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Nachdem ihr Vater, ein nicht sehr beliebter Anwalt verstirbt, verbleibt die junge und sehr hübsche Fiona ohne großen Nachlass und muss sich in London eine Stellung suchen, was sich in den 1920ziger Jahren als sehr schwierig erweist. Aufgrund ihres guten Aussehens und ihre Fähigkeit sehr gut tanzen zu können, wird sie als bei dem Nachtclub Paglioni's als Animierdame und Tanzpartnerin angestellt. Hier verkehrt die bessere Gesellschaft, um gut zu essen und sich zu amüsieren. Die Arbeit bezahlt nicht sehr gut, aber Fiona kann damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Als sie Lord Winthrops Aufmerksamkeit erregt, ist Fiona sehr verzweifelt, da dieser versucht aufdringlich zu werden. In der Zwischenzeit hatte Fiona bei Paglioni's auch Jim kennengelernt, einen gutaussehenden, galanten und wohl situierten Gentleman, der ihr in der misslichen Situation mit Lord Winthorp behilflich ist. Jim und Fiona verlieben sich ineinander - aber Jim hatte sein Versprechen einer anderen Dame gegeben, die derzeit in Trennung lebt und auf ihre Scheidung wartet. Als sich deren Ankunft nähert, verlässt Fiona Jim und geht ins Ausland – und muss sich auf verschiedene Weisen – zum Teil abenteuerlichen - durchschlagen. Wird es Fiona gelingen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und dabei ihrer Liebe zu Jim treu bleiben? Werden sich die beiden in all den Wirrungen und unterschiedlichen Gesellschaftsklassen je wiederfinden?
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Seitenzahl: 278
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Buch spielt Ende der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts. Damals herrschte in ganz Großbritannien eine ungeheure Arbeitslosigkeit. Es war beinahe unmöglich, Arbeit zu finden. Die folgende Geschichte von Fiona ist typisch für jene Tage, wenn auch viele Schicksale nicht so glücklich endeten wie in diesem Fall.
Die Motorhaube des Rolls-Royce stand offen, der Motor lief.
Der Chauffeur war damit beschäftigt, den Wagen zu putzen, und pfiff dabei den neuesten Schlager vor sich hin, den man in London bereits an jeder Straßenecke hören konnte, obwohl er erst vor kurzem herausgekommen war.
Kinder spielten auf dem Kopfsteinpflaster vor den ehemaligen Stallungen in den ersten Sonnenstrahlen des Tages.
Fiona drehte sich in ihrem schmalen Bett unruhig auf die andere Seite und erwachte. Für ein paar Minuten lag sie mit geschlossenen Augen da und versuchte weiter zu träumen, doch allmählich drang der Lärm vor ihrem Fenster in ihr Bewusstsein und weckte sie vollends.
»Gott, dieser Lärm!« dachte sie ärgerlich und überlegte, ob sie ein ähnlich preiswertes Zimmer in einer ruhigeren Gegend finden würde.
Das Zimmer war gerade groß genug für eine eiserne Bettstatt, eine Kommode und ein Waschbecken; angenehm war allein die billige Miete. Zehn Schilling pro Woche kostete es Fiona. Sie gab das Geld regelmäßig der Frau des Chauffeurs, ihrer Hauswirtin, und noch bis gestern war sie das recht hart angekommen. Vergangene Nacht hatte sie dann in ihrem neuen Job angefangen, für den sie fünfunddreißig Schilling die Woche erhielt.
Die Erinnerung an ihre neue Arbeit kam wieder, als sie die Augen aufschlug und spürte, wie sie brannten. Sie waren ganz entzündet von der verqualmten Luft, in der sie noch vor knapp fünf Stunden gearbeitet hatte. Ihre Beine waren schwer, ihre Füße schmerzten. Die neuen Schuhe, die sie eigens für die Arbeit gekauft hatte, waren ein wenig eng, und ihre wunden Füße beklagten sich heute Morgen bitter darüber.
Dafür erinnerte sie sich umso lieber daran, den Job unter unzähligen Bewerberinnen erhalten zu haben. Alle hatten mit hungrigen Augen darum gekämpft, irgendeine Arbeit zu finden, die sie vor der größten Not bewahren würde. In diesem Fall handelte es sich um eine Stelle als Tänzerin in dem elegantesten Lokal im West End.
Zu den Gästen von Paglioni’s zählten die obersten Kreise der Gesellschaft und des Hofes. Hier arbeiteten zwei Mädchen unter der Bezeichnung ‚Animierdame‘, sowie ein junger Mann, dem dieselbe Aufgabe zufiel. Ihre Arbeit bestand darin, Punkt zehn Uhr, wenn die Kapelle aufspielte, zu tanzen und damit weitere Paare aufs Parkett zu locken.
