Tante Hildes Restaurant - Heinz Heuerz - E-Book

Tante Hildes Restaurant E-Book

Heinz Heuerz

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Beschreibung

Die bemerkenswerte Tante Hilde stellt ihren Neffen Stefan Berger vor die Frage seines Lebens: Soll er im rheinischen Eschweiler sein Restaurant weiterführen oder entscheidet er sich für einen nicht nur kulinarischen Neuanfang an der Côte d‘ Azur? Bei der Suche nach seinem neuen Leben begegnet er Menschen, die er lange aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte und er lernt neue Freunde kennen und schätzen. Vergangenheit trifft auf Zukunft. Dazu gehören seine Jugendliebe Jeanne ebenso wie die attraktive Winzerin Charlotte. Es geht um die wesentlichen Dinge des Lebens: Liebe, Vertrauen, Freundschaft, Glück und gutes Essen und Trinken.

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Seitenzahl: 287

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Heinz Heuerz

Tante Hildes Restaurant

Aus der Voreifel an die Côte d‘Azur

Prinzengarten Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright 2024 by Prinzengarten Verlag

Dr. Hans Jacobs, Am Prinzengarten 1, 32756 Detmold

ISBN 978-3-89918-852-3

Kapitel 1

Gegen 13 Uhr kam Tante Hilde zum Essen. Das tat sie jeden Tag, an dem die Ratsstube geöffnet war. Hilde hatte ihren Stammplatz links von der Theke mit ungehindertem Blick über den Rest des Restaurants. Das Beobachten der Gäste war ihr wichtig und bot ihr eine willkommene Abwechslung, denn seit sie vor zwei Jahren ihre eigene Wohnung aufgegeben hatte, lebte sie im sogenannten »Betreuten-Wohnen«-Flügel des Angelus-Stiftes im rheinischen Eschweiler. Von den Ärzten am Ort einmal abgesehen, hatte Hilde nicht mehr viele Bekannte. Die meisten ihrer Weggefährten lagen inzwischen auf dem Friedhof, den Hilde übrigens nie besuchte: »Dort werde ich mich später noch lange genug aufhalten«, war das Einzige, was sie zu diesem Thema zu sagen hatte.

Hilde war immerhin stolze 84 Jahre alt, kämpfte seit Jahren mit ernsthaften orthopädischen Problemen, empfand trotzdem den Gehstock als persönliche Beleidigung und freute sich auf das tägliche Mittagessen bei ihrem Neffen Stefan, dem Chef der Ratsstube. Von ihm erwartete sie bei jedem ihrer Besuche, dass er seinen Platz in der Küche verließ, um seine Tante Hilde zu begrüßen. Der enttäuschte ihre Erwartung nie. Fast nie. Einmal war er in der Küche unabkömmlich und prompt handelte er sich Hildes Bemerkung: »Schade, dass du mit den Schnitzeln beschäftigt warst«, ein. Um eine Wiederholung dieses Auftritts zu vermeiden, hatte er seine Bedienung Anita entsprechend instruiert.

»Tante Hilde kommt«, war der Ruf, der täglich Richtung Küche schallte, wenn draußen das Taxi vorfuhr. Dann blieb Stefan genügend Zeit, seine Pfannen vom Herd zu nehmen und in aller Ruhe in den Gastraum zu kommen, denn bis Taxi-Willi, Hildes Lieblings-Chauffeur, ihr aus dem Wagen geholfen und sie den zweistufigen Anstieg ins Restaurant geschafft hatte, verging eine kleine Weile. Hilde war ungeachtet ihres Alters und Gesundheitszustands eine außergewöhnliche Erscheinung: groß, fast 1,85 Meter, stets elegant-konservativ gekleidet, mit wachem Blick und keckem Hütchen. Sie wäre auch problemlos als englische Landadelige durchgegangen.

»Der Herr sei mit dir, mein Sohn«.

Diese Begrüßung war über die Zeit ihr Ritual und Markenzeichen geworden. Hilde arbeitete fast 40 Jahre als Sekretärin des Bischofs und diese Tätigkeit hatte Spuren hinterlassen. Dazu zählte nicht bloß die ihr liebgewonnene Begrüßung, sondern auch der Umstand, dass sie nie geheiratet hatte. Kurz, Tante Hilde war über die Jahre ein wenig, nennen wir es, eigen geworden, um das unfreundliche Wort »schrullig« zu vermeiden.

Die jahrzehntelange Gesellschaft mit Gottes irdischem Personal hatte zum einen ihre Eigenarten befeuert, zum anderen ihre Schwäche für gutes, genussvolles Essen und Trinken. Irdische Genüsse schließen zwangsläufig die Frömmigkeit nicht aus. Das wissen die Herren in den schwarzen Anzügen und den weißen Kragen, denn sie sind häufig den kulinarischen Herrlichkeiten gegenüber äußerst aufgeschlossen. An diesen irdischen Verlockungen durfte Hilde oft in Form von Arbeits- und Gästeessen teilnehmen, was ihren Erfahrungsschatz auf diesem Gebiet ungemein bereichert hatte.

Auf ihren gut gemeinten Wunsch, dass »der Herr mit Stefan sei«, folgte Hildes tägliche Frage: »Was hast du heute Gutes gekocht?«

»Guten Tag Hilde, schön, dass du da bist. Wie geht es dir?«, stellte er daraufhin seine tägliche Frage und half Hilde aus dem Mantel.

»Danke, ziemlich genau wie gestern, der Gehstock nervt mich. Mindestens so sehr wie meine Kniegelenke.«

»Bitte nimm Platz, Hilde«, sagte ihr Neffe, der wie üblich nicht auf ihr tägliches Gesundheitsbulletin einging und ihren Stuhl zurechtrückte.

