Tanz am Abgrund - Christa Huber - E-Book

Tanz am Abgrund E-Book

Christa Huber

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Beschreibung

Christa Huber taucht in die surreale Welt der Wahnvorstellung ein. Ihr Romandebut ist von erlesener Brillanz. Mit viel Fingerspitzengefühl beschreibt sie grauenvolle Situationen in absolut deutlicher Sprache. Tanz am Abgrund ist die Geschichte des Mädchens Jenny. Sie lebt wohlbehütet bei den Großeltern. Als sie dreizehn Jahre alt wird, geschehen seltsame Dinge. Ein geheimnisvoller Flötenspieler, den nur sie hört, plötzlich aufflammende Aggressivität und Zerstörungswut. Jenny findet heraus, dass die Großeltern ihr etwas über den Tod ihrer Eltern verschwiegen haben und macht sich auf die Suche nach ihrer eigenen dunklen Vergangenheit. Was bedeuten die immer wiederkehrenden Träume, in denen sie zu der Melodie des Flötenspielers tanzt? Und was ist an dem Tag passiert, an dem sie drei Jahre alt wurde? Eines Tages reißen Jenny und ihre Freundin Dora aus dem Krankenhaus aus und landen in Hamburg. Das, was sie erleben, hatten sie so nicht geplant. Tauchen Sie ein in eine mystisch-spannende Geschichte und begleiten Sie Jenny auf ihrem Weg durch Wahn, Drogen, Kriminalität und dunkle Rituale.

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Christa Huber

Tanz am Abgrund

Impressum

Schweitzerhaus Verlag

Frangenberg 21 - 51789 Lindlar

Telefon 02266 47 98 211 - Mobil 0177 755 2991

eMail: [email protected]

Copyright: Schweitzerhaus Verlag, Lindlar

Foto: fotolia @merla

Umschlaggestaltung: Karin Schweitzer, Lindlar

Besuchen Sie uns im Internet:

www.schweitzerhaus.de

2. Auflage 2017

ISBN: 978-3-86332-167-3

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Microverfilmung und die Einspielung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhalt

Impressum

Prolog

Wetterleuchten

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Erste Anzeichen

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Die Suche

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Zusammenbruch

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Die Klinik

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Die Flucht

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Ein Unterschlupf

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Dunkle Nächte

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Im Keller

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Ausweglos

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Weg aus dem Dunkel

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Tief ins Unbewusste

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Die Schlangengrube

Das Tagebuch

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Lüge oder Wahrheit

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Epilog

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Literaturverzeichnis

Leseprobe

Buch 1

Ω 1 Ω

Buch 2

1

Buch 3

1

Prolog

Einsam ist es im Zimmer, nicht die kleinste Lampe vertreibt die Dunkelheit, Gitter vor den Fenstern, kahle Wände. Ein Bett, ein Nachttisch, ein Schrank, mehr nicht. Über dem Bett der Gekreuzigte, plastisch und realistisch die Wunden, die ihm zugefügt wurden. Eine Stahltür ohne Klinke, eine kleine Klappe in Augenhöhe.

Auf dem Boden kniet ein Mann, blonde lange Haare umrahmen ein mageres, unrasiertes Gesicht. Er trägt nur einen Slip und ein T-Shirt. Fast könnte man meinen, er sei tot. Wären da nicht stahlblaue Augen, aus denen etwas Wildes, Gefährliches, Unheimliches nach Außen drängt. Er murmelt Worte, die nur er versteht, er spricht mit seinem Herrn. Murmelt Unverständliches, unterbrochen von tierischem Geheul, schlägt mit der Stirn auf den Boden, bohrt die Nägel seiner Finger in die Haut der Unterarme. Reißt Narben auf, lacht hysterisch, als sein Blut zu fließen beginnt.

Wetterleuchten

Ich warte auf das Gute und es kommt das Böse. Ich hoffe auf Licht und es kommt Finsternis

Hiob 30/26

„Jenny, Jenny“, Sabine rüttelt ihre Enkelin heftig am Arm, doch sie rührt sich nicht.

„Hallo, was ist denn los?“ Sie klatscht kräftig in die Hände, direkt vor Jennifers Gesicht.

„Scht, Oma, hörst du das nicht?“

„Was soll ich hören?“

„Da spielt jemand Flöte, so was Schönes habe ich noch nie gehört.“

„Jenny, da spielt niemand Flöte, du scheinst zu träumen.“

„Nein, Oma, ich schlaf doch nicht, ich höre es genau, da spielt jemand Flöte.“

Sabine schaut verzweifelt ihren Mann Werner an, der seine Enkelin mit einem tiefen Stirnrunzeln betrachtet. Sie sehen sich in die Augen, eine Erinnerung taucht auf, schwer, schmerzlich, kaum fassbar. Es gibt ihr einen Stich ins Herz: „Mein Gott, genau wie Thomas!“

„Jetzt kann ich es auch nicht mehr hören, es ist weg“, sagt Jenny leise.

„Ja, Liebes, es ist Zeit fürs Bett. Geh noch Zähne putzen. Hast du deine Schulsachen für morgen beieinander?“ Jenny nickt und macht sich auf den Weg ins Bad. Zehn Minuten später bekommt Werner einen kräftigen, nach Zahnpasta schmeckenden Gute-Nacht-Kuss auf seinen Schnurrbart, zärtlich drückt er das kleine Mädchen sekundenlang an sich.

Er sieht ihr nach, wie sie an der Hand von Sabine hüpfend das Zimmer verlässt. Ein kleines zwölf-jähriges Mädchen, noch unbeholfen wie ein Füllen auf der Weide, aber manchmal schon eine kleine Lolita. Sie weiß genau, wie sie ihn um den Finger wickeln kann. Sie dreht sich noch mal zu ihm herum, wirft ihm eine Kusshand zu.

