang, als würde sie das bezweifeln.
Ellen konnte sich kaum etwas «Echteres» vorstellen, als das, was gerade passiert war, aber sie konnte sich nicht ärgern. Sie hatte ja selbst Mühe, es zu glauben. «Ja …, echt», sagte sie.
«Süß.» Das Mädchen ging, begleitet vom Ticken ihres Gehstocks, ein paar Meter zurück und blieb direkt vor Ellen stehen, die dank der Tatsache, dass sie hechelte wie ein Bernhardiner an einem Augustnachmittag, zweifellos leicht zu lokalisieren war. «Ist mit Ihnen alles okay?», fragte das Mädchen.
«Ich … glaube … schon.»
«Was ist passiert? Ich hab gehört, dass er hingefallen ist.»
«Ähm …» Ellen scharrte unbehaglich mit den Füßen und sagte: «Ich hab ihm ein Bein gestellt.»
«Nett. Ich hoffe, er hat sich ordentlich das Gesicht aufgeschürft. Danke. Ich bin Temerity.» Sie streckte eine Hand aus und wich dabei nur ganz leicht vom Kurs ab.
Ellen, von der Geste verwirrt, bemerkte, dass sie immer noch die Tasche umklammert hielt, und drückte sie gegen Temeritys Hand. Die nahm sie, klemmte sie sich unter den linken Arm und streckte dann wieder die rechte Hand aus. «Und Sie sind?», fragte sie spitz.
«Äh, Ellen», sagte Ellen. Sie nahm die Hand zwischen Daumen und Fingerspitzen und schüttelte sie linkisch. Von der Stelle des Kontakts kroch ein ungewohntes Gefühl über die Haut ihres Handgelenks und den Unterarm entlang, als würde ein Schwarm Ameisen einer Straße folgen, die über ihre Schulter und dann ihren Rücken hinunterführte.
«Gut, Ellen, kann ich Sie auf eine Tasse Kaffee oder auf ein Bier einladen, um mich zu bedanken?»
«Nein», stieß Ellen entsetzt aus. Dann fügte sie ungeschickt hinzu: «Ich meine, ich muss zur Arbeit. Ich arbeite nachts.»
«Wo?»
«Costco.»
«Ich wusste gar nicht, dass die auch nachts offen haben. Nicht dass es für mich eine Rolle spielte.»
«Haben sie gar nicht, ich putze da.»
«Sie putzen», wiederholte sie. «Und essen Sie auch?»
Ellen blickte an ihrem unförmigen Körper herunter. Dass das Gespräch immer weiterging, verunsicherte sie, und sie fühlte sich leer. Sie brauchte etwas zu essen, um sich zu stabilisieren. «Manchmal schon, klar.»
«Dann ist ja gut.» Temerity fuhr mit den Fingern an der riemenlosen Tasche entlang, bis sie auf eine kleine Reißverschlusstasche stießen. Sie nahm eine Karte heraus, betastete die erhabene Schrift und hielt sie ihr hin. «Hier ist meine Nummer. Ich möchte, dass Sie mich morgen anrufen, und ich möchte Sie wirklich zum Abendessen ausführen oder zum Frühstück oder was auch immer für Sie am besten ist. Wie gesagt, für mich ist immer Mitternacht.»
Trotz der Millionen Ameisen, die über ihre Haut marschierten, glotzte Ellen Temerity ehrfürchtig an. «Sie essen in Restaurants?», fragte sie.
Temeritys hübsches Gesicht verzog sich zu einem sarkastischen Blick. «Nein, ich esse in Bibliotheken und Möbelgeschäften. Natürlich esse ich in Restaurants. Sie nicht?»
Ellen wusste nicht genau, was sie sagen sollte. Sie wollte mehr über diese Frau erfahren, aber der Gedanke, tatsächlich eine gesellschaftliche Verpflichtung einzugehen, brachte die Angstameisen zum Flamencotanzen, um nicht zu sagen, löste einen regelrechten Flamenco-Wettbewerb aus, bei dem sie außerdem Mini-Golfschuhe trugen. Unsicher, was sie antworten sollte, sagte sie einfach: «Nein, aber, ich meine, haben Sie keine Angst, dass Sie sich, äh …» Ihre Courage war aufgebraucht.
Temerity legte den Kopf schief. «Dass ich mich zum Affen mache? Meinen Mund verfehle? Mich mit der Gabel erdolche? Den Zahnstocher aufesse? Man muss nicht blind sein, um sich zum Idioten zu machen, und davon abgesehen: Wen interessiert’s?» Sie warf die Arme in die Luft. Die letzten Worte hatte sie so laut gesagt, dass sie von den Mauern widerhallten.
