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Manchmal muss ein Ereignis her, die Gewalt der totalen Liebe! Nadja, mehr Mädchen als Frau, führt ein zielloses Dasein. Das Empfinden, von etwas Wichtigem ausgeschlossen zu sein, erfüllt sie mit Unzufriedenheit. An ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag fasst sie den Entschluss, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben.Ohne konkrete Erwartung wird sie allein von dem Verlangen getrieben, es möge überhaupt etwas geschehen - in jedem Fall aber etwas ganz und gar Unvorhersehbares. Das Ereignis tritt ein, unvorhergesehen, wie gewollt, doch ganz anders in der Gestalt. Und so kann es geschehen: Zusehends tritt neben die reale Welt eine andere Welt, als Trost und Hoffnung gegenüber einer Wirklichkeit, die allzu hart sein kann.
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Seitenzahl: 576
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Katrin Sell
Tagtraumglück
3. überarbeitete Auflage
Copyright © 2018 Katrin Sell
www.literaturbraut.de
Alle Rechte vorbehalten
Sie erwachte mit einem leichten Frösteln. Am Morgen war es schon kühl und die Sonne stieg nicht mehr allzu hoch den Himmel hinauf. In diese Zeit fiel ein Ereignis, das trotz seiner alljährlichen Wiederholung nicht ohne Bedeutung für sie war. Mit achtundzwanzig Jahren hatte sie noch nicht die Befürchtungen des Älterwerdens, trotzdem fühlte sie eine eigenartige Stimmung des Verlusts und des Unvollkommenen, die sich noch verstärkte, als sie sich die Decke über den Kopf zog. In den letzten Jahren waren ihre Liebschaften nicht allzu üppig verlaufen. Kleine Ereignisse hatte es viele gegeben, manche waren nicht übel gewesen – sie hatte die Stunden, als hätte sie unendlich viele davon, sorglos auf den Kopf gehauen –, doch bei allem hatte ihr die rechte Laune gefehlt. Oft fühlte sie sich übersättigt, als hätte sie zu viel Süßes verschluckt. Wenn sie von solch einem Abenteuer nach Hause kam, legte sie sich sofort hin, schloss die Augen und dachte nach, warum sie so lau und leer blieb.
Dass das Herz stets in seinem Häuschen blieb, war nicht seine Art. Sie versuchte, ihm eine reiche Auswahl zu verschaffen, wofür sie sich häufig ins Getümmel warf. Sie fand, es wurde Zeit für ein einziges großes Ereignis. Ihr Herz sollte wieder zu klopfen beginnen; sie wusste kaum noch, wann sie das letzte Mal entflammt gewesen war, und dachte zugleich daran, dass solch ein Ereignis auch unabsehbare Folgen haben könnte. So war es möglich, sich am Ende nicht mehr wiederzuerkennen, vielleicht sogar eine Verwandlung zu erleben, hervorgerufen durch einen großen Schmerz, der sie für immer von allem Leben abtrennte und sie in ein Unglück stürzte. Aber selbst dafür fühlte sie sich bereit. Ein großes Unglück, das hatte sie zwar noch nicht selbst erfahren, aber davon gehört, dass es von manchen im Nachhinein als ein nützliches Ereignis betrachtet wurde. Einige behaupteten sogar, sie hätten dadurch erst das echte Leben kennengelernt, hätten Erkenntnisse gewonnen, die groß und bedeutungsvoll waren, sodass alles Vorherige dagegen verschwand; und was vor allem überzeugend war: Die einmal Verunglückten schienen seltsamerweise glücklicher zu sein. Bei ihnen, so nahm sie an, hatte sich nicht nur ein Unheil ereignet, das verging und vergessen wurde; es wurde vielmehr prägend, die Betroffenen hatten endlich eine Biografie, die ihnen eine gewisse Einmaligkeit und Autorität verlieh. Es kam ihr so vor, als ob das gute Leben sie verdarb und nicht das zum Vorschein brachte, was sie in sich schlummern glaubte. Sie konnte mit Schönheit wenig anfangen, sie war da wie eine kleine Wolke am Himmel. Fast schien es ihr, dass diejenigen, deren Dasein eine große Mühsal war, eine Aufgabe hatten, die bedeutungsvoll war. Sie mussten etwas bewältigen, ihr Tag besaß einen Sinn, und in ihrem Leben gab es verschiedene Herausforderungen, die sie sich nicht aus Mutwillen suchten, sondern die ihnen auferlegt waren und die sich einsehbar und griffig gaben. Sich selbst sah sie davon weit entfernt. Bei ihr stand am Anfang die Behaglichkeit, eine wie auch immer geartete Vollendung.
Doch sie wusste, dass mit der Welt etwas nicht stimmte. Ihre Stimmungsschwankungen, die plötzlichen melancholischen Abstürze zeigten ihr, dass es noch etwas anderes gab, dass die Welt des Überflusses und des Wohlstands, in die sie hineingeboren worden war, derart irrational war, wie sie es sich selbst nicht besser hätte ausdenken können. Sie hatte bei aller Süße des Wohlergehens immer eine qualvolle Unerfülltheit gegenüber der Welt gefühlt, die in unerklärlichem Widerspruch zu ihrem eigenen Gesättigtsein stand. Ihr Leben war weich, aber um sie herum, wenn sie in die Welt schaute, gab es so viele Grausamkeiten, die ihr Schmerz verursachten, sie unruhig machten und sie eine Wirklichkeit ahnen ließen, die ihr noch wenig bekannt war. Wenn sie an die Welt mit ihren Schlechtigkeiten dachte − und sie dachte in letzter Zeit immer häufiger daran − ,kam ihr das eigene Leben dumm vor, und vor allem sie selbst kam sich dumm vor, wie ein dickes Kind, das man vollgestopft hatte.
Sie hob ihre glatte Stirn. Denn während sie das Wort „Unglück“, noch abstrakt in seinem Ausmaß, bedachte, beschlich sie eine gewisse Beklemmung. Da sie noch nicht viel erfahren hatte und ihr Leben sich in kleinen Episoden beschreiben ließ, von denen einige allenfalls als unliebsam zu bezeichnen waren, fürchtete sie, dem ersehnten Ansturm nicht gewachsen zu sein. Neben jenen Unglücklichen, die davonkamen, gab es auch andere, denen zu viel aufgebürdet wurde, die hoffnungslos versanken und sich nur auf eins verlassen konnten: den mitleidigen Blick der anderen. Sie erkannte die Gefahr darin, etwas zu wollen, das sie aus dem Einerlei riss; denn es bestand die Möglichkeit, dass sie versagen und sich nichts mehr wünschen würde, als wieder in das alte Leben zurückzukehren. Vor langer Zeit war sie solch einem begegnet, der in seinem Unglück hockte wie in einem Einweckglas, der angesetzt hatte zum großen Sprung, sich jedoch stieß, fiel und nur noch ein Zuschauer des Lebens war. Sie schob diesen Gedanken fort und war sich sicher, zu denjenigen zu gehören, die, sollten sie fallen, wieder aufstanden.
Am liebsten war ihr natürlich eine Herausforderung, die sie grenzenlos zu den Gipfeln hob. Die Liebe sollte sie jenseits all ihrer bisherigen Erfahrungen bringen, die sie als mickrig ansah, als wäre sie von etwas Wichtigem ausgeschlossen gewesen. Wenn etwas Großes geschehen sollte, und groß musste es unbedingt sein, konnte es sich nur in der schwindelnden Höhe der Gefühle abspielen, im Auf und Ab einer großen Emotion. Sie war es, die sie nicht nur forttragen konnte von einem Leben, das ihr bereits vorbereitet erschien, ehe es begann; sie war es auch, die einzig in der Lage war, ihr einen Berg Aufgaben zu verschaffen, die sinnvoll waren. Musste sie mit den Gefühlen ringen, so konnte es nicht anders sein, als ringe sie mit den Elementen selbst. Denn die Gefühle waren in ihren Augen unkontrolliert und bildeten sich in einer Tiefe heraus, in die hineinzuschauen den Menschen nicht gestattet war. Die meisten hatten daher auch Angst vor ihnen, strengten dafür umso mehr ihren Kopf an, andere, die sich aus Furcht vor dem Ungewissen nie welche gestatteten, taten sie als lächerlich und nicht der Rede wert ab: Sie hingegen empfand sie als wahr und einzigartig, als etwas, das sich nicht greifen ließ, sich der Logik entzog und heimtückisch sein konnte. Gerade wenn man glaubte, der Schlüpfrigkeit eines wabernden Gefühls entkommen zu sein, konnte es sich heiß im Körper ausbreiten und selbst den größten Gedankenturm zum Einsturz bringen. Diese Gewalt reizte sie, und sie war in ihrer überwältigenden Form nur in der reinen, übergroßen Liebe zu finden.