Werner lächelt in sich hinein: „Was für ein liebes, kleines Ding.“ Er wollte alles tun, damit Jennifer gesund und glücklich bliebe und ihr einen guten Start ins Leben ermöglichen. Dieses Mal wollte er es besser machen, besser als bei seinem Sohn Thomas. Dieses Mal würde er aufpassen, noch einmal könnte er nicht durch diesen Schmerz.

Werner ist 62 Jahre alt, seit sechs Jahren in Pension. Sie hatten ihn nach dem Vorfall nicht mehr arbeiten lassen, er könne keinen Stress verkraften, sei nicht mehr belastungsfähig, es könnten ihm keine schwierigen Entscheidungen mehr zugemutet werden. Nicht mehr geeignet für seine Arbeit im Polizeidienst. „Ausgemustert“, denkt er manchmal, „abgeschoben, zu Nichts mehr nutze, ab zum alten Eisen“.

Die erste Zeit nach dem Unglück hatte er nicht arbeiten können, er hatte sich schuldig gefühlt. Schuldig wie die drei Affen: nichts Sehen, nichts Hören, nichts Sprechen. Schuldig, weil er nichts getan hatte, um das Unglück aufzuhalten. Und das Wissen in ihm, dass er eigentlich auch nicht bereit gewesen war, sich diesem Schicksalsschlag zu stellen. Das war das Schlimmste. Drei Jahre hatte er gebraucht, um wieder ein normales Leben führen zu können, ohne seine Frau Sabine hätte er es wohl nicht geschafft. Sabine, die ihn nachts in den Arm nahm, wenn ihn die Vergangenheit in Albträumen quälte, die ihm einen frischen Schlafanzug holte, wenn er nass geschwitzt wieder einmal den Kampf gegen die Drachen verloren hatte.

Feuerspuckende, mörderische Drachen, die ihn in seinem Schlaf verfolgten. Drachen, die über ihn Gericht hielten und das Urteil war immer: Schuldig, Schuldig, Schuldig! Drachen, deren Zähne sich tief in sein Fleisch bohrten, bis er es nicht mehr aushielt und ihn der Traum zähneknirschend freigab.

Jennifer darf niemals etwas von dieser grässlichen Geschichte erfahren, nahm er sich vor, sie soll völlig unbeschwert ihre Kindheit und Jugend genießen können, kein Wölkchen ihren himmelblauen Kinderhimmel trüben, dafür wollte er sorgen.

„Sie wird ihrer Mutter immer ähnlicher“, denkt er manchmal und es ist ihm nicht wohl in seiner Haut. „Äußerlichkeiten“, sagt Sabine immer, „Äußerlichkeiten, das Aussehen hat doch überhaupt nichts mit dem Charakter zu tun.“ Hoffentlich behält sie Recht.

Wenn er Sabine nicht gehabt hätte, er hätte Jennifer wohl in ein Heim geben müssen, er selbst hätte es die erste Zeit nicht geschafft. Sabine war immer die Stärkere in ihrer Beziehung gewesen. Nicht so sensibel, nicht so anfällig für Störungen. Viel pragmatischer als er, kann sie sich auf neue Situationen viel gelassener einstellen. Nimmt hin, was nicht zu ändern ist, tut in jeder Situation das Richtige. Sabine ist fünf Jahre jünger als er, Kindergärtnerin, hatte aber gerne ihre Berufstätigkeit aufgegeben, um sich um die kleine Familie und den Haushalt zu kümmern. Das kleine Häuschen hatte er von seinen Eltern geerbt, die als Vertriebene hier im Badischen eine neue Heimat fanden. Natürlich musste er umbauen, das Haus um ein weiteres Zimmer, mit einem neuen modernen Bad vergrößern. Als Polizist verfügte er über relativ viel Freizeit, das brachte der Schichtdienst so mit sich. Handwerklich geschickt war er auch, er konnte viel selber machen. Seine Sabine hatte ihm immer den Rücken freigehalten.

Der große Garten, die Erziehung von Thomas, das hatte er ihr überlassen, das konnte sie besser als er. Es gab auch Zeiten, da war er wütend auf Sabine gewesen. Zornig, dass sie ihn nicht mit einbezogen hatte, als bei Thomas die ersten Symptome aufgetreten waren. Sie nichts unternahm, als die ersten Zeichen seiner Krankheit nicht mehr übersehen werden konnten. Aber hatte er es wirklich wissen wollen? War es nicht viel einfacher gewesen, die Augen zu schließen, seine heile Welt zu verteidigen? Er hatte sich immer als ganzen Mann gesehen, sein größter Wunsch war ein Sohn gewesen, der ihm ähnlich sei. Aber Thomas war ein kränkliches Kind, überaus sensibel, immer nah am Wasser gebaut. „Eine Memme“, so nannte er ihn manchmal in seinen Gedanken. „Und zum Teufel ja, das war er auch und nein, es tut mir nicht leid.“

Er hätte einen besseren Sohn verdient als diesen schwächlichen, charakterlosen Taugenichts. „Vorbei, vorbei, das Rad lässt sich ohnehin nicht mehr zurückdrehen.“

Als Thomas sieben Jahre alt war, schenkte er ihm einen kleinen Schäferhund. Einen Spielkameraden sollte er haben, aber auch durch den Umgang mit einem hilflosen Tier lernen, Verantwortung zu übernehmen. Was hatte er diesem unschuldigen Lebewesen nur angetan? Werner schaudert es heute noch. Er hätte es gleich merken müssen, dass etwas nicht stimmt, der Hund zeigte deutlich, dass er Angst vor Thomas hatte. Lange wurde er nicht sauber, zog oft den Schwanz durch die Hinterbeine und winselte kläglich, wenn Thomas ihn an die Leine nahm, um mit ihm Gassi zu gehen. Oft war der Hund verletzt, wenn Thomas wieder mit ihm nach Hause kam, aber erst der Tierarzt machte ihn auf ein paar Eigentümlichkeiten aufmerksam.

