Tagebuch in den Tod - Silvia Beck - E-Book

Tagebuch in den Tod E-Book

Silvia Beck

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Beschreibung

Staatsanwältin Dr. Kerstin Hauk bekommt einen Fall auf den Schreibtisch, bei dem sie schnellstens entscheiden muss, ob eine Ermittlung wegen Tötung oder gar wegen Mordes eingeleitet werden muss. Aus den Akten geht hervor: Ein Mann war mit seiner neuen Lebensgefährtin und deren Kind zu einem Urlaub nach Frankreich an die Cote d'Azur gereist. Auf der Rückfahrt ereignet sich ein schrecklicher Unfall am San-Bernhardino-Pass. Alle drei finden den Tod. Die Schweizer Polizei untersuchte den Unfall und vermutet, nachdem das Tagebuch des Mannes gefunden und gelesen wurde, dass der Unfall womöglich kein Unfall war, sondern vorsätzlich herbeigeführt wurde. Die Identität des Mannes konnte die Schweizer Polizei nicht klären. Die deutsche Staatsanwältin ist von dem Inhalt des Tagebuches fasziniert. Und die Frage - wer ist der tote Mann? - gewinnt für sie und ihre Entscheidung eine zentrale Bedeutung.

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Seitenzahl: 193

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Autorin

Jahrgang 59, Geophysikerin

studierte Literatur in Leipzig, Philosophie in Dresden

Staatsanwältin Dr. Kerstin Hauk bekommt einen Fall auf den Schreibtisch, bei dem sie schnellstens entscheiden muss, ob eine Ermittlung wegen Tötung oder gar wegen Mordes eingeleitet werden muss.

Aus den Akten geht hervor:

Ein Mann war mit seiner neuen Lebensgefährtin und deren Kind zu einem Urlaub nach Frankreich an die Cote d'Azur gereist. Auf der Rückfahrt ereignet sich ein schrecklicher Unfall am San-Bernhardino-Pass. Alle drei finden den Tod.

Die Schweizer Polizei untersuchte den Unfall und vermutet, nachdem das Tagebuch des Mannes gefunden und gelesen wurde, dass der Unfall womöglich kein Unfall war, sondern vorsätzlich herbeigeführt wurde.

Die Identität des Mannes konnte die Schweizer Polizei nicht klären.

Die deutsche Staatsanwältin ist von dem Inhalt des Tagebuches fasziniert. Und die Frage - wer ist der tote Mann? - gewinnt für sie und ihre Entscheidung eine zentrale Bedeutung.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 1

Ein deutscher Staatsanwalt muss nun entscheiden, ob ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden soll oder nicht. Diese Aufgabe - samt der zugehörigen Akte mit der Aufschrift "San Bernhardino" - ist Staatsanwältin Dr. Kerstin Hauk zugefallen. Zu deren großer Freude!

Als würden sich auf ihrem Schreibtisch nicht schon genügend Akten anderer Fälle türmen! Zum Mäusemelken, stöhnt sie angesichts des umfangreichen Materials, das da zusätzlich auf ihrem Schreibtisch gelandet ist.

Dringend, hat ihr Chef, Oberstaatsanwalt Mittenzwei, betont. Drei Tote! Deutsche Staatsbürger! Auch ein Attentat sei nicht gänzlich auszuschließen. Man wisse schließlich nie, wann und wo der weltweite Terrorismus Opfer sucht und findet. Im Übrigen habe die ganze Sache viel mit Psychologie zu tun, wie es scheint, was bei ihr, Kerstin Hauk, ja bekanntlich besonders Interesse wecken müsste!

Blödmann, denkt Kerstin Hauk und blättert missmutig in dem dicken Aktenordner. Ihr Chef geht ihr in den letzten Monaten zunehmend auf die Nerven. Sicherlich – er bekommt mächtigen Druck aus dem Ministerium, wenn sich die ungelösten Fälle häufen, aber mit der Methode „Stets zu Diensten, wird sofort erledigt!" wird das Wirrwarr nur größer. Eine vernünftige Arbeit ist unmöglich, wenn jeden Tag die Dringlichkeiten neu verteilt werden.