Sie war gewappnet für alles, was kommen würde, und wollte sich ganz um des großen Ereignisses willen verwunden lassen. Sie erhob sich und blickte zum Fenster hinaus. Der Tag versprach schön zu werden. Spätsommertage − sie beneidete die Menschen, die zur Zeit des duftenden Flieders geboren waren, denn sie war sich sicher, dass ihre Schwermut und die träge Langeweile, die in der letzten Zeit unverhofft über sie hereinbrachen und sie für Tage unfähig machten aufzustehen, vom dunklen, feuchten Herbst herrührten; er war es, der sie aus einer Ruhe aufschreckte, die ihr Leben bisher zu einem glatten Fluss hatte ansteigen lassen, der sich in der Sonne räkelte. Dieser Tag war jedoch ein warmer, sonniger, und so hoffte sie, dass ihr Entschluss unter einem guten Stern stand und das Große und Ganze nicht allzu lange auf sich warten lassen würde.
Zur gleichen Zeit vollzog sie eine Änderung in ihrem Leben, der sie bislang noch keine größere Bedeutung beimaß, da sie häufig die Schulen gewechselt hatte und es gewohnt war, ihre Nase hier und da hineinzustecken. Noch einmal die Schulbank zu drücken war daher nicht mehr als eine Laune, die ihre angeborene Neugierde befriedigen sollte und den Drang, sich fortwährend zu verändern. Mit Blick auf das große Ereignis empfand sie den täglichen Gang zur Hochschule als sehr nützlich, denn dadurch erhöhten sich die Chancen, auf das Ereignis zu stoßen, und es hieß nur noch, die Augen weit aufzusperren, damit sie am Ende nicht daran vorbeiliefe.
Doch die ersten Wochen verstrichen ereignislos. Ihr Herz erwärmte sich beim Anblick der schlaksig hoch aufgeschossenen Jungen, die ihr sonst sehr gefielen und mit denen sie schon einige Abenteuer erlebt hatte, nur schwach, im Grunde überhaupt nicht, und bald machte sie sich ernsthafte Sorgen, dass das Flatterhafte zu ihr zurückkehren könnte und sie, des Wartens überdrüssig, lieber ganz auf das Ereignis verzichtete.
Der Zustand des Wartens war ihr schon von jeher leer und nutzlos erschienen, da sich der Wartende Träumen hingab, die nichts als Illusionen waren, bis er einsehen musste, dass er ganz umsonst ausgeharrt hatte. Diese Vorstellungen hinterließen bei ihr stets unangenehme Empfindungen. Sie malte sich aus, wie sie, ausstaffiert mit einer Schleife im Haar, auf einem Sofa saß und wartete. Während nichts geschah und sie die Hände im Schoß hielt, verging die Zeit. Nur einmal, zwischendurch, schenkte sie Tee ein und strich die Fransen des Sofas glatt − bis sie schließlich starb. Da fand sie es besser, sich gleich der Lauheit hinzugeben; sie war immerhin etwas, denn ihr gelang es, wenn auch nur für eine kurze Weile, eine Befriedigung hervorzurufen, die wegen des fehlenden Tiefgangs nur öfter wiederholt werden musste.
Die Zeit des Wartens hatte aber neben der beängstigenden Wirkung auch einige positive Seiten. So konnte sie sich in aller Ruhe ihre letzten Affären durch den Kopf gehen lassen. Dabei fiel ihr auf, dass es nur noch die Schlaksigen waren, denen sie für kurze Zeit ihr Herz zuwarf. Was sie an ihnen anziehend fand, war ihre Unbeholfenheit, die häufig ein Erröten ihrerseits nach sich zog. Sie konnte erst bewundern, wenn ihr Gegenüber eine kleine Schwäche zeigte, die ihr Mitleid hervorrief und dem Herzen einen leichten Knacks versetzte, woraufhin sie bereit war, die Decke des Bettes zurückzuschlagen. In letzter Zeit sah sie darin allerdings nicht mehr als eine übertriebene Mütterlichkeit, die ihren Beschützerinstinkt weckte, was damit enden konnte, dass sie dem Beischläfer am nächsten Morgen ein warmes Bad einließ und sich auf den Wannenrand hockte, um ihm den Rücken zu schrubben. Da sie die Schlaksigen aber nicht liebte, erschien es ihr ehrlicher, sie ganz so zu behandeln, wie es tief in ihrem Herzen aussah: Ein nachlässiges Verhalten gegenüber dem Beischläfer am Morgen, mit mutwilligem Verwechseln der Vornamen, kam ihr hierfür angemessen vor. Das führte dazu, dass sich der Schlaksige wortlos erhob und unbeholfen die Tür hinter sich schloss. Mit solcher Eisigkeit ihre Muttergefühle bezwingend, drehte sie sich noch einmal im Bett um, sodass sie stets spät aus den Federn fand und von dem Gefühl beherrscht wurde, etwas ganz und gar Schlechtes getan zu haben.
Die Nachdenklichkeit, die sich seit ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag eingestellt hatte, füllte die Tage immerhin recht ordentlich aus. Sie erkannte, dass zwischen den zahlreichen Liebschaften, die ihr vor Augen traten, ihre Oberflächlichkeit nur ein einziges Mal im Zaum gehalten worden war. Es war die Zeit vor den Schlaksigen gewesen, als sie noch die Stämmig-Behaarten bevorzugt hatte. Für sie waren es Helden, die sich schützend vor Kinder und Frauen warfen, schon mal das Schwert schwangen und, wenn es sich nicht verhindern ließ, dieses auch zum heftigen Schlag ausholend benutzten, selbst wenn der Gegner dadurch seinen Kopf verlor. Wie sehr sie darin irrte, erkannte sie eines Morgens, als sie fürsorglich aufgestanden war, um dem Beischläfer Kaffee zu kochen und das Bad einzulassen. Dem Stämmigen fehlte ein Knopf am Hemd, und da dieses Hemd nicht irgendein Hemd war, mussten sie den Knopf suchen. Was danach geschah, als der gefundene Knopf bereitwillig zum Annähen auf dem Küchentisch lag, änderte ihren Blick nicht nur auf den Stämmigen, sondern auf alles Lebendige schlechthin. Während sie nämlich dasaßen und sie nähte, und beide einem alten Entenpaar nicht unähnlich wurden, begann der Stämmige plötzlich zu weinen und wollte seinen Kopf in ihren Schoß legen. Später gestand er ihr, dass er auch nicht wisse, weswegen er geweint hatte; nur sei er auf einmal, so erklärte er, von etwas Wehmütigem und ganz und gar Schmerzhaftem ergriffen worden, das ihm plötzlich sämtliche Tränen in die Augen getrieben habe. Damals begriff sie noch nicht, was er meinte; nur ein heißes Gefühl des Mitleids entstand in ihr, das immer stärker wurde und schließlich damit endete, dass sich ihre Blicke nicht treffen konnten, ohne schmerzhafte Stiche bei ihr zu verursachen, die sich in den nächsten Wochen noch verstärkten; und auch der Kopf wurde für eine Zeit lang völlig vernebelt.
Dann aber, als das Flatterhafte bereits wiedergekehrt war, verstand sie, warum er geweint hatte. Noch nie hatte sie die Menschen als Ziellose und Umherirrende gesehen. Er musste so einer gewesen sein; ständig allein und auf der Suche nach irgendetwas, hatte er nur den einen Wunsch, dass sich jemand um ihn kümmerte. Sie hatte ihm diesen Knopf angenäht und ihr Herz damit in einen Zustand versetzt, der ihr das erste bedrückend-schöne Ereignis verschafft hatte. Ihr Herz war dabei in große Aufwallung geraten, weswegen sie häufig stehen bleiben und sich an die stark schmerzende obere Brusthälfte fassen musste. Doch bei aller Freude über so viel Glück fühlte sie sich nicht recht wohl. Trotz der Vertiefung ihrer Gefühle spürte sie zugleich einen nicht unbedeutenden Verlust. Der Behaarte hatte ihr die Leichtigkeit geraubt und sie zu einem Menschen gemacht, auf dessen Stirn sich die ersten dunklen Ahnungen zeigten. An manchen Tagen wünschte sie gar, es hätte den Vorfall mit dem Knopf nie gegeben; dann wäre auch er, wie all die anderen, durch ihr flatterhaftes Herz gerutscht.
Seitdem waren acht Jahre vergangen. Die Lauheit war in dieser Zeit ihr treuer Begleiter gewesen und ließ sie auch dann nicht aus den Augen, wenn sie wieder einmal die Decke ihres Bettes zurückschlug. Manchmal kam es ihr vor, als hätte das frühe Glück mit dem Stämmigen sie für immer verdorben. Ohne es selbst zu bemerken, hängte sie die Latte bei jeder neuen Liebschaft so hoch, dass der andere unten durchfallen musste. Aber sie glaubte fest an ihre Fähigkeit, sich kopfüber zu verschenken, und machte es jedem Beischläfer im Stillen zum Vorwurf, dass er es nicht geschafft hatte, ihr Herz aus der Verkühlung zu holen.