«Ich gehe nicht in Restaurants.» Es beschämte Ellen, das auszusprechen.
Temerity gab einen theatralischen Seufzer von sich. «In dem Fall kann ich Ihnen ehrlich sagen: Das Einzige, was Sie verpassen, sind die frittierten Zwiebeln im Judy’s. Dermaßen lecker und zu Hause unmöglich selbst zu machen, ohne einen Fettbrand zu verursachen. Gut. Rufen Sie mich an, ich wohne da.» Sie deutete nach oben. «Dann können wir ja über Ihre Ernährungsgewohnheiten sprechen. Wenn es Ihnen lieber ist, können Sie auch zu mir kommen, und ich koche. Wie wäre das?»
«Vielleicht», sagte Ellen, die jetzt wirklich hier wegwollte. «Ich muss los.»
Ellen wandte sich ab und floh vor der ersten Person in beinahe sechs Jahren, die ihr irgendetwas angeboten hatte. Und die sie – war das nicht paradox? – sah, weil sie sie nicht sehen konnte.
Als sie zurückeilte in die dahinströmende Menschenmenge auf der belebten Avenue, zog sich Ellens Magen zusammen und knurrte. Sie fühlte sich nackt und schwach und drehte sich auf der Stelle, um sich zu orientieren und irgendwas Vertrautes zu entdecken. Ein Hot-Dog-Wagen, der im Lichtkreis einer Straßenlaterne stand, leuchtete dem hohlen, brennenden Zittern in ihrem Innern den Weg wie der Glorienschein einer Reliquie.
Der Verkäufer war ins Gespräch mit einem Mann vertieft, der, in den Rauch seiner Zigarette gehüllt, lässig neben ihm stand. Die Sprache, in der sie sich unterhielten, klang fremd, schnell und schwer von dicht aufeinanderfolgenden Konsonanten.
Ellen näherte sich vorsichtig und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Natürlich sahen die Männer sie nicht. Aber das nagende Bedürfnis nach Trost und ein letzter Rest Mut bewegten Ellen dazu, ihre Stimme zu benutzen.
Sie befeuchtete ihre Lippen. «Einen Hot Dog, bitte», sagte sie.
Der Verkäufer blickte weder auf, noch unterbrach er das Durcheinander seines Redeflusses, während er ein Brötchen nahm, ein glänzendes rosa Würstchen daraufklatschte und es auf die Edelstahlplatte oben auf dem Wagen legte. Ohne aus dem Tritt zu geraten, brachte der Mann die Worte «drei Dollar» in seinen Erörterungen in der fremden Sprache unter … vielleicht Klingonisch, dachte Ellen.
Sie nahm das Geld aus ihrer Tasche, legte es auf den Wagen und eilte davon, schweißnass und erleichtert, dass ihre Stimme keine prüfenden Blicke herausgefordert hatte. Der erste Biss in das weiche, teigige Brötchen absorbierte die bittere Angst von ihren Geschmacksknospen, und das wunderbar salzige Fleisch massierte ihre Zunge. Sie schluckte und spürte, wie die feste Weichheit ihren Magen füllte und die Erregung langsam wich. Nach vier weiteren Bissen war der Hot Dog aufgegessen, aber sie war noch nicht ganz gesättigt. Sie hätte gern einen zweiten gehabt und vielleicht auch einen dritten – aber der Wortwechsel mit dem Verkäufer hatte ein Risiko bedeutet, sie hatte Glück gehabt, unbemerkt davonzukommen, deshalb wagte sie es nicht, sich noch einen zu holen. Die Aussicht, dass man sich in dieser rasselnden Sprache über sie lustig machte oder sie beleidigte, erforderte mehr innere Stärke, als sie je würde aufbringen können. Sie beruhigte sich mit dem Gedanken, schon bald bei der Arbeit zu sein, der ultimativen Quelle für ihre Grundnahrung: industriell hergestellte Snacks. Sie machte kehrt, eilte wieder zur Haltestelle und nahm nach kurzer Wartezeit den nächsten Zwölferbus.
Dieses Mal allerdings sah Ellen sich unmöglich in der Lage, die anderen Fahrgäste mit der üblichen emotionalen Distanz zu betrachten. Dennoch beobachtete sie sie. Ein Mann im Anzug trommelte nervös mit den Fingern, seinen Mund umspielte ein hoffnungsfrohes Lächeln, und Ellen ertappte sich bei der Frage, warum er lächelte. Hoffte er, bei der Arbeit durch irgendetwas Beachtung zu finden? War er auf dem Weg zu einer Verabredung? Die besorgt wirkende Frau ihm gegenüber, die ständig auf ihr stummes Handy sah, hatte vielleicht ein Kind, das sich verspätete. Ellen war nicht klar, warum diese neuen, sich ihr aufdrängenden Gedanken sie so verunsicherten, aber sie gefielen ihr nicht. Ellen hatte diese kleinen Vignetten, deren Zeugin sie so gerne war, immer als ihre persönlichen Polaroids betrachtet, als Schnappschüsse für ein Album ohne Vorgeschichte und ohne Folgen. Ertrag ohne Investition.
