Taiga - Sergej Maximow - E-Book

Taiga E-Book

Sergej Maximow

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Beschreibung

Leben und Sterben in Stalins Lagern – Erzählungen aus der Hölle des Gulag Sergej Maximows Erzählband »Taiga« versammelt 23 Erzählungen über das Leben im Gulag unter Stalin. Sie berichten von der tragischen Verhaftung, den Verhören in der Lubjanka, dem erzwungenen Verrat durch Freunde, den Schrecken des Transports in die Lager, von den mörderischen Bedingungen und der Schwere der Arbeit dort. Immer wieder zeigt Maximow, wie Menschen unter den Extremen des Gulags zu Tieren werden – Häftlinge, Aufseher, aber auch sogenannte »Intellektuelle«: Untersuchungsrichter, Lagerleiter … Doch lässt der Autor auch die Menschlichkeit durchblicken, die gerade unter den politischen Häftlingen herrscht, und zeigt, wie sie ihre Angst überwinden, sich nicht aufgeben und versuchen ihre Würde zu bewahren. Zwangsarbeit, Hunger, Kälte, Krankheit, Gewalt und Willkür – all das hat Maximow selbst erlebt und beschreibt es in seinen Erzählungen nüchtern, fast beiläufig, was den Schrecken und das Entsetzen beim Lesen umso größer werden lässt.

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Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Meiner Frau Sofja Maximowa gewidmet

INHALT

Die PassantinDer PianistDer ErzieherAuf TransportEine NachtOdyssee eines ArrestantenIm FrühjahrDie FluchtStreckenpunkt 160Im SchneegrabIm TheaterDie FürstentochterGlückKomischDer AussätzigeEin Sohn der TaigaDer AlbtraumBlaubändchenDer HochstaplerKnjash-PogostEinsamkeitEine Frau in der TaigaKategorie drei Epilog – Gedanken an eine kürzliche Reise (Andrej Ljubimow)Sergej Maximow – Leben und Werk (Christine Hengevoß)GlossarEditorische Notiz

DIE PASSANTIN

Ich hoffe, dass das Leben mit lebendigem Klang aufhört, plötzlich, ohne Stöhnen und elendes Gejammer.

Leskow

Zu Beginn des Frühjahrs wurde ich von der Außenstelle Roptscha in den Norden, an die Petschora geschickt. In Ust-Koshwa teilte mich die dortige Lagerleitung als Feldlaborant einer geologischen Expedition zu.

Als ich das Labor übernahm und die Analysenberichte durchstöberte, kamen ein paar Seiten aus dem Tagebuch des vertragsbeschäftigten Laboranten Michailow zutage, meines Vorgängers, der bei dem Versuch, einen der Bohrarbeiter zu retten, im Fluss ertrunken war. Die Seiten waren auf den 2. und 3. Februar 1940 datiert. Der Leiter der Expedition erzählte mir, dass Michailow kurz vor seinem Tod irgendwelche Papiere, offenbar ein Tagebuch, verbrannt habe. Zuerst dachte ich, die beiden Seiten vom 2. und 3. Februar seien zufällig übersehen worden, kam dann aber zu dem Schluss, dass Michailow sie bewusst nicht verbrannt hatte: Auf einer Ecke des ersten Blatts stand, mit Bleistift geschrieben, in der Handschrift des umgekommenen Laboranten: »Auf keinen Fall vernichten.« Der Tagebucheintrag für jene zwei Tage lautete folgendermaßen:

2. Februar

Der Schneesturm wütet schon den dritten Tag. Unsere winzigen Segeltuchzelte sind unter den gewaltigen Schneewehen kaum noch zu finden. In einem wohnt der Leiter unserer geologischen Expedition, Ingenieur Petrow, im zweiten hat man das kleine Feld­labor eingerichtet, hier sind auch die zwei Gesteinssammler und ich untergebracht. Im dritten wohnen die Arbeiter.

Es ist Abend. Das Eisenöfchen glüht rot. Laut knistern die Kiefernscheite, und die Glaskolben und -zylinder auf meinem Tisch glänzen trübe. Auf dem Zeltdach hört man den trockenen Schnee rascheln. Die 7-linige Petroleumlampe mit dem zerschlagenen Glas brennt schwach. Das Glas hat der Gesteinssammler Golowin einmal zerschlagen, während einer Alkoholpsychose.

Ich bin heute Abend allein. Der Expeditionsleiter, die Gesteinssammler und die Arbeiter sind seit drei Tagen unterwegs, um am Berg Ubys Schotterlagerstätten zu erkunden. Sie sollten gestern schon zurück sein, doch offenbar hat der Schneesturm sie aufgehalten.

Neben dem Arbeiterzelt war der Koch Iwan, ein Mordwine von der Wolga, damit beschäftigt, Holz zu spalten. Bei jedem Axthieb ächzte er und stieß saftige Flüche aus.

Ich drehte den Lampendocht weiter heraus, setzte mich näher an den glühenden Ofen, ließ die gekreuzten Arme auf die Knie sinken und verfiel in Nachdenken. Hell pfiff der Wind in den Baumzweigen über den Zelten, schlüpfte in das Blechrohr und schlug als schwarzer, teeriger Rauch aus dem Ofen. Durch die Öffnung zwischen der Zeltplane und dem Rohr wehte eine Handvoll Schneeflocken herein, überzog mich als silbriger Staub und verzischte auf dem glühenden Blech des Rohrs.

Iwan schlug die vollgeschneite Plane am Eingang zurück, betrat mit einem Armvoll Brennholz das Zelt, warf es auf den Boden und klopfte sich den Schnee ab.

»So ein Wetterchen aber auch, gottverdammich …«

»Tee aufgesetzt?«, erkundigte ich mich.

»Hab ich. Kocht gleich«, erwiderte er träge und verließ das Zelt, steckte aber im nächsten Moment den Kopf wieder herein und teilte mir erschrocken mit:

»Da schreit jemand in der Taiga …«

Eilig verließ ich hinter ihm das Zelt. Inmitten der weißen Pracht stand wie eine schwarze Mauer der Wald. Zwischen den schnell dahinschwebenden Wolken schimmerte die grüne Mondscheibe und tauchte gleichgültig immer wieder in das struppige Gewölk ein. Der Schneesturm wirbelte. Wir lauschten.

»U-u-u-u-a-a-ah!«, erklang aus der Taiga ein schwer definier­bares Rufen. Es war eine Frau, die da schrie, und offenbar aus ziemlicher Nähe.

»A-a-a-ah …!«

Ich lief schnell zum Zelt, setzte meine Schapka auf, zog mir die Wattejacke über und schob eine kleine Axt hinter meinen Gurt. Iwan zerrte zwei Paar Skier aus einem Schneehaufen, warf mir ein Paar hin, zog die Riemen der Bindung über seine Filzstiefel und meinte stockend:

»Sie schreit nicht weit von hier … am Fluss.«

Wir fanden sie etwa dreihundert Meter von unserem Lager entfernt, am Ufer der Koshwa, eines kleinen Zuflusses der kalten Petschora. Sie saß, an einen Baumstamm gelehnt, im Schnee. Ihr Kopf war in ein warmes Tuch gehüllt, unter dem große Augen mit taunassen Wimpern seltsam glänzten. Neben ihr lag ein prall gefüllter Reisesack.

»Ich bin vom Weg abgekommen …«, sagte sie mit tiefer, etwas heiserer Stimme. »Wer sind Sie?«

»Geologen, Prospektoren«, erwiderte ich. »Stehen Sie auf, sonst erfrieren Sie noch.«

Die Frau erhob sich.