»Heute habe ich für dich ein Champignon-Carpaccio als Vorspeise, es folgt eine Poulardenbrust mit einer leichten Weißweinsoße, Reis, Salat und als Dessert bekommst du ein Melonensorbet. Dazu gehört ein Sauvignon aus der Touraine. Ich hoffe, du bist einverstanden.«

Hilde war einverstanden, lächelte zufrieden, entspannte sich und war geneigt, ihren Gehstock und ihre Knie zumindest für die Zeit des Mittagessens zu vergessen.

»Das hört sich hervorragend an«, lobte sie ihren Neffen und die Vorfreude auf dieses Menü zauberte ihr ein Lächeln aufs faltige Gesicht.

Stefan Berger war inzwischen 37 Jahre alt und führte die Ratsstube seit knapp 13 Jahren. Die Anfangsjahre waren extrem schwierig für ihn als jungen und geschäftlich unerfahrenen Koch. Während seiner Ausbildung lernte er eben das, was ein Koch können sollte, um nicht durch die Abschlussprüfung zu fallen, mehr aber nicht. Das war übrigens größtenteils seine eigene Schuld, denn damals erschien ihm Fußball weitaus wichtiger als seine Berufsausbildung. Später versuchte er seine Lücken durch mehrere Restaurantwechsel zu schließen.

Einen wirklichen Schritt nach vorn machte er auf diesem Wege durch ein fünfmonatiges Gastspiel im Restaurant La Bonne Femme ardennaise im belgischen Verviers. Von dort aus verschlug es ihn für ein gutes Jahr nach Burgund. Dort lernte er dann endlich richtig kochen. Ausgestattet mit dieser Erfahrung entwickelte er einen gewissen beruflichen Anspruch an sich und damit auch an seine Gäste.

Eschweiler, eine Kleinstadt im Rheinland am Fuß der Voreifel nahe der niederländisch-belgischen Grenze, war damals überhaupt nicht bereit für anspruchsvollere Küche mit französischem Einschlag. Die Mehrheit der Einwohner war eher auf Schnitzel, Pizza oder Cevapcici programmiert. Stefan, jung, enthusiastisch und voller Glauben an sich und seine Kochkunst, dazu von kulinarisch-missionarischem Eifer beseelt, kochte zwar die gesamte lokale Gastro-Konkurrenz in Grund und Boden und hätte dafür auch – na sagen wir mal in Köln oder Düsseldorf – brausenden Applaus geerntet, leider nicht so in Eschweiler. Als logische Konsequenz lief die Ratsstube schlecht. Nach einer Weile traf Gleiches auf seine Beziehung mit Marion, seiner damaligen Partnerin, zu.

»Ich kann zwar nicht kochen, dafür kann ich rechnen. Willst du unsere Existenz, unseren gemeinsamen Traum, an die Wand fahren? Du musst doch mitbekommen, dass dir die Leute in Eschweiler dein Essen nicht abkaufen. Es liegt nicht daran, dass du nicht gut genug kochst. Es liegt daran, dass du das Falsche kochst. Warum ist die Stadtkrone wohl immer voll?«

»Marion, die Stadtkrone ist eine piefige, langweilige, völlig uninspirierte Schnitzelbude mit staubigen Stoffblumen und Plastikdecken auf den Tischen. Das mache ich nicht. Basta.«

»Die Bank will die Kredite pünktlich bedient wissen und glaube mir, denen ist dein Hummerschaum völlig egal. Wir werden bald ein großes Problem haben«, prophezeite sie.

Marion sollte Recht behalten. Die Kredite für Renovierung, die original-französische Bistroeinrichtung und das Kücheninterieur, obwohl gebraucht gekauft, drückten. Die Stimmung fiel ins Bodenlose, Stefans Frust wuchs und Marion konnte sein Gerede vom »sich treu bleiben«, »Ideale nicht verraten« und »Mindestmaß an kulinarischem Standard« nicht mehr hören.

»Mein Lieber, hör genau zu: Entweder du änderst dein Küchenkonzept oder ich steige aus. Damit meine ich nicht allein die Ratsstube, sondern auch unsere Beziehung. Wie lange diskutieren wir dieses Thema, ohne dass du dich bewegst? Die Bank macht Druck ohne Ende, dafür darf ich die unerfreulichen Gespräche mit diesen Erbsenzählern von der Sparkasse führen. Du verschanzt dich in deiner Küche und verschließt vor den Realitäten die Augen; ich habe keine Lust mehr. Kellnern kann ich auch woanders und dort bekomme ich wenigstens regelmäßig mein Gehalt.«

Stefan beharrte auf seiner Überzeugung und kochte erfolglos gegen die Situation an. Marion ging und die Probleme blieben. Damals 23 Jahre alt, hatte er einen langfristigen Pachtvertrag für die Ratsstube unterschrieben. Die Kredite waren beachtlich, dafür lief sein Restaurant überhaupt nicht und seine Freundin und Servicekraft hatte das Weite gesucht. Als Endergebnis waren der Frust und die Enttäuschung riesengroß. Immerhin kochte er auf hohem Niveau. Eine wirklich beeindruckende Bilanz für einen so jungen Küchen-Newcomer.

Sein Mitfußballer Günter Schwarz, Mittelfeld-Regisseur und Mannschaftskapitän bei Rhenania Eschweiler, im richtigen Leben sein Steuerberater, Feinschmecker und einer seiner wenigen Stammgäste, eröffnete seinem Freund und Mandanten: »Junge, wenn dir nicht bald eine Lösung einfällt, wirst du deinen Laden schließen müssen. Du gehst in Konkurs. Und zwar ziemlich heftig. Deine Liquiditätsprobleme sind massiv. Stefan, mach endlich die Augen auf und ein paar Zugeständnisse an diese Provinz. Ich sage nicht, dass du eine Frittenbude eröffnen sollst. Außer mir und ein paar wenigen Anderen in Eschweiler isst niemand Bresse-Huhn, Austern oder Kalbsfilet mit Foie gras-Haube. Den meisten ist es scheißegal, ob sie ein Steak von einer alten, klapprigen Milchkuh oder von einem Charolais-Jungbullen bekommen. Sie kennen nämlich den Unterschied nicht. Sie lassen jedes Stück durch den Steaker laufen. Hörst du, JEDES«.