Bevor das Adrenalin, das durch ihren Körper strömte, Gelegenheit hatte, sie aus seinem Klammergriff zu entlassen, erreichten sie ihre Haltestelle. Sie stieg aus, überquerte einen Parkplatz von der Größe Rhode Islands und ging an einem gigantischen Gebäudekomplex vorbei. Nach einem Marsch von fast einem halben Kilometer erreichte sie verschwitzt und schnaufend die Laderampen. Wie üblich wurde gerade ein gewaltiger Sattelschlepper entladen, und es war ein Leichtes, die Zufahrtsrampe hinaufzuschleichen, an den Arbeitern vorbei und durch das unaufhörliche Piep-Piep der Gabelstapler hindurch in den Pausenraum.
Zwei behaarte Männer in Overalls saßen an einem Tisch, tranken Limo und aßen MoonPies, eine Köstlichkeit, bei der Ellen das Wasser im Mund zusammenlief. Neben ihnen stand ein dunkelhäutiger Mann in einem billigen Anzug, der sich das schüttere Haar quer über den Kopf gekämmt hatte. Er war Ellens direkter Vorgesetzter, der Leiter der Nachtschicht, bekannt als «der Boss». Für diesen Titel hatte er ein Faible, er bestand darauf, von den Angestellten so genannt zu werden – was Ellen, die vor ihm im Markt angefangen hatte, jedoch seit vier Jahren zu vermeiden wusste. Als sich die Tür öffnete, sahen die drei Männer auf, blinzelten zweimal und wandten sich dann wieder ihrem Gespräch zu. Der Boss berichtete in derart grellen Farben von einer sexuellen Eroberung, dass selbst eine Hure ihm eine runtergehauen hätte. Als sie an ihnen vorbeiging, hörte Ellen den Halbsatz «diese bärtige Muschel geknallt». Ellen hielt das Hohngelächter der Männer und die hässlichen Bilder, die dieser Satz in ihrem Kopf heraufbeschwor, in Schach, indem sie sie im Geiste mit der Peitsche in einen Metallkäfig scheuchte. Sie schlüpfte in die Damenumkleide, einen quadratischen Raum mit Spinden in der Mitte und Bänken an drei Wänden. Die vierte Wand führte in den Pausenraum und zu den Duschen.
Ellen ging zu ihrem Spind, ließ ihre Tasche und den großen Beutel hineinfallen, nahm ihren Kittel und die Gummihandschuhe heraus und setzte sich dann hin, um zu warten, dass die Männer draußen sich verzogen. Wieder schwang die Tür auf, und mit einer jungen Russin namens Irina drangen Obszönitäten, Lachen und Pfiffe herein. Die neue, ständig erschrocken wirkende Immigrantin raffte ihre Sachen zusammen. Dann holte sie einen ramponierten CD-Spieler hervor, den sie immer trug, und steckte sich die lädierten Kopfhörer in die Ohren. Ellen begriff das nicht. Sie vermutete, die Musik war eine Möglichkeit, die Welt auszusperren – ein Bedürfnis, das sie nur zu gut verstand –, aber eine schreckhafte Frau schien schlecht beraten, wenn sie nicht hören konnte, was um sie herum vorging. Als Irina jedoch die Tür der Umkleide öffnete und wieder an dem unflätigen Trio vorbeimusste, leuchtete Ellen ein, dass die Musik die rohen Kommentare ausblendete – wenn Irina auch noch immer die Bewegungen eines Tieres hatte, das verzweifelt zu vermeiden suchte, zum Mittagessen eines anderen zu werden.
Als Ellen den Pausenraum durchquerte, hatten die Männer ihn verlassen. Ihre Dosen und Verpackungen hatten sie auf dem Tisch liegen lassen, unter dem Schild, auf dem stand: RÄUM DEIN ZEUG WEG! Sie ging einen langen, L-förmigen Korridor entlang, um einen der Rollwagen voller Putzmittel aus dem Abstellraum zu holen. Hinter der Ecke erwartete sie gespenstisches Halbdunkel. Die widerlichen Leuchtstoffröhren an der Decke lagen flackernd in den letzten Zuckungen, und das zittrige Licht reichte kaum aus, um das kurze Ende des Flurs zu erhellen.