»Meine Skier habe ich unterwegs stehen gelassen. So ein Schneesturm. Ist es weit bis zu euch?«

»Nein, ganz in der Nähe. Kommen Sie, wärmen Sie sich auf. Woher kommen Sie?«

Sie druckste, schwieg einen Augenblick, sagte dann leise:

»Aus Ust-Uchta. Ich bringe die Post, na und bin vom Weg ­abgekommen, bin fast erfroren. Ohne die Skier wird es schwierig …«

»Sie können meine haben«, bot ich ihr an. »Erst einmal aber müssen Sie trocken werden und abwarten, bis der Schneesturm vorbei ist.«

In meinem Zelt ließ sie sich kraftlos auf eine Pritsche sinken und streckte die frierenden Hände an den Ofen.

»Helfen Sie mir bitte beim Ausziehen … Meine Finger sind völlig erstarrt.«

Ich löste ihr Tuch, nahm ihr die Jacke ab und zog ihr die vereisten, hartgefrorenen Filzstiefel von den kleinen bloßen Füßen. Sie zog die Beine auf die Pritsche, umfing die Knie mit den Armen und begann, das Kinn darauf gestützt, unverwandt ins Feuer zu starren. Das krause schwarze Haar fiel ihr ungeordnet über die Schultern und warf seinen Schatten auf die glatte weiße Stirn. Auf ihren markanten, ein wenig aufgeworfenen Lippen lag ein unbestimmtes Lächeln, und auf den dichten Wimpern über den großen dunklen Augen glänzten Tropfen geschmolzenen Schnees, vielleicht auch Tränen. Die kurzen Ärmel der wollenen Bluse gaben den Blick auf ihre hübschen molligen Arme frei.

»Wie heißen Sie?«

»Irina. Und Sie?«

Ich stellte mich vor und bot ihr ein wenig von unserem Sprit an.

»Sehr gerne. Mir ist furchtbar kalt.«

Ich goss ein wenig leicht verdünnten Sprit in ein Messglas. Sie trank es aus, begann zu husten und sich zu schütteln. Wir lachten.

»Stark?«

»Ganz schön«, meinte sie und zeigte beim Lächeln ihre blitzenden weißen Zähne.

In der Nähe des Zelts flog mit lautem Flattern ein Vogel auf. Erschrocken zuckte Irina zusammen und sah mich an.

»Was war das?«

»Ein Auerhahn.«

»Nachts habe ich in der Taiga schreckliche Angst. Ohne Sie wäre ich wohl erfroren.«

Iwan kam mit dem kochenden Teekessel herein. In kleinen Schlucken tranken wir das heiße Wasser, das mit getrockneten Blättern der schwarzen Johannisbeere aufgegossen war, lauschten dem Tosen des Schneesturms und führten ein ruhiges Gespräch. Allmählich wurden wir fröhlicher. Iwan sang lustige mordwinische Lieder und trank ganz nebenbei meinen gesamten Vorrat an Sprit aus. Sein gutmütiges, pockennarbiges Gesicht fing an zu glänzen wie eine mit Eigelb bestrichene rosa Semmel. Irgendwann geriet er so in Fahrt, dass er anfing, uns umwerfend komische mordwinische Tänze vorzuführen, wobei er geschickt zwischen Pritsche, Tisch und Ofen manövrierte. Für eine volle Stunde vergaßen wir den Schneesturm und tauchten in eine gänzlich neue Welt ein. Wie wenig der Mensch doch braucht, um fast glücklich zu sein!

Dann verließ Iwan uns. Ich beschloss, Irina mein Zelt zu überlassen und im Zelt der Arbeiter zu übernachten. Wie immer, wenn Menschen für lange Zeit von der Außenwelt isoliert sind, befällt sie nach stürmischen Ausbrüchen der Fröhlichkeit schwerer Katzenjammer. Nach Iwans Weggang saßen wir etwa zehn Minuten schweigend, mit hängenden Köpfen da, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.

»Und morgen?«, fragte sie plötzlich.

Ich hob den Kopf: Der Sinn der seltsamen Frage war mir nicht klar. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und antwortete selbst:

»Morgen nehme ich meinen Rucksack und gehe im Frost durch die Taiga, hin zu … hin zu …«

Sie warf sich auf den Strohsack, den ich als Kopfkissen benutzte, und begann laut zu schluchzen.

»Was ist denn? Nicht doch, bitte, nicht …«

Ihre fülligen Schultern bebten vom Weinen. Ein Windstoß riss eine Zeltbahn los, warf einen Haufen Schnee ins Zelt und zerrte an der losen Plane. Ich ging hin und befestigte die Plane wieder. Irina erhob sich ein wenig und sah mich mit tränennassen Augen an.

»Sagen Sie doch: Wozu haben Sie mich heute in der Taiga gefunden? Wozu haben Sie mich gerettet? Ich hätte lieber erfrieren sollen … Lieber ein schnelles Ende … Warum haben Sie mich gerettet?«

»Warum? Darum, weil Sie geschrien haben«, erwiderte ich, versuchte die Ruhe zu bewahren und begann meine Pfeife zu stopfen.

Sie lächelte auf irgendwie kindliche Weise und wischte sich mit einem Tuch die Tränen ab.

»Das stimmt«, seufzte sie niedergeschlagen. »Wer will schon sterben? Auch ich will nicht sterben … Ganz und gar nicht …«

Sie verstummte nachdenklich.

Ich trat an den Ofen, hielt die Hand vor das glühend heiße Rohr und fragte leise, ohne Irina anzusehen: »Sagen Sie, warum belügen Sie mich?«

Sie änderte nicht einmal ihre Haltung, blickte mich nicht an, als habe sie diese Frage erwartet. Einen Moment lang dachte sie nach und sagte dann in ruhigem Ton:

»Weil ich Ihnen die Wahrheit nicht sagen kann …«

»Warum nicht? Aber was rede ich … verzeihen Sie … wie dumm von mir«, besann ich mich, als mir klar wurde, wie anmaßend meine Frage war. Ich spürte, dass ich mich irgendwie erklären musste, und fügte hinzu: »Wissen Sie, warum ich frage … Ich habe in Moskau gewohnt. Meine Kindheit und den größten Teil meines bewussten Lebens habe ich dort verbracht. Ich bin Ingenieur. Obwohl ich es aus gewissen Gründen vorziehe, als einfacher Laborant zu arbeiten. Aus denselben Gründen, aus denen ich die gottverlassene Taiga der Hauptstadt vorziehe. Und jetzt sind Sie da, und ich erkenne einen Menschen aus meinen Kreisen. Dieselbe Art zu reden, derselbe Moskauer Dialekt, dieselben Umgangsformen eines Intelligenzlers. Ich habe bemerkt, wie Sie Ihr Haar mit dieser schnellen, präzisen Bewegung richten, wie Sie sich bei Tisch verhalten. Kurz, Ihre Tarnung als Postzustellerin in der Taiga ist ungeschickt und wenig überzeugend. Und Sie müssen mir recht geben: Es ist doch ganz natürlich, dass ich mir die Frage stelle: Wer ist sie, diese Taiga-Postfrau mit dem Moskauer Dialekt? Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, aber …«

»Sie haben nichts Unangemessenes getan«, unterbrach sie mich. »Die Taiga befreit die Menschen von vielem, offenbar auch von der Höflichkeit.«

Ich schwieg.

»Und dann vergessen die Männer zum Beispiel auch, dass es auf der Welt Rasiermesser gibt.«

»Sie spielen auf meinen Bart an?«

»Nein … so allgemein.«

»Wissen Sie, der Bart schützt mich vor dem Frost.«

»Und auch vor etwas anderem …«

Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ließ ihre Zahnreihen blitzen.

Ich schwieg erneut.

»Zum Beispiel ist es unmöglich, sich in Sie zu verlieben«, ließ sie nicht locker.

Oje, meine Neugier kommt mir teuer zu stehen, dachte ich und schickte mich in Gedanken zum Teufel.

»Nun schauen Sie sich doch mal an, wie Sie aussehen! Wie ein Waldschrat: lange Haare, roter Bart …«

»Nicht rot, kastanienfarben …«, versuchte ich zu scherzen.