Weitere Wochen vergingen nach ihrem Entschluss, auf das große Ereignis der Liebe zu warten. Dass in der ganzen Zeit niemand auf der Bildfläche erschienen war, der dafür in Frage kam, bereitete ihr langsam Sorge, und sie begann zu zweifeln, ob mit dem Entschluss allein schon alles getan war. Oft im Leben hatte sie Entschlüsse gefasst; es gab die großen und die eher kleinen, und sie strengte sich an, sie in die Tat umzusetzen, was aber meistens misslang und sie veranlasste, für eine Weile keine mehr zu fassen. Hier aber lag der Fall anders: Sie hatte sich zwar Großes vorgenommen, was immer die Tat forderte, doch sie ahnte, sie durfte nicht schieben und drängeln, um zum Ziel zu gelangen. Diese Liebe hatte etwas Zaghaftes und verschwand, wenn man allzu sehr daran zerrte. Hier war der Entschluss vielmehr die Bereitschaft, sich finden zu lassen. Sie spürte es genau: Sie musste nicht viel tun, ihr ganzer Körper war in Position und es war ihre Aufgabe, sich wählen zu lassen. Darin lag für sie auch die Gewissheit, dass alles genau so und nicht anders passieren konnte.
Es dauerte nicht lang, und sie fand eine weitere Erklärung, die die Ereignislosigkeit in einem völlig anderen Licht erscheinen ließ. Von jeher hatte sie die Neigung gehabt, an das Schicksalhafte und Vorbestimmte zu glauben, umso mehr, wenn es dabei um die großen Gefühle handelte. Wenn das bedeutende Ereignis sich nicht einstellen wollte, dachte sie, musste es sich ohne ihr Wissen bereits ereignet haben. So war es überhaupt zu erklären, dass es sie von der Lauheit fortzog. Sie fand auf einmal, dass sie bisher nicht schlecht damit gelebt hatte. Die wechselnden Beischläfer verschafften ihrem Leben eine Abwechslung und Farbigkeit, um die andere sie beneideten. Es gab keine vernünftige Erklärung dafür, dass sie sich auf einmal nach dem Großen und Ganzen sehnte, außer die, dass die schicksalhafte Liebe sie bereits unbewusst gestreift haben musste: Sie war es, die ihr eine Unzufriedenheit eingab; sie war es, die ihr ganzes Dasein in einem trüben Licht erschienen ließ, sie herausforderte und sie glauben machte, Dinge tun zu müssen, die alles Vorherige auf den Kopf stellten.
Um der Sache näher auf den Grund zu gehen, nahm sie in den nächsten Tagen besonders die Hochschule ins Visier. Dabei kam es zu einer Begegnung, die sie stutzig machte. Ihre Verwunderung vergrößerte sich noch, als ihr Herz zu klopfen begann, obwohl sich weder Schlaksige noch Stämmige in ihrer Nähe aufhielten. Ihr fiel ein, dass sie sich schon einmal in ausschließlich weiblicher Umgebung aufgehalten hatte, als das Herz ähnliche Klopfzeichen von sich gab. Das Ganze war verwirrend. Das Herz fing an zu klopfen, wo es gar nicht klopfen sollte. Sie bemühte sich, das aufkommende Unbehagen zu unterdrücken, ertappte sich aber dabei, wie ihre Augen über ihresgleichen zu gleiten begannen. Der unerwartete Vorfall förderte gleich mehrere Erinnerungen zutage: Einmal, auf einer kleinen Feier, war sie von einer Brünetten aus dem Augenwinkel beobachtet worden. Indessen sich die anderen amüsierten, verhielt diese sich still und zwinkerte ihr mit einem kurzen Lächeln zu. Später am Abend war die eindeutige Aufforderung, die in ihrem Blick stand, nicht mehr zu übersehen. Die Brünette kam auf sie zu und erwies sich Stunden später als erfahrene und gescheite Liebhaberin. Was das Weibliche anbelangte, war sie seitdem nicht mehr ganz unbeleckt, und hin und wieder wiederholten sich solche Begegnungen. Nun lag sie aber schon eine ganze Weile am rechten Ufer und wollte da auch bleiben, weil sich das Weibliche als weit komplizierter und anstrengender herausgestellt hatte als das Männliche, das zuweilen von einer Schlichtheit war, die sie bewunderte. Deshalb erinnerte sie sich nur noch schwach an ihre Abstecher zur anderen Seite, und das Unbehagen, einer solchen Liebe wieder zu begegnen, war groß.
Um das Herz nicht weiter zu reizen, vermied sie den Gang zur Hochschule für ein paar Tage. Sie hielt es für das Vorteilhafteste, die nächsten Tage im Bett zu verbringen, und ließ den Gedanken freien Lauf. Ihr fiel auf, dass sie seit einiger Zeit immer das gleiche Seminar besucht, aber ihren Blick nicht, wie üblich, hatte schweifen lassen, sondern ihn fortwährend zum Podium gerichtet hatte. Die Anspannung und das starke Herzklopfen, die sie dabei verspürt hatte, waren erst zur Ruhe gekommen, als jene Person das Podium verlassen hatte. Daraufhin war sie stets eigenartig traurig geworden, hatte auf den verwaisten Raum da vorn geblickt, und ihr Magen war von einer leichten Übelkeit befallen worden. Anschließend war unausweichlich ein Gang auf die Toilette gefolgt, um sich von der Aufregung zu erholen und allein zu sein. Als ihr das plötzlich klar zu Bewusstsein kam, schreckte sie hoch und stellte sich augenblicklich auf ihre zwei Füße. Ein Schwindelanfall benebelte sie, und die Ohren begannen zu klingeln. Sie fiel rückwärts ins Bett und zog sich das Kissen über den Kopf. Allmählich beruhigte sie sich. Noch hoffte sie, dass ein Missverständnis vorlag. Nichts war geschehen, jedenfalls fast nichts. Sie hatte nur überpünktlich, was sonst nicht ihre Art war, den Seminarraum betreten, worauf ihr Herz stark zu schlagen begonnen hatte, das sich noch verstärkt hatte, als jene Frau am Pult erschien. Den Vorgang musste sie zwar in seiner Bedeutung akzeptieren, andererseits aber nicht als unabwendbar hinnehmen. Sie wollte in den nächsten Tagen erst einmal still sitzen bleiben und den Anblick der Frau am Pult vorerst vermeiden; und sie hoffte, dass sich damit die ungewollte Aufwallung ihre Gefühle von ganz allein verzog. Sie atmete auf. Der Druck ließ langsam nach, und sie schlief ein. Nach drei Tagen erhob sie sich. Trotz des erholsamen Schlafs wurde sie von einem starken Zittern und Schütteln überrascht. Zudem fühlte sie sich beim Gang zur Toilette eigenartig wacklig und auch der Kopf vernebelte sich vollständig. Sie kannte diese Anzeichen noch gut. Immer, bevor der Stämmige zu Besuch erschienen war, hatte sie eine starke Übelkeit überfallen, die manchmal eine Traurigkeit nach sich zog, woraufhin sie sich ins Bett legte und nur noch schwach die Lippen bewegen konnte. Ihre Übelkeit war aus diesem Grund verdächtig und ließ das Schlimmste vermuten, wie etwa, dass sich ihr Herz schon hoffnungslos weit von ihr entfernt hatte und sie geschüttelt wurde, wo sie nicht geschüttelt werden wollte. Sie machte sich Vorwürfe, leichtsinnig gewesen zu sein, und wollte den Vorfall näher untersuchen. Noch wusste sie nicht, ob ihre Übelkeit tatsächlich von der Frau am Pult herrührte. Möglich war auch, dass sie sich nur sehr schwach fühlte. Am nächsten Tag machte sie sich, trotz zunehmender Übelkeit, früh auf den Weg zur Hochschule und betrat überpünktlich den noch leeren Vorlesungssaal. Sie setzte sich in die vorderste Reihe und hoffte, alles sehr genau im Blick zu haben. Die Übelkeit ließ daraufhin nach und auch der völlig vernebelte Kopf erhielt eine angenehme Kühlung. Sie fühlte sich wohl und wartete. Jene Frau kam erst spät, was bei ihr keine Ausnahme war. Dafür schlug sie ohne Umschweife ihren Hefter auf und begann mit leichtem Hüftschwung die Vorlesung. Jetzt fühlte sie den entscheidenden Moment gekommen, um Klarheit zu erhalten. Dazu brauchte sie nur ihren Blick zu heben und ihn geradewegs auf jene Frau vorn am Pult zu richten. Nach anfänglichem Zögern und einem starken Klopfen in der Herzgegend gelang ihr dies auch. Aber so sehr sie sich auch bemühte, ihre Augen länger geradeaus zu richten, sie rutschten stets in eine Schieflage. Sehr rasch senkte sie daraufhin den Blick, und die Augen glitten wieder in ihre natürliche Stellung zurück. Erschrocken wagte sie nicht mehr, aufzuschauen. Es gab keinen Zweifel, jene Vortragende am Pult war nicht irgendeine Frau. Sie war es, die ihren Körper in den wohlbekannten Zustand versetzte, der sich in den nächsten Wochen, ähnlich wie bei dem Stämmigen, noch verschlimmern konnte.