Und immer bei Fällen, in denen ausländische Behörden beteiligt sind, müht sich der Chef ganz besonders um schnellstmögliche Entscheidungen. Das bringt im Ministerium Pluspunkte. Das weiß Kerstin Hauk. Und der Diensteifer ihres Chefs, der als Leihbeamter aus dem Westen des Landes zur Wende in den Osten gekommen war, „um zu helfen" wie es offiziell hieß, war nach wie vor ungebrochen. Am Oberlandesgericht Kassel, wo er früher tätig war, hätte er es wahrscheinlich nicht mehr zum Oberstaatsanwalt gebracht. Eher wäre er in den Vorruhestand abgeschoben worden.

Kerstin Hauk fehlt für Prioritätensetzung, die nur in Hinblick auf das Wohlwollen übergeordneter Ebenen getroffen wurden, zwar nicht das Verständnis, aber sie hasst sie. Natürlich ist auch sie bemüht, ihre Aufgaben zur Zufriedenheit ihrer Chefs zu erfüllen, auch sie hat nichts gegen eine Gehaltserhöhung; und sie versteht natürlich auch, dass ihr Chef keine Lust hat, sich ständig von oben anscheißen zu lassen, wegen irgendwelcher diplomatischen Verwicklungen... - aber wenn Diensteifer und Selbstschutz in Rektaltouristik ausarten, beschleicht sie eine gewisse Übelkeit. Das ging ihr schon immer so. Auch vor der Wende. Einen Unterschied zwischen sozialistischer und marktwirtschaftlicher Arschkriecherei sieht sie nicht. Ihre eigene Karriere schreibt sie sich ihrem Fleiß und ihrer Zuverlässigkeit zu. Ob das auch alle andere in der Leipziger Staatsanwaltschaft so sehen, möchte sie allerdings nicht beschwören. Die Affäre, die sie vor Jahren mit einem der Oberstaatsanwälte hatte, dürfte diesbezüglich auch andere Auslegungen zulassen. Von wegen "Hochschlafen"! Was natürlich völliger Unsinn ist, wenn man Kerstin Hauk fragt. Wobei, wenn sie zu sich ehrlich sein soll, dann hat ihr die Affäre für ihre Karriere zumindest nicht geschadet!

Aber was soll's? Auch das ist Schnee von gestern! Sie kann sich da nachträglich keine Vorwürfe machen. Es war die Phase ihrer Ehe gewesen, als die den Bach hinunter ging. Da war die Affäre keine Affäre, sondern eher ein Rettungsring. Etwas, wo sie sich festhalten konnte. Die Affäre endete, als der Oberstaatsanwalt ins Ministerium versetzt wurde. Das war eine gute Lösung. Schluss und aus!

Ungefähr seit jener Zeit ermittelt sie an einem Fall von Wirtschaftskriminalität, der in seinen Dimensionen das ganze Land und die Bundesregierung erschüttern könnte. Es gab nicht nur in Sachen Leuna-Werke Geldflüsse der unheimlichen Art - die nicht unmittelbar aktenkundig wurden, aber stattgefunden hatten! Aber mit diesen Ermittlungen waren oben keine Lorbeeren zu ernten. Schnee von vorgestern! Keinen, auch nicht ihren Chef, interessierte es, dass sie mit diesem Fall nur sehr langsam vorankam. Die Ermittlungen werden immer wieder von so genannten aktuellen Ereignissen höherer Dringlichkeiten unterbrochen und verzögert. Jetzt ein Unfall!

Sie zuckte die Achseln – sei's drum, sie würde die Strukturen dieses Systems eh nicht revolutionieren können. Und es fehlte ihr dazu auch jeglicher Antrieb. Ihre revolutionäre Phase hat sie mit aktuell siebenundvierzig Jahren längst hinter sich gelassen.