»Kastanienfarben, kastanienfarben«, äffte sie mich nach. »Wenn ich sage: rot, dann ist er rot! Und, was interessiert Sie noch? Wollen Sie vielleicht wissen, wie alt ich bin?«

»Wozu? Sie glauben doch wohl nicht, dass ich anfange, mich zu rasieren?«

»Ist das jetzt eine Retourkutsche für meine ehrliche Meinung über Ihr Aussehen? Ich hätte sie für geistreicher gehalten … Aber trotzdem: Was glauben Sie denn, wer ich bin?«

»Ich werde darauf nicht antworten. Es ist Ihnen offenbar unangenehm, und ich möchte Ihnen Peinlichkeiten ersparen.«

»Aber ich bestehe darauf … und bitte Sie. Wer bin ich wohl?«

»Eine Passantin …«, sagte ich ruhig und zündete meine erkaltete Pfeife wieder an.

»Mehr nicht?«

»Mehr nicht. Wenigstens für mich.«

»Eine Passantin …«, wiederholte sie spöttisch und blickte mir mit Hass und Verachtung in die Augen.

»Eine Passantin …«

»… die die Aufnahmeprüfung an einer Schauspielschule nicht bestehen würde«, fügte ich hinzu.

Sie sprang auf, in den dunklen Augen das Funkeln eines gehetzten Tiers.

»Ja!«, schrie sie. »Ich lüge! Hören Sie? Ich lüge! Ich bin keine Postfrau und war nie eine! Ich bin Ingenieur, genau wie Sie, nur mit dem Unterschied, dass ich … dass ich …« Sie hielt zurück, was ihr auf der Zunge lag, biss sich nervös auf die blutrote, aufgeworfene Lippe und fiel schwer atmend zurück auf die Pritsche.

»Im Übrigen«, fügte sie nach einer Weile hinzu, »geht es Sie auch gar nichts an, welcher Unterschied zwischen uns besteht. Für Sie bin ich ja nur eine … eine Passantin.«

Etwa fünf Minuten schwiegen wir. Ich ärgerte mich über mich selbst; sie tat mir leid. Ich erhob mich und beschloss, hinüber ins andere Zelt zu gehen. Außerdem begann auch das Licht der Lampe zu verglimmen – das Petroleum war verbraucht. Doch Irina kam mir zuvor.

»Ich würde gern schlafen.«

»Das ist auch das Beste«, sagte ich. »Legen Sie sich hier auf meine Pritsche. Hier haben Sie eine Decke, legen Sie Ihre Jacke noch darüber. Um den Ofen kümmere ich mich. Gute Nacht.«

Ich trat hinaus. Der Schneesturm fegte noch immer umher und rüttelte an den trockenen Fichten und Lärchen. Der Mond hatte sich versteckt, vom Fluss her war das abgehackte, nervenaufreibende Bellen eines Fuchses zu hören. Im Arbeiterzelt schnarchte Iwan trotz der entsetzlichen Kälte – der Ofen war ausgegangen. Ich blies in die Glut, legte Holz auf, und als das Feuer wieder fröhlich loderte, holte ich mir ein Buch und setzte mich an den Ofen, um zu lesen. Nach etwa zwei Seiten sah ich ein, dass ich den Sinn des Gelesenen nicht erfasste, legte das Buch beiseite und begann zu beobachten, wie sich die Birkenrinde im Feuer zusammenrollte. Träge hing ich irgendwelchen müßigen Gedanken nach: dachte mal an das eine, mal an das andere zurück. Wie lange ich so saß und nachdachte – ich weiß es nicht. Ich war wohl eingenickt und wachte von der Kälte wieder auf. Der Ofen war ganz ausgegangen. Mir fiel mein Gast wieder ein. Sicher war auch dort das Feuer längst erloschen.

Ich ging ins Freie. Der Schneesturm hatte sich gelegt, und am grünlich-blauen Himmel, der von grellen Sternen übersät war, hing stählern die Mondscheibe.

Vorsichtig schlug ich die Zeltplane zurück, trat ein und hockte mich vor den erloschenen Ofen. Ich fachte das Feuer wieder an und legte Birkenrinde auf. Sie krümmte sich, begann zu qualmen, loderte als knisternd-heiße Flamme auf und beschien das Zelt. Ich richtete mich auf und warf einen Blick zur Pritsche.

Irina lag auf dem Rücken unter der Decke und sah mich mit gerunzelter Stirn und irgendwie allzu angespannt an.

»Kommen Sie zu mir …«, sagte sie leise.

Ich ging hin und setzte mich zu ihr auf die Pritsche. Sie versenkte ihre Finger in meinem Bart und lächelte einfach, sanft, so wie Genesende lächeln.

»Was für ein lustiger lockiger Bart. Wie alt ist er?«

»Ein Jahr.«

»Und Sie?«, fragte sie, ließ die Hand sinken und knöpfte ohne Eile einen Knopf an meiner Feldbluse zu.

»Dreißig.«

»Haben Sie eine Frau?«

»Nein. Ich habe ein Mädchen geliebt, wir waren verlobt, aber dann … hat sie meinen Freund geheiratet.«

»Wie dumm von ihr!«, lachte sie. »Dabei sind Sie doch im Prinzip ein netter Kerl …«

Ich verspürte eine leichte Kälte in der Herzgegend und rückte unwillkürlich näher an sie heran, doch sie wehrte ab.

»Sagen Sie«, meinte sie irgendwie nachdenklich, »Sie haben doch bestimmt schon mal darüber nachgedacht, was den Menschen wirklich froh macht im Leben? Was meinen Sie«?

»Ich weiß nicht«, druckste ich. »Wahrscheinlich trägt vieles dazu bei: Wenn man die Arbeit mag, die Familie, Liebe …«

»O nein«, unterbrach sie mich seufzend. »Das ist es alles nicht. Wissen Sie, was das Wichtigste ist?«

»Nun?«

Sie stützte ihren Krauskopf auf die Faust, kniff die Augen leicht zusammen und sagte kurz und knapp:

»Die Freiheit.«

Wieder erklang in der Taiga das traurige Bellen des Fuchses. Die Birkenrinde war fast verbrannt, im Zelt wurde es dunkler und wellenförmig erleuchtete ein seltsamer rötlicher Widerschein die Zeltwände.

»Oh, wie sehr sie die braucht, Ihre … zufällige Passantin«, sagte Irina leise, mit gerunzelter Stirn, und plötzlich knirschte sie mit den Zähnen und umfasste ungestüm meine Schultern. Ich beugte mich zu ihr, küsste ihre warmen Lippen und spürte, wie mein Herz immer schneller schlug.

3. Februar

Ich weiß nicht, ob ich je wieder zu meinem Tagebuch zurückkehren werde. Wahrscheinlich nicht. Es hat keinen Sinn zu schreiben, es ist vergebens, warum soll ich noch etwas aufschreiben … ich habe den ganzen Albtraum durchlebt, der uns umgibt wie die Toten das Leichentuch. Ich habe den Preis der Freiheit erfahren.

Meinen gestrigen Eintrag ins Tagebuch habe ich um vier Uhr nachts geschrieben, nachdem ich Irina erregt, verstört, mit Freude, aber auch Unruhe im Herzen zurückgelassen hatte und wieder in mein Zelt gegangen war. Ich ahnte nicht, welch schreckliche Wahrheit sich mir zwei, drei Stunden später eröffnen würde.

Dies hier also ist mein letzter Eintrag, ohne langes Nachdenken und ohne jeden Kommentar:

Ich weiß noch, dass ich einschlief, eng an Irinas warmen Körper geschmiegt. Ich fühlte mich wohlig, kindlich-froh und einfach nur gut. Ich träumte von etwas Hellem, Gutem.

Als ich hingegen aufwachte, spürte ich vor allem Leere. Es war dunkel. Ich tastete mit der Hand und begriff: Da war niemand bei mir. Ich zuckte zusammen: Wo war sie denn?

Und am Fluss bellte, weinte die ganze Zeit der Fuchs.

Wie widerwärtig sein Geheul war!