»Günter, du redest schon genau wie Marion, genauso.«

»Du bist mein Freund und ein toller Koch und ich mag dich und das, was du machst. Leider bist du ein durch und durch untalentierter Kaufmann. Wenn du unverändert weitermachst, kriegst du die Kurve nicht, das sage ich dir. Und da wir einmal dabei sind: Dubenötigst schnell mindestens 10.000 Mark, denn du kannst deine Lieferantenrechnungen nicht mehr bezahlen. Solltest du das nicht sofort tun, dann werden die Herrschaften dir nichts mehr liefern.«

»Günter, dann rede doch mit der Bank«.

»Das habe ich. Die werden deinen Kreditrahmen nicht ausdehnen. Hast du das verstanden? Im Grunde bist du pleite.«

Seine Tante Hilde, damals bereits aus dem kirchlichen Dienst ausgeschieden und Rentnerin mit bischöflichem Segen, war zu diesem Zeitpunkt gelegentlich essender Gast bei ihrem Neffen und erfuhr so von Stefans finanzieller Schieflage. Hilde wäre nicht Hilde gewesen, hätte sie nicht eine praktische Lösung gewusst.

»Mein Sohn, die dringend benötigten 10.000 Mark bekommst du unter zwei Bedingungen von mir. Erstens wirst du deine Speisekarte umstellen, und zwar der Art, dass du endlich anfängst, Geld zu verdienen. Und zweitens wirst du mich bekochen. Jeden Tag. Du kannst es dir überlegen«, sagte Tante Hilde und lächelte ihr unschuldiges Lächeln, das gar nicht unschuldig gemeint war.

»Nein Hilde, von dir werde ich kein Geld nehmen«, erwiderte er entschieden, »nein, das mache ich auf keinen Fall.«

»Mein Sohn, auch wenn ich von Geschäften nichts verstehe, eins habe ich begriffen, wenn du das Geld nicht nimmst, gehen bei dir in der Ratsstube die Lampen aus. Du hast dann einen Haufen Schulden, die dich über die nächsten Jahre begleiten werden und außerdem weiß ich nicht, wo ich in diesem Kaff sonst ein gescheites Mittagessen herbekomme. Auf das Essen in den anderen sogenannten‘Restaurants’ in Eschweiler bin ich nicht besonders scharf.«

»Hilde, ich weiß nicht einmal, ob ich dir das Geld jemals zurückzahlen kann«, hielt Stefan dagegen.

»Du hast mir nicht richtig zugehört, mein Lieber. Ich schenke dir nichts und ich gebe dir auch keinen Kredit. Schließlich bin ich Rentnerin und keine Bank. Ich kaufe dir – na sagen wir mal – einen großen Verzehrgutschein ab. Ich sehe das gewissermaßen als Investition in meine kulinarische Zukunft. Wie du weißt, esse ich lieber, als zu kochen. Glücklicherweise machst du das hervorragend. Besser kann ich es also gar nicht treffen. Mach es deiner alten Tante nicht unnötig schwer, sage ja, nimm das Geld und bringe den Laden ans Laufen.«

Stefan Berger verabschiedete sich schließlich von seinen hochfliegenden kulinarischen Vorstellungen, nahm das Geld von Tante Hilde, stopfte damit die größten finanziellen Löcher und krempelte die Ausrichtung seines Restaurants völlig um. Weg von »Cuisine française« und hin zu bürgerlicher Küche. Bei ihm gab es nun auch Schnitzel, alles wurde deutlich volkstümlicher und weil er ein überdurchschnittlich guter Koch war, merkten die Eschweiler allmählich doch, dass ein Original Wiener Schnitzel aus bestem Kalbfleisch in Butterschmalz und mit zurückhaltenderHitze gebraten spürbar anders schmeckt, als ein Schnitzel Wiener Art vom Schwein aus der Fritteuse in pappiger Panade. Sie entdeckten, dass man Steaks nicht grundsätzlich unter fetttriefenden Zwiebelringen ausgraben muss und Hähnchenbrüste nicht von Natur aus staubtrocken, völlig geschmacklos und gummiartig sein müssen.

Die Eschweiler Bevölkerung lernte Anfang der 1990er-Jahre, dass es eine Welt jenseits von Eisbergsalat mit Maiskörnern und eiskalten Tomatenstücken begleitet von Dressing aus der Flasche gab. Sie aßen erst zögerlich, dann bereitwillig Rucola, Radicchio und Brunnenkresse. Spargel in Olivenöl mit Frühlingszwiebeln gebraten empfanden sie zunächst exotisch, schließlich aber einfach toll. Schließlich wollten sie im Winter die Muscheln nicht mehr auf rheinische Art, sondern à la meunière in Weißwein mit Knoblauch. Auch der Wein entwickelte sich zum Thema. Stefan schaffte es nach einiger Zeit, den Absatz zu vervielfachen, weil er guten, ehrlich gemachten Wein zu angemessenen Preisen anbot. Nach einiger Zeit fanden die Gäste heraus, dass die Pasta-Gerichte der Ratsstube wahre Leckerbissen waren und um Galaxien besser schmeckten als in der Pizzeria am Bahnhof. Es gelang ihm sogar Puttes-Ravioli in Butter geschwenkt zum lokalen Gourmet-Hit zu machen. Blutwurst im Nudelteig – so kreativ musst du auch als Rheinländer erst mal sein.

