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Tagebuch einer Vermissten Beim Aufräumen des Dachbodens wurde ein altes, ledergebundenes Tagebuch gefunden. Die Seiten sind vergilbt, die Einträge voller wirrer Gedanken, wachsender Angst – und einer beunruhigenden Obsession mit Spiegeln. Die Autorin, eine Frau namens Clara, berichtet von seltsamen Veränderungen, Erinnerungen, die nicht mehr zu ihr gehören, und einer Reflexion, die nicht nur ihr eigenes Spiegelbild ist. Der letzte Eintrag endete abrupt. Clara selbst? Nie wieder gesehen.
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Seitenzahl: 57
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Titel:Tagebuch einer Vermissten
Autor:Mara Steinbeck
Biografie:
Mara Steinbeck wurde 1987 in Hamburg
geboren und wuchs in einer kleinen Küstenstadt an der Nordsee auf. Nach der Schule arbeitete sie zunächst in
verschiedenen Berufen, unter anderem als Redakteurin für eine Lokalzeitung und später in einem Antiquariat, wo sie ihre Faszination für alte Bücher und vergessene Geschichten entdeckte.
Ihre Leidenschaft für das Unheimliche entwickelte sie früh – inspiriert von verlassenen Häusern, düsteren Küstennebeln
und der stillen menschenleeren Straßen bei Nacht. Diese Eindrücke fließen in ihre Geschichten ein, die oft von psychologischen Abgründen und Identitätsverlust handeln.
Tagebuch von Clara Hoffmann
Leipzig, 3. Februar
Ich hasse Umzüge. Jeder, der sagt, dass ein Neuanfang befreiend ist, sollte sich mal allein durch eine zugige Altbauwohnung kämpfen, während draußen Schneematsch die Straßen versaut. Ich sitze hier zwischen Kartons, während mein Rücken von den schweren Kisten schmerzt. Die Wände sind hoch, das Holzparkett knarrt bei jeder Bewegung, und der Heizkörper in der Küche klappert, als würde er sich über meine Existenz beschweren.
Ich bin müde, aber nicht müde genug, um zu schlafen. Mein Kopf brummt noch von der Anstrengung, und während ich hier auf dem Boden sitze, frage ich mich, warum ich mir das überhaupt antue. Warum musste ich unbedingt einen Neustart in diesem gottverdammten Stadtwagen? Ich kenne kaum jemanden hier. Ein paar Kollegen aus der Restaurationswerkstatt, ein flüchtiges Tinder-Date vor drei Wochen, das mir eher gelangweilt als aufgegeilt hat, und sonst? Nichts.
Ich nehme einen Schluck Wein direkt aus der Flasche. Irgendein Billigzeug, aber es wärmt. Mein Blick bleibt an dem verdammten Spiegel hängen.
Er stand schon hier, als ich eingezogen bin. In der Ecke des Schlafzimmers, riesig, mit einem dunklen, geschnitzten Holzrahmen, vermutlich 19. Jahrhundert. Irgendein Vormieter muss ihn dagelassen haben. Ich wollte ihn eigentlich abdecken, aber das Ding ist schwer, und ich hatte keine Lust, mir noch die Hände zu ruinieren. Also steht er da und glotzt mich an, während ich schreibe.
Spiegel sind merkwürdige Dinger. Sie zeigen alles, aber irgendwie fühlt es sich immer falsch an. Gerade sehe ich mich selbst an, blass, mit dunklen Augenringen, das Haar zerzaust. Ich trage nur ein weites T-Shirt und einen Slip, und ich merke, dass mein Blick an meinen eigenen Beinen hängen bleibt.
Manchmal frage ich mich, ob ich mir selbst gefallen würde, wenn ich mich nicht als mich selbst kennen würde. Oder ob ich mich selbst in einer Bar abschleppen könnte, wenn ich nicht genau wüsste, wie bescheuert ich beim Orgasmus klingelte.
Blöder Gedanke. Ich schiebe die Flasche weg und drehe mich weg vom Spiegel.
Leipzig, 4. Februar
Okay, das war komisch.
Ich bin heute Morgen aufgewacht und hatte das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt. Ich lag auf der Seite, mit dem Gesicht zum Spiegel, und für einen Moment dachte ich, dass mein Spiegelbild sich langsamer bewegt hat als ich. Nur einen Wimpernschlag lang, aber es war genug, um mich ins Taumeln zu bringen. Ich saß da, starrte mich selbst an, und versuchte, mir einzureden, dass ich einfach noch nicht richtig wach bin.