Beim ersten Klang der geliebten Stimme war ich bei ihr.

»Warum schläfst du nicht?«

Sie saß in der Ecke am Ofen, in ihrer Lieblingshaltung: Ihre Hände umfassten die Knie, auf die sie den Kopf stützte. Ich legte ihr die Jacke um, küsste ihr Haar, ihre Stirn, die Augen …

»Hast du geweint?«

Sie presste sich mit der Wange an mich und sagte leise:

»Weißt du, mir ist so gut …«

Nach einem Augenblick des Schweigens fügte sie hinzu:

»Ich möchte dir etwas erzählen, davon, was der Mensch vor dem Tod empfindet …«

»Ach, lass doch!« Ich verzog das Gesicht. »Wirklich, das geht zu weit! Erzähl mir lieber von dir, schließlich weiß ich überhaupt nichts über dich!«

»Morgen! Versprochen! Vor dem Tod spürt der Mensch nur das süße Beben seines Herzens, in banger Erwartung des großen Mysteriums. Weiter nichts. Und Kälte. Komm, wir fachen das Feuer an.«

Innerhalb einer Minute hatte ich den Ofen eingeheizt. Ob es die Wärme war, oder das Licht – uns wurde es wieder leichter ums Herz. Irina erhob sich, dehnte sich und meinte auf ganz alltägliche Art:

»Lass uns noch ein bisschen schlafen.«

Plötzlich aber blickte sie mich erschrocken an und ergriff meine Hand:

»Hörst du das? Was ist das?«

Ich spitzte die Ohren, konnte aber nichts hören.

»Hörst du es?«

»Nein.«

Sie lächelte betreten.

»Mir kam es so vor. Ich bin so schreckhaft heute … Wann kommen eure Leute zurück?«

»Vielleicht morgen.«

»Früh?«

»Sie werden wohl kaum nachts unterwegs sein. Obwohl unser Chef seine Eigenheiten hat, bei dem muss man mit allem rechnen. Warum fragst du?«

»Ich denke, du solltest in dem anderen Zelt schlafen«, meinte sie mit gesenktem Blick.

»Was?«, rief ich erstaunt, nahm mich aber gleich wieder zusammen. »Entschuldige, ich verstehe nicht – warum?«

»Geh!«, befahl sie.

Ich umarmte und küsste sie, wie einen Nahestehenden, den man in ein paar Stunden wiedersieht – flüchtig und leicht.

Ich ging und setzte mich an mein Tagebuch. Die Nacht war tiefschwarz. Müde hörte ich mit dem Schreiben auf, ohne fertig geworden zu sein, legte den Kopf auf die Arme und begann, glückselig lächelnd, mir nach und nach alle Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen. Dann verschwamm alles.

Ich konnte die schweren Augen nur mit Mühe öffnen, hob den Kopf und sah mich um. Im Zelt war es trübe – die Morgendämmerung brach erst an. Draußen waren leise Stimmen und das Winseln von Hunden zu hören. Die Unseren sind zurück, dachte ich und warf mit einem Ruck die Zeltplane zurück, um hinauszugehen. Etwa dreißig Schritte entfernt erblickte ich vier uniformierte Männer mit Gewehren in den Händen, die sich auf Skiern dem Lager näherten. Ihre Hunde zerrten an den Leinen. Im selben Moment fiel ganz in der Nähe, fast neben mir, ein ohrenbetäubender Schuss.

Ohne mir schon klar darüber zu sein, was passiert war, nur meinem Instinkt folgend, stürzte ich zu Irinas Zelt, registrierte aber nebenbei, dass die vier Ankömmlinge wie auf Kommando in den Schnee fielen. Innen konnte ich zunächst nichts erkennen: Im Zelt schwebte ein fahler, bitterer Dunst. In der schreienden Stille war nur das Tröpfeln des Wassers zu hören, das auf dem Tisch aus einem umgeworfenen Glaskolben floss.

Mit dem Rücken gegen ihren aufgeschnallten Rucksack gelehnt, ließ Irina, halb auf der Pritsche sitzend, auf schreckliche, unnatürliche Weise den Kopf auf die Brust hängen. Das wirre schwarze Haar verdeckte ihr Gesicht. Die aufgeknöpfte Joppe gab den Blick auf die mir wohlbekannte blaue Wollbluse frei, die mit seltsamen dunklen Flecken bedeckt war. Die kleine Hand mit halb gekrümmten Fingern war zur Seite geworfen. An einem Fuß trug sie einen Filzstiefel. Der andere Stiefel lag auf der Erde neben ihrem angewinkelten, herabgerutschten nackten rechten Bein; mattweiß hob es sich kläglich und hilflos von der schwarzen Decke ab. Der große Zeh steckte im Abzugsbügel meines Jagdgewehrs, das mit dem Lauf auf den Rand des Labortisches gefallen war.

Mit angehaltenem Atem schob ich behutsam die krausen Haarsträhnen von ihrer Stirn.

Da war kein Gesicht. Nur etwas Entsetzliches, Unförmiges.

Ich weiß noch, dass ich vom Tisch ein Blatt Papier nahm, auf dem etwas mit Bleistift geschrieben stand, dass ich dieses zarte Blatt an meine Lippen führte und die Buchstaben küsste – die Spuren ihres Lebens. Wie im Traum nahm ich wahr, dass jemand hereinkam, hörte Iwans verstörte Stimme und eine andere, tiefe, ruhige, die Iwan erklärte:

»Aus dem Straflager entflohen … eine Politische …«

An dieser Stelle brach Michailows Tagebucheintrag ab. An die letzte Seite war ein Zettel angeheftet. Zuoberst stand in Druckbuchstaben: »Bodenanalyse Nr. 1937«, darunter, mit einem Bleistift, in der gleichmäßigen Schrift einer Frau, mit korrekt gesetzten Satzzeichen, Folgendes:

»Liebster, ich habe nur noch eine halbe Minute. Hunde und Suchtrupp sind ganz nahe. Das Wichtigste im Leben ist die Freiheit.«

Lange bewahrte ich diesen Zettel auf. Manchmal holte ich ihn hervor, las ihn immer wieder, und er rief keinerlei Empfindungen mehr in mir hervor. Bald schon hatte ich sowohl Irina als auch Michailow als auch den Zettel ganz vergessen.

Das Leben in der Taiga war farblos und langweilig. Im Winter, wenn nachts die Schneestürme tosten, spielten wir Karten und tranken Sprit. Im Chor sangen wir mit vom Frost heiseren Stimmen unser Lieblingslied über die Taiga.

»Wo der Schnee fliegt auf stürmischen Schwingen,

liegt im Norden, im fernen, ein Grab.

Frost und Taiga das Totenlied singen,

nur der Mond beugt sich bleich noch herab.«

Kalt ist es. Ach, wie kalt ist es auf dieser Erde!

DER PIANIST

An diesem Tag war es besonders heiß. Über dem aufgewühlten braunen Lehmboden flirrte die brütende Hitze. Mückenschwärme tanzten als Wolken über unseren Köpfen.

Ich arbeite an einer Pfahlramme. Der auf die Schnelle aus feuchtem Holz zusammengezimmerte Göpel steht auf dem Grund einer tiefen Schlucht, am Ufer des kleinen, aber kalten und schnellen Flüsschens Vuly-Sju-Iol. Von frühmorgens bis spätabends stemmen wir, neun abgerissene, hungrige Häftlinge, uns mit der Brust gegen die Schwengel der Rammwinde und gehen im Kreis, um den schweren eisernen Rammbär nach oben zu ziehen.

Die Rammwinde knarrt, das stählerne Seil spannt sich wie eine Saite, und wenn der Rammbär laut krachend auf den Rammpfahl fällt, wischen wir uns den Schweiß von der Stirn und versuchen auf jede erdenkliche Weise, das erneute Hochstemmen des herzlosen eisernen Ungetüms, das uns bis zur völligen Erschöpfung zermürbt, hinauszuzögern.