Noch weigerte sie sich, daran zu glauben: Es könnte hier eine sehr selten auftretende Parallelität der Geschehnisse vorliegen, tröstete sie sich. Während sie auf der Hochschulbank saß und ihre Augen unglücklich wegrutschten, konnte sie am anderen Ende des Hochschulgebäudes bereits ungeduldig von dem großen Ereignis erwartet werden. Sie ermahnte sich, den Kopf oben zu behalten, und hob ihn auch tatsächlich, wodurch ihre Augen erneut in eine Schieflage zueinander gerieten. Sie bedeckte die verrutschten Augen mit den Händen. Sie wollte weinen, und die ersten Tropfen fielen ihr schon aus den Augen. Eine Vorahnung sagte ihr, dass all ihre Befürchtungen sich bewahrheiten würden und ihre ungewollte Verliebtheit ein schicksalhaftes Ereignis war, das ihr Leben völlig verändern sollte, ohne das sie die Richtung gekannt hätte. Ihre Ängste vergrößerten sich noch, als ihr einfiel, dass sie jener Frau da vorn schon einmal begegnet war. Bevor sie die Hochschule besuchen durfte, hatte sie sich im Frühjahr einer Prüfung unterziehen müssen, bei der man sie drehte und wendete und nach allen Seiten hin abklopfte. Jene war damals die Zweite von links gewesen. Vergeblich suchte sie jetzt nach kleinen versteckten Hinweisen, wie etwa ein bestimmtes Zwinkern der Augen oder eine bevorzugte Behandlung, an denen sie das Kommende hätte ablesen können. Trotz intensiven Erinnerns ergab sich nichts. Sie wischte sich die Tränen weg, hob ihren Kopf, vermied aber den Blick auf die Frau am Pult. Sie schaute auf die Uhr und erschrak, denn seit dem Auftritt jener Frau war noch keine halbe Stunde vergangen. Sie hatte demnach nicht einmal die Hälfte geschafft und befand sich in der vordersten Reihe, von der ein leichter Abgang unmöglich war.
Sie zwang sich nachzudenken, obwohl die Gedanken ähnlich wie die Augen außer Kontrolle gerieten. Ob sich das Große und Ganze mit dem Blick auf jene Frau da vorn wirklich ereignet hatte, war nur die eine Seite, viel wichtiger war, was sie daraus machen würde. Es gab eine Reihe von Möglichkeiten, die sie genau ins Auge fassen wollte. Sie könnte versuchen, das Ereignis mit der Frau am Pult einfach auszusitzen. Niemand konnte von ihr verlangen, alles zu akzeptieren. Aber wenn jene da vorn wirklich das große Ereignis war, so fand sie die Frage falsch gestellt, denn nicht, was sie daraus machen würde, war entscheidend, sondern was das Ereignis aus ihr machen würde. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, schrumpften ihre Möglichkeiten, den aufwallenden Gefühlen etwas entgegenzusetzen, gen null.
Dieser Gedanke ließ ihr erneut Tränen in die Augen schießen, jedoch raffte sie sich hoch, und ein überraschender Perspektivwechsel, der sich manchmal bei ihr einstellte, wenn es unangenehmen Dingen auszuweichen galt, entwirrte alles aufs Simpelste: Betrachtete sie die Dinge auf eine Weise, dass ihr Entschluss am Morgen ihres achtundzwanzigsten Geburtstages nicht mehr als eine fixe Idee war und nur aus dem Wunsch resultierte, ihrem Leben Sinn und Tiefgang zu geben, so gab es keine schicksalhafte Liebe mehr und erst recht kein großes Ereignis; alles war aus dem Übereifer des Geistes und einer vorübergehenden Übersättigung erklärbar. Was sie demnach tun musste, war, ihre Einstellung zu ändern, indem sie an kein Schicksal mehr glaubte, und zwischen ihrer fixen Idee am Geburtstagsmorgen und ihrer plötzlichen Liebe zu jener Frau da vorn bestand nur eine kuriose zeitliche Überschneidung. Die Freude über die unerwartete Klarheit ihrer Gedanken war groß und versetzte sie für Sekunden in die Lage, den Blick geradeaus nach vorn zu richten. Doch sogleich fühlte sie etwas Unangenehmes, etwas, das sie gut kannte und das sie für alle Zeit überwunden haben wollte. Ihr Leben wurde augenblicklich klein, grau und unbedeutend. Nichts spulte sich an einem roten Faden ab, den sie zwar nicht selbst in der Hand hielt, der aber wenigstens, so hoffte sie, irgendwo in einer Hand gehalten wurde. Sie musste zugeben, dass das Auftreten der Frau am Pult immerhin alles in einen geordneten und bedeutsamen Sinnzusammenhang brachte: Sie hatte unter der Bettdecke von einem neuen Leben geträumt, und prompt stand jene Frau schicksalhaft vor ihr. Noch ratlos und mit dem dumpfen Gefühl, Teilchen in einem seltsamen Geschehen zu sein, entschloss sie sich, das Phänomen als Merkwürdigkeit zu akzeptieren, für die sie noch keine rechte Erklärung fand.
Mit Erleichterung, die Vorlesung überstanden zu haben, machte sie sich auf den Weg nach Hause. Hier hatte sie Ruhe, und auch das stark hämmernde Herz konnte verschnaufen. Sie legte sich ins Bett und zog sich die Decke über die Ohren. Mehrere Stunden lang schlief sie tief. Als sie wieder erwachte, verwirrte sich alles aufs Neue. Sehr weit von ihr entfernt gab es eine Hochschule, und die Frau am Pult schwamm unklar durch ihr Bewusstsein. Noch im Nebel ihrer Gedanken stochernd, blickte sie auf den Fußboden, auf dem ihre knöchelhohen Stoffturnschuhe lagen und die Schulsachen. Die Wirklichkeit blendete sich unbarmherzig ein. Sie wollte vergessen, vor allem jene da vorn am Pult. Im Vergessen war sie außerordentlich geübt und konnte sich sogar vornehmen, Dinge völlig aus ihrer Erinnerung zu streichen. Diese Manipulation des Gehirns ersparte ihr häufig ein schlechtes Gewissen. Nach weiteren Stunden Schlaf, die traumlos verliefen, erwachte sie mit dem Verlangen, sich sofort ihre Turnschuhe anzuziehen und die Hochschulbank aufzusuchen. Sie musste zugeben, dass ihr das Vergessen noch einige Mühe bereitete, und auch der Gang zur Hochschule, den sie sofort nach dem Aufstehen antrat, war kein gutes Zeichen, aber sie wollte ja nicht mehr als nach dem Rechten schauen; liefe ihr dabei jene Frau über den Weg, dann wäre das rein zufällig und keineswegs geplant.
Diesmal setzte sie sich, als sie in der Hochschule ankam, in eine der hintersten Reihen, um im Notfall unbemerkt durch die Tür entkommen zu können. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als nützlich. Als die Frau am Pult erschien, stellten sich rasch wieder die gleichen Symptome ein. Sie verließ daraufhin den Saal und kehrte mit wackligen Knien, doch mit einem klaren Kopf zurück. Entschlossen, die Frau unter die Lupe zu nehmen, schaute sie nach vorn und bemerkte den kokettierenden Hüftschwung, zu dem jene häufig mitten im Satz ausholte. Dazu hob sie ihren Zeigefinger in die Höhe, wenn ihr ein Wort besonders wichtig schien. Dieser Finger war lang und ein sehr fraulicher, lief spitz nach oben zu und konnte, wenn sie es wollte, schmerzhaft pieken. Sie hatte diesen Finger, der außerdem sehr gerade war und zu einer hübschen Hand gehörte, schon mehrmals aus der Ferne, von der Hochschulbank aus bewundert und sich vorgestellt, wie er sich auf sie richtete und sie aufforderte, vor das Podium zu treten.
Sie wollte der Frau am Pult nahe kommen, so nahe, dass diese auf das rein Menschliche schrumpfen würde. Sie wusste aus Erfahrung, dass ein allzu großer Abstand vom geliebten Objekt geeignet war, eine übergroße Sehnsucht hervorzurufen, die alles verklärte. Eine konkrete Nähe hingegen konnte den Blick nüchterner machen. Makel und Schwächen wurden erkannt, die die Ferne bislang gnädig verborgen hatte. Bei ihren bisherigen Lieben war das der Fall gewesen. Ein tieferes Kennenlernen ließ die Gefühle schnell abflauen, und das Bedeutsame und eben noch so Heiße wurde bald kümmerlich. Nur einmal, eben bei dem Stämmigen, dem sie einen Knopf angenäht hatte, hatte sie bei näherer Bekanntschaft keine Enttäuschung gefühlt, sondern eine Anregung des Körpers und des Kopfes, die sie neue Erfahrungen machen ließ, wie etwa, dass sie zum ersten Mal eine Vollkommenheit spürte, als er ihr im Bett eine Geschichte vorlas und wenige Augenblicke später darüber einschlief.