Stefan benötigte rund zwei Jahre bis Ende 1992 und ackerte gnadenlos ohne Rücksicht auf sich selbst, ehe er seine finanzielle Lage stabilisiert hatte. Aus Zeitgründen hatte er das Kicken aufgegeben und so geschäftlich die Kurve bekommen. Ihm war es gelungen, seinen Kopf haarscharf aus der Schlinge der Banken zu ziehen und er führte mittlerweile ein gut gehendes Restaurant, das sich qualitativ von den anderen am Ort deutlich positiv abhob. Seine Kundschaft war treu und trotzdem wurde ihm klar, dass er an diesem Standort das Ende der kulinarischen Möglichkeiten erreicht hatte. Größere Ambitionen, diese Lektion hatte er gelernt, waren in seiner Heimatstadt nicht umsetzbar. Seine kulinarischen Träume hatten dem Alltag ebenso wenig standgehalten wie seine früheren Vorstellungen von Restaurantführung.

Schlussendlich war Stefan nicht einmal unzufrieden. Die Ratsstube brachte ihm inzwischen eine Menge Geld ein und er konnte peu à peu seine Kredite abbezahlen, sogar schneller als gedacht. Er avancierte zum erfolgreichen Gastronom, der zu einem gewissen Wohlstand und Ansehen kam. Tante Hilde wurde über die Jahre zum festen Bestandteil der Ratsstube, schließlich hatte sie einen fetten Verzehrgutschein abzuarbeiten. Stefan servierte ihr jedes Mal ein exquisites Menü und Hilde beglückwünschte sich selbst zu ihrem gelungenen taktischen Schachzug von damals.

Die Vorfreude auf die Poulardenbrust mit einer leichten Weißweinsauce zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen und der Sauvignon, der dazu serviert wurde, war ein Genuss.

»Hilde, die heutige Vorspeise: Champignon-Carpaccio mit einer Zitronen-Senf-Vinaigrette«, erklärte ihr Neffe beim Servieren, »lass es dir schmecken!«. Genau das tat sie.

Kapitel 2

Einige Tage und ein paar Mittagessen später deutete Tante Hilde auf den Stuhl ihr gegenüber. »Stefan, setz dich bitte, ich habe mit dir zu reden.«

»Hat dir das Essen nicht geschmeckt?«, wunderte er sich, »du liebst doch Loup de mer in Olivenöl und Weißwein.«

»Unsinn, es war wie immer ausgezeichnet. Es geht um ein anderes Thema. Mit Essen hat das überhaupt nichts zu tun.«

Er nahm Platz und schaute Hilde mit einer Mischung aus Skepsis und Neugierde an.

»Mein lieber Junge, ich habe mich entschlossen, meinen Nachlass zu regeln. Das ist in meinem Alter nichts Außergewöhnliches, finde ich. Da gibt es allerdings eine Sache, die ich dir bereits zu meinen Lebzeiten vermachen möchte.« Sie ließ eine dramaturgische Pause folgen. »Mir gehört nämlich ein alter Bahnhof an der Côte d’Azur.«

Stefan traute seinen Ohren nicht und schaute Hilde ziemlich irritiert an: »Dir gehört was? Ein Bahnhof? Hilde, wie um alles in der Welt kommst du an einen Bahnhof an der Côte d’Azur?«

»Deswegen wollte ich, dass du sitzt. Vor ungefähr 45 Jahren begleitete ich meinen Bischof bei einem Urlaub in die Provence. Er nannte es zwar Studien- und Pilgerreise, was natürlich eine schlichte Lüge war, denn es handelte sich um einen Urlaub. Ich als seine Sekretärin reiste also mit und bei dieser Reise besuchten wir das berühmte Kloster Le Thoronet im Hinterland der Côte d’Azur. Natürlich fuhr mein Bischof nicht einfach ungeplant dorthin, sondern er war mit seinem Amtsbruder aus Toulon, Pontife Bernard, so hieß er, zu einem mehrtägigen Gedankenaustausch verabredet.«

Stefan schenkte Hilde Wein nach, denn ihm war klar, die Geschichte würde noch ein wenig dauern.

»Mein Guter, du musst wissen, dass es noch heute für einen Bischof unüblich ist, eine ‚zivile‘, also weltliche Sekretärin zu haben. Das galt damals zu meiner Zeit erst recht. Pontife Bernard aus Toulon sah diese Personalie lange nicht so entspannt und pragmatisch wie mein Bischof, denn er hatte sich für einen klerikalen Sekretär namens Serge Bouvet entschieden. Serge war ein eloquenter, gebildeter Mann und er trug den geistlichen Titel eines Monsignore. Außerdem sah er gut aus, fand ich jedenfalls. Um es kurz zu machen, Serge und ich kamen uns in Le Thoronet näher und aus dieser Bekanntschaft wurde eine echte Liebe, die rund 30 Jahre dauerte. Bis zu Serges Tod.«

»Du hast also einen französischen Monsignore als Liebhaber gehabt, Hilde? Ohne, dass jemand das mitbekommen hat? Respekt, das hätte ich dir nicht zugetraut.« Stefan war ehrlich beeindruckt und gleichzeitig ein wenig verunsichert.

»Nun krieg dich mal wieder ein. Bloß weil ich beim Bischof gearbeitet habe und ein wenig tantig wirke, bin ich keine Mumie. Serge war ein überaus charmanter Mann, nicht unvermögend und aus gutem Haus. Zugegeben, stockkonservativ und – für mich wichtig – ausgesprochen diskret. Wir beide sendeten jedenfalls auf der gleichen Wellenlänge. Jeder war egoistisch genug, seinen Posten beim jeweiligen Bischof niemals aufzugeben. Was für Serge ohnehin schwieriger gewesen wäre, wie du dir denken kannst. Wie dem auch sei, eine Liebesbeziehung auf Distanz war genau das, was wir beide wollten. Gemeinsame Reisen, Urlaube an der Côte d’Azur, verlängerte Wochenenden und solche Dinge, das haben wir genossen. In jeder Hinsicht.«

An dieser Stelle endete Hildes Bericht über ihre Liebe zum Monsignore aus Toulon. Zusätzliche Details behielt sie für sich. »Diskretion«, nannte sie das und: »Einzelheiten gehen dich nichts an.« Womit sie recht hatte.