Der Zehnerleiter, ein kleines, pockennarbiges Männchen, sitzt auf einem Holzkloben, weist mit seiner Messlatte aus Kiefernholz auf die Sonne und mahnt immer wieder:

»Macht zu, Jungs, macht zu … Seht zu, dass ihr die Hälfte der Norm bis Mittag schafft!«

»Machen wir, machen wir, Golubtschik«, erwidert im selben Tonfall Jefimytsch, mein Nachbar am Schwengel, ein gekrümmter, schwindsüchtiger, ständig schwer hustender Alter, der, weil ihm die Brust wehtut, die vertrocknete Schulter auf den glattgescheuerten glänzenden Schwengel legt. »Wir geben alles, was wir können, Zehnerleiterchen, vielleicht geben wir dir bald auch unser bisschen Leben.«

Zehnerleiter Golubew kneift die scharfen Augen zusammen, sieht ihn an und sagt langsam:

»Du bist verdammt geschwätzig geworden, Jefimytsch, was brauch ich dein Leben, Freundchen, ich bin selbst nur Häftling.«

»Warum zum Teufel treibst du uns dann so an«, sagt daraufhin wütend Mitjka-Pan, ein alter Langfinger und Wiederholungstäter, und wendet ihm sein bleiches Gesicht zu. »Du hast kein Gewissen, du pockengesichtiger Deibel.«

Golubew lacht leise.

»Weswegen sitzt du, Pan?«, fragt er und gibt die Antwort gleich selbst. »Diebstahl! Und ich? Hab ich einen umgebracht? Oder beklaut? Oder hab ich mich gegen die Sowjetmacht gewendet, wie Jefimytsch da oder Serjoschka, oder Wsjewolod? Nehee, ich hab keine Gesetzesverbrechen nich gemacht … Wenn du’s genau wissen willst, Buchhalter war ich, im Kolchos, und da haben sie mich reingerissen … Hat einer fünf Fuhren Roggen aus dem Kolchosspeicher geklaut, und ich hatte die Verantwortung.«

»Du lügst doch, du Hund!« Mitjka-Pan spuckt aus. »Die hast du selbst stibitzt und die Schuld auf andre geschoben.«

Mitjka-Pan hat als Einziger von uns keine Angst vor dem Vorarbeiter. Und er ist auch der Einzige, über den sich der Zehnerleiter nicht bei der Lagerleitung beschwert, weil er nämlich Angst vor Mitjka hat. Mitjka weiß das und schmeißt die Arbeit öfter mal hin, packt sich gleich neben der Rammwinde in die Sonne, um zu schlafen. Golubew umkreist ihn und schreit rum, dass er ihn in die Isolationszelle bringt, Mitjka aber schließt die Augen, lächelt selig und verspricht gleichgültig:

»Ich brech dir gleich alle Rippen, pockengesichtiger Satan, wenn du nicht verschwindest und mich schlafen lässt.«

Am besten verstand ich mich mit Wsjewolod Fjodorowitsch. Er war Pianist von Beruf. Schon vor der Haft hatte ich Konzerte von ihm besucht, im Moskauer Konservatorium. Damals waren wir aber noch nicht persönlich miteinander bekannt. Er war ein kluger und begabter Mensch, siebenunddreißig Jahre alt, hochgewachsen, bedächtig in seinen Bewegungen, ein wenig linkisch. Mit einer großen runden Brille, durch die gütige, kluge Augen blickten, strahlte er Warmherzigkeit und Anstand aus. Er war sehr schweigsam und leistete gefügig und fleißig jede Art von Arbeit. Man hatte ihn zu drei Jahren verurteilt, zweieinhalb davon hatte er bereits »abgesessen«. Wofür er verurteilt worden war, wusste Wsjewolod, wie die meisten Politischen, selbst nicht.

In Moskau lebte noch seine alte Mutter. Er schrieb ihr Briefe und lebte nur für ein Ziel: zu ihr zurückzukehren und wieder als Pianist zu arbeiten. Letzteres wurde jedoch durch einen Umstand erschwert: Die körperliche Arbeit hatte seine Hände so grob und schwielig werden lassen, dass er sie, wie er selbst sagte, kaum noch bewegen konnte. Das bedrückte ihn außerordentlich und ließ ihn nächtelang kein Auge zumachen.

Wenn wir uns abends nach der Arbeit entkräftet auf die schmutzigen, verlausten Pritschen fallen ließen, zeigte er mir seine verkrümmten, rauen Finger und fragte nervös:

»Was meinen Sie, Serjosha, ob die noch wieder werden?«

Ich gab mir alle Mühe, ihm glaubhaft zu versichern, dass er, ja, natürlich wieder spielen würde, doch im tiefsten Innern zweifelte ich daran. Und wie zum Trotz musste er während der ganzen drei Jahre im Konzentrationslager die schwersten Arbeiten verrichten: Mal stand er mit dem Spaten in der Hand bis zu den Knien im fauligen Sumpfwasser, mal schob er die schwere, mit Erde beladene Schubkarre oder schleppte sieben Meter lange Balken aus dem Wasser.

Es gibt Menschen, die sind so wendig und gerissen, die reißen sich die ganze Haftzeit über kein Bein aus, wie es so schön heißt. Die sehen zu, dass sie eine Arbeit als Friseur kriegen, oder als Koch, Depotwärter, Verwalter … Andere hingegen schieben jahraus, jahrein die schwere Karre. Das sind ehrliche, bescheidene, dem Schicksal ergebene russische Menschen, die für nichts und wieder nichts ins Lager geraten sind. Solch ein Mensch war auch Wsjewolod Fjodorowitsch.

Ein Stoß ließ die Winde erbeben. Der Rammenführer Kolja, mit fünfzehn noch ein richtiger Junge, zog an dem Fallseil und zählte laut die Anzahl der Aufschläge. Die Sonne stieg immer höher, ihre heißen Strahlen brannten auf unseren kahlrasierten Köpfen. Am linken und rechten Flussufer, fünfzig Meter von uns entfernt, waren Erdarbeiter dabei, Zufahrten für eine künftige Brücke aufzuschütten. Ich blickte nach oben und sah, wie vor dem Hintergrund des blauen Himmels auf den Erdkegeln Menschen mit Schubkarren auftauchten, einer nach dem anderen, armschwingend die Karren umkippten und sie leer wieder hinunterschoben. Sie erinnerten an große Vögel, die an den Rand eines Abgrundes geflogen kamen und erschrocken zurückflatterten.

Ein wenig abseits saß im dichten Schatten wilder Johannisbeersträucher der Wachsoldat auf einem Baumstumpf. Den Kopf auf der Brust, gestützt auf das Gewehr, das er nicht aus den Händen ließ, schlief er friedlich. Er war morgens schon betrunken gewesen, und jetzt, gegen Mittag, war er völlig hinüber.

»He, Gruppenleiterchen!«, rief Mitjka-Pan Golubew zu.

»Was-willst-du-denn?«, fragte der faul und schnitzte weiter Muster in seine Messlatte.

»Was, wenn ich mal eben zu dem Wachkerl da geh, ihm die Flinte aus der Hand reiße und zack mit’m Lauf eins übern Schädel, und dann dir ’ne Kugel in’n Kopf und tschüss, ab in die ­Taiga …?«

»Kommst trotzdem nicht weit!«, erwiderte Golubew leise.

»Wieso?«

»Na weil hier Hunderte von Kilometern nur Taiga is, und Sümpfe und Mücken. Die nächsten Dörfer sind erst an der Wytschegda. Bevor du da hingekrochen kommst, bist du vor Hunger verreckt oder im Moor ersoffen.«

»Ich hab doch die Flinte. Kann Vögel schießen«, träumte Mitjka-Pan laut.