Ihre Gedanken kreisten um einen passenden Rahmen für eine Begegnung mit jener, ihr fiel jedoch nichts ein. Gleich nach der Vorlesung erhob sie sich und verließ den Vorlesungssaal. Sie ging zur Damentoilette der Hochschule und verriegelte die Tür hinter sich. Recht erschöpft sank sie aufs Becken. Sie fühlte sich müde, eigentlich viel zu müde, um der bevorstehenden Aufgabe noch gewachsen zu sein. Die Begutachtung der Frau am Pult zu vertagen, bis sie wieder zu Kräften gekommen war, kam ihr angebracht vor. Einmal nur noch wollte sie die Decke über den Kopf ziehen und sich darunter sammeln. Im Bett kamen ihr immer die besten Gedanken. Zugleich wollte sie vermeiden, sich weiter in die Einzelheiten der Begegnung zu vertiefen. Ein zügiges Drauflosgehen konnte eher den gewünschten Erfolg erzielen. Da die Erschöpfung nicht vor ihr wich und sogar eine Verwirrung hinzukam, verbrachte sie einige Zeit auf der Toilette. Die nächsten Vorlesungen hatten bereits begonnen, doch sie schlug nicht den Gang zum Vorlesungssaal ein, sondern ging nach Hause und legte sich ins Bett, wo ihre Gedanken zu kreisen anfingen. Sie begann damit, den Ort ihrer Begegnung genau festzulegen. Das hatte den Vorteil, der Frau nicht urplötzlich begegnen zu müssen. Den Platz dafür fand sie rasch: Die Toilette der Hochschule hatte sich schon für ihre Grübelei als geeignet erwiesen. Angesichts der Art ihrer Liebe kam ihr dieser Ort für eine baldige Begegnung sogar sehr wahrscheinlich vor. Sie musste nur aufmerksam den Zeitpunkt des Verschwindens jener Frau zur Toilette abpassen, ihr dann folgen und sie rechtzeitig abfangen, bevor sie die Toilette wieder verließ. Die nächste Schwierigkeit, die darauf folgte, war, sich die Art und Weise ihres Zusammentreffens vorzustellen. Um keinen Verdacht zu erregen, durfte sie sich nicht einfach nur hinstellen und warten, sondern musste vorgeben, sich am Becken die Hände zu waschen. Wenn jene Frau schließlich von der Toilette käme, bliebe ihr nichts anderes übrig, als sich unmittelbar in ihrer Nähe aufzuhalten und auf das Freiwerden des Beckens zu warten. Dann wäre ihr Moment gekommen! Sie würde sich umdrehen und ihr direkt in die Augen schauen. Das alles durfte nur eine kurze Weile beanspruchen, musste aber ausreichend sein, um sich ein Bild zu machen. Sie war zufrieden und wollte einschlafen, aber alles, was ihr gelang, war ein unruhiges Wälzen. Kleinere Zwischenfälle kamen ihr in den Sinn, die sich ereignen könnten. Es war gut möglich, dass irgendjemand im unpassenden Moment hereinschneite, sich zwischen sie drängelte, und ihr den Blick auf die Frau verstellte, oder die Augen könnten ihr wegrutschten, sodass sie nichts mehr erkennen konnte und sich rasch durch die Tür verabschieden musste.
Sie wollte am morgigen Tag sehr früh aufzustehen. Nichts war schlimmer, als wichtige Tage in Eile zu beginnen. In dem Fall musste sie befürchten, jener unverhofft in die Arme zu laufen. Als sie am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Ihr Schlaf war in den Morgenstunden sehr tief geworden, und mit den üblichen Handgriffen ließ sich eine Verspätung nicht mehr vermeiden. Sie nahm kurz eine Dusche, verzichtete auf den morgendlichen Kaffee und schaute in den Spiegel, der ein schmales Mädchen mit wasserblauen Augen und kurzen schwarzen Haaren zurückwarf. Auf dem Weg zur Hochschule ging sie ihren Plan noch einmal durch; er kam ihr im Licht des Tages nahezu perfekt vor. Jene Frau schien umzingelt zu sein, ihr bohrend-skeptischer Blick würde nichts auslassen; er würde oben beginnen, sich an dem Gesicht festhalten, das ihr manchmal schon ein wenig fahl und blass vorgekommen war, über den Rücken gleiten, der ihr etwas krumm und eingefallen schien, und bis zu den Schuhen reichen, die unelegant in ein paar weißen, flachen Schuhen steckten. Ihre gute Stimmung wuchs und bekam etwas Festliches. Die ersten Blätter fielen und das trübe Wetter des Tages stand im Gegensatz zu ihrer Laune. Erinnerungen leuchteten auf. Sie dachte an die Mutter, die wie üblich in der Weltgeschichte umhergondelte und nichts von ihrer Lage ahnte. Die Mutter hatte es sowieso gut, dachte sie häufig, wenn sie in ihrer Vorstellung deren spöttisches Lächeln aufblitzen sah.
In der Hochschule angekommen, erinnerte sie sich an ihren morgendlichen Kaffee, ohne den sie den allerschläfrigsten Eindruck machen konnte. Sie landete am Automaten, stellte ihre Tasche ab und hantierte in ihrer Jacke auf der Suche nach dem nötigen Kleingeld. Dabei rieb sie sich die Augen und musste feststellen, dass der kurze Schlaf in den Morgenstunden sie eher müder und matter gemacht hatte. Als das Geld in den Automaten rutschte und sie gerade nochmals kräftig gähnte, fuhr ihr ein Schreck in die Glieder, der sie hellwach machte. Eine Glastür hatte sich unweit von ihr geöffnet, und noch bevor sie etwas erkennen konnte, fühlte sie einige heftige Stiche in der oberen linken Brusthälfte und die Augen verirrten sich. Da war sie! Und ging nicht einmal weiter, sondern stellte sich genau neben den Automaten und wartete. An alles hatte sie gedacht, doch nicht, dass sich ausgerechnet jene Frau hier platzieren würde. Sie zwang sich zur Ruhe und versuchte, ihre umherirrenden Gedanken, die verschreckten Hasen glichen, zielgerichtet zu ordnen. Noch sträubten sich die Gedanken gegen jede Sortierung, und zu ihr drang nur der Impuls, sofort sehr weit wegzulaufen und sich hinter einer Hausecke zu vergraben. Mit großer Anstrengung blieben ihre Beine stehen. Sie verharrte, bis ihr ein freundlicher Gedanke die Eingebung gab, dass eine Gegenüberstellung gleich am Automaten erfolgen konnte. Es war alles da, was sie brauchte: ein unverfänglicher Treffpunkt und eine Handbreit Abstand zu jener. Doch sie zögerte und wusste zugleich, dass es in ihrem Fall galt, die Zeit nicht ereignislos verstreichen zu lassen. Denn neben der genauen Planung kam es auch darauf an, die Dinge so zu nehmen, wie sie sich gerade ereigneten. Sie hob ihren Blick, schaute aber nicht wie vorgesehen in ein anderes Augenpaar, sondern zu den Knöpfen am Automaten, sodass jene in ihrem Rücken stand, wo sie keine Augen hatte. Sie wollte sich umwenden, doch die Schulter rührte sich nicht und wurde mit jedem Augenblick steifer. Ebenso der Nacken, und auch der Kopf blieb eigenartig bewegungslos. Dazu lief an diesem Tag der Kaffee besonders langsam aus dem Automaten, und sie hatte das Gefühl, als würde an ihr von oben bis unten Maß genommen. Dass dies nur Einbildung war, verriet ihr jene, indem sie ungeduldig mit dem Geld in ihrer Hand klimperte. Als sich der Kaffee endlich im Becher befand und es keinen Grund mehr gab, sich länger am Automaten aufzuhalten, konnte sie ihre Beine nicht mehr bewegen; auch war sie außerstande, ihren Kopf leicht zu drehen und zu grüßen, wie es üblich war. Die Frau nahm ihr jedoch die Schwere des Vorgangs ab, schob ihr Geld in den Automaten und sprach ein schlichtes „Guten Morgen“. Da sie aber den Kopf noch immer nicht bewegen konnte und, schlimmer noch, die Zunge ganz und gar verschluckt hatte, nahm sie still ihren Kaffee, flüsterte ein unsicheres „Morgen“ in sich hinein und verschwand. Die Frau hatte den Automaten nun ganz für sich allein. Lässig stand sie davor, pfiff sogar leise vor sich hin, wobei sie an einem schwarzen Tuch mit weißen Punkten zupfte, das locker um ihren Hals gebunden war.
So ganz ohne Ergebnis von der Begegnung zukommen ließ sie bedrückt den Gang über die Haupttreppe der Hochschule nehmen. Aber war es ihre Schuld, dass ihr jene planlos am Kaffeeautomaten über den Weg gelaufen war? Ein wenig lobte sie sich sogar, den handbreiten Abstand zu der Frau ohne weitere Pannen überstanden zu haben. Sie hatte ihr die ganze Zeit kühl den Rücken gezeigt und damit zu erkennen gegeben, wie wenig sie für die Reize der anderen empfänglich war. Erleichtert über diese Sicht der Dinge, bewältigte sie salopp den Gang zum Hörsaal, betrat den Vorlesungssaal aber ohne den rechten Elan und ging wieder hinaus. Es kam ihr klüger vor, sich schon bei den Toiletten aufzuhalten und jeden weiteren Anblick auf jene Frau zu vermeiden. Außerdem konnte sie sich dort in aller Stille sammeln, denn das plötzliche Auftreten der Frau hatte doch für einige Überraschung gesorgt. Hinter einem Pfeiler versteckt, mit Blickrichtung zu den Toiletten, war sie froh, den ersten Schritt ihres Vorhabens absolviert zu haben. Wie geplant hatte sie sich an diesem Tag nicht nur aufgerappelt und war zur Hochschule gegangen, sondern sie stand tatsächlich am Schauplatz des baldigen Zusammentreffens. Nur zwei Schritte entfernt befanden sich die Toiletten.