»Und der Bahnhof? Wie um Himmels willen bist du zu diesem Bahnhof gekommen?”, wollte Stefan wissen.

»Lass den Himmel aus dem Spiel. Es ist der ehemalige Bahnhof von La Croix Valmer in der Nähe von St. Tropez. Serges Eltern haben dieses Gebäude vor Jahrzehnten von der damaligen Eisenbahngesellschaft erworben, als die alte Strecke entlang der Côte d’Azur stillgelegt wurde. Die Bahnlinie hieß übrigens ‚Train des Pignes‘. Die Familie Bouvet hat sich dort ein Feriendomizil eingerichtet, ziemlich Französisch, wenn du verstehst, was ich meine. Serge hat den Bahnhof nach dem Tod seiner Eltern geerbt und mit ungefähr 70 Jahren wurde er schwer krank. ‚Hilde, sagte er, ich werde dir den Bahnhof hinterlassen, von dort hast du einen grandiosen Blick auf das Meer und die Inseln. Diesen Blick hast du immer geliebt und wir waren in diesem Haus immer glücklich‘. Lieber Stefan, auf diese Weise bin ich zu diesem ungewöhnlichen Objekt gekommen und jetzt möchte ich es dir vermachen.«

Hildes Lieblingskoch wusste nicht, was er sagen sollte, stattdessen trank er ihren Wein in einem Zug aus. Er benötigte die Stärkung offensichtlich nötiger als seine Tante.

»Auf dein Wohl, Hilde, das nenne ich eine Überraschung.«

»Ich war lange Jahre nicht mehr in La Croix Valmer. Das Gebäude und die Einrichtung entsprechen sicher nicht heutigem Standard, aber das Haus und das Grundstück sind außergewöhnlich weitläufig und die Lage über dem Meer ist wunderbar. Fahr hin und schau es dir an.«

Kapitel 3

Ein ehemaliger Bahnhof an der Côte d’Azur, dachte Stefan kopfschüttelnd. Was für eine Überraschung. Genauso unglaublich fand er Hildes jahrzehntelangen Amouren mit dem bischöflichen Monsignore aus Toulon. Was der Vatikan wohl dazu gesagt hätte, grinste er.

Côte d’Azur. Keine schlechte Gegend und bei dem Gedanken an Sonne, Strand, Meer und blauem Himmel kam bei ihm ein Gefühl von Urlaubsvorfreude auf. Kein Wunder, denn seine letzte Auszeit lag fast zwei Jahre zurück. Ein Kurztrip in den Süden käme nicht ungelegen.

Stefan war La Croix Valmer völlig unbekannt. Bei intensivem Studium seiner Frankreichkarte fand er diesen kleinen Badeort am Fuß des Maurengebirges auf der Halbinsel von St. Tropez und gegenüber den Hyerischen Inseln.

Django, in dessen Geburtsurkunde »Frank« stand und der Stefans zweiter Mann in der Küche der Ratsstube war, würde eine Woche ohne ihn auskommen müssen und die Rolle von Hildes Leibkoch übernehmen. Im Restaurant erwähnte er erst einmal nichts vom ehemaligen Bahnhof mit Blick auf das Mittelmeer, sondern schob einen spontanen Kurzurlaub als Ausrede vor.

Beim zweiten Blick auf die Frankreichkarte blieb Stefans Zeigefinger in Burgund hängen. Genauer gesagt im Beaujolais, das dem gleichnamigen Wein seinen Namen gibt. Fleurie, Restaurant »La Ferme du Château«, Patron Henri Roux, dessen Sohn Didier, ein hochtalentierter dafür völlig unberechenbarer Fußball-Torwart, ein gutes Jahr echtes Kocherlebnis, diese Stichworte schossen durch seinen Kopf. Unzählige und fast vergessene Erinnerungen kamen in Stefan hoch. Natürlich Jeanne. Wie lange war das her? 1987 kam er als ausgelernter, trotzdem weitgehend ahnungsloser junger Koch in Fleurie an. Ein Zufallstreffer, denn sein damaliger Chef in Verviers, ein netter, gemütlicher Belgier, der das Arbeiten nicht erfunden hatte, kannte Henri Roux von einem Wein-Seminar und hatte sein junges Küchentalent nach Fleurie vermittelt, weil er glaubte, dieser junge deutsche Koch habe ein gewisses Potential, das sich zu fördern lohne. Henri Roux sollte dieser Förderer sein.

Damals war Stefan nicht einmal 20 Jahre alt, Frankreich lag für ihn am Ende der Welt, das Beaujolais sowieso. Auf jeden Fall bedeutete es für ihn Abenteuer und er war sicher, dort würde bestimmt Fußball gespielt. In Verviers lief ohnehin nichts mehr, weil Monsieur Gillaume Lemaire das Restaurant »La Bonne Femme ardennaise« aus Altergründen schließen wollte. Eine feste Freundin hatte Stefan nicht und »nichts Festes« würde sich sicherlich auch im Beaujolais finden. Bonjour Fleurie.

Das französischste an dem jungen Deutschen war 1987 sein Renault R 4, rot und gebraucht in Verviers erstanden.

Stefans erster Eindruck von Fleurie war damals: für dieses Dorf wurde das Wort »Kaff« erfunden. Es lag zwar nicht direkt am Ende der Welt, aber von dort aus konnte man es erahnen. »La Ferme du Château« war das einzige Restaurant am Ort und verdankte seinen Namen dem Château de la Colombe gleich nebenan.