„Ich habe eine Reißzwecke in seinem Fell gefunden. Die Brandverletzungen sehen aus wie von einer Zigarette. Sie sollten Ihren Sohn beobachten, wenn er mit dem Hund unterwegs ist.“

„Was erlauben Sie sich, mein Sohn ist doch kein Tierquäler“, entrüstete sich Werner. „Er ist sieben Jahre alt, Ihre Unterstellungen sind eine Frechheit, ich werde mir einen anderen Tierarzt suchen, Sie sind ja eine absolute Niete!“

Das war er leider nicht, er sollte Recht behalten und Werner musste sich später bei ihm entschuldigen.

„Wissen Sie, ich hatte schon damals einen Verdacht, als Thomas Kaninchen angeblich im Teich ertrunken ist. Und wie sich ein Wellensittich im Käfig das Genick brechen konnte, war mir auch verdächtig.“

Werner war Thomas gefolgt, als er den Hund mit zum Spielen nach draußen nahm. Tatsächlich, kaum waren sie ein Stückchen zum Ort hinaus, Richtung See, hat Thomas ein Stöckchen geworfen. Als der kleine Hund das Stöckchen nicht mehr zu Thomas zurückgebracht hat, fing dieser an, unkontrolliert mit der Hundeleine auf das arme Tier einzuschlagen. Werner war entsetzt, als er das wutverzerrte Gesicht seines Sohnes sehen musste und mit welcher Verachtung er auf den hilflosen Hund einschlug. Das klägliche Winseln hat ihn noch lange in seinen Träumen verfolgt. Damals hätte er schon was unternehmen sollen, aber in seiner Vorstellung war es eine schiere Unmöglichkeit, einen Sohn zu haben, der möglicherweise nicht normal war, ein Soziopath sein könnte. Nein, das war nur kindlicher Unfug, das würde sich auswachsen. Von wem sollte er das auch haben, er war geistig normal, Sabine auch und in der näheren Verwandtschaft war ihm auch nichts bekannt. Obwohl, sein Vater hatte manchmal etwas von einem Cousin erzählt, der lange und oft im Krankenhaus gewesen sei. Während des Krieges sei er gestorben, was Genaues wisse man nicht. Spekulation, mehr nicht.

Das Hundchen brachte er ins Tierheim und Thomas bekam nie wieder ein Haustier.

Die ganze Schulzeit verhielt sich Thomas überwiegend unauffällig. Er war sehr introvertiert, hatte keine Interessen, die er mit seinen Schulkameraden teilen wollte. „Sport ist Mord“, pflegte er zu sagen. Seine einzige Leidenschaft war das Lesen. Sein Zimmer war voll gestopft mit Büchern, die er sich teilweise in der Bibliothek ausgeliehen hatte. Ganz besondere Exemplare hatte er sich gekauft. Alte Folianten, ledergebunden. Sein ganzes Taschengeld gab er für Bücher aus.

Werner und Sabine war seine Lust an Okkultismus, Parapsychologie und den Geschichten über Hexen und Magier völlig unverständlich. Aber sie hatten es toleriert, mit irgendetwas musste sich der Junge ja beschäftigen. Er war wenigstens kein Herumtreiber, andere Eltern hatten ganz andere Sorgen mit ihren Kindern. Alkohol, Drogen, nein, da brauchte man bei Thomas nichts zu befürchten.

Thomas wollte studieren. Ausgerechnet Religionswissenschaft. Seine Abiturnoten waren gut und Thomas bekam bald eine Zulassung von der Universität Freiburg. Und damit nahm das Unheil seinen Lauf.

***

Sabine geht mit Jennifer ins Kinderzimmer. Es ist ein helles und freundliches Eckzimmer im zweiten Stock. Liebevoll eingerichtet mit hellen Kindermöbeln, einer bunten Tapete, auf der Schneewittchen und die sieben Zwerge tollen, die Prinzessin den Froschkönig küsst und Aschenputtel in goldenen Schuhen mit ihrem Prinzen tanzt.

„Gute Nacht, Jenny, träum was Schönes.“ Sabine küsst ihre Enkelin, stopft die Zudecke fest um den kleinen Körper, streichelt ihr nochmals über die Wangen und geht aus dem Zimmer.

***

Sabine setzt sich zu Werner auf die Coach, schenkt sich ein Glas Wein ein. Minutenlang hält sie ihr Glas in der Hand, ohne zu trinken. Sie will es nicht aussprechen, sie weiß, wenn ihre Gedanken zu Worten werden, muss sie sich damit auseinandersetzen. Jeder hängt seinen eigenen, schmerzlichen Phantasien nach. „Werner, kann es denn sein…..“

Er unterbricht sie schroff. „Sieh nicht gleich Gespenster, es gibt für alles eine Erklärung. Jenny war müde, sie hat wahrscheinlich nur geträumt.“

„Aber du weißt doch noch, was die Ärzte gesagt haben, Jennifer hat ein erhöhtes Risiko für diese Erkrankung. Ich bin ja richtig erschrocken, als sie sagte, dass sie dieses Flötenspiel hört.“

„Sabine, hör damit auf. Jennifer ist nicht krank. Sie war müde. Außerdem hat sie den ganzen Tag die Ohrstöpsel von ihrem CD-Player im Ohr, sie wird irgendwelche komischen Ohrgeräusche gehabt haben. Ich verstehe sowieso nicht, dass du ihr erlaubst, den ganzen Tag dieses Gejaule anzuhören.“

„Alle ihre Schulkameradinnen haben so ein Teil. Ich kann sie doch nicht zum Außenseiter machen. Du weißt doch auch, wie sensibel sie auf Ablehnung und Kritik reagiert und ihre Freunde kannst du an einer Hand abzählen. Und warum soll ich es ihr verbieten, du kannst doch auch mal mit ihr reden, auf dich hört sie sowieso besser als auf mich.“

„Ach, mach doch, was du willst. Aber gib nicht nachher mir die Schuld, wenn sie irgendwann einen Hörschaden hat.“

Sabine schweigt, eine diffuse Angst schnürt ihr die Kehle zu. „ Wir müssen aufpassen“, sagt sie abschließend und wendet sich dem Fernsehprogramm zu.