Kerstin Hauk hat sich die Unfallakte mit nach Hause genommen. Seit sie von ihrem Mann getrennt lebt und die Kinder längst ihre eigenen Wege gehen, hat sie an den Wochenenden oft Langeweile, die sie totschlagen muss. Warum nicht mit einem Unfallbericht? Vielleicht sogar spannend? Immerhin drei Tote!

Die Fotos vom Unglücksort hat sie allerdings sofort ausgesondert und in ein blickdichtes Kuvert verbannt. Ihr genügen die blutrünstigen Schlachtszenen in schwedischen Krimis, die sie sich häufig genug abends anschauen muss. Ja, muss!

Sicher könnte sie auch anderswo hin zappen, aber so grausig die Schwedenkrimis auch sind, so findet sie die doch mit Abstand als die besten. Es ist ein "Muss", die anzuschauen! Und manchmal gelingt es ihr ja auch, bei besonders schlimmen Bildern rechtzeitig die Augen zu schließen.

Kerstin Hauk wohnt in einer Mansardenwohnung im Süden Leipzigs. So was hat sie sich schon als junges Mädchen gewünscht - eine große Wohnetage mit schrägen Wänden, zu der von unten her, wo sich Küche, Schlaf- und Gästeraum befinden, eine Treppe hinaufführt. Dazu eine kleine Dachterrasse. Die Möbel stammen überwiegend aus dem Haus, welches sie gemeinsam mit ihrem Mann eingerichtet hatte. Er hat nach der Trennung auf alles verzichtet. Das Haus ist verkauft. Von ihrem Anteil am Verkauf des Hauses hat sie die Wohnung bezahlt. Die Wohnung gehört ihr allein. Ihr Ex, wie man die geschiedenen Ehemänner allgemein zu nennen pflegt – und so tut es auch Kerstin Hauk... - ihr „Ex" also hat sich in einer kleinen möblierten Wohnung verkrochen und scheint, soweit sie das beurteilen kann, ganz in seinem Beruf und einer neuen Liebe aufzugehen.

Dass sie noch nicht geschieden sind, hat rein steuerrechtliche Hintergründe – er kann seine Wohnung als Büro absetzen, da er offiziell noch bei seiner Frau wohnt. Natürlich könnte man von Steuerbetrug sprechen, aber herrje... weder Kerstin Hauk, noch ihr Ex haben da größere Skrupel. Eine Bagatelle! Sie weiß von ganz anderen Betrügereien, die landauf landab gang und gäbe sind.

Nein, Scheidung ist reine Formsache. Das ist ihr gleichgültig. Auch ihre Heirat damals vor 24 Jahren, die verbunden war mit dem Erwerb eines Trauscheines, hatten sie beide nur als Formsache betrachtet. Man war zusammen, weil man das so wollte, freiwillig! Und man hätte jederzeit auseinander gehen können. Für Kerstin Hauk wäre das unter den herrschenden Verhältnissen kein ökonomisches Risiko gewesen. Selbst für Frauen mit Kindern waren Arbeit und Verdienstmöglichkeit garantiert.

Wenn Kerstin Hauk zuhause Schreibtischarbeit zu erledigen hat, tut sie das am liebsten - vorausgesetzt, es ist schönes Wetter! - an dem kleinen Campingtisch, der auf der Dachterrasse steht. Der Blick von der Terrasse geht über die Vorgärten hinweg zu den Bäumen der nahe gelegenen Parkanlagen am Silbersee, der aber leider nichts mit Karl May und Old Shatterhand zu tun hat. Aber warum soll es in dem Silbersee nicht auch irgendeinen Schatz geben?

Jedenfalls hat sie kein Visasvis, vor dem man sich verbergen müsste. Herrlich! Sie legt die Aktenmappe auf den Campingtisch, holt sich ein Glas für den Wermut und ein Glas für Wasser. Direkt mischen mag sie nicht. Die Abendsonne wärmt noch angenehm. Um später, wenn die Sonne hinter den Kastanienbäumen des Parks verschwunden sein wird, nicht frieren zu müssen, legt sie sich noch eine dicke Decke zurecht. So!