Im Abstellraum roch es so streng nach Ammoniak und Reinigungsmitteln, dass Ellen sich angewöhnt hatte, die Tür nur zögernd zu öffnen, als wäre der Geruch nicht so scharf, wenn sie sich anschlich. Sie drückte vorsichtig die Tür auf und tastete gerade nach dem Lichtschalter, als sie gedämpfte Stimmen hörte, die aus den Tiefen der Dunkelheit kamen, hinter den Metallregalen voller Toilettenpapier, Scheuerbürsten und Fußbodenreiniger hervor – eine aggressive männliche und eine weibliche, die flehend und ängstlich klang. Ellen hielt inne und lauschte.
Eine Hand an der Tür, die sie lautlos hinter sich schloss, bewegte sie sich in die Dunkelheit hinein. Sie erkannte die schmierige Stimme, die keine Gelegenheit ausließ, in einem Kommentar eine sexuelle Anspielung unterzubringen. Es war der Boss.
«Komm schon, es wird dir gefallen», sagte der Boss mit seiner gruseligen Quengelstimme. «Du willst doch deinen Job behalten, oder? Ich weiß, dass du ein Baby hast, und du bist nicht richtig verheiratet. Ich könnte dafür sorgen, dass du bessere Arbeitszeiten bekommst. Mach mich nur glücklich, wär ja nicht das erste Mal für dich.» Der russische Akzent der jungen Frau, die ihn anflehte, sie loszulassen, verriet Ellen, dass es sich um Irina handelte. Sicher hatte der notgeile Boss sich wegen ihrer Kopfhörer leicht anschleichen können.
«Hast du überhaupt eine Aufenthaltserlaubnis?», fragte der Boss mit grausamem Unterton. «Wäre ja furchtbar, wenn du in eine schwierige Lage gerätst. Jeder braucht Freunde in hohen Positionen.» Ellen hörte das Geräusch eines Reißverschlusses, dann einen Aufschrei und ein Handgemenge. «Komm schon, ich kann dein Freund sein.»
Vor heute Abend wäre Ellen mit dem Putz an der Wand verschmolzen und hätte das Szenario mit einem unwilligen, aber distanzierten Gefühl registriert, aber jetzt dachte sie an das befriedigende Geräusch, als die Hände des Handtaschenräubers auf dem Asphalt aufgeklatscht waren, und es verlangte sie nach mehr davon. Empörung und Abscheu für den schmierigen Boss stiegen in Ellen auf, und sie beschloss, ihm bei diesem neuesten Versuch, seine mickrige Autorität zu missbrauchen, in die Quere zu kommen. Dieser Übergriff gehörte auf eine lange Liste von Vergehen, die in Ellens Vorstellung mit drei Pünktchen endete, so wie in Büchern, wenn ausgedrückt werden soll, dass die Liste endlos fortsetzbar wäre. Sie ging rückwärts wieder Richtung Tür, griff nach der Klinke, riss sie auf, als käme sie gerade herein, und ließ sie schmetternd an die Wand knallen. Sie machte das Licht an und begann, hinter einen der Wagen gekauert, in den Putzmitteln auf dem untersten Brett nahe der Tür zu wühlen. Wenige Sekunden später hörte sie ein ersticktes Schluchzen, und Irinas Füße eilten an ihr vorbei durch die Tür, gefolgt von dem langsameren, schweren Schritt des Bosses. Ellen konnte seine dunklen, abgewetzten Schnürschuhe zwischen den Rädern des Putzwagens erkennen, als er um das Regal herumkam. Sie blieben stehen und setzten ihren Weg dann fort – dann ging die Tür auf und wieder zu. Ellen stand auf. Gut, jetzt konnte sie mit der Arbeit beginnen.
Als sie den Wagen in den Flur schob, sah sie Irina zurückkommen, das erschrockene Gesicht von Tränen überzogen. Den Blick auf den Boden geheftet, eilte sie vorbei, ein ängstliches Mäuschen, das sich in einen grauen Overall duckte. Vom Boss war nichts zu sehen, von den Kopfhörern auch nicht.
Ellen wünschte, sie hätte sein Gesicht gesehen, als er seines Spielzeugs beraubt worden war. Sie ging weiter, arbeitete sich in Richtung der Snack-Abteilung vor, um ihre schwindenden Vorräte aufzufüllen.