***

Jenny tanzt. Tanzt mit sich selbst, tanzt zu einer Musik, die nur sie selbst hören kann. Töne, die wie Perlen aus einer silbernen Flöte purzeln, bringen sie zum Lachen. Silberne Flöten, wohin sie auch sieht. Dunkelheit liegt schwer im Raum, nur erhellt von den silbernen Perlen, die wie Sternschnuppen aus den Flöten blitzen. Sie dreht Pirouetten, verbeugt sich rechts und links vor einem unsichtbaren Publikum, lacht glockenhell, wirbelt über blankes Parkett.

Ihre schwarzen Locken tanzen mit ihr, die eisblauen Augen lachen und strahlen, bis ihr Blick auf einen großen, schwarz gekleideten Mann fällt. Er scheint ein Mann der Kirche zu sein, seiner Kleidung nach ist er Vikar. Sie kennt ihn nicht, auch nicht die dunkelhaarige, zierliche Frau, die an seiner Seite steht. Oder doch? Etwas kommt ihr bekannt vor, macht ihr Angst, der Mann schaut so finster auf sie herab. „Teufelsbrut, Teufelsbrut“, hört sie ihn flüstern. Jenny wacht schreiend auf.

***

Sie lauscht nach unten. Nein, ihren Schrei hat niemand gehört. Das würde jetzt gerade noch fehlen, dass sie Oma eine Erklärung abgeben müsste. Sie hat den seltsamen Blick bemerkt und sie weiß, sie muss aufpassen, was sie erzählt oder tut. Jennifer ist zwölf, bald dreizehn Jahre alt. Seit ihrem dritten Geburtstag lebt sie bei den Großeltern. Mammi und Vati sind im Himmel, erzählt die Oma manchmal und schaut Jennifer traurig an. Sabine und Werner sind die Eltern von Vati, die Eltern von Mammi wohnen irgendwo weit weg in einem Land im Osten, sie hat sie noch nie gesehen.

„Du siehst aus wie deine Mammi“, sagt Sabine oft, „die gleichen schwarzen Haare und die gleiche zierliche Figur, nur die Augen, die hast du von deinem Papa.“

An den Himmel glaubt Jennifer schon lange nicht mehr, genauso wenig wie an den Weihnachtsmann oder den Osterhasen. Aber eines weiß sie genau. Das Spiel der Flöte hat sie nicht geträumt, da will ihr jemand etwas sagen, aber sie versteht die Worte der Flöte nicht. Noch nicht. Sie versteht auch sich selbst nicht mehr. Manchmal hat sie das Gefühl, tausend Gedanken schwirren in ihrem Kopf, aber keinen einzigen bekommt sie zu fassen. Das macht ihr Angst. Viele Dinge machen ihr Angst, über die sie früher nur gelacht hätte. Nachts, in der Dunkelheit ihres Zimmers, wenn sie nicht schlafen kann, stehen die Monster an ihrem Bett. Große, dunkle Gestalten, die mit Krallenfingern nach ihr greifen. Es bleibt ihr nur die Flucht, die Flucht unter die Bettdecke. Dort ist sie geborgen, hier kann ihr niemand etwas tun und tief unter der Decke verborgen schläft sie ein.

Heute bietet die Decke keine Sicherheit. Schwer ist sie geworden, versucht sie zu ersticken, nimmt ihr den Atem nach dem seltsamen Traum. Sie schiebt sie zur Seite, zieht langsam und genüsslich ihr Nachthemd aus. Stolz betrachtet sie ihren kleinen, nackten Körper. Die kleinen, mandarinengroßen Brüste, den beginnenden Flaum an ihrer Scham.

Ich bin bald eine Frau, denkt sie, streicht langsam über ihren Körper. Sie denkt an den großen blonden Mann aus ihrem Traum. Aus Angst wird Begehren. Begehren nach Etwas, das sie nicht kennt. Faszination des Unbekannten. Dieser Mann aus dem Traum, sie muss ihn finden, muss ihn berühren. Das Gefühl in ihr lässt sie frösteln, sie schlüpft in ihr Nachthemd, unter die Decke, schläft wieder ein.

Ein paar Tage später, Jenny war gerade von der Schule gekommen, hat Werner eine Überraschung für sie parat. „Jenny, es ist soweit. Wir werden dein Zimmer renovieren. Du musst für ein paar Tage ins Gästezimmer ziehen. Im Keller sind Kartons, da kannst du alles hineinpacken, bis das Zimmer fertig ist. Die neuen Möbel kommen auch nächste Woche, schwarz, so wie du es wolltest. Also mir würde das ja nicht gefallen, aber na ja.“

Jenny jubelt: „Toll, Klasse und der Computer und die Musikanlage?“

Werner lacht. „Immer langsam, Jenny, noch hast du nicht Geburtstag, warte es einfach ab.“

Jenny macht sich gleich auf den Weg in den Keller, um die Kartons zu holen. Sie kann es fast nicht erwarten. Sie hat sich schon Poster besorgt, Poster von Michael Jackson, Jonny Depp, Bryan Adams. Von Freundinnen hat sie sich CDs ausgeliehen. Sie fiebert regelrecht danach, in ihr neues Reich einzuziehen. Im Keller ist es unheimlich, dunkel, Spinnweben streifen über ihr Gesicht.