»Erstens hast du nur fünf Patronen, mehr kriegen die Wachmänner nicht. Zweitens kannst du überhaupt nicht schießen und wirst sie gleich am ersten Tag alle abfeuern. Nee, nee, du kommst hier nicht weg, Mitjka.«

»Teufel aber auch«, empörte sich Mitjka-Pan. »Die weiß schon, die Sowjetmacht, wo sie die Lagerchen für unsereins baut: nur Sumpf und Dickicht.«

»Was hast denn du gedacht? Du weißt doch, da sind Menschen … Kch-ch-che … Menschen …« Der Husten ließ den alten Jefimytsch nicht zu Ende reden.

Ich blickte zu Wsjewolod Fjodorowitsch. Er hielt den Kopf tief gesenkt, drückte mit Brust und Händen kräftig gegen den Schwengel und lächelte, die in der Sonne blitzende Brille auf der Nase, vor sich hin.

Rums! Der eiserne Rammbär fiel hinab.

Und wieder wickelte sich das Seil auf, wieder riss Kolja am Fallseil …

Rums!

Rums!

Rums!

Die Stöße kehrten als vielstimmiges Echo aus der Taiga zurück. Die Ramme arbeitete sich immer weiter in den Boden.

»Die Sterbegehilfin kommt!«, rief der kleine Rammenführer freudig. »Pa-ause, Jungs!«

»Pa-ause!«, flog der Ruf die Trasse entlang.

Am Ufer tauchte hinter den Kiefern eine kleine Prozession auf. Voran marschierte eine füllige Frau, hinter ihr gingen drei Männer mit Sperrholzkisten auf den Köpfen. Sie brachten das Mittagessen. Die »Sterbegehilfin« hatte diesen Spitznamen, weil sie eine Zeit lang als Sanitäterin beim Feldscher des Lagers gearbeitet hatte. Wegen eines Vergehens (sie hatte die Baldriantropfen aus dem Notfallkoffer ausgetrunken) wurde sie zuerst in die Wäscherei versetzt, dann hatte man Erbarmen mit ihr und beauftragte sie, den arbeitenden Häftlingen das Mittagessen auszutragen. Sie war eine junge und außergewöhnlich kraftvolle Frau.

Jeder von uns erhielt ein Stück stinkenden Dorsch und ein kleines Stück Brot.

»Gib uns doch noch ein Stück, Hexe!«, bat Mitjka-Pan.

»Das Cheflein hat noch was!«, entgegnete sie im Basston und kommandierte, an die Träger gewandt: »Los, weiter!«

Wir setzten uns ins Gras und begannen hungrig, Fisch und Brot zu verschlingen.

Wsjewolod Fjodorowitsch öffnete und schloss seine Hand.

»Hören Sie«, sagte ich. »Warum gehen Sie nicht zum Lagerleiter und bitten darum, dass man Ihnen eine andere Arbeit zuweist?«

Wsjewolod Fjodorowitsch lächelte traurig.

»Hab ich ja versucht.«

»Und?«

»Hat nichts gebracht.«

»Versuchen Sie’s doch einfach noch mal! Beharren Sie drauf!«

Er zuckte die Schultern.

»Es nützt ja doch nichts!«

»Was sind Sie nur für einer! Man muss drum kämpfen, sonst wird es natürlich nichts.«

Mitjka-Pan sah uns von der Seite an:

»Du solltest wirklich hingehen, Wsjewolod. Die Arbeit hier geht über deine Kräfte, ich sehe das. Hier gehst du kaputt, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Hände sind doch das Wichtigste für einen Musiker. Ich hatte einen Kumpel, der konnte Bajan spielen, wie nix! Dann haben sie ihn bei Waldarbeiten eingesetzt, und er hatte keine Lust zu der Arbeit, hat sich selbst an der linken Hand drei Finger abgehackt. Wie er dann wieder spielen wollte, ging’s nicht, war nichts zu machen.«

Wir mussten lachen.

»Ich bin zwar ein Dieb«, fuhr Mitjka-Pan fort, »aber so ’ne Willkür kann ich nicht ausstehen. Jefimytsch zum Beispiel, der sollte auch von der Arbeit an der Ramme befreit werden … Nicht wahr, Jefimytsch?«

»Der Herr wird uns alle befreien«, sagte der Alte leise.

»Mitjka, Sie sind zwar ein Dieb, aber ein guter Mensch, besser als andere, die keine Diebe sind«, meinte Wsjewolod Fjodorowitsch. »Nur sollten Sie nicht dauernd mit dem Zehnerleiter streiten.«

»Den mach ich irgendwann einen Kopf kürzer«, versprach Mitjka-­Pan. »Hörst du, Zehnerleiterchen?«

»Ich höre dich«, erwiderte Golubew, während er seinen Dorsch vertilgte. »Pass nur auf, dass ich dich nicht zuerst zu fassen kriege … Los, Jungs, weiter geht’s!«

»Oh, du Blutsauger!«, rief Mitjka-Pan. »Gönn doch den Leuten wenigstens eine Atempause.«

Er sprang auf. Sein bis zum Gürtel zerrissenes Hemd entblößte eine kräftige tätowierte Brust und einen Bauch voller Narben, die von Messerstichen stammten. Die blauen Augen im bleichen Gesicht blitzten voller Wut und Hass. Eine Sekunde noch, und Mitjka-­Pan würde wahr machen, was er seit langem schon angedroht hatte; plötzlich aber wandte er sich auf dem Hacken um, ging als Erster zum Göpel und ergriff den Schwengel. Ich sah, wie seine Kaumuskeln sich spannten und bebten.

Am Abend konnte ich Wsjewolod Fjodorowitsch überreden, mit mir gemeinsam zum Leiter unseres Teillagers zu gehen.

Der Kommandant wollte uns zuerst partout nicht aus der »Zone« herauslassen, winkte dann aber doch ab und befahl einem Wachmann, uns zu begleiten.

Sulimow, der Lagerleiter, wohnte in einem kleinen Häuschen ein wenig abseits des Lagers, das von einem Stacheldrahtzaum umgeben war. Wir standen etwa fünfzehn Minuten im Eingangsbereich und warteten darauf, dass er uns empfing.

Dann traten wir ein.

Sulimow lag ausgestreckt auf einer Liege und gab seinem riesigen Schäferhund Zuckerstückchen. Der Kragen seiner Feldbluse mit den blutroten Kragenspiegeln war geöffnet, den Riemen hatte er abgelegt und die oberen Knöpfe seiner blauen Reithose geöffnet.

»Nun, was wollen Sie?«, fragte er, ohne uns anzublicken, und beschäftigte sich weiter mit seinem Hund.

Wir drucksten unentschlossen.

»Nun?«, fragte er erneut.

»Wissen Sie … verzeihen Sie …«, begann Wsjewolod Fjodorowitsch schüchtern.

»Nun?«

»Wir … ich bin, im Grunde genommen, aufgrund einer persönlichen Angelegenheit …«

»Nun?«

»Ich bin Pianist …«

»Ein bekannter Moskauer Pianist«, warf ich ein. Sulimow hob eine Augenbraue und warf mir einen schrägen Blick zu.

»Sie reden später … Nu-un?«

»Verstehen Sie, Bürger Lagerleiter«, fuhr Wsjewolod Fjodorowitsch fort. »Ich verrichte seit zwei Jahren ausschließlich körperliche Arbeit. Meine Hände … sehen Sie doch, was aus denen geworden ist.« Er streckte beide Hände nach vorn. »Wenn die Hände nicht mehr zu gebrauchen sind, dann … dann kann ich nicht mehr spielen, dann hab ich keinen Broterwerb, wenn ich aus dem Lager entlassen werde, ich kann nur das, etwas anderes kann ich nicht …«

»Nun, und … Runter mit dir!«, schnauzte Sulimow den Schäferhund an, der mit den Vorderpfoten auf den Rand der Liege gesprungen war. »So was aber auch, vergisst sich vor lauter Freude! Und, weiter?«

»Ich möchte Sie sehr bitten, mir eine andere Arbeit zu geben.«

»So, so«, sagte Sulimow scharf. »Und Sie, was wollen Sie?«

»Ich bin nur mitgekommen«, erwiderte ich. »Ich möchte nur bestätigen, dass die Arbeit an der Rammwinde tatsächlich zu schwer ist für ihn.«

»Und die Schubkarre wollen Sie beide nicht schieben?«, fragte Sulimow lächelnd. »Nach welchem Artikel sind Sie verurteilt?«

»Achtundfünfzig, Punkt zehn«, antwortete Wsjewolod Fjodorowitsch.