Sie schlägt den Aktenordner auf. San Bernhardino! Der Pass zwischen der Schweiz und Italien. Sie kennt die Strecke. Einmal - das war, als sie noch glaubte, ihre Ehe wäre tatsächlich für die Ewigkeit geschmiedet - hatten sie, also die ganze Familie Hauk einschließlich der beiden Kinder, am Gardasee einen Urlaub verbracht und waren auf der Rückfahrt nach Deutschland über diesen Pass gefahren. Aber die Erinnerungen sind schwach - Berge, Serpentinen, Tunnel, Schluchten, Brücken... Kerstin Hauk müht sich nicht weiter, das Gedächtnis zu aktivieren. Lange her... alles! Sieben Jahre vielleicht. Seit drei Jahren lebt sie allein..., ja - vor sieben Jahren muss das gewesen sein! Sie nippt an dem Wermut und fühlt keine Bitterkeit, wenn sie an die Zeit vor sieben Jahren denkt; überhaupt, wenn sie an ihre verflossene Ehe denkt! Es waren schöne Jahre. Aber seit der Trennung genießt sie auch das ungebundene Alleinsein. Wie war das damals...?

Kerstin Hauk bremst ihre Gedanken, die - wie so oft - nur zu gern in der Erinnerung herumstöbern würden. Sie zwingt sich zur Konzentration auf die Akte "San Bernhardino".

Der Unfall, der sich vor zwei Tagen in den Schweizer Alpen ereignet und drei Todesopfer gefordert hat, lässt, wie der Bericht konstatiert, einige Fragen offen. Die Schweizer Polizei scheint gute Arbeit geleistet zu haben. Die Umstände des Unfalls liegen klar und eindeutig zutage. Aktenkundig! Einschließlich der grausigsten Farbfotos! Drei Leichen. Eine weiblich, ein Kind von neun Jahren und ein Mann. Der PKW war mit voller ungebremster Fahrt - die Experten errechneten zirka 130 km/h - auf einen Tunnelpfeiler geprallt. Für die Rettungsärzte gab es nur noch wenig zu tun. Das Auto brannte völlig aus. Von dem Mann und dem Kind waren nur noch stark verkohlte Reste geblieben. Die Frau war aus dem Fahrzeug herausgeschleudert worden und somit den Flammen entgangen. Ihr Körper wies am Hals Würgemale und oberhalb der Brust Blutergüsse auf, die nicht eindeutig durch den Aufprall am Betonpfeiler zu erklären sind; und - der Mann hat ein Tagebuch geführt!

Der Computerausdruck ist dem Unfallbericht beigefügt. Die Tagebuchaufzeichnungen haben Experten von Disketten herunter geladen. Die Aktenmappe mit den Disketten war ebenfalls aus dem Auto herausgeschleudert worden und unversehrt geblieben.

Die Auswertung der Tagebuchaufzeichnungen durch die Schweizer Polizei hatte ergeben, dass der Mann, die Frau und deren Kind zehn Tage Urlaub in einer Feriensiedlung in Vallauris, nahe Nizza, verbracht hatten.

"Der Mann - 50 Jahre alt / namenlos - ist nicht der Vater des Buben. Der Bube, Mirko, war neun Jahre alt. Die Frau - 44 Jahre alt, Maria (oder Marianne) - und dieser Mann sind nicht durch ein offizielles Ehebündnis verbunden. Sie leben seit drei Jahren zusammen. Die Frau ist wohnhaft in Muhr am See/Bayern. Der namenlose Mann wird, wie aus den Aufzeichnungen hervorgeht, von der Frau und dem Buben „Achim" genannt, was auch eine Abkürzung für Joachim oder Hans-Joachim, Heinz-Joachim o.ä. sein könnte. Er ist ein Neubundesbürger. Weitere Informationen zur Identität konnten nicht entdeckt werden."