Die beiden Mädchen saßen zusammen an einem Tisch, und jeder Herr, der ohne Begleitung war, konnte sich den ‚Damen‘ vorstellen lassen. Der junge Mann machte sich seinerseits an ältere Damen heran, deren Ehemänner entweder zu alt oder zu träge waren, sich die neuesten Tanzschritte anzueignen.
Es ging alles unglaublich förmlich zu: Wenn ein Herr mit einer der ‚Damen‘ tanzen wollte, wandte er sich entweder selbst an Paglioni oder ließ diesem durch einen Ober eine entsprechende Nachricht zukommen. Daraufhin wurde er der Dame seiner Wahl vorgestellt, und diese nahm seine Einladung zum Tanz an.
In den meisten Londoner Lokalen dieser Art wurden von den Herren Trinkgelder erwartet und auch bezahlt; dafür betrug der Lohn der Mädchen auch nur zehn Schilling die Woche - sozusagen ein bloßes Fixum auf ‚Provisionsbasis‘. Paglioni hingegen hatte sich ausgerechnet, dass mehr Gäste bei ihm hereinschauen wurden, wenn sie mit einem Mädchen umsonst tanzen könnten. Bei seinen Stammkunden machte es zudem großen Eindruck, wenn er ihnen sagte, dass die ‚Damen‘ großzügig entlohnt würden. Es kam nur selten vor, dass ein Herr seiner Tanzdame zum Abschied eine Zehn-Schilling-Note zusteckte, wenn er mit ihr besonders zufrieden oder mit den Gepflogenheiten des Hauses nicht vertraut war. Für die Mädchen bedeutete diese Regelung einen gewissen finanziellen Nachteil, doch Paglioni kam sie zugute.
Fiona war es vergangene Nacht so vorgekommen, als ob keiner ihrer vielen Tanzpartner jünger als sechzig gewesen wäre. Überraschenderweise waren die meisten von ihnen gute Tänzer, ein Umstand, auf den sie im Allgemeinen besonders stolz waren.
Um halb zehn Uhr abends mussten Fiona und ihre Kollegen zur Stelle sein. Es wurde erwartet, dass sie gut gekleidet erschienen, und Paglioni hatte ihr ausdrücklich erklärt, dass sie mit einem einzigen Kleid nicht auskäme.
»Du musst welche zum Wechseln haben«, hatte er leichthin gesagt, als ob Abendkleider bei dem spärlichen Lohn, den er ihnen bezahlte, so ohne weiteres zu haben seien.
Fiona war jedoch viel zu erleichtert, die Arbeit zu bekommen, als dass sie sich in diesem Augenblick über irgendwelche Bedingungen, die er stellte, Sorgen gemacht hätte.
»Das Einzige, was du dir merken musst«, hatte er in gebrochenem Englisch betont, »ist, dass du hier bist, um meinen Gästen zu gefallen. Das ist das Allerwichtigste. Der Gast muss zufrieden sein. Wenn du den Gästen nicht gefällst, bist du entlassen. Und ich kenne keine Nachsicht.«
Fiona erinnerte sich an diese Worte, als sie an ihrem ersten Abend mit dem Bus Richtung Piccadilly fuhr.
Sie machte sich keine Sorgen über ihr Äußeres. Ihr rotes Chiffonkleid, das sie im Ausverkauf günstig erstanden hatte, sah gut aus und stand ihr. Sie hatte bereits ein großes Loch in ihre Wochenkasse gerissen, um passende rote Schuhe dazu zu kaufen sowie ein mit Schmuckperlen besetztes Abendtäschchen an Stelle ihrer alten schwarzen Handtasche, die ihr nicht mehr recht geeignet erschien. Sie hatte sich die Haare wellen und die Nägel lackieren lassen und war sich der bewundernden Blicke der anderen Leute im Bus voll bewusst. Sie besaß keinen Abendmantel, doch ihr schwarzer Stoffmantel, den sie untertags trug, war warm und konnte in der Garderobe rasch abgelegt werden.
»Ich muss diesen Job behalten«, dachte sie bei sich. »Der Lohn ist zwar nicht hoch, aber ich bekomme zumindest ein warmes Essen am Tag.« Paglioni stellte das Abendessen - ohne Getränke selbstverständlich.
Sie war früh dran und musste im Foyer auf ihre beiden Kollegen warten.