Die leeren Gänge ließen das Hochschulgebäude unbelebt und stumm erscheinen. Doch hinter diesen Türen verbarg sich die Wissenschaft. Es wurde geschrieben, gelehrt, geplant, diskutiert, erfunden, Karrieren begannen, Entdeckungen wurden gemacht, Fortschritt lag hinter diesen Türen, von dem sie aber hinter ihrem Pfeiler weit entfernt war. Nach zwei Stunden öffneten sich endlich die Türen. Die Wissenschaft pausierte für eine Weile − und das war ihre Chance. Auch die Frau am Pult war ein Mensch, der aß und trank, verdaute und ausschied. Ganz als Letzte sah sie jene aus dem Saal kommen, allerdings nahm sie nicht den Weg zu den Toiletten, sondern Richtung Mensa und, was alles kompliziert werden ließ, ging sie weiter in Richtung Südflügel, wo noch weitere Toiletten waren. Um jene nicht aus den Augen zu verlieren, folgte sie ihr und beobachtete sie in der Mensa bei der Auswahl des Mittagsmenüs. Die Frau verhielt sich jetzt planmäßig, stellte sie erleichtert fest. Nach einem üppigen Mittagessen war der Gang zur Toilette unausweichlich. Sie behielt sie im Auge, wartete unauffällig und genehmigte sich hastig ein trockenes Brötchen. Als die Frau aufstand und ihr Geschirr wegräumte, war es Zeit, Posten zu beziehen. Sie lief zurück und versteckte sich erwartungsvoll und mit stark klopfendem Herzen hinter dem Pfeiler. Jene aber ließ auf sich warten, und es bestand die Befürchtung, dass sie doch den Weg zum Südflügel eingeschlagen hatte. Sie rannte zurück und fand jene bei der milchigen Glastür stehend, durch die sie am Morgen unverhofft gekommen war. Sie war in ein Gespräch mit einem Studenten vertieft und es war klar, dass sie danach den Weg zum Vorlesungssaal einschlagen würde.
Sie hetzte zurück, wartete, und ihr fiel dabei ein, schon oft gesehen zu haben, wie dieser Bursche mit den Korkenzieherlocken die Frau nach den Vorlesungen in Beschlag nahm. Als die Zeit sich in die Länge zog, bemerkte sie, dass auch sie ein Mensch war, der aß, trank und verdaute. Denn sie spürte plötzlich einen starken Drang im Unterleib. Vergeblich trat sie von einem Bein auf das andere. Sie blickte zu den Toiletten. Wenn sie sich beeilte, konnte sie es schaffen, wieder auf Posten zu stehen, ehe jene kam. Rasch lief sie zur Toilette, blickte sich noch einmal um und verschwand. Sollte ausgerechnet jetzt jene Frau kommen und sich neben ihr auf eine Toilette setzen, dann wollte sie nicht mehr weiterleben. Sie knöpfte sich ihre Hose auf und setzte sich. Die Tür ging auf, und sie hörte Schritte. Die Nachbartoilette wurde belegt. Das war noch kein Grund zur Panik. Darauf hörte sie ein Räuspern von nebenan, dessen Klang jener Frau stimmlich sehr nahekam. Sie horchte genau, das Räuspern wiederholte sich nicht, stattdessen hörte sie ein erleichtertes Seufzen. Ihr stockte der Atem. Dieses Seufzen kannte sie. Die Frau am Pult seufzte ebenso in ihren Vorlesungen, wenn sie einen Hefter nicht gleich fand oder die Vorlesungszeit schneller vorbei war, als angenommen. Sie erhob sich vom Becken und zog sich mit zitternden Händen die Hose hoch. Die Toiletten trennte nur eine dünne Wand, die unten offen war und so einen ausreichenden Blick auf das benachbarte Becken ermöglichte. Sie kniete sich auf den Boden und streckte ihren Kopf sehr lang. Wie erwartet erblickte sie zwei Füße und eine Hose, die in ihrem heruntergelassenen Zustand jede Hose hätte sein können. Aber was sah sie da! Jene Frau hatte ihr Tuch, das schwarze mit den weißen Punkten, abgelegt. Es lag zerknüllt, aber eindeutig identifizierbar auf dem Boden. Ihre Stirn wurde heiß. Sie legte ihren Kopf auf dem kühlen Fliesenboden ab und überlegte. Jetzt hinauszugehen und sich die Hände zu waschen wäre noch im Rahmen des Plans, da auch jene kommen würde, um sich die Hände zu waschen, doch sie wusste, dass man jemanden, mit dem man gerade die Toilettenräume geteilt hatte, nicht gern in die Augen schaute.
Jetzt hieß es das Beste aus der Situation machen, ermahnte sie sich, vor allem, sich still zu verhalten, damit jene nicht bemerkte, dass sich jemand neben ihr befand. Sie schaute zu, wie sich die Hose auf der Nachbartoilette wieder entfaltete, hörte die Spülung und das Entriegeln des Türschlosses und schließlich die Schritte zum Waschbecken. Das wäre ihr Moment gewesen! Ihr Kopf sank erneut auf den Fliesenboden und ihr leerer Blick ging zum Toilettenbecken, auf dem jene gerade noch gesessen hatte. Dann bemerkte sie etwas, das ihren Blick sofort belebte und sie für den verpatzen Auftritt entschädigte: Die Frau am Pult hatte ihr schwarzes Tuch mit den weißen Punkten liegen gelassen, es lag unweit des Toilettenbeckens und konnte mit einem Griff von ihr mühelos erreicht werden. Ihr war, als hätte das Schicksal doch ein gnädiges Auge auf sie geworfen. Sie langte durch den Spalt und angelte sich das kostbare Souvenir. Vor Aufregung und Freude verspürte sie einen erneuten Drang im Unterleib. Rasch stopfte sie das Tuch in die Hosentasche und verhielt sich still. Spätestens, wenn jene in den Spiegel schaute, musste sie das Fehlen des Tuchs bemerken. Sie hörte auch schon Schritte, die sich wieder in Richtung Toilette bewegten. Jene schaute sich um. Ihr stockte erneut der Atem. Sollte sich die andere jetzt bücken, war sie für immer verloren. Die Frau bückte sich aber nicht, sondern verschwand mit einem Seufzer. Als die Tür ins Schloss fiel, erhob sie sich erleichtert. Bei so viel Abenteuer und Aufregung wurde ihr ganz übel. Sie konnte kaum glauben, was eben geschehen war. Zum Beweis zog sie das Tuch aus der Hosentasche und roch an der fantastischen Beute. Plan hin oder her, sie hatte etwas viel Besseres, wie sie fand. Dieses Tuch gab ihr die Sicherheit zurück. Sie wollte für heute Schluss machen, denn das alles bot Stoff für tagelange Aufenthalte im Bett.
Die Vorlesung hatte bereits begonnen. Sie lief die leeren Gänge entlang, über die große schwarz-weiße Marmorhaupttreppe hinweg, bis sie stehen blieb und überlegend zurückschaute. Es wurde gelehrt, diskutiert und geschrieben, da wollte auch sie nicht fehlen. Sie ging zurück und öffnete die Tür des Vorlesungssaals. Obwohl sie alle Blicke trafen, und besonders der von jener am Pult, die Unterbrechungen ganz und gar nicht schätzte, hielt sie ihren Kopf sehr hoch und quetschte sich umständlich zu einer der vordersten Reihen durch. Dort legte sie ihre Mappe ab, schraubte ihren Füller auf und hustete stark. Jene war nicht in unmittelbarer Nähe, aber immerhin in der Nähe. Sie fand, dass alles noch an diesem Tag zu einem guten Ende gekommen war und dass es der Fehler der meisten Menschen war, sich entweder auf den Zufall zu verlassen oder auf einen Plan. Aber nur beides, Zufall und Plan, ergab den Erfolg. Dabei griff sie nach dem schwarzen Tuch mit den weißen Punkten in ihrer Tasche und schrieb vergnügt die Worte der Wissenschaft in ihren Hefter.
An den folgenden drei Tagen hielt sie sich im Bett auf, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und betrachtete die Decke, an der ein kleiner schwarzer Lampenschirm hing. Der erste Tag stand ganz unter dem Zeichen der Verarbeitung des erlebten Geschehens. Häufig nahm sie das kostbare Tuch zu Hilfe, um sich genau an alles zu erinnern. Sie wusste noch nicht, welchen Platz dieser Schatz in ihrem Leben einnehmen sollte; aber es musste ein sehr besonderer sein, jederzeit griffbereit und doch für andere nicht sichtbar. Zurzeit lag das Tuch unter ihrem Kopfkissen, von wo sie es des Öfteren hervorholte und es sich auf die Augen und auch schon mal dicht an den Unterleib legte. Jedes Mal duftete es anders, und es schien ihr Geheimnisse zu beherbergen, die sich ihr bald öffnen würden. Dabei schwebte ein Wort vor ihr her; es flog federleicht, nahm einen eleganten Bogen, als die Wand nahte, glitt hinauf und hinab und landete, wie von unsichtbarer Hand gesteuert, sacht auf ihrer Stirn. Dort brannte sich das Wort ein, wurde heiß und floss über ihren ganzen Körper. Sie holte das Tuch hervor und roch daran. Das Wort hing in klaren Lettern vor ihrem geistigen Auge. Sie erhob sich und betrachtete das Stück Stoff eingehend, von dem magische Kräfte auszugehen schienen, denn jene Frau war nicht mehr einfach die Frau am Pult, sondern wurde die Geliebte. Ebendieses Wort stand in beschwingten Schriftzeichen vor ihr. Sie rieb sich mit den Fingern nachdenklich die Stirn und begriff auf einmal, dass, wenn jene eine Geliebte für sie wurde, sie eine Verliebte war. Das Tuch war ihr nicht geheuer. Sie hatte es ergattert, was sie nicht als besonderes Kunststück ansah, da es direkt vor ihren Füßen gelegen hatte. Es hatte sich ihr quasi angeboten, oder hatte es jene gar extra für sie fallen gelassen? Die Vorstellung beunruhigte sie. Am Ende war sie nicht so unbeobachtet gewesen, wie sie gedacht hatte. Sie roch noch einmal an dem Tuch, ein schwerer, blumiger Duft stieg ihr in die Nase, der sie ganz benebelte. Unwillig knüllte sie das Ding zusammen und warf den Fetzen in die Ecke. Das Wort „Geliebte“ sollte ihr nie mehr über die Lippen kommen.