Kerstin Hauk kann sich beim Lesen ein breites Grienen nicht verkneifen - dass der Begriff "Neubundesbürger" auch in der Schweiz und sogar in der Amtssprache Verwendung findet, amüsiert sie. Und von wegen - 'namenlos' - wenn einer 'Achim' gerufen wird, hat er doch einen Namen, auch wenn es vielleicht eine Abkürzung ist! Aber sie weiß natürlich, was die Kollegen mit 'namenlos' meinen - kein amtlich vollwertiger Name!

Die Aufzeichnungen des Mannes, erfährt sie weiter, enthalten neben Beschreibungen der Ereignisse und Erlebnisse der Urlaubstage auch die Darstellungen verschiedener Auseinandersetzungen, die zwischen ihm und der Frau stattgefunden hatten. Da von gewissen Drohungen, den anderen umbringen zu wollen, die Rede sei, waren die Schweizer Kriminalisten hellhörig geworden und hatten einen Psychologen hinzugezogen: Der Unfall könnte ein Verbrechen sein!

Auch Selbstmord ist ein Verbrechen, insbesondere wenn andere mit in den Tod gerissen werden, ergänzt Kerstin Hauk diese Überlegungen der Schweizer Polizisten.

Auf ihrer kleinen Dachterrasse wird es doch schneller kühl, als sie dachte. Kaum dass sich die Sonne hinter den Bäumen des Parks am Silbersee versteckt hat, fröstelt ihr. Der Hausanzug den sie trägt, betont zwar ihre Figur durchaus vorteilhaft, wärmt aber nicht sehr. Die dicke Winterdecke aus Kamelhaar wäre anderseits übertrieben zuviel. Sie holt sich den Froteebademantel aus dem Bad und gießt sich etwas Wermut nach. Ob sie mit dem Wermut das leichte Frösteln besiegen kann, dass sie trotz Bademantel noch spürt, ist fraglich, aber sie braucht einen Schluck.

Manchmal braucht sie mehr Schlücke, als sie selbst für gut hält. Sie muss den Alkoholkonsum einschränken - sie weiß es. Seit der Trennung von ihrem Mann vor drei Jahren hat sie öfters Trost, oder Wärme, oder Ruhe, oder was auch immer im Alkohol gesucht. Nicht dass sie sich besaufen würde, das hat sie auch nicht getan, als der Trennungsschmerz noch sehr stark gewesen war... - das nicht, Gott bewahre! -, und sie ist sich auch sicher, nicht abhängig zu sein, aber sie hat sich angewöhnt, abends eins, zwei oder gar drei Gläschen Rotwein, oder eben Wermut zu trinken. Dass sie seitens der einschlägigen Medizinfachblätter daher schon zu den Alkoholikern gerechnet wird, ist ihr ziemlich egal. Doch irgendwann muss sie konsequenter werden - maximal ein Glas am Abend! Aber nicht an diesem Abend. Demnächst - bestimmt!

Sie vertieft sich wieder in die Protokolle der Schweizer Polizei, in die Analysen und Berichte.

Selbst wenn man von einem Kampf der beiden Erwachsenen im Auto ausgeht, oder wenn der am Steuer sitzende namenlose Mann, der 'Achim' gerufen wird, weshalb auch immer, mit Absicht gegen den Pfeiler gerast wäre, in jedem Fall ist der Schuldige tot.

Was soll es also? Aber so schnell kann Kerstin Hauk die Flinte natürlich nicht zurück an die Wand hängen, sie muss tiefer einsteigen in die Ereignisse.

In den Tagebuchaufzeichnungen, die in digitaler Form sichergestellt worden waren, spricht der Schreiber auch von seiner ihm angetrauten Ehegemahlin, Kerstin, von der er seit einigen Jahren getrennt lebt.

Als sie ihren Vornamen liest - Kerstin - stutzt sie kurz und ist unangenehm berührt. Die Frau des toten Mannes hieß wie sie, Kerstin - komisch!