Clare Bailey war groß und dunkel, und Fiona begriff sofort, dass Paglioni sie ausgesucht hatte, weil sie einen völlig anderen Typ verkörperte. Fiona bildete mit ihren blonden Haaren, den blauen Augen und ihrem typisch englischen Flair einen wundervollen Gegensatz zu Clares schlanker, dunkler, beinahe orientalischer Erscheinung. Sie arbeitete seit zwei Monaten im Paglioni’s und kam bei den Gästen ausgezeichnet an.
Sie trug bildhübsche Kleider, auf die Fiona richtig neidisch war, bis sie herausfand, dass sich Clare ihre Sachen bei einem bekannten Schneider ausleihen durfte. Clares einzige Angst war, dass ein Kleid kaputtgehen könnte und sie dafür bezahlen müsste.
»Die Männer sind oft so ungestüm«, vertraute sie Fiona an. Dabei verzog sie das Gesicht zu einem vielsagenden Lächeln, und Fiona fragte sich unruhig, was wohl im Laufe des Abends auf sie zukäme.
Paul, ihr professioneller ‚Gastgeber‘, war, wie zu erwarten, groß, dunkel und gutaussehend. Er hatte sich als Abteilungsleiter in mehreren Kaufhäusern versucht, war jedoch immer wegen Unfähigkeit entlassen worden, was einzig und allein seiner Faulheit zuzuschreiben war.
Er schaffte es nicht, morgens aus dem Bett zu kommen, und fand es zu mühselig, stundenlang stehen zu müssen. Von daher gefiel ihm seine augenblickliche Arbeit, die es ihm erlaubte, die meiste Zeit des Tages im Bett zu verbringen.
Er verdiente mehr als die beiden Mädchen, weil er zusätzlich Tanzunterricht erteilte; da es sich dabei aber meist nur um einen Vorwand handelte, unter dem ältere Damen versuchten, ihn öfter zu sehen, brauchte er seine Aufwartung frühestens nach dem Mittagessen machen. Er sprach bei den Damen zu Hause vor, tanzte eine Stunde mit ihnen im Salon, und anschließend plauderte man bei einer Tasse Tee.
Paul stand auch im Verdacht, entgegen Paglioni‘s Anordnung Trinkgelder zu verlangen, und tanzte niemals zweimal mit derselben Dame, es sei denn, sie hatte das Trinkgeld vergessen. Als Mann genoss er das Privileg, um einen Tanz bitten zu dürfen, während die Mädchen jede Aufforderung annehmen mussten.
Er war schon lange in dem Lokal beschäftigt, und Paglioni war sich seines Nutzens wohl bewusst; Pauls Bewunderinnen kamen regelmäßig zum Mittag- und Abendtisch und ließen ihre Ehemänner, die nicht tanzen konnten, die Rechnung begleichen.
Paul begegnete Fiona mit herablassender Höflichkeit. Er hatte das glatte, betont vornehme Gehabe eines Gigolos und ließ davon während der Unterhaltung mit den Mädchen nicht ab, zumindest nicht innerhalb des Foyers.
Als sie an ihren Tischen Platz genommen hatten und die Kapelle, nachdem sich die Musiker zurechtgesetzt hatten, eine beschwingte Melodie anstimmte, die für eine heitere Atmosphäre sorgen sollte, wandte er sich mit einer leichten Verbeugung an Fiona.
»Gestatten Sie mir einen Tanz, Miss Mayne?« fragte er.
Innerlich nervös, doch äußerlich gefasst stand Fiona auf. Sie hatte Angst davor, einen Fehler zu begehen, aber Paul war ein ausgezeichneter Tänzer.
Obwohl sie gute drei Minuten lang alleine tanzen mussten, ehe sich drei oder vier weitere Paare zu ihnen gesellten, schaffte es Fiona, sich so zu verhalten, als sei sie an derartige Darbietungen gewöhnt.
»Wir können jetzt zurückgehen und essen«, meinte Paul schließlich, als mindestens sechs weitere Paare auf der Tanzfläche waren und andere sich anschickten, es ihnen gleichzutun.
Sie kehrten an ihren Tisch zurück; der Fisch, den es zu Abend gegeben hatte, war inzwischen kalt geworden. Für jemanden wie Fiona, die in den letzten Wochen, als sie auf Arbeitssuche war, nur mehr von Resten gelebt hatte, schmeckte er jedoch trotzdem vorzüglich.
Unzählige Leute in London waren auf der Suche nach irgendeiner Arbeit, ganz gleich, wie gering der Lohn sein mochte. Hauptsache, man hatte Arbeit und die Gewissheit, nicht verhungern zu müssen.