Oft war es ein Leichtes, die Packungen zu finden, die von Kunden aufgerissen, zum Teil leer gegessen und dann hinter andere Waren gestopft worden waren, offenbar in dem Glauben, beim Angebot des Supermarktes handele es sich um ein kostenloses All-you-can-eat-Buffet. So etwas kam viel häufiger vor, als Ellen in einem überfüllten Laden für möglich gehalten hätte. Obwohl offene Packungen laut offizieller Costco-Direktive entsorgt werden sollten – zum Teil, um die Angestellten davon abzuhalten, Packungen zu beschädigen –, sahen die meisten Filialleiter darüber hinweg, wenn ihre Mindestlohn-Mitarbeiter unverkäufliche Reste mit nach Hause nahmen. Zu den Funden des heutigen Abends gehörten ein von einer Dreierpackung übrig gebliebenes Päckchen Oreo-Kekse und eine aufgerissene Mischung einzeln verpackter Fruchtschnecken. Beides sehr schön, aber Ellen wusste, dass sie etwas Salziges würde essen wollen, bevor etwas Süßes an die Reihe kam. Am einfachsten ließen sich Chips klauen. Ellen tat, als würde sie die Kilotüten Doritos mit Steak-Geschmack neu ordnen und nahm dann einen kleinen Müllbeutel von ihrem Wagen.
Als sie die weiße Plastiktüte aufschlug, sah sie zu der Überwachungskamera auf, die oben an der ungefähr fünf Meter hohen Wand hing. Es gab über den Laden verteilt genau siebenundzwanzig solcher Kameras, und Ellen hatte sich genau gemerkt, wo sie sich befanden. Das und ein paar verstohlene Abstecher zu der verglasten Security-Kabine, in der sich die Monitore befanden, hatten Ellen genau darüber ins Bild gesetzt, was diese aufmerksamen elektronischen Aufpasser sahen und, noch viel wichtiger, was ihnen entging. Sie vergewisserte sich, dass ihr Wagen die Chipstüte verdeckte, holte das Teppichmesser hervor, das sie immer in ihrer Gürteltasche trug, schlitzte die Tüte am hinteren Falz auf, schüttete etwa ein Viertel des Inhalts in den Beutel, verknotete ihn lose und stellte ihn oben auf ihren Wagen. Dann verschloss sie den Schnitt in der Doritos-Tüte mit durchsichtigem Klebeband und legte sie wieder zurück. Sie sah genauso aus wie die anderen. Mit einem selbstzufriedenen Grunzen las Ellen die Worte «Füllhöhe kann variieren».
Wenn ihre Schicht vorbei war, würde Ellen ihre Stechkarte durchziehen und dann noch eine Stunde extra putzen – unentgeltlich. Das war ihre Art, für das zu bezahlen, was sie mit nach Hause nahm. Sie wusste zwar, dass niemals jemand etwas vermissen würde, aber sie war keine Diebin, sie betrieb Tauschhandel.
In ihrer Pause setzte sich Ellen mit einem Liter Orangenlimo und einer Familienpackung Extra-Cheddar-Goldfischlis in eine Kabine der Damentoilette. Als sie gerade die letzten Flossenkrümel mampfte, hörte sie, wie sich die Tür öffnete und jemand hereinkam. Sie kniff ein Auge zu, spähte durch den Türspalt und sah Irina, das Gesicht in den Händen, am Waschbecken stehen und schluchzen. Nach ein paar Minuten spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht, trocknete es flüchtig mit den braunen Papierhandtüchern ab und ging. Ellen kam vorsichtig hervor. Es gefiel ihr nicht, dass Irina so schlecht behandelt wurde. Vorsichtig stupste sie den Teil von sich an, der sich gut fühlte, weil er wenigstens ein bisschen was getan hatte, um das zu verhindern. Es tat nicht weh, also beschloss sie, die mitgenommene kleine Russin etwas im Auge zu behalten. Irgendwie fühlte sie sich angesichts dieser Vorstellung … größer. Aber, überlegte sie dann, vielleicht lag das auch an den Goldfischlis.
Sie musste wieder an das befriedigende Gefühl denken, als sie die Sohle des Handtaschenräubers unter ihrem Fuß gespürt hatte. Ein neuer und vollkommen unerwarteter Charakterzug in ihr hob die Hand, um eine Veränderung zu fordern, und Ellens Mund kräuselte sich zu einem verhaltenen Lächeln.
Der Boss glaubte also, seine Eskapaden wären unsichtbar.
Willkommen in meiner Welt, dachte Ellen.