Patron Henri Roux war ein untersetzter, kräftiger Typ mit strammem Bauch, der in seiner weißen Küchenkluft eine natürliche Autorität ausstrahlte. Er sah genauso aus, wie man sich einen Koch vorstellt und wie er in alten französischen Filmen gerne auftaucht. Sein Sohn Didier war ungefähr in Stefans Alter und das körperliche Gegenteil seines Vaters: groß, schlank, lange Haare, ruppiger Typ.

»Du bist Stefan, kommst aus Verviers, Gillaume Lemaire schickt dich und du bist Deutscher«. Henri stellte keine Fragen, er stellte fest. »Willkommen in Fleurie, ich bin dein Patron und das ist Didier, mein Sohn. Er kocht bei mir. Kannst du Fußball spielen? Ich bin nämlich der Präsident von AL Fleurie.«

Bingo. »Ja, ich spiele Fußball, am liebsten linker Verteidiger, ehrlicherweise ich bin etwas aus der Übung.«

»Eh bien. Wir werden sehen, heute Abend ist Training, da gehst du mit«, entschied Didier.

»Alors, komm rein, ich zeige dir dein Zimmer und dann gehen wir in die Küche«, sagte Henri Roux, »du kannst mich Patron nennen.«

Das Zimmer war ein großer Raum im 1. Stock und ein wahres Möbelsammelsurium. Vielleicht ein wenig altmodisch, aber trotzdem gemütlich. Der grandiose Ausblick streifte über die sanften, grünen Hügel und die endlosen Reihen voller Gamay-Rebstöcke soweit das Auge reichte. Beaujolais-Weingärten bis zum Horizont und dahinter gab es sicher noch mehr.

Stefan hatte während seiner fünf Monate in Verviers so viel Französisch gelernt, dass die Verständigung mit dem Patron und Didier einigermaßen funktionierte. Die Einrichtung der Küche war für den unerfahrenen Jungkoch erst einmal ungewohnt, denn alles blinkte in Edelstahl. Dies war für damalige Verhältnisse eher selten und die großzügigen Platzverhältnisse ebenfalls. Vor allem aber wurde mit Leidenschaft gekocht.

Nichts kam aus der Dose oder dem Tiefkühlfach, nichts stammte aus der Retorte. Patron Henri Roux wurde in den nächsten Monaten zu Stefans väterlichem Freund und gütigem Lehrmeister, weil er ihn mochte und seine Begabung fürs Kochen entdeckte. Er lehrte ihn all das, was dem jungen Koch frühere Chefs nicht beigebracht hatten.

Patron Roux verhalf ihm zu völlig neuen kulinarischen Erfahrungen. Stefan entdeckte den Einsatz von frischen Kräutern aller Art und er lernte Artischocken kennen. Er begriff, dass Fenchel mehr vermochte, als bei kleinen Kindern Blähungen zu vertreiben; er erfuhr, dass Charolais-Rinder wunderbares Fleisch haben und lernte nicht nur die Käsevielfalt des Burgund kennen, sondern auch den hervorragenden Wein. Kurzum, Henri Roux vermittelte ihm einen soliden Querschnitt durch das französische Lebensmittelangebot und dessen professionelle Zubereitung. Es ging immer um frische, natürliche und regionale Produkte. Wie ein Schwamm sog Stefan alles in sich auf und lernte in den ersten drei Monaten mehr übers Kochen als je zuvor.

Nach knapp vier Monaten bekam er von Henri Roux den Auftrag, das Menü für das Wochenende zusammenzustellen.

»Das hat er noch nie gemacht«, kommentierte Didier verwundert, »er vertraut dir.«

Stefan war in Fleurie angekommen, als Koch und auf dem Fußballplatz. AL Fleurie lief nämlich seit seinem ersten Training mit einem deutschen Außenverteidiger auf, der von seinen Mitspielern schnell den Beinamen »Fritz« bekam. Schließlich hießen alle Deutschen so.

Natürlich lernte er auch »nichts Festes« kennen. Sie hieß Jeanne und absolvierte beim Crédit Agricole in Macon eine Banklehre. Immer sonntags kümmerte sie sich um die Theke im Vereinslokal von AL Fleurie, das den sinnigen Namen »Café des Sports« trug. Jeanne war in Stefans Alter und ein Mädchen, wie Jungs es mögen: offen, unkompliziert, freundlich, ein wenig vorlaut, ziemlich kokett und gut aussehend. Der liebe Gott musste bei allerbester Laune gewesen sein, als er sie schuf. Die dunkelhaarige Jeanne hatte eine auffallend wohlproportionierte Figur und eine Schwäche für Süßes. Das hatte Stefan schnell mitbekommen. Nach dieser Erkenntnis verehrte er ihr regelmäßig selbst gemachte Pralinen in allen möglichen Formen und mit den unterschiedlichsten Füllungen.

Da traf es sich prächtig, dass auf Henri Roux’ Stundenplan »Confiserie« stand und er setzte das Neugelernte umgehend ein, um Jeanne zu erobern. Außerdem genoss er als Deutscher einen gewissen Exotenstatus, der ihn bei den einheimischen Mademoiselles zusätzlich interessant machte. Die süße Offensive war ein voller Erfolg, ließ Jeannes Herz schmelzen und sie lieferte Stefan den Nachweis, dass Pralinen nicht bloß Herzen öffnen können, sondern ebenfalls Mädchenblusen. Ihm war schnell klar, dass sein Paradies im Beaujolais lag. Von Jeanne und ihren offensichtlichen Vorzügen konnte er nicht genug bekommen. Sie hatte den prachtvollsten Körper des gesamten Beaujolais, ja wahrscheinlich von ganz Frankreich, dachte er. Jeanne und er hatten jedenfalls eine Menge Spaß miteinander.