Im Grunde hatte sie an der Hochschule nicht viel von jener gesehen, gestand sie sich ein, nachdem sie die letzten Ereignisse gründlich durchdacht hatte. Sie wusste nicht einmal, ob jene ihre weißen, flachen Schuhe getragen hatte. Fragen bohrten. Sie stellte zahlreiche Betrachtungen hinsichtlich ihres Lebenswandels an, und erkannte, dass sie das ein oder andere Mal den Bogen reichlich überspannt hatte. So war zum Beispiel das mutwillige Verwechseln der Namen ihrer Beischläfer, trotz der Absicht, damit ihre mütterlichen Instinkte zu bezwingen, grausam und unangebracht gewesen. Sie hätte die Rohheit ihres Handelns bemerken müssen. Zu ihrer großen Beunruhigung fiel die Häufigkeit solcher Lieblosigkeiten nicht gering aus. War sie durch ihre mütterlichen Instinkte von großer Wärme, konnte das Flatterhafte, mit dem sie ihr Leben bisher betrieben hatte, für den anderen verletzend sein. Nie hatte sie sich darum gekümmert, was aus einem Beischläfer wurde, nachdem sie ihm, sich träge schlafend stellend, die Tür gewiesen hatte. Im Sinne einer höheren Gerechtigkeit glaubte sie, eine solche Liebe, wie die zu jener Frau, verdient zu haben. Das war die Strafe für begangene Grausamkeiten.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gebracht, zog sie sich die Decke über den Kopf. Dunkle Punkte bewegten sich vor ihren Augen, und sie wurde in eine Welt getragen, die sie die unheimliche nannte. Dort kannte sie sich gut aus. Schon als Kind hatte sie, zwar nur für Minuten, manchmal gar für Sekunden, eine Panik verspürt, die sie aus allem herausschleuderte und sie in eine Welt versetzte, die einem tiefen Schlund glich, in dem sie ganz verschwinden konnte. Das Gefühl, einfach zu vergehen und nicht mehr auf dieser Welt zu sein, hatte sie immer in regelrechtes Grauen gestürzt. Sie sträubte sich gegen die Vorstellung, nicht mehr vorhanden zu sein und dass es etwas gab, das die Macht hatte, sie aus allem herauszunehmen und über ihr Schicksal zu bestimmen. Als Kind ging sie in solchen Momenten zu ihrer Mutter. Deren Wärme beruhigte ihre Ängste, und sie fühlte Trost, der sie mit der Mutter eins werden ließ. Später kamen diese Zustände seltener vor und verschwanden sogar vorübergehend, als sie zum ersten Mal den Stämmigen umarmte und, sich schlafend stellend, seinem Atem lauschte.
In den letzten Jahren hatte sie im Traum manchmal einen tiefen Abgrund gesehen. Jetzt schloss sie die Fenster, dunkelte die Räume ab, legte sich bewegungslos auf den Rücken und wartete ab, bis sich die Schwere verzog und der Abgrund sich schloss. In dieser Stimmung, in der sie nichts mit sich anfangen konnte, außer still zu liegen, kamen ihr Zweifel, ob ihr zynisches Verhalten gegenüber dem Menschlichen und das eingetretene Ereignis wirklich in einem Sinnzusammenhang standen. Denn wenn dem so war, bedeutete es, dass die höhere Gerechtigkeit ein Auge auf sie geworfen hatte. Sie wollte das nicht sofort abstreiten, betrachtete diesen Einfall aber mit Skepsis, da sie bei Lichte besehen nichts Hervorragendes an sich finden konnte und sogar glaubte, dass in ihrem Fall das Höhere schlief. Sie rieb sich die Augen; und eine Erschöpfung war ihr anzumerken, die die Ereignisse der letzten Wochen mit sich gebracht hatten. Alles war in Aufruhr und sträubte sich.
Dass sie die schmerzhafte Grübelei nicht aufgab, lag an den Umständen dieser Liebe selbst. Wäre alles nach ihrem Geschmack verlaufen und sie befände sich am rechten Ufer mit ihrer Liebe, dann hätte sie, wie selbstverständlich, das Ereignis fraglos hingenommen und ihrem günstigen Schicksal in einer freien Minute ein fröhliches „Hallo“ und „Dankeschön“ zugerufen. Für diese Liebe jedoch musste eine Erklärung her. Denn ein Verhängnis geschah in ihren Augen nicht grundlos, wie das Glück, das immer unverdientermaßen kam; vielmehr musste es Ziel und Ursache haben, weil das Ereignis sonst nicht zu fassen war. War es erst einmal erklärt, so gab es auch ein Mittel dagegen.
Sie ging einige Zeit nicht zur Hochschule, sodass sich keine weiteren Vorfälle ereignen konnten. Auch sprach sie mit niemandem über das Ereignis. In dieser Verfassung durchlebte sie eine Reihe von Tagen. Als sie sich erhob, überkam sie eine leichte Übelkeit im Magen, und in den Knien stellte sich Schwäche ein. Bei aller Anfälligkeit für das Wehleidige, wollte sie ihrem Befinden keinerlei Bedeutung geben und die Beeinträchtigung in Grenzen halten. Allerdings wurde ihre gesundheitliche Schwächung ohnehin bald an den Rand gedrängt, und zwar durch eine unverhoffte Aufwallung verliebter Gefühle. Denn trotz der unglücklichen Konstellation ihrer Liebe war sie eine Verliebte, bei der sich ähnliche Symptome wie bei glücklich Liebenden zeigten. Hatte sie vorher nicht aus dem Bett gefunden, weil sie nach Ursache und Sinn suchte, so legte sie sich nun wieder hinein, weil es ihr das Angenehmste war, sich dort den Wallungen des Gefühls hinzugeben. Vor ihren Augen erschien das Gesicht ihrer Geliebten. Sie beschaute das Weibliche im Geiste genau und erinnerte sich, wie sie beim Heben ihres Kopfes von der Hochschulbank dem Blick der Geliebten nachgefolgt war. Bereits da hatte sie einen kränklichen gelblichen Schimmer in deren Augen bemerkt, der ihr jetzt klar ins Bewusstsein kam. Ihre Geliebte musste vor einiger Zeit eine schwere Krankheit durchlitten haben, da der Schimmer noch so deutlich in ihren Augen lag. Überhaupt kam sie ihr gesundheitlich recht angeschlagen vor. Tatsächlich hatte der Körper jener Frau in den sechs Jahrzehnten seines Daseins, vor allem durch hektische Beanspruchung und nachlässige Ernährung, gelitten. Ihm fehlte das Taufrische und Propere; und die Geliebte war nicht zu ihrem Vorteil gealtert, was in Anbetracht ihrer schnelllebigen Lebensart auch kaum möglich gewesen wäre. Was ihm fehlte, war die Hübschheit, die er vor Jahren einmal besessen hatte. Diese äußerlichen Mängel störten die verliebt Träumende jedoch nicht, denn für sie besaß die Geliebte genug Anziehendes, wenn die ihre Stimme erklingen ließ, die einen rauen Unterton hatte, sich aber auch sanft erheben konnte. Sie träumte sich die Geliebte nahe heran und prüfte mit der Berührung ihrer Hand, dass es sie auch wirklich gab, während die Geliebte stillhielt und sich von allen Seiten eingehend betrachten ließ. Die Tage der euphorischen Stimmung vergingen im Gegensatz zu den nachdenklichen zügig. Die Geliebte nahe bei sich spürend, musste die Verliebte sie überallhin mitnehmen. Sie begann sogar, mit ihr zu sprechen. Häufig endeten ihre gemeinsamen Ausflüge und Plaudereien erst in den frühen Morgenstunden, und beide fielen einander müde in die Arme.