Als Ellen um sieben Uhr morgens nach Hause kam, schloss und verriegelte sie hinter sich die Tür. Das war der erste Schritt, um das nervend kratzige Gefühl loszuwerden, das ihr immer aus der Außenwelt nach drinnen folgte. Als nächsten Schritt würde sie ihre inneren Verteidigungswälle errichten, die ständig instand gehalten werden mussten, und mit Schinkenspeck lag sie da nie verkehrt. Sein Gewicht und seine Festigkeit, seine reine Fettheit wehrten irgendwie die Hunger-Angst in ihrem Inneren ab, so wie das Sicherheitsschloss an ihrer Tür eine Sicherheitszone schuf zwischen ihr und den Gefahren der Außenwelt. Sie packte die Chips und die Kekse aus, machte sich eine Limo auf und briet ein halbes Pfund Schinkenspeck an. Während das durchwachsene Fleisch auf dem winzigen Herd zischte – ein zartes, beruhigendes Geräusch, nicht unähnlich einer gedämpften, etwas entfernten Unterhaltung –, ging sie nachsehen, ob ihre Haustiere wach waren, obwohl keins von ihnen die Angewohnheit hatte, früh aufzustehen.
Überraschenderweise war Heidi auf, und es sah aus, als hätte sie sich zum ersten Mal seit Monaten die Mühe gemacht, sich anzuziehen. Sie räumte fahrig ihre Wohnung auf und hatte das große Küchenfenster geöffnet, das auf den Hof hinausging. Wie Ellen durch die Sicherheitsstäbe erkennen konnte, spülte sie das dreckige Geschirr, das sich im Becken und auf dem kleinen Tisch unter dem Fenster stapelte, und dann wischte sie die Flächen ab. Sie machte die Hintertür auf, fegte den Boden und wirbelte kleine, mit flatternden Müllresten gesprenkelte Staubwolken in den fahlen Kies. Als Ellen die Lamellen ihrer eigenen Küchentür öffnete, konnte sie Heidis Kofferradio hören, das auf dem Kühlschrank stand und Hard Rock spielte. Ellen schnaubte abfällig. Der einzige Sender, aus dem sie sich etwas machte, war der Klassiksender des hiesigen Colleges, obwohl sie nicht eine einzige Sonate beim Namen hätte nennen können, nicht mal, wenn ihr Leben davon abhinge. Sie mochte Symphonien, wegen ihrer Länge und weil sie wie ein Soundtrack waren, zu dem ihre Phantasie die Bilder lieferte. Sie führten sie an Orte – um Ecken, durch Wälder, zu Schlössern und auf Inseln –, die zu besuchen sie sonst niemals in Betracht gezogen hätte.
Ellen aß ihr Frühstück und beobachtete dabei den ungewöhnlichen frühen Aktionismus. Sie aß den Speck auf weißem Toast, der dick mit Erdnussbutter beschmiert war, stopfte diese befriedigende, weiche und doch knusprige Masse in sich hinein. Die Zähigkeit der Erdnussbutter war etwas, an das sie glauben konnte. Bei einer ihrer ersten Pflegefamilien waren der Kühlschrank und die Küchenschränke mit Vorhängeschlössern versehen gewesen, und das einzig Greifbare waren ein Glas Erdnussbutter und ein ungefährlicher Laib Weißbrot, geschmiegt in eine fröhlich bunt gepunktete Verpackung, die überhaupt nicht zu der düsteren, trostlosen Küche gepasst hatte.
Eine Woche nach ihrer Ankunft hatte Ellen es herausgehabt, die Tür zu diesem Haus der Schrecken geräuschlos zu öffnen und sich am Wohnzimmer vorbeizuschleichen, das nach namen- wie filterlosen Zigaretten stank und aus dem auch tagsüber unerbittlich die Dummheit des Fernsehprogramms plärrte. Sie mied die Dielen, die knackten und sie verraten hätten, und versteckte sich in der Küche, wo sie sich schnell drei einfache Erdnussbutterbrote machte. Mit dem Schatz der Bibliotheksbücher in ihrer Schultasche floh sie die Treppe hoch unters Dach, um ein paar Stunden lang so weit entfernt von der Hausmutter wie möglich zu verbringen. Ellen hatte die von ranzigen Rauchwolken und dem steten Beleidigungsstrom ihrer Hausmutter begleiteten Mahlzeiten in jenem Haus gemieden, und diese Brote waren ihre Freunde gewesen, sie hatten sie am Leben erhalten in den sechs Monaten, als sie auf einer Matte auf dem Dachboden schlief, bevor der Sozialarbeiter die Zigarettenbrandmale an ihren Händen entdeckte. Die Male waren in jenem «Zuhause» das unvermeidbare Ergebnis jedes Bemerktwerdens. Weißes Brot und Erdnussbutter würden nie jemandem weh tun. Ellen rümpfte bei der Erinnerung an die Essensgerüche an diesem furchtbaren Ort die Nase: Kohl, ständig Kohl, zu Brei gekocht, dessen Dämpfe noch in den ungeheizten Raum unter den Dachbalken drangen.