Klar, dass es nicht ausschließlich bei Pralinen blieb. Stefan lief zu großer Form auf, wenn es um fantasievolle Süßspeisen für Jeanne ging. Die junge Frau dankte ihm seine Kreativität auf ihre spezielle Art. »Mon Allemand doux«, nannte sie ihn in des Wortes doppelter Bedeutung. Lieben wie Gott in Frankreich. Er dachte, es würde immer so weitergehen …

Didier und Stefan wurden schließlich Freunde. Zunächst verband sie der Fußball, dann die gemeinsame Arbeit in der Küche. Sie machten einander Konkurrenz und trieben sich auf diese Weise zu immer besseren Leistungen an. Patron Henri Roux sah es mit Wohlgefallen und gratulierte sich zu seiner Idee, die beiden »jungen Wilden« aufeinander loszulassen.

Für den Mann aus dem Rheinland war es eine wunderbare Zeit in Fleurie, die unbeschwerteste und sorgloseste seines Lebens. Er lernte sein Handwerk undsprach nach ein paar Monaten fließend Französisch. Der Glückliche spielte in einer Mannschaft Fußball, die ihn schnell und freundschaftlich aufgenommen hatte und seine Freundin war in jeder Hinsicht ausgesprochen kreativ. Jeanne und er waren glücklich, sie sahen sich fast jeden Tag und konnten nicht genug voneinander bekommen. Das war die Zeit, in der sich Stefan für unsterblich hielt.

All das ging ihm durch den Kopf, als er mit seinem Finger auf der Landkarte in Fleurie/Beaujolais hängen blieb. Nach ein paar Klicks im Internet wusste er, dass das Restaurant »La Ferme du Château« noch existierte und Didier inzwischen dort Chef war. Stefan wählte die angegebene Nummer und legte sich sein unbenutztes Französisch zurecht.

»Restaurant La Ferme du Château, je suis Didier Roux, bonjour.«

»Hallo Didier, ich bin’s, Stefan Berger also ‘Fritz’, wahrscheinlich bist du als Torwart noch genauso untalentiert wie damals.«

Es folgte eine Überraschungspause. Er konnte Didiers grauen Gehirnzellen beim Rotieren zuhören.

»Stefan, verdammt, Fritz, seit du weg bist, haben wir bei AL Fleurie endlich wieder eine funktionierende Hintermannschaft. Du warst der uninspirierteste Verteidiger, der je bei uns gespielt hat.«

Didier hatte sich nicht verändert.

»Ich habe lange nichts von dir gehört, geht es dir gut?«, wollte er wissen.

»Alles bestens, Didier, ich möchte euch auf der Durchreise nach Südfrankreich besuchen, wenn ich darf.«

»Was für eine Frage, natürlich darfst du. Ich freue mich, wenn du kommst. Ein Zimmer besorge ich dir und am besten kommst du montags. Dann ist unser Restaurant geschlossen und wir haben Zeit zum Quatschen. Stefan, ich freue mich wirklich.«

»Bon, Didier, was macht dein Vater?«, wollte der wissen.

»Dem alten Herrn geht es prächtig, er ist mittlerweile Ehrenpräsident bei AL Fleurie. Soll ich Jeanne sagen, dass du kommst?«

Elfmeter.

»Nein, Didier, lass mal«, und dabei hörte er ihn grinsen.

Der Abschied damals aus Fleurie geriet für Stefan zu einer schmerzhaften und emotional aufwühlenden Erfahrung. Sein Freund Didier und der Patron waren Menschen, die er mochte, weil sie gut zu ihm waren und ihn akzeptierten. Sie unterstützten und förderten ihn vorbehaltlos. Sie waren zu echten Freunden geworden. Und dann Jeanne. Er wollte »nichts Festes« und hatte dabei genau das Gegenteil gefunden.

»Warum liebe ich dich so sehr?«, hatte sie ihn gefragt, »anders wäre es einfacher und es täte nicht so weh.« Sie heulte Rotz und Wasser und wollte ihn nicht gehen lassen. Stefan stoppte seinen R 4 auf dem Weg von Fleurie nach Julinéas Richtung Autobahn, weil er vor lauter Tränen die Straße nicht mehr sehen konnte. Ihn übermannten starke Gefühle, die er nicht kannte.

Genau dorthin fuhr er. Fleurie, Beaujolais, Frankreich, Didier, Patron Roux und – Jeanne.

»Prima ich komme! Au revoir, ich freue mich auf dich.«

Kapitel 4

Stefan startete am Montagmorgen um sechs Uhr. Wenn alles glattlief, müsste er gegen ١٤ Uhr in Fleurie sein.

Er genoss die Fahrt durch die Ardennen, die gleich hinter der belgischen Grenze bei Aachen beginnen. Dieses Mittelgebirge ist eine herbe, manchmal wilde, manchmal etwas melancholische und waldreiche Landschaft. Weil die Ardennen-Orte vergleichsweise klein sind und die Gegend dünn besiedelt, wird die Autobahn wenig befahren und ein zügiges Vorankommen ist garantiert. Nach rund zwei Stunden tankte er in Luxemburg seinen Wagen voll und bei Thionville begann für ihn Frankreich.

Den Anfang machte Lothringen, dann folgte Burgund mit seinen riesigen Weiden voller weißer Charolais-Rinder. Dijon, Beaune und die Côte d’Or flogen vorbei; Stefan passierte die Toplagen für Burgunderwein und schließlich erreichte er die Autobahnabfahrt Macon-Sud, die für ihn das Tor ins Beaujolais und nach Fleurie bedeutete. Er tauchte ein in die sanfte, hügelige und vor allem grüne Weinbaulandschaft mit ihren verschlafenen kleinen Dörfern, die ihm »sehr französisch« vorkamen. Dieses »französische Gefühl« muss wohl an den Jahren liegen, die ich nicht mehr in der Gegend war, sagte er sich. Je näher er Fleurie kam, desto deutlicher kehrten bei Stefan die Erinnerungen zurück. Ihm fielen die Namen der Dörfer ein, in denen er mit den Jungs aus Fleurie Fußball gespielt hatte und er dachte an die Bistros und Cafés, in denen sie nach den Matches kräftig zu feiern pflegten, egal ob sie ihre Spiele gewannen oder nicht.