»Ah, ja … Nein, eine andere Arbeit habe ich für Sie nicht … Wie gesagt, die Karre kann ich Ihnen anbieten. Nicht gut genug?«

Wir schwiegen.

»Abführen!«, befahl Sulimow dem Wachmann.

Als Mitjka-Pan von unserem Misserfolg erfuhr, meinte er, am besten sei es, abzuhauen, wenn es im Lager nicht mehr auszuhalten sei. Er bot an, mit ihm gemeinsam zu fliehen. Wir lehnten ab.

Am folgenden Tag standen wir wieder an der Winde. Jefimytsch musste immer häufiger husten und sich für kurze Zeit neben der Ramme hinsetzen.

»Zeit für den Sarg, Jefimytsch, Zeit für den Sarg«, tröstete Golubew ihn.

»Weiß ich selbst, dass es an der Zeit ist«, bestätigte der Alte. »Nur will mich der Herr wohl noch nicht zu sich holen, ich weiß auch nicht warum.«

»Die Zeit zum Sterben kommt schon noch.« Der Gruppenleiter schnitzte weiter an seinem Stock. »Ich bin jetzt schon das achte Jahr hier, solche wie dich hab ich viele gesehen, die haben alle nach und nach den Löffel abgegeben.«

»Und wie viele davon hast du auf dem Gewissen, Golub?«, erkundigte sich Mitjka-Pan.

»Wer weiß«, entgegnete Golubew spöttisch.

Bis zum Mittag hatten wir drei Rammpfähle eingebracht. Nach dem Essen stiegen wir alle zum Fluss hinab und schleppten neue Pfähle zur Ramme hoch. Es hatte in der Nacht zuvor geregnet und das Wetter blieb den ganzen Tag über düster. Der nasse Boden wollte nicht trocknen.

Alle neun, einschließlich Kolja, schleppten wir einen schweren Balken hinauf. Vier neue Pfähle lagen schon oben. Mit einer solchen Last hochzusteigen, war sehr anstrengend. Wir alle spannten unsere letzten Kräfte an. Mitjka-Pan gab das Kommando.

»Gut … Gut so, Jungs! Ein bisschen noch … Jefimytsch, nicht aufgeben. Oder besser: Geh unterm Balken weg beiseite, zum Teufel, ist egal, schaffst ja eh nicht viel. Wsjewolod, die andere Schulter, sonst reißt’s dir die Birne ab, wenn wir ihn hinschmeißen … Iwan, tricks nicht rum, hoch die Schulter! Wir schleppen alle, also streng dich an! Ein gesunder Kerl, aber will sich auf unsre Kosten ausruhn, guck dir Jefimytsch an, der kratzt bald ab, aber schleppt mit. Vorsichtig, zum Teufel … Und abwerfen! Eins! Zwei! Drei!«

Der Balken flog von den Schultern.

Wsjewolod rutschte auf dem feuchten Lehm aus und stürzte mit weit ausgestrecktem Arm. Seine rechte Hand landete auf einem der Pfähle. Der Balken krachte herab und quetschte Wsjewolods Finger.

»Oh-och!«, stöhnte er auf. Es wurde still. Alle waren schockiert.

»Was guckt ihr so!«, brüllte Mitjka-Pan. »Hoch mit dem Balken!«

Wir ergriffen den Balken und hoben ihn etwas an. Ich zog Wsjewolods Hand heraus. Vier Finger waren zerschmettert. Unter den Nägeln trat langsam das Blut heraus. Die Hand schwoll zusehends und wurde blau. Wsjewolod lag schweigend, ohne den Kopf zu heben, auf der Seite. Seine Brille war heruntergefallen, und es war seltsam, sein Profil ohne Brille zu sehen.

»Serjosha!«, rief er leise. Ich beugte mich zu ihm.

»Es ist vorbei, ja? Ist die Hand ab?«

Ich schwieg.

Der Wachmann kam heran.

»Man sollte ihn … na … zum Feldscher schicken«, schlug er leise, schnaufend, vor und schob sein Käppi auf den Hinterkopf.

Auf der Aufschüttung ließen Häftlinge ihre Karren stehen und kamen herbeigerannt.

Wsjewolod Fjodorowitsch setzte sich auf. Er lächelte seltsam, ergriff mit der linken Hand die rechte und legte die verstümmelte Hand auf seine Knie.

»Spielen wirste wohl nicht mehr können«, meinte Mitjka-Pan betrübt.

Wsjewolod Fjodorowitsch sah mir in die Augen. Ich werde diesen schrecklichen, verwunderten Blick nie vergessen.

»Kannst du gehen?«, fragte der Wachmann. Wir stützten Wsjewolod Fjodorowitsch, und er erhob sich schwankend.

»Warum nicht?«, fragte er.

In Begleitung des zweiten Wachsoldaten und des Jungen Kolja ging er auf unsicheren Beinen zum Lager.

Ich blickte seiner gebeugten, hochgewachsenen Gestalt nach und dachte daran, dass es am besten wäre, oben auf die Rammwinde zu steigen und sich kopfüber hinabzuwerfen, um nicht mehr all dies endlose menschliche Leid auf der geduldigen russischen Erde mit anzusehen.

Im Herbst, an einem feuchten, nebligen Morgen, erschlug ­Mitjka-Pan mit einer Axt den Gruppenführer Golubew und floh in die Taiga.

DER ERZIEHER

Mittags begann es zu regnen. Die Fichten wurden dunkel und ließen traurig die zotteligen Zweige hängen; wie Tränen rollten einzelne helle Tropfen von ihnen herab. Graue Wolkenfetzen jagten ungeordnet am Himmel dahin und suchten sich an den Wipfeln der schlanken Fichten festzuhalten.

Kaum war die gesteppte Jacke des Gruppenleiters Rubljow in den Wacholderbüschen verschwunden, ließen wir wie auf Kommando die verhassten Schubkarren stehen und drängten uns im nächsten Moment um das noch glimmende Feuer. Der bewaffnete Wachsoldat sah uns mit zusammengekniffenen Augen zu und ging weiter seiner Lieblingsbeschäftigung nach – dem Jonglieren mit drei Steinchen. Seine Aufgabe war es, aufzupassen, dass die Häftlinge nicht wegliefen; ob sie arbeiteten oder nicht, ging ihn nichts an. Antreiber gab es im Lager auch ohne ihn zur Genüge: die Leiter der Außenlager, deren Helfer, Bauführer, Gruppenführer, Vorarbeiter, Kommandanten, Erzieher.

Wir streckten die vor Kälte steifen Hände ans Feuer, doch hielt der Moment der Glückseligkeit nicht lange an.

»Achtung! Grischka Filon!«, kommandierte der siebzehnjährige Taschendieb Som.

Aus dem Wald sprang ein kleiner, dünnbeiniger Mensch mit rötlich angelaufener Lederjacke in die Kiesgrube und schrie schon von weitem in dünnem Tenor:

»Ruhen wir uns aus, Bürger Häftlinge? Und wer macht die Arbeit? Der Heilige Geist?«

Grischka Filon war der Lagererzieher. Einst schwerer Junge und Mokruschnik, hatte er jetzt im Außenlager den Bereich Kultur und Erziehung unter sich.

Eine erstaunliche Erfindung, diese Erzieher!