Dann stehe ich auf und duschte. Aber als ich mich danach abtrocknete und in den Spiegel im Badezimmer sah, hatte ich das Gefühl, dass meine Lippen sich noch einen Moment lang bewegten, obwohl ich längst aufgehört hatte zu sprechen.
Ich hab nicht mal gemerkt, dass ich mit mir selbst rede.
„Du bist paranoid, Clara“, hab ich mir gesagt.
Mein Spiegelbild hat mich angesehen. Ich weiß, wie dumm das klingt. Natürlich hat es mich angesehen. Es ist ein Spiegel. Und trotzdem fühlte es sich nicht richtig an.
Leipzig, 5. Februar
Ich bin heute mit einem seltsamen Druck im Kopf aufgewacht.
Es war, als würde mein Schädel von innen gegen meine Stirn drücken, als hätte sich in der Nacht irgendetwas in meinem Bewusstsein verschoben. Vielleicht zu viel Wein, zu wenig Schlaf, zu viele dumme Gedanken über mich selbst, über meinen eigenen Körper, über das komische Gefühl, dass ich mich in letzter Zeit nicht mehr ganz wie ich selbst fühle.
Ich habe mir eine Stunde frei genommen, um mich zu sammeln. Ich habe mich vor den Spiegel gesetzt. Ich wollte mich selbst beobachten.
Aber ich konnte es nicht.
Jedes Mal, wenn ich mich zu lange ansehe, wird mir schlecht. Es ist, als würde mein Gehirn mir einen Streich spielen, als würde ich erwarten, dass ich mich irgendwann bewege, ohne dass ich es tue.
Ich weiß, dass das Blödsinn ist. Ich bin müde. Ich bin gestresst. Vielleicht sollte ich mal wieder richtig durchgefickt werden, vielleicht bin ich einfach nur frustriert, und mein Körper sucht sich dumme Wege, mich das wissen zu lassen. Vielleicht brauche ich nur einen Kerl oder eine Frau oder irgendjemanden, der mich ordentlich gegen eine Wand drückt, bis mein Kopf aufhört, so viel Scheiße zu produzieren.
Aber selbst dieser Gedanke macht mir nicht mehr so viel Spaß wie früher.
Ich habe den Spiegel für heute mit einem Laken abgedeckt.
Mal sehen, ob das hilft.
Leipzig, 6. Februar
Ich habe schlecht geschlafen. Der Wind hat gegen das Fenster gedrückt, die Heizung hat geknackt, und irgendwann mitten in der Nacht bin ich schweißgebadet aufgewacht, weil ich dachte, dass mich jemand ansieht.
Ich lag im Dunkeln, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und ich schwöre, ich konnte einen Atmen hören. Ganz leise, gleichmäßig. Nicht mein eigenes. Ich habe mich nicht bewegt, nicht einmal getatmet, nur gelauscht. Nichts.
Aber als ich mich endlich traute, mich aufzusetzen, war da dieses Gefühl im Nacken. Als würde jemand direkt hinter mir stehen.
Ich hab mich nicht umgedreht. Ich bin einfach aufgestanden, in die Küche gegangen und habe einen halben Liter Wasser getrunken, während mein Herz so laut in meinen Ohren hämmerte, dass ich dachte, es würde mich umbringen. Ich wollte nicht zurück ins Schlafzimmer, sondern hab mich auch auf die Couch gelegt. Ich hab mir eingeredet, dass ich mich beruhigen muss. Aber ich hab trotzdem jede Stunde auf die Uhr geschaut, bis der Wecker mich erlöst hat.
Ich habe beschlossen, dass ich durchdrehe.
Ich meine, ich habe das Laken über den Spiegel gelegt, also was soll das alles? Ich habe ihn nicht einmal gesehen. Ich kann mir nicht einreden, dass irgendwas nicht stimmt, wenn ich ihn nicht mal benutze. Und trotzdem.
Ich habe das Gefühl, dass ich mir selbst nicht mehr gehöre.
Ich habe heute in der Mittagspause eine Kollegin gefragt, ob sie weiß, wer hier vorher gewohnt war. Nadine, die in der Werkstatt immer die alten Kirchenfresken restauriert, hat nur mit den Schultern gezuckt. „Ist doch scheißegal, oder?“
Vielleicht hat sie recht. Aber vielleicht auch nicht.
Leipzig, 7. Februar
Ich habe einen Fehler gemacht.
Heute Morgen habe ich das Laken vom Spiegel genommen. Einfach so. Weil ich müde war, weil ich einen klaren Kopf haben wollte, weil ich mir einreden wollte, dass ich mich nicht selbst verarsche.
Ich hätte es nicht tun sollen.