Am Ortseingang von Fleurie war plötzlich alles wieder da: die Kirche, davor der Marktplatz mit dem mickrigen Springbrunnen, links das kleine Rathaus, gleich daneben die »Bar des Sports« mit den wackeligen Metallstühlen unter der schmuddeligen Markise. Hinter dem Tresen wartete Jeanne. Die Boulangerie von Monsieur Perrier, der die göttlichen Croissants – am besten waren die mit Schokofüllung – herstellte, der Metzger, Monsieur Duhamel, der immer dieses grandiose Rindfleisch ins Restaurant lieferte. Natürlich fehlte das Restaurant »La Ferme du Château« nicht, Rue des Crus. Diese Adresse hätte man sich nicht besser ausdenken können. Alles sah fast aus wie in Stefans Erinnerung. Die Restaurant-Markise war neu. »Fermé« stand an der Tür, schließlich war Montag. Bevor er klopfen konnte, ging die Tür auf und Didier grinste ihn an.

»Willkommen, du talentfreier deutscher Fußballer.«

Didier, ruppig wie früher, drückte ihn fest an seine Brust, sodass Stefan ein wenig Angst um seine Rippen bekam.

»Mon ami, ich freue mich, dass du bei uns zu Besuch bist, du warst lange weg. Komm herein, mein Vater ist da.«

Der Bauch von Monsieur Roux war genauso stramm wie vor zehn Jahren und der Patron genauso herzlich wie damals.

»Schön, dass du da bist, mein Junge. Du bist erwachsen geworden«, stellte er fest und presste ihn kräftig an seine beeindruckende Körpermitte.

»Bonjour, Patron, ich freue mich. Gut sehen Sie aus«, strahlte Stefan ihn an.

»Sag Henri zu mir, du bist nicht zum Lernen gekommen.« Das war dann geklärt.

»Komm, ich zeige dir alles«, deutete Didier Richtung Restaurant. »Der Heimkehrer« konstatierte neues Mobiliar und den neuen Thekenbereich. Die Küche war weitgehend unverändert, nach wie vor in Edelstahl ausgestattet und geräumig. Unverändert geblieben war auch der grandiose Blick aus den Küchenfenstern in die Weinfelder und auf die grünen Hügel.

»Da links, die Masten, Didier, habt ihr Flutlicht auf dem Platz?«

»Selbstverständlich, die Beleuchtung haben wir vor Jahren angeschafft. Das musst du heute haben.«

Didier wies auf einen kleinen, alten Holztisch mit drei Gedecken, der gar nicht in diese Edelstahlbatterie passen wollte.

»Für heute Mittag habe ich ein paar Kleinigkeiten vorbereitet, richtig essen werden wir heute Abend. Papa, komm zu Tisch«, rief er.

Von wegen »Kleinigkeiten«; vier verschiedene Pasteten, Rillettes, kalter Braten, Hähnchenbrust, verschiedene Käsespezialitäten, Baguettes und Wein warteten auf hungrige Abnehmer.

»Willkommen in Fleurie, greife zu und erzähle«. Didier war neugierig.

Stefan fühlte sich wie in einer Zeitmaschine und die katapultierte ihn gerade gut zehn Jahre zurück. Er erzählte Didier und Henri von seinem Leben in den Jahren nach Fleurie: dem Beginn als selbstständiger Koch, dem Fast-Konkurs, dem Ende der Beziehung mit Marion, den anderen längeren und kürzeren Affären ohne glücklichen Ausgang, den kulinarischen Zugeständnissen an die Essgewohnheiten der rheinischen Provinz und vom Grund seiner Reise, dem ehemaligen Bahnhof Tante Hildes an der Côte d’Azur.

Umgehend erfuhr Stefan alles über die Entwicklung in Henris und mittlerweile Didiers Restaurant. Zweimal hatte Didier zwar einen Bip Gourmand, die Vorstufe zum ersten Michelin-Stern bekommen. Leider hatten die Juroren ihm bisher die nächsthöhere Auszeichnung versagt. »Ich weiß nicht warum, von mir aus können sie mir gestohlen bleiben mit ihrem Stern. Ich mache mich nicht mehr verrückt damit. Die Bude läuft prima, Henri und ich sind ein großartiges Team, wir kochen ein wirklich gutes Essen. Fini«, zuckte er mit den Schultern. Er hatte Betriebstemperatur erreicht.

Didiers Haare waren kürzer als früher, zudem war er mit Marie-Fleur, seiner Jugendliebe, verheiratet. Die beiden hatten einen Sohn, Fabien.

»Er spielt im Tor, genau wie ich.«

Alles klar, dachte Stefan, Fabien, wie Fabien Barthez, dieser durchgeknallte, glatzköpfige französische Nationaltorwart, der offensichtlich ein wenig verrückt war und der deswegen von den Massen geliebt wurde.

»Du wirst Marie-Fleur und Fabien kennenlernen. Sie sind gerade in Macon beim Optiker. Fabien benötigteine Brille.«

»Dann ist der Junge im Tor genauso blind wie du damals?«

Es war wie früher und Henri Roux lachte voller Inbrunst, sodass sein Bauch dabei auf und ab hüpfte.

»Ich habe eine Überraschung für dich. Heute Abend geben wir eine kleine Küchenparty. Ich habe auf die Schnelle ein paar Jungs von früher, fast die halbe Mannschaft, eingeladen. Es wird seriös zugehen, mit Frauen. Zum Essen gibt es typische Gerichte aus Burgund, damit du dich wie zu Hause fühlst.«