Warum sie das komisch findet, kann sie sich nicht erklären; versucht es auch nicht lange. Eben ein Namensvetter... äh, eine Namensvetterin? Namenscousine?

Sie hatte sich als junges Mädchen oft genug geärgert, solch einen Dutzendnamen bekommen zu haben – Kerstin! Ein Modename jener Jahre, in denen sie und andere Mädchen in die Welt gesetzt worden waren. Sie vermutet, irgendeine Schlagersängerin, die oft genug in den Hit-Paraden auf Platz eins gewesen ist, wird so geheißen haben, wie sie und viele andere nun ebenfalls heißen. Durch den Unfall gibt es nun - gottseisgedankt! - eine Kerstin weniger, sagt sie sich und findet diesen Aspekt etwas makaber. Doch dann merkt sie, dass sie sich geirrt hat - es hat keine Reduzierung der Kerstins stattgefunden, die Frau von dem Toten war ja nicht umgekommen. Es war nur eine Reduzierung bei den Marias eingetreten. Ja, Maria hieß die tote Frau.

Staatsanwältin Kerstin Hauk gehört nicht zu denjenigen, die immer und ewig dem Recht zum so genannten Sieg verhelfen wollen. Auch nicht dem Frauenrecht. Sie ist überzeugt, dass auf Basis der Gesetze nur höchst selten das Recht siegt. Wem nützt es eigentlich, ob der Unfall ein Unfall, oder durch Vorsatz herbeigeführt worden war? Was hat das mit Recht zu tun? Alle sind tot.

Der Vater des getöteten Kindes allerdings besteht auf Klärung. Wäre dem namenlosen toten Mann eine Schuld nachzuweisen, könnte der Vater des Kindes auf Schadenersatz klagen, wenn keine Mitfahrerversicherung abgeschlossen wurde. Womöglich gibt es bei dem toten Mann was zu holen?

Wieso ist eigentlich, stutzt Kerstin Hauk, - wenn der Vater des toten Kindes bereits ermittelt wurde - nicht der Name des toten Mannes bekannt? Der Kindesvater muss doch gewusst haben, wie der heißt! Und wenn nicht - warum? Ist die Frau heimlich mit dem Mann und ihrem Kind fort gefahren?

Aber normalerweise - das weiß man aus der Literatur, aus Film und Fernsehen - wenn Frauen mit einem Geliebten ausbüchsen, dann lassen sie ihre Kinder dem Ehemann zurück, der dann von allen, ob seiner ungeheuren Bürde, die er nun zu tragen hat, bedauert wird.

Kerstin Hauk blättert noch mal einige Seiten zurück und findet die entsprechende Passage, wo es um die Forderungen des "leiblichen Vaters des verunfallten Buben geht". Sie muss feststellen, dass sie den Text wohl zu schnell überflogen hat - es war nicht von den Forderungen des Vaters die Rede, sondern davon, dass der "leibliche Vater des verunfallten Buben" ein berechtigtes Interesse haben könnte... könnte! ..., Schadensersatzforderungen zu stellen.

Auch Versicherungen könnten auf Klärung bestehen.

Schadensersatz, Haftpflicht, Lebensversicherungen...

All diese versicherungstechnischen Fragen, haben einen Staatsanwalt nicht unmittelbar zu interessieren. Kerstin Hauk schüttelt unwillig den Kopf, als wolle sie eine lästige Fliege abschütteln. Sie weiß allerdings, dass ihre Entscheidung Auswirkungen auch in diesen versicherungstechnischen Belangen haben werden.

Sie blättert in dem Hefter. Nein, weder die Identität des Toten, noch die des Vaters des Buben sind ermittelt worden.

Die zweifelsfreie Ermittlung der Identitäten der Toten wird die erste und primäre Aufgabe in diesem Fall sein. Dann die Ermittlung der Hinterbliebenen! Sie nickt energisch und macht sich eine entsprechende Notiz.