Mit aufkommender Nüchternheit fand sie solch Träumerei nicht hilfreich dabei, ihre Liebe abzuschütteln. Denn sie war ein Unfall, ein Missverständnis, eine gehörige Strafe, die sie trotz ihrer Unvollkommenheit nicht verdient zu haben glaubte. Sie ermahnte sich, wach zu bleiben, den Realitäten klar und entschlossen ins Auge zu schauen und sich nicht mehr den Verlockungen einer warmen und weichen Geliebten hinzugeben. Dass sie derart streng mit sich umging, war nur mit dem Eintreten des großen Ereignisses zu erklären. Früher hatte sie einen lockeren Umgang mit sich gehabt, hatte Ausreden erfunden, wenn die Schlaffheit eines ihrer Vorhaben über den Haufen warf. (So sah sie einen großen Genuss darin, sich an einem Montagmorgen an ein Flussufer zu setzen, wenn alle anderen arbeiteten, und redete sich ein, dann arbeiten zu wollen, wenn alle anderen schliefen.) Nun aber spürte sie, dass das Lockere und Leichte fehl am Platze war. Das Ereignis wog schwer. Um erst einmal Abstand zur Geliebten zu gewinnen und alles Verliebt-Träumerische zu vermeiden, verbot sie sich den Anblick jener Frau bis auf weiteres. Gleich darauf kam ihr die Idee, sich die Geliebte mit ein wenig Ablenkung und Zerstreuung zumindest eine Zeit lang vom Hals zu halten. Bisher waren ihre Fähigkeiten zur Ablenkung hervorragend gewesen. Der kleinste Vorfall konnte genügen, um ein Buch wieder zuzuschlagen und die Lektüre auf morgen zu vertagen, woraufhin sie meist bis übermorgen liegen blieb oder ganz vergessen wurde. Derart gut in Übung, wollte sie diesen Vorteil nutzen und sich ein wenig amüsieren. Die Abwechslung, die sich ihr böte, würde ihre heilsame Wirkung nicht verfehlen. Allerdings bemerkte sie sofort, wie rasch sie die Strenge gegen sich selbst gelockert hatte. Denn sie tat damit das, was sie am besten konnte, was ihr aber bereits Überdruss bereitet hatte, sodass sie sich nach anderem zu sehnen begann. Zudem machte sie eine Entdeckung, die verwirrend war: Seit dem Eintreten des Ereignisses hatte sie sich von allem zurückgezogen, was für einen lebhaften Menschen ungewöhnlich war. Ohne dass sie es bisher selbst bemerkt hatte, kam ihr der Sinn des menschlichen Miteinanders fragwürdig vor, sobald die Geliebte darin fehlte. Als sie das erkannte, gab sie das Vorhaben auf, die Frau am Pult mit etwas Zerstreuung aus dem Kopf zu bekommen. Denn das Einzelne zeichnete sich, wie ihre Liebe, durch eine besondere Form und Wirkung aus, das hatte sie bereits bei dem Stämmig-Behaarten erfahren müssen. Damals hatte sie das Rare in seiner ganz eignen Art und Weise noch nicht begriffen und nur das Abgeschmackte in seiner Beliebigkeit erkannt; jetzt hingegen hatte sie das Rare in seiner Ungewöhnlichkeit verstanden und wusste: Es war durch nichts ersetzen.
Es dauerte Tage, ehe ihr ein neuer Gedanke kam, mit dem sie den nächsten Versuch zur Abschüttlung ihres Liebesunfalls wagen wollte. Der Plan war einfach. Schon oft war es geschehen, dass das Bild jener Frau unvermittelt vor ihr auftauchte. Doch war es nicht sie selbst, die die Geliebte zu sich holte, sondern ihr stark angeschlagenes Herz. Worauf es pochte, war unüberhörbar: Die Geliebte sollte nicht länger fernbleiben. Dass ihr Herz dies forderte und sie die Geliebte im Geiste zu streicheln und zu küssen begann, hinterließ bei ihr jedes Mal ein sehnsüchtiges, schmerzhaftes Gefühl, da jene zwar klar vor sie hintrat, aber bei aller Nähe doch nicht mehr war als eine blutleere Hülle und ein matter, unvollkommener Abklatsch der echten. Der Drang nach Erfüllung konnte quälend groß werden, sodass sie fürchtete, ihr Herz könnte aus Trotz einfach aufhören zu schlagen. Ihr nächster Versuch bestand nun darin, dem angeschlagenen Herzen die Aussichtslosigkeit ihrer Liebe deutlich zu zeigen. Darum nannte sie die „Geliebte“ nicht mehr Geliebte, sondern „ferne Geliebte“ oder „sehr, sehr ferne Geliebte“, oder „die gänzlich Ferne“ oder gar „die für immer Unerreichbare“ und „die aus den Wolken Gefallene“. Damit wollte sie ihrem Herzen klarmachen, dass jene Frau am Pult weit Besseres zu tun hatte, als auf ein angeschlagenes Herz Rücksicht zu nehmen. Tatsächlich setzte daraufhin eine Lauheit des Gefühls ein und ließ sie an den Erfolg ihres Abschüttlungsversuches glauben. Sie fühlte sich schlapp und leer, hatte kalte Hände und Füße und spürte leichten Schwindel, woraufhin sie sich hinlegte und die graue Decke betrachtete. Wie viele Tage sie ruhte und ihr Herz schlaff in den Seilen hing, wusste sie nicht. Jetzt, da die Lauheit des Gefühls Einzug gehalten hatte, schien es ihr, als hätte das große Ereignis nicht einmal stattgefunden. Wo sonst ihr aufflammendes Gefühl hockte, war alles still und unbelebt. Dennoch wollte sie der plötzlichen Lauheit des Gefühls nicht trauen. Der Sturm war zwar zu einem Lüftchen geworden, doch konnte das Lüftchen auch die Ruhe vor einem erneuten Sturm sein. Bei aller Tücke ihres Plans zweifelte sie, ob er tückisch genug war, ihr Herz ein für alle Mal zu verschrecken und das Vernünftige und Gescheite hervortreten zu lassen. Wäre das aber der Fall, dann war diese Liebe von Anfang an auch nur klein und mickrig gewesen. Das unbefriedigende Gefühl der Halbheit stellte sich bei diesem Gedanken wieder ein. Darum blieben die Tage der plötzlichen Lauheit unfroh und Langeweile machte sich breit, die sie zu vertreiben suchte, indem sie an die Erledigung einiger Dinge ging.
Das tagelange Im-Bett-Liegen hatte Spuren hinterlassen. Ihr Haushalt, der stets Anzeichen der Vernachlässigung zeigte, begann völlig zu verwahrlosen, und es schien notwendig, hin und wieder vor die Tür zu treten. Außerdem war es an der Zeit, sich wieder einmal bei der Mutter zu melden. Die Erkundigungen der Mutter nach ihr erfolgten häufig zum ungeeigneten Zeitpunkt, waren dafür aber frei von aufdringlicher Neugier. Zudem wurde sie zärtlich geliebt, was eine Fürsorge mit einschloss, die ihrem leichtfertigen Lebenswandel ungewollt unter die Arme griff. Als bemittelte Frau ließ die Mutter monatlich reichlich Geld auf das Konto ihrer Tochter fließen, was es dieser erlaubte, die Nase hier und da hineinzustecken. Dass der Geldhahn einmal abgedreht würde, war nicht abzusehen. In letzter Zeit kam es jedoch vor, dass sie beim Ausgeben des mütterlichen Geldes das Gewissen zwickte. Obwohl es nicht besonders heftig auf sich aufmerksam machte, führte das Zwicken dazu, dass sie die sonst so locker sitzenden Scheine des Öfteren in der Tasche behielt. Diese Maßnahme verminderte ihr Unbehagen, änderte aber nichts daran, dass sie mit achtundzwanzig Jahren der Mutter auf der Tasche lag. Sie selbst sah darin eine Verwöhnung und, wenn sie erst spät am Morgen aus den Federn fand und den Tag vertrödelte, sogar eine falsche Großzügigkeit. Für die Mutter war sie jedoch das Kind, welches sich zwar spät entschloss, etwas zu werden, aus dem aber noch alles werden konnte. Manchmal hatte sie sich schon vorgenommen, die Mutter von diesem Irrtum zu befreien und ihr zu gestehen, dass sie für das Geschäftige und Ambitionierte nicht geschaffen war. Doch die Verschiedenheit zwischen Mutter und Tochter führte nie zu ernsthaften Auseinandersetzungen. Als Tochter verfügte sie über Eigenschaften, die die Mutter im Mann suchte. Sie erinnerte sich, dass die Mutter, wenn sie von ihren weiten Reisen zurückkam, häufig Bekanntschaften geschlossen hatte, die in ihrer Ähnlichkeit verblüfften. All ihre Männer redeten wenig, waren etwas langsam in ihren Bewegungen, mochten das Behagliche und lagen gern im Bett. Andererseits wiesen Mutter und Tochter auch einige Ähnlichkeiten auf: Gleich ihrer Tochter zeigte die Mutter einen häuslichen Instinkt gegenüber dem Männlichen, nur dass sie diesen nie bezwingen wollte; ihm stattdessen freien Lauf lassend, servierte sie ihrem Beischläfer am nächsten Morgen den Kaffee und sah in dieser Fürsorge eine Dankbarkeit, die ihr als Beglückte angemessen erschien. Die Namen ihrer Beischläfer mutwillig zu verwechseln, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Es bedurfte sogar einer Schonung des Mannes und besonderer Zuneigung am Morgen, denn als Frau hatte sie empfangen, ihr floss zu, was dieser gab.