„Wo sind die verdammten Kartons,“ schimpft sie vor sich hin und läuft fast gegen einen alten Schrank. Neugierig will sie die Schranktüren öffnen, aber sie sind fest verschlossen. Sie zuckt die Schultern, sucht weiter nach den Kartons. Endlich, zwischen einer Kommode und einem Regal mit Einmachgläsern findet sie sie. Natürlich total eingedreckt, wütend tritt sie kräftig an den Stapel, eine Menge Staub wirbelt auf, sie muss heftig niesen. Als sich der Staub wieder gesetzt hat, sieht sie zwischen den Einmachgläsern etwas aufblitzen. „Was ist das?“ Sie greift nach einem der Gläser, findet einen kleinen, silbernen Schlüssel. Neugierig nimmt sie ihn in die Hand. „Wo der wohl hingehört?“ Sie schaut sich suchend um, wieder bleibt ihr Blick an dem alten Schrank hängen. Der Schlüssel sieht zwar gebraucht aus, ist aber nicht rostig, einfach so, als würde er oft benutzt werden. Sie steckt ihn in das Schlüsselloch des alten Schrankes. Er passt tatsächlich. Langsam, ganz langsam öffnet sie die Tür, so als erwarte sie ein Ungeheuer, das ihr gleich ins Gesicht springen würde.

Enttäuschung macht sich breit, als sie sieht, dass lediglich ein paar Aktenordner und einige alte Fotoalben im Schrank aufeinander gestapelt sind. Sie schlägt die Tür zu, schließt ab, legt den Schlüssel wieder ins Einmachglas. Im selben Moment hat sie auch schon das Interesse an dem alten Schrank verloren.

Mit ein paar Kartons unter dem Arm geht sie in ihr Zimmer. Sie beginnt Schränke und Kommoden leer zu räumen und ins Gästezimmer zu transportieren.

Morgen soll der Maler kommen und die Kitsch-Tapete entfernen. „Ich kann den Anblick der Märchenfiguren nicht mehr ertragen.“ Sie nimmt einen roten Filzstift, schmiert Fratzen über die Figuren, kritzelt wütend die ganze Tapete voll, kratzt mit der Schere Striemen in die Möbel.

Jennifer hasst ihr Kinderzimmer. Seit Wochen schon lag sie ihrem Opa in den Ohren, das Zimmer verändern zu dürfen.

„Alles muss raus, außer dem Bett. Ich will Platz für Poster. Ich will einen Computer. Ich will eine Musikanlage. Alle meine Freundinnen haben so was und ich hause hier in diesem Baby-Zimmer.“

Ein großes Himmelbett steht in der Ecke zwischen den beiden Fenstern. „Das kann bleiben, auf das Himmelbett sind alle neidisch. Vielleicht eine neue Bespannung. Rot, richtig knallig rot. Keiner hat so ein tolles Bett wie ich. Bitte, Opa, ich bin doch kein Baby mehr.“ In einem Monat hat sie Geburtstag, bis dahin sei alles fertig, hat Opa versprochen.

„Was, um Himmels Willen, treibst du denn da? Bist du total verrückt geworden?“

Werner steht wie vom Donner gerührt in der Tür, beobachtet fassungslos, wie Jenny in ihrem Zimmer wütet. Ganz kleinlaut legt sie die Schere aus der Hand, fängt an zu weinen. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie Werner. Und ihre Rechnung geht auf. Werner hat sie noch nie weinen sehen können. Auch jetzt nimmt er sie in den Arm, spricht tröstend auf sie ein „Lass man gut sein, Kleines, das alte Zeug landet ohnehin auf dem Sperrmüll.“ Das war gelogen, eigentlich wollte er das Kinderzimmer zum Roten Kreuz bringen. Für die Aussiedler und Asylanten. Die Arbeit konnte er sich jetzt sparen.

Selbst in die Gardinen hat sie hinein geschnitten. Seltsam, Jennifer war doch früher nicht so rabiat. Na ja, Mädchen in der Pubertät sind schon etwas zickig, er will jetzt kein Drama aus der Geschichte machen. Aber ein kleiner Zweifel bleibt, was war nur in das Mädchen gefahren?

Erste Anzeichen

Du bist schön, meine Freundin, wie Thirzy, lieblich wie Jerusalem und schrecklich wie Heerscharen.

Hohelied 6.4.3

Beim Abendessen fängt Jennifer an zu summen. „Was singst du da?“, fragt Sabine erstaunt.

„Ach, das ist nur so ein olles Lied, das wir heute in der Schule lernen mussten.“

„Na gut, aber jetzt hör auf damit, iss fertig. Und dann ab in die Wanne, ich komme dann, helfe dir beim Haare waschen.“

In der Wanne hat Jennifer endlich die Gelegenheit, sich ganz der Flötenmusik zu widmen, die laut in ihrem Kopf ertönt, sie schläfrig und müde macht. Als Sabine ins Badezimmer kommt, verstummt die Flöte, als wüsste sie, dass Oma nichts merken darf. Fast tut es Jenny leid, dass die schöne Musik jetzt zu Ende ist.

Sie mag es, wenn die Oma ihr die Haare wäscht und nachher über die große Rundbürste fönt. Da könnte sie schnurren wie eine satte Katze. Jennifer liebt ihre Haare sehr, schwarz, kräftig, glänzend fallen sie lockig bis weit über ihre Schultern. Die Ponyfransen gehören geschnitten, sie hängen ihr tief in die Augen. Aber das kann sie selber machen. Gelegentlich. Es sieht so verrucht aus, wenn sie durch die Haare hindurch blinzelt. Oma trocknet ihr die Haare und sie geht ins Bett. „Bald dreizehn. Dann werde ich mich schminken. Wie alle anderen auch. Kajal, Wimperntusche, Puder, ich werde toll aussehen. Noch wenige Tage, dann habe ich es geschafft. Dann hat die Welt eine neue Sensation. Ich, Jennifer, das tollste und schönste Mädchen an unserer Schule. Was rede ich da? In der ganzen Stadt natürlich!“, sie kichert leise in ihr Kissen und schläft ein.