Um diese Fragen haben sich die Schweizer Beamten verständlicherweise nicht gekümmert. Sie hatten nur die Fakten zusammengesucht, die aus den Tagebuchaufzeichnungen des Mannes geschlussfolgert werden konnten. Das war eigentlich schon mehr, als man erwarten kann. Über das Kennzeichen des ausgebrannten PKW vom Typ Mazda hatte man sogar herausgefunden, dass es ein Mietauto von der Firma Hertz, Niederlassung Nürnberg war. Dort würde man bei weiteren Ermittlungen ansetzen können. So müsste man schnell den Mieter des Fahrzeuges finden und zu weiteren Informationen über die Identitäten gelangen. Kein Problem soweit!

Kerstin Hauk macht sich weitere Notizen und nippt zuversichtlich an ihrem Glas. Das Kind werden wir schon schaukeln!

Dem Bericht der Schweizer Kollegen sind die ausgedruckten Tagebuch-Aufzeichnungen des Mannes angefügt, die er auf einem, beim Unfall total zerstörten Notebook einer älteren Baureihe der Marke Siemens geschrieben und auf Disketten gesichert hatte. Die Aufzeichnungen sind nach Tagen geordnet. Kerstin Hauk lässt die Seiten wie die Karten eines Kartenspiels über den Daumen blättern. Das müssen mindestens... doch noch bevor sie eine Schätzung der Seitenzahl vornehmen kann, fällt ihr Blick bereits auf die Seitenzahl unten auf dem letzten Blatt - so viele Seiten! Vom Umfang her tatsächlich beinahe ein kurzer Roman. Wie kann man in so wenigen Tagen nur soviel Tinte, oder genauer gesagt – Bits verschwenden? Was manche Leute unter Urlaub verstehen? Ein Buch lesen, das gehört zweifelsohne zu einem guten Urlaub, aber eins schreiben...?

Im Fernsehen wird, wie sie beim kurzen Blick in das TV-Programm registriert hat, in wenigen Minuten ein alter französischer Film anfangen. Einer von der Sorte, die nicht mehr gedreht werden - oder wenn sie noch gedreht, dann nur höchst selten gezeigt werden - ein richtiger Film, kein Hollywoodschinken, ein Film mit richtigen Schauspielern, mit richtigen Handlungen, mit... mit... Kerstin Hauk ist der Name des Hauptdarstellers entfallen. Aber es ist einer ihrer Lieblingsdarsteller! Sie ist über sich selbst entsetzt - wie hieß der bloß? Noch ein paar Jahre und sie wird wahrscheinlich völlig verkalkt sein. Dessen ist sie sich allerdings ganz und gar nicht sicher. Im Gegenteil ist sie eigentlich überzeugt, dass sie - nicht zuletzt durch die Anforderungen ihres Berufes - geistig fit ist und bleiben wird. Aber der Name will ihr nicht einfallen. Eduard... Ives... Jean...?

Sie ist hin und her gerissen – der Film oder diese Tagebuchaufzeichnungen?

Sie seufzt und gesteht sich eine gewisse, mehr als nur berufliche Neugier zu, die sie erfasst hat. Was wohl hat den Eifer der Schweizer Beamten so angestachelt? Was gibt es in den Tagebuchaufzeichnungen Interessantes zu lesen?

Der Ordner mit dem bedruckten Papier liegt vor ihr wie eine geheimnisvolle Höhle. Welche Geheimnisse kann man drinnen entdecken? Immerhin drei Tote. Und eine Beziehungskiste! Mann mit fremder Frau und fremden Kind...

Sie beginnt zu lesen. Es ist ihr, als würde sie in ein fremdes Haus treten und alles ungesehen beobachten können. Mäuschen spielen! Voyeurismus!?

Als Kind hatte sie manchmal, wenn ein Buch allzu aufregend geworden war, schnell erst mal am Ende nachgelesen, ob denn auch alles gut gehen wird. Das hatte sie dann zwar beruhigt, ihr aber doch die Spannung und das Vergnügen genommen. Sie tat es bald nicht mehr. Und um sich die Spannung nicht zu nehmen, bezwang sie auch jetzt diese Verlockung, am Ende oder zwischendrin nachzuschauen. Sie beschloss, so zu lesen, wie es die Schweizer Experten zusammengestellt hatten - der Reihe nach!