Aber die Köstlichkeit des Specks beruhigte sie, munterte sie auf und vertrieb die Erinnerungen an dieses widerliche Umfeld. Ein Stück Speck ließ sie übrig und warf es Maus hin, der es mit Behagen aß und dann schnüffelnd über den Küchenboden zog, als hätte sich dieser mit Hickoryholz geräucherte Leckerbissen irgendwo hingebeamt, wo sich noch mehr finden ließe. Ellen gähnte gerade herzhaft, als sie vor ihrem Fenster ein Auto halten hörte. Sie linste durch die Vorhänge, aber statt des erwarteten Lebensmittellieferanten sah sie ein gutgekleidetes Paar, vermutlich Ende dreißig, das aus einem weißen Land Rover stieg. Sie sahen unruhig an dem heruntergekommenen Mietshaus hoch, als fürchteten sie, es könnte ihren kostbaren SUV zerstören. Nachdem sie es lange genug feindselig angeschaut hatten, wahrscheinlich zur Warnung, gingen sie um das Gebäude herum. Das bedeutete, sie gingen entweder zu Heidis oder zu T-Bones Haustür. Und Ellen hätte darauf gewettet, dass diese Leute nicht hier waren, um vor acht Uhr morgens Gras zu kaufen.
Heidi bekam also Besuch. Ein zweites Gähnen wurde unterdrückt, ehe es Ellens Kiefer auseinanderpressen konnte. Schlafen konnte warten. Das hier würde gut werden. Den Notizblock auf den Knien, platzierte sie sich auf dem Hocker unter dem Fenster in der Hintertür, als sie auch schon das Schnarren von Heidis Türsummer hörte und beobachtete, wie Heidi sich beeilte, die Musik auszustellen, und dann mitten in der winzigen Küche stand, die Ellen durch die offene Tür von ihrem leicht erhöhten Blickwinkel aus fast gänzlich überblicken konnte. Heidi sagte mahnend etwas, das Ellen nicht genau verstehen konnte, drehte sich im Kreis, als wollte sie noch mal prüfen, ob ja nichts Verbotenes herumstand, schüttelte dann die Hände aus und verschwand aus Ellens Blickfeld.
Eine Minute später kehrte sie mit dem Paar zurück und führte es zu ihrem winzigen Tisch, der unter dem offenen Fenster klemmte, Ellen direkt gegenüber. Der Blickwinkel war so ideal, als würde die ganze Szene extra für sie auf die Bühne gebracht. Heidi servierte ihren Besuchern nervös Kaffee in zwei nicht zueinander passenden Tassen. Ihre Hände zitterten, als sie ihnen eine kleine Milchtüte anbot und damit auf den Tisch kleckerte.
Ellen neigte den Kopf, um so viel wie möglich hören zu können, und öffnete die Lamellen noch etwas weiter.
Die Frau sagte: «Kein Problem, ich mach das schon.» Sie wischte die vergossene Milch mit einem Tuch aus ihrer Tasche auf, die teuer aussah, und wechselte dann einen Blick mit dem Mann – ihrem Ehemann, wie Ellen aus ihren identischen Goldringen schloss. «Setzen Sie sich.»
Als Heidi saß, konnte Ellen sie alle drei sehen, im Profil das Paar, das sich gegenübersaß, und von vorn Heidi zwischen ihnen. Wie immer verstärkte der lächerlich kleine, von nackten Mauern umgebene Innenhof die Stimmen, sodass Ellen dem Gespräch ohne weiteres folgen konnte.
«Also», sagte der Mann, «wie viele Wochen noch bis zu Ihrem Termin?»
«Na ja, drei, aber wer weiß das schon so genau?» Heidis gezwungenes Lachen brach ab, sodass es klang, als hätte sie sich erschrocken. Sie starrte auf ihre Finger, die auf dem Tisch ineinander verhakt waren.
Die Frau strich ihre perfekte weiße Bluse glatt und fragte dann: «Und der Vater?»
«Er … wurde getötet», antwortete Heidi, so leise, dass Ellen es kaum verstehen konnte, aber dann räusperte Heidi sich und sagte selbstsicherer: «In Afghanistan.»
«Oh, er hat gedient.» Die Stimme der Frau klang in Ellens Ohren, als wäre sie eher erfreut als traurig, zu hören, was gemeinhin als schlechte Nachricht galt.