Fionas Vater hatte als Anwalt in einem Londoner Vorort gearbeitet, und sie hatte ihr ganzes bisheriges Leben dort verbracht. Er war ein mürrischer, verschlossener Mensch gewesen, der dem Leben und dem Tod mit dumpfer Gleichgültigkeit begegnet war und kaum Freunde besessen hatte; Fiona war in ihrer Kindheit sehr einsam gewesen.
Ihre Mutter war gestorben, als sie noch klein war, und es hatte sich niemand gefunden, der ihren Platz eingenommen hätte. Der Haushalt wurde von einer Wirtschafterin geführt, die weder zu ihrem Vater noch zu Fiona eine besondere Beziehung hatte, ihre Arbeit jedoch recht gut erledigte.
Fiona wurde auf die Oberschule geschickt, wo sie eine Ausbildung erhielt, die sie für keinen speziellen Beruf befähigte; zumindest wurde ihr klar, dass eine Stelle als Lehrerin oder Erzieherin für sie nicht in Frage käme.
Als sie die Schule verließ, konnte sie mit etwas Mühe Maschine schreiben; sie war darin jedoch zu langsam, um irgendwo anders als im Büro ihres Vaters eine Anstellung zu finden. Dort hielt sie es zwei Jahre lang aus und machte sich nützlich. Sie erhielt jedoch keinen Lohn und erntete mehr Missgunst als Dank.
Vor sechs Monaten war ihr Vater schließlich überraschend gestorben.
Nachdem sein Nachlass geregelt war, hielt Fiona ganze hundert Pfund in Händen. Ihr Vater war kein beliebter Mann gewesen und hatte deshalb wenig Geld verdient.
Die Mietzeit des Hauses, an dem sie nicht interessiert war, war glücklicherweise beinahe abgelaufen, und als sie den Besitzer darum bat, war er großzügigerweise bereit, den Vertrag für das letzte noch ausstehende Jahr aufzulösen.
Fiona wurde rasch klar, dass sie an Ort und Stelle kaum Arbeit finden würde. Der Arbeitsmarkt war bereits mit Mädchen, die unabhängig sein wollten oder einen Job bitter nötig hatten, überfüllt, und so war sie mit ihren hundert Pfund nach London gekommen und hatte sich im West End auf die Suche gemacht.
Ihre Bank riet ihr, die hundert Pfund in Kriegsanleihen anzulegen, und sie gab sich das Versprechen, wenn möglich nichts davon abzuheben, es sei denn in einer wirklichen Notlage. Wenn dieses Geld einmal ausgegeben sein würde, konnte sie nichts und niemand mehr vor dem Verhungern retten.
Ihre Mutter stammte aus dem Westen, doch hatte Fiona nie von irgendwelchen Verwandten gehört oder sie kennengelernt, obwohl sie annahm, dass noch jemand leben müsste.
Ihr Vater kam aus dem Norden und besaß, soweit sie wusste, keine Angehörigen; sein Tod wurde von niemandem betrauert.
Fiona fand ein Zimmer in den ehemaligen Marställen nahe der U-Bahn-Station Marble Arch. Sie mietete es fürs erste, bis sie sich später etwas Besseres suchen oder leisten konnte.
Gegen zehn Uhr morgens stellte ihr die Wirtin Tee - nicht gerade heiß und viel zu stark Brot und Margarine vor die Tür. Wenn Fiona länger schlief und der Tee kalt wurde, so war das ihre Schuld. Sie hatte diese Vereinbarung mit der Wirtin getroffen, als ihr klar wurde, dass eine Arbeit in einem Restaurant oder Nachtclub das Beste für sie sei.
In der ersten Woche hatte sie noch versucht, eine Stelle als Mannequin oder Verkäuferin in den teureren Geschäften zu bekommen, musste jedoch feststellen, dass sich ihr eine Frage unüberwindlich in den Weg stellte: »Haben Sie irgendwelche Berufserfahrung?«
Wenn sie sich als einfache Verkäuferin bewarb, war es dasselbe, und für jede Stelle gab es ganze Schlangen von Bewerbern.
Über eine Anzeige in der Zeitung wurde Fiona auf eine Stelle als Animierdame aufmerksam. Sie hatte diese Position damals zwar nicht bekommen, aber sie begriff, dass das etwas für ein gutaussehendes, ansprechend gekleidetes Mädchen war.
Sie wusste, dass sie zurzeit einen guten Eindruck machte; ihre Kleider waren neu, und das Schwarz, das