Das Deckblatt, wies wie ein Inhaltsverzeichnis aus, was an Berichten und Texten der Reihe nach ausgedruckt worden war. Nämlich nicht nur die Unfallprotokolle und die einzelnen Kapitel der Tagebuchaufzeichnungen, sondern zusätzlich Texte, die der Schreiber schon früher geschrieben und im Tagebuch erwähnt hat. Da waren noch ein Monolog: "Frei von der Leber weg" - der an der Stelle eingefügt wurde, wo er Erwähnung im Tagebuch findet - und am Ende ein längeres Textfragment über die erste Begegnung des Schreibers mit der Frau Maria.

Diese Texte waren ebenfalls auf CDs in dem Aktenkoffer, der das Unglück relativ schadlos überstanden hatte, gefunden worden. Kerstin Hauk kommt aus dem Staunen über den Arbeitseifer der Schweizer Kollegen kaum hinweg.

Sie beginnt mit der Lektüre.

"Aus dem Tagebuch des toten Mannes:"

Die Nacht vor der Abreise

Vereinbart hatte ich mit Maria: Abfahrt nach Italien spätestens sieben Uhr, Aufstehen sechs Uhr!

Das hieß natürlich - am Vorabend möglichst nicht so spät ins Bett zu gehen. Ich war deshalb rechtzeitig losgefahren und auch rechtzeitig am frühen Abend bei Maria angekommen. Die Autobahn war beinahe leer gewesen. 320 Kilometer in zweieinhalb Stunden!

Wenn ich zu Maria fahre, dann fahre ich meistens am Limit; so als könnte ich es nicht mehr erwarten. Und wenn ich dann in die Einfahrt zu dem alten Bauerngehöft einbiege, bekomme ich jedes Mal Herzklopfen. Zum anderen erinnere ich mich fast jedes Mal an das erste Mal - im Juni vor drei Jahren. Ich war einfach losgefahren. Ich wollte die Frau, die ich auf einem Seminar kennen gelernt hatte, dort erleben, wo sie wohnt. Irgendwie, damit sie real wird, damit sie eine bodenständige Erscheinung wird - mit Adresse und Hausnummer, damit sie kein Traum bleibt. Und dass ich damals nicht gleich sofort und für immer abgeschreckt worden bin, ist nur damit zu erklären, dass ich mich verliebt hatte - lebensgefährlich verliebt! Ich Rindvieh!

Die Unordnung in ihrem Haus hatte die Qualität von Chaos - veranstaltet von sieben Katzen und einem männlichen Kind von - damals - sieben Jahren, der ihr Sohn war. Entsetzlich! Alles lag durcheinander. Schon im Eingangsbereich, wo die Schuhe abgestellt werden, türmten sich auf unter und neben den Regalen Kleidungsstücke, Zeitungen, eingedreckte Schuhe, Gartengeräte, Spielzeug, Zettel, Handschuhe, Flaschen, Tuben, Tüten und Krimskrams jeder Art und Sorte. Noch schlimmer der Küchentisch, wo - wie man so sagt - der Kamm in der Butter lag. Bücher lagen in der Marmelade und obendrauf zwei Katzen. Ein Schock, den ich nur überwand, indem ich mich blind stellte. Und das war mir nicht mal schwer gefallen. Das muss ich unumwunden zugeben.

Jedes Mal, wenn ich in die Einfahrt zum Bauernhof einbiege, habe ich auch Angst, eine der Katzen zu überfahren. Es waren schon mal elf gewesen, jetzt waren nur noch sieben da - plus drei Gastkatzen, die wild in einer der Scheunen wohnten und von Maria durchgefüttert wurden. Sie könne keine Katze wegjagen. An die Katzen hatte ich mich gewöhnt, an die Unordnung im Haus und im gesamten Anwesen nicht.