«Ja», sagte Heidi. «Er wusste nicht, dass ich schwanger bin, als er ausgerückt ist. Ich wusste es auch noch gar nicht, erst drei Wochen später, aber ich hatte nie Gelegenheit, es ihm zu sagen.» Sie schluckte. «Er kam zwei Wochen später ums Leben, und mein Brief kam zurück … Da war eine Bombe …» Heidi verstummte und presste die Lippen zusammen.
Die Frau streckte eine Hand aus und tätschelte Heidi ungeschickt die Schulter. Dann sagte der Mann etwas, und es klang, als versuche er, freundlich zu sein, obwohl Freundlichkeit eigentlich nicht seine Sache war. «Und Sie wollen dieses Baby nicht behalten? Sind Sie sicher?» Heidi antwortete nicht sofort, also fuhr er fort. «Es tut mir leid, dass ich so direkt bin, aber wir haben das schon einmal erlebt. Sie können sich nicht vorstellen, wie schmerzhaft es ist, diesen gesamten Prozess zu durchlaufen, nur damit die Kindsmutter bei der Geburt ihre Meinung ändert.»
Heidi hielt den Blick auf einen Punkt direkt vor sich gerichtet. Sie sagte: «Ich bin sicher. Ich kann mir ein Kind nicht leisten, ich habe nicht mal einen Job. Ich möchte wieder zur Schule gehen und, na ja, mein Leben leben.»
«Gibt es sonst noch Familie?», fragte die Frau. «Was ist zum Beispiel mit seinen Eltern, oder mit Ihren? Besteht die Gefahr, dass sie Anspruch auf das Baby erheben? Das Recht dazu hätten sie nämlich.» Sie sprach die Worte mit Abscheu aus, als wäre sie von diesen Skorpionen schon einmal gebissen worden.
Dieses Mal klang Heidis Lachen grell und hasserfüllt. «Mit meinem Vater habe ich nicht mehr gesprochen, seit ich vor drei Jahren aus Illinois weg bin. Er hatte schon bei der ersten Runde kein großes Interesse an einem Kind. Außerdem bezweifle ich, dass er jemals nüchtern genug war, um zu merken, dass ich nicht mehr da bin. Meine Mutter ist gestorben. Die Eltern des Vaters?» Sie presste die Lippen zusammen. «Ich habe sie nie kennengelernt und habe nicht vor, es ihnen zu erzählen. Ich weiß nicht mal mit Sicherheit, wo sie sind.»
«Was ist mit dem Geldbetrag, über den wir gesprochen haben? Sind Sie bereit, zu unterschreiben, dass es endgültig ist und Sie später nicht noch mehr von uns verlangen werden?»
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. «Warum sollte ich das tun?»
«Ich brauche eine klare Antwort», insistierte der Mann, der etwas anderes hören wollte.
«Sicher, ja. Meinetwegen.» Heidi zuckte noch einmal mit den Schultern.
Ellen schrieb in ihr Buch: «Verkauft das Baby.»
«Haben Sie sonst noch Fragen an uns?» Die Frau klang streng, aber die professionelle Kälte ihres Mannes fehlte ihr.
«Ähm, na ja, ich möchte einfach wissen, dass es ihr gutgeht, verstehen Sie. Dass sie geliebt wird.»
Die Frau lächelte, beugte sich vor und legte eine Hand auf Heidis ineinander verschränkte Finger. «Wir wünschen uns seit fünfzehn Jahren ein Kind, aber ich kann keins bekommen. Es gibt da verschiedene medizinische Probleme. Er …»
«Details sind irrelevant», unterbrach sie der Mann, und Ellen war sicher, dass zumindest ein paar dieser medizinischen Probleme bei ihm lagen. «Was Sie wissen müssen, ist, dass das Kind, das wir adoptieren, im Leben alle Möglichkeiten haben wird. Die besten Schulen, Kindermädchen, Colleges.»
Zum ersten Mal sah Heidi auf. Sie sah nicht den Mann an, sondern die Frau. «Und … Liebe?», fragte sie.
«Und Liebe», sagte die Frau, als wäre sie eine Verkäuferin, die den exzellenten Benzinverbrauch eines Wagens erwähnt, den sie im Showroom verschachert. «Sie wird viel Liebe und Aufmerksamkeit bekommen.»
Ja, klar, dachte Ellen, von den Kindermädchen, während ihr bei der Arbeit seid. Elternsein ganz modern: Man kauft sich ein Kind und bezahlt dann auch noch jemanden dafür, dass er es großzieht.
Heidi nickte. «Es ist einfach so, dass ich nicht gerade die glücklichste Kindheit hatte, und ich möchte nicht …» Sie verstummte, dann räusperte sie sich. «Und der Arzt? Das Krankenhaus?»