***

Jenny tanzt. Tanzt mit sich selbst, tanzt zu einer Musik, die nur sie selbst hören kann. Töne, die wie Perlen aus einer silbernen Flöte purzeln, bringen sie zum Lachen. Silberne Flöten, wohin sie auch sieht. Dunkelheit liegt schwer im Raum, nur erhellt von den silbernen Perlen, die wie Sternschnuppen aus den Flöten blitzen. Sie dreht Pirouetten, verbeugt sich rechts und links vor einem unsichtbaren Publikum, lacht glockenhell, wirbelt über blankes Parkett.

Da, wieder dieser große, blonde, schwarz gekleidete Mann. Der Vikar mit den blauen Augen, die er nicht von ihr lassen kann. Sie atmet tief ein, versucht ihren Busen besser zur Geltung zu bringen. Bewegt sich langsamer, lasziver, schaut ihm direkt ins Gesicht. Zorn blitzt aus seinen Augen, purer Hass liegt in diesem Blick. Aber Jennifer bemerkt es nicht. Sie dreht, windet sich, tanzt nur für ihn.

Schweißtropfen rinnen über ihr Gesicht, ihren Hals und sickern durch den Spalt zwischen ihren Brüsten. Sie hört, dass er betet, spürt, wie er mit sich ringt. Die Augen starr auf sie gerichtet, der Blick seiner Augen ist wie Stahl, der sich in ihr Herz bohrt. Seine Lippen bewegen sich, er flüstert ihr zu: „Die Hure Babylon tanzt ihren letzten Tanz, die Brut des Teufels muss vernichtet werden.“

In seiner Faust ist plötzlich ein Messer, funkelnder Stahl senkt sich auf sie herab, tiefer, tiefer, tiefer, berührt fast schon ihre Brust --- und Jennifer wacht auf.

***

Schweißnass liegt sie in ihrem Bett, das Nachthemd klebt an ihrem Körper. Sie zieht es angewidert aus, legt sich nackt wieder ins Bett. Sie ist erregt oder ist es Angst? Streichelt ihre Brüste, um sich selbst zu trösten. Streicht über den flachen Bauch, greift zaghaft an die Scham, sucht Wärme. Fühlt Nässe, ein leichter Metallgeruch steigt ihr in die Nase. Sie hält ihre Hände ins Licht, sie sind rot von Blut. Der Traum. Das Messer. Der blonde Mann. Sie hat nicht geträumt, alles ist Realität. Grauenvolle Angst schnürt ihr plötzlich den Hals zu, sie schreit und schreit, bis Sabine die Tür zu ihrem Zimmer aufreißt:

„Was ist passiert, um Gottes Willen, warum schreist du so?“

„Der Mann, das Messer, ich bin verletzt, ich blute, er hat mich umgebracht.“

Sie kann kaum sprechen, das Entsetzen ist so real, springt aus dem Bett, schluchzend wirft sie sich Sabine in die Arme.

Jetzt sieht Sabine die Blutflecke auf dem Bett, hält Jennifer ganz fest an sich gedrückt, „Schäfchen, du hast schlecht geträumt, du hast deine Periode bekommen, das ist doch nicht schlimm, das passiert allen Mädchen in deinem Alter.“

„Aber das Messer, der fremde Mann, es war so unheimlich, ich bin verletzt.“

„Unsinn, hier ist niemand und es war auch niemand da. Das hätten wir doch gehört, du kleiner Angsthase.“

Jennifer lässt sich kaum beruhigen. Sabine zeigt ihr, wie sie mit Tampons und Binden umgehen muss, wechselt die Bettwäsche. Erst als sie ein frisches Nachthemd trägt, Sabine ihr eine heiße Tasse Kakao ans Bett gebracht hat, fühlt sie sich wieder sicher. Jetzt kann sie über sich selbst lachen.

„Was bin ich nur für ein doofes Ding. Monate lang habe ich jetzt auf meine Periode gewartet, das Zeichen, dass ich kein Kind mehr bin und jetzt, jetzt habe ich mich so angestellt.“ Vergessen war der Traum, der blonde Mann und die Angst. Endlich erwachsen, endlich beginnt das richtige Leben.

Stolz zeigt sie am anderen Morgen in der Schule ihrer Freundin Tanja Becker das kleine Täschchen, das ihr Sabine heute Morgen geschenkt hatte. Geheimnisvoll zieht sie den Reißverschluss auf, lässt Tanja einen Blick auf den Inhalt werfen.

„Tatsächlich, ist es wirklich wahr“, schreit Tanja, greift in das Täschchen hinein und wirft den Inhalt in die Luft. Die anderen Mädchen auf dem Schulhof lachen, schreien und kreischen vor Vergnügen, nur Jennifer steht kreidebleich da. Sie spürt die vertraute Hitze des Zorns Wirbel für Wirbel über ihren Rücken kriechen, um dann laut und unkontrolliert in ihrem Kopf zu explodieren.

Mit einem einzigen Schlag reißt sie Tanja von den Füßen, tritt ihr ins Gesicht, in den Leib, gegen den Hintern. Eiskalt ist ihr Zorn, die Lust zu morden prickelt in ihren Händen und Füssen. Sie hört nicht das Schreien ihrer Lehrerin, spürt nicht, wie sie festgehalten wird. Sie reißt sich los, starrt entsetzt auf Tanja, die blutend und stöhnend am Boden liegt. Sie spricht kein Wort, sammelt die Tampons vom Boden auf, rennt fluchtartig vom Schulhof.

„Ihre Enkelin hat völlig die Beherrschung verloren“, sagt Frau Schneider, die Klassenlehrerin, zu Sabine, die telefonisch von dem Vorfall unterrichtet wurde, sofort in die Schule rannte und nun zusammen mit Frau Schneider im Lehrerzimmer sitzt. „Es ist eine Tatsache, dass sich Jennifer schon bei der geringsten Kleinigkeit sofort angegriffen fühlt, der kleinste Spaß kommt bei ihr falsch an. Wir behandeln sie alle wie ein rohes Ei, aber ich glaube, Sie müssen etwas mit ihr unternehmen. Erziehungsberatung, vielleicht eine Psychotherapie oder doch zumindest mal ein Arztbesuch, das müsste ich Ihnen dringend empfehlen. Bedenken Sie doch, dass auch Jennifers Vater—.“

„Das geht Sie nun wirklich nichts an, Frau Schneider, ich möchte Sie nochmals ganz dringend bitten, nicht mit Jennifer über ihren Vater zu reden. Sie weiß von der ganzen Geschichte nichts. Wir wünschen, dass das so bleibt.“

„Es ist auch schon einige Male vorgekommen, dass Jennifer ihre Hausaufgaben nicht erledigt hatte. Stattdessen hat sie mir Geschichten erzählt, die sie sich aus den Fingern gesogen haben muss. Ein schwarzer Rabe hätte ihr das Heft aus der Hand gerissen, als sie es auf dem Schulweg noch einmal gelesen hätte. Ein anderes Mal war es ein blonder Pfarrer, der sie den ganzen Schulweg verfolgt hätte, um ihr das Schulheft zu stehlen. Das Bedenkliche bei der Sache ist, dass ich wirklich den Eindruck hatte, Jennifer glaubt ihre Geschichten selbst, so überzeugend hat sie sie erzählt.“

„Übertreiben Sie jetzt nicht ein bisschen? Alle Kinder haben eine reiche Phantasie. Ja, es stimmt. Jennifer ist nie um eine Antwort verlegen, Ausreden hat sie immer schnell erfinden können. Aber solche unglaubwürdigen Geschichten zu erzählen, nein, das glaube ich jetzt wirklich nicht. Dumm ist sie ja schließlich nicht.“

„Nein, ich übertreibe überhaupt nicht. Es ist ja schon so, dass die anderen Mädchen aus ihrer Klasse gar nicht mehr mit ihr spielen wollen. Sie tut seltsame Dinge und erzählt komische Sachen, ich mache mir wirklich Sorgen um sie. Seit ein paar Tagen hat sie jetzt eine neue Freundin, Barbara. Allerdings ist diese zwei Jahre älter als Jennifer, hat nicht gerade den besten Ruf. Barbara kommt aus sehr zwielichtigen Verhältnissen. Wenn ich Ihnen raten dürfte, sorgen Sie dafür, dass Jennifer diese Barbara nicht allzu oft sieht. Sie hat keinen guten Einfluss auf Jennifer.“

„Was tut sie denn für seltsame Dinge, können sie mir das näher erklären?“

„Na ja, sie sagt, sie könne zaubern. Natürlich ist das kompletter Unsinn, aber sie ist sehr überzeugt davon. Die anderen Kinder glauben ihr nicht, lachen sie aus, was dann Jennifer veranlasst, Drohungen und Verwünschungen auszustoßen. Ich erzähle Ihnen gerne ein Beispiel. Vor zwei Wochen schrieben wir einen Vokabeltest. Weil Jennifer nicht von ihrer Tischnachbarin, Melanie Roth, abschreiben durfte, hat sie diese nach der Stunde angesprochen, gegen die Tafel gedrängt, ihr gedroht, sie würde dafür sorgen, dass sie am Wochenende nicht mit ihren Eltern ins Kino gehen könnte.“

„Frau Schneider, das ist wohl das Lächerlichste, was ich jemals in meinem Leben gehört habe. Kein Mensch würde so etwas für bare Münze nehmen.“

„So habe ich ja auch gedacht, bis dann am anderen Morgen Frau Roth bei mir angerufen hat und erzählte, dass Melanie auf dem Heimweg vom Fahrrad stürzte, sich ein Bein gebrochen habe. Das Mädchen hat natürlich ihrer Mutter alles erzählt. Was sagen Sie jetzt?“

Sabine ist fassungslos. „Frau Schneider, ich bitte Sie, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert! Das ist ja die reinste Hexenjagd. Ich werde nicht dulden, dass Sie so mit meiner Enkelin umgehen und solche hirnrissigen Geschichten über das Kind verbreiten. Sie werden von mir hören.“

„Es tut mir ja auch leid für Jennifer. Die Beckers wollen Anzeige bei der Polizei erstatten. Ich fürchte, dass Sie sich dann auch mit dem Jugendamt auseinandersetzen müssen. Wenn Sie und Ihr Mann Hilfe brauchen, rufen Sie mich bitte an.“

In Sabine bricht eine Welt zusammen. Das darf doch alles nicht wahr sein. Nicht schon wieder, soll sich denn die ganze Katastrophe wiederholen? Mit letzter Kraft verabschiedet sie sich von Frau Schneider, verlässt fluchtartig die Schule.

Sie muss Jennifer finden, muss mit ihr reden, muss herausfinden, ob sich wirklich alles so zugetragen hat, wie Frau Schneider erzählte.

Neben der Schule ist die Kirche mit dem kleinen Friedhof. Sabine weiß, dass Jennifer nicht gerne in die Kirche geht, „Da riecht es immer so komisch“, hat sie gemeint „und der Herr Jesus am Kreuz schaut mich auch böse an, da habe ich Angst.“

Werner meint, das wird sich schon legen, wenn Jennifer etwas älter geworden ist. Nächstes Jahr soll der Konfirmandenunterricht losgehen. Es hat schon heftige Diskussionen innerhalb der Familie gegeben, weil sich Jennifer weigert, am Unterricht teilzunehmen. Was würden denn die Leute im Dorf sagen, wenn sie nicht bei den Konfirmanden wäre und jetzt noch diese Geschichte. Sabine ist völlig verzweifelt.

Sie findet Jennifer auf dem Friedhof.

Das Mädchen geht durch die Grabreihen, als suche sie nach etwas. Als sie Sabine sieht, läuft sie ihr entgegen und fängt bitterlich an zu weinen.

„Ach Oma, ich habe mich so geschämt. Tanja hat meine Tampons auf dem Schulhof herumgeworfen. Alle haben mich ausgelacht.“

„Komm, meine Kleine, wir gehen nach Hause und reden nach dem Mittagessen darüber.“

„Oma, wo ist eigentlich das Grab von Mama und Papa? Ich konnte es gar nicht finden?“

„Es gibt kein Grab. Du weißt doch, dass deine Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind. Es gibt einen kleinen Friedhof in Südfrankreich, dort sind alle Opfer beerdigt worden. Wenn du ein wenig älter bist, fahren wir mal hin.“

Jennifer fängt wieder an zu weinen. Weint immer noch, als sie daheim sind. Auch die kommenden Tage ist sie sehr in sich gekehrt, spricht kaum ein Wort, hört ständig Musik und liegt auf ihrem Bett zusammengekauert wie ein Fötus im Mutterleib.

Wenn Sabine und Werner abends zusammensitzen, gibt es kein anderes Thema als den Vorfall in der Schule.

„Sabine“, sagt Werner, „ich weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Habe jetzt schon zwei Mal mit den Beckers gesprochen, aber ich muss ehrlich sagen, der Becker ist ein absolut sturer Hund. Er ist nicht bereit, die Anzeige zurückzuziehen, keine Entschuldigung nimmt er an. Ich glaube, er will an Jennifer ein Exempel statuieren, er meint, es gäbe schon genug Gewalt an den Schulen. Gott sei Dank ist das Mädchen nicht schwer verletzt, trotzdem, es ist schlimm genug. Die Versicherung wird wohl für den materiellen Schaden aufkommen, aber der Termin beim Jugendamt übernächste Woche macht mir ernsthaft Sorgen.“

„Sprich doch vorher mit Dr. Beier. Wenn der ein Attest schreibt, dass Jennifer gesund ist, wird das Jugendamt dies doch glauben, oder Werner? Das werden sie doch, oder nicht?“

„Wenn sie gesund ist, so langsam komme ich selbst ins Zweifeln. Und denk dran, die Geschichte mit Thomas ist noch nicht vergessen, leider.“

Jennifer ist tief verstört. Spricht kaum, hat überhaupt keinen Appetit, stochert sogar in ihren Lieblingsspeisen herum, schließt sich stundenlang im Gästezimmer ein. Sabine und Werner bricht es fast das Herz, aber keines ihrer Worte kann Jennifer aufmuntern. Es vergehen mehrere Tage, bis Jennifer bereit ist, wieder in die Schule zu gehen.

Endlich ist der Tag gekommen. Jennifers Geburtstag. Schon um sechs ist sie wach, kann es kaum erwarten, ihre Geschenke zu bekommen. Zappelt beim Frühstück auf ihrem Stuhl, schaut ständig zur Tür, ist total aus dem Häuschen. Gerade als sie meint, es nicht mehr aushalten zu können, kommt Werner in die Küche.

„Komm, Geburtstagskind, wir zeigen dir dein neues Reich.“

Sie steht vor ihrem Zimmer, wagt kaum die Tür zu öffnen, stößt sie schließlich heftig auf. Da war ihr Traum in schwarz und weiß! Weiß der dicke, weiche Teppichboden, weiß die Gardinen, die sich sacht im Wind bauschen, schwarz der Schrank, die Kommode, der Schreibtisch. Zwei weiche, flauschige Sessel, ein kleiner schwarzer Tisch. Und sogar eine Frisierkommode mit einem riesig großen Spiegel! Sie weiß nicht mehr, was sie sich zuerst ansehen soll. Und wie ein großer Blutfleck das rot bespannte Himmelbett. Aus einer schwarzen Stereoanlage tönt ihre Lieblingsmusik, sie kann es nicht fassen.

Doch dann fällt ihr Blick auf den Schreibtisch und sie erstarrt: „Wo ist der Computer, ich wollte doch einen Computer!“, heißer Zorn färbt ihr Gesicht, wütend stampft sie mit den Füßen auf. Sabine und Werner sind fassungslos, wissen nicht, was sie tun oder sagen sollen. Jenny tobt und schreit, ist völlig außer sich. Erst als ihr Sabine eine kräftige Ohrfeige verpasst, kann sie sich wieder halbwegs beruhigen.

„Jenny, was ist denn los mit dir, wir wollten dir doch eine Freude machen. Für den Computer hat es leider nicht mehr gereicht, du musst warten bis Weihnachten, das dauert doch nicht mehr lange!“

Sie hört nicht, was ihre Großeltern sagen. Die Flöte spielt. Keine Melodie diesmal. Hässliche, grelle, disharmonische Töne schreien in ihrem Kopf. Entsetzt hält sie sich die Fäuste vor die Ohren, als könne dies die Geräusche in ihrem Kopf verhindern.

„Ich glaube, wir sollten den Arzt anrufen“, sagt Werner leise zu Sabine. Sie nickt schwach mit dem Kopf, läuft nach unten und wählt die Nummer des Hausarztes.

Eine Stunde später liegt Jennifer in ihrem roten Himmelbett. Der alte Hausarzt, Heinrich Beier, hat ihr eine Spritze gegeben und sie schläft.

***