Grischka Filon war Häftling, genau wie wir, doch hatten ihn fünfzehn Jahre in Gefängnissen und Lagern, mit kurzen Zwischenspielen in der Freiheit, gelehrt, wie man sich im Lager ganz schnell ein warmes Plätzchen sichert, daher auch sein Spitzname Filon, Nichtstuer. Die Arbeit des Erziehers ist eine der leichtesten im System der sowjetischen Zwangsarbeit. Ein Erzieher genießt viele Vorteile: Er arbeitet nicht körperlich, bekommt bestes Essen, ihm gebühren Ehre und Schmiergelder, und er hat bessere Chancen auf vorzeitige Entlassung. Diese »äußerst verantwortungsvolle« Stelle wurde nur mit »sozial nahestehenden Elementen« besetzt, wie die Tschekisten die Kriminellen nennen, auf keinen Fall aber (Gott behüte!) mit Politischen. Obwohl, einen Nachteil hatte dieser Posten: Wer einmal Erzieher war, wird in der Verbrecherwelt für vogelfrei erklärt, er gilt als Verräter, und eines schönen Tages wird er vielleicht umgebracht. Grischka Filon wusste das und machte sich bei den »Ganoven« lieb Kind.

Er war fünfunddreißig Jahre alt. Klein, mager, mit farblosen ­Augen, deren Blick unstet umherirrte, und weißem Speichel in den Mundwinkeln, wirkte er abstoßend. Nach dem Vorbild der Lagerleitung trug er hässliche grüne Reithosen, Chromlederstiefel, Feldbluse, Lederjacke sowie eine Mütze à la Genosse Stalin. Von seinen fünf Jahren hatte er drei schon abgesessen.

Über seinen letzten »Fall« sprach er oft und gern. Der »Fall« bestand aus folgender Begebenheit: Er hatte nachts in einer dunklen Gasse einer Frau aufgelauert, und da diese sich weigerte, ihm freiwillig und ohne Lärm ihren Pelzmantel zu überlassen, schnitt er ihr mit einem Rasiermesser die Nase ab und nahm ihr den Mantel dann doch weg …

Grischka Filon kam schnell zu uns heran, ergriff eine Schaufel und warf das Feuer kurzerhand auseinander.

»Aufwärmen wollt ihr euch?«, redete er, während er mit der Schaufel hantierte. »Aufwärmen? An die Schubkarre mit euch, da wird euch schon warm werden!«

»Aber Bürger Erzieher! Wir haben uns doch gerade erst kurz hingesetzt!«, kam es erregt von Nikolai Iwanowitsch Suschkow, einem Professor der Archäologie, der seinerzeit in Moskau mit äußerst interessanten Veröffentlichungen über Ausgrabungen in Buchara viel Aufsehen erregt hatte. Schwach, sehr krank, schob er gefügig drei Jahre lang die Schubkarre. Verurteilt hatten sie ihn aufgrund von »Nichtanzeige« – er hatte seinen Bruder nicht denunziert, einen der Sabotage angeklagten Ingenieur.

Grischka Filon warf das letzte brennende Scheit weit weg, stützte sich dann auf die Schaufel, ließ die fahlen Augen über uns schweifen und ergriff das Wort, bemüht, seiner Stimme einen belehrenden Ton zu verleihen:

»Ihr, Bürger, befindet euch sozusagen in einem Arbeitsbesserungslager des NKWD … äh … Das ist sozusagen keine zaristische Zwangsarbeit, sondern – äh – erzieherische. Die Sowjetregierung mit dem Genossen Stalin an der Spitze – äh – bestraft Verbrecher nicht, sondern erzieht sie um … Ihr seid sozusagen Volksfeinde, man vertraut euch nicht … und deshalb muss man euch umerziehen. Umschmieden, sozusagen …«

»Ich bin kein Volksfeind, ich bin Dieb«, rief Som dazwischen: »Schmeiß mich nicht in einen Topf mit den anderen, Filon!«

»Ich halte die Rede ja nicht dir, sondern den Politischen … Denkt dran, Bürger Häftlinge, nur durch Arbeit und Umerziehung könnt ihr in die Reihen der vollberechtigten Sowjetbürger zurückkehren … Und deshalb karrt so viel Erde wie möglich … Die Karr-Norm müsst ihr nicht nur erfüllen, ihr müsst sie übererfüllen!«

So bedrückend es auch war, der Rede des Erziehers zuzuhören – viele von uns fingen doch an zu grinsen.

»Was feixt ihr so?«, brüllte Filon. »Hier wird gearbeitet und nicht gelacht! Ich war selbst ein großer Ganove und Bandit, aber hier bin ich zum Menschen geworden … Die Norm müsst ihr erfüllen, die Norm!«

»Eure Normen, Bürger Erzieher, sind nicht zu schaffen.« Der Professor wiegte den Kopf.

»Was heißt – nicht zu schaffen? Natürlich, wenn du unserm Land nicht helfen willst, schaffst du auch die Norm nicht … Ich warne dich, Alter: Erfüllst du die Norm nicht, kommst du ins, sozusagen, Strafteillager. Kubik, Kubik, Kubik ist angesagt!«

Die Rede des Erziehers zog sich hin, und mit ihr auch die Ruhe­pause. Wir begannen sinnlose Fragen zu stellen, um den erneuten Kontakt mit unserer gemeinsamen Freundin, der Schubkarre, hinauszuzögern. Filon aber besann sich bald und schrie drohend:

»Jetzt reicht’s aber: Wie lange wollt ihr euch noch drücken? He, Alter, hoch mit dir! An die Arbeit!«

Ohne Eile begaben sich die Häftlinge an die Abbaustellen.

Som erhob sich und fing an zu singen:

»Karre, ach Karre, hab keine Angst …

bleib du nur ruhig, ich rühr dich nicht an …«

Er stieß die Schaufel mit Wucht in die blaue Tonerde.

»Knallt es im Sprengloch, knallt’s Ammonal,

zum Teufel, was will ich am Weißmeerkanal?«

Die täglichen zwölf Stunden harter körperlicher Arbeit zehrten an unseren Kräften, Rücken und Arme schmerzten unerträglich, die schwieligen Hände bluteten, die Schubkarren kippten immer wieder um, Hunger quälte uns.

Am Rand der Grube stand, als scharf konturierte Silhouette vor den zerrissenen Wolken, der kleine Mann mit den hässlichen Reithosen, die Hände in den Taschen der Lederjacke, sabberte an einer billigen Papirossa, und kraft eines paradoxen Gesetzes verkörperte dieses winzige Stück Niedertracht, das aus allen der Menschheit eigenen Schändlichkeiten zusammengeknetet war, jene Kraft, die Hunderttausende Menschen zwang, einen zusätzlichen Kubik­meter Erde zu erbeuten in der nebulösen Hoffnung auf »vorzeitige Entlassung« und baldige Rückkehr zu den Lieben, die irgendwo geduldig auf ihren Märtyrer warteten, und die sie zwang, ihre letzten Kräfte zu verausgaben, Blut zu spucken und die schwere Karre weiter, weiter, weiter zu schieben.

Am nächsten Tag weckte uns die eiserne Pufferplatte, die vor der Wache hing, früher als sonst. Es war noch ganz dunkel. Der monotone, kalte Klang erinnerte an Totenglocken.

Die gesamte Insassenschaft des Außenlagers, tausendzweihundert Mann, hatte brigadeweise vor den Zelten und Baracken anzutreten. Etwas lag in der Luft. Vor der Wache drängte sich die Lagerleitung.

Der Leiter des Außenlagers Gorjew konnte sich, sturzbesoffen, kaum auf den Beinen halten; nach dem Gelage vom Vortag war er offenbar noch nicht ausgenüchtert. Zwei kräftige Kerle mit blutig roten Kragenspiegeln an den Uniformmänteln stützten ihn behutsam.

»Ruhe!«, brüllte einer von ihnen. »Der Leiter des Außenlagers will ein paar Worte sagen!«

Gorjew machte eine schlappe Handbewegung, grinste dümmlich und gab mühsam ein »Bürg… brk… bürg… brk« von sich.

Da schnellte der flinke Grischka Filon aus dem Gefolge, sprang auf einen Baumstumpf und brüllte aus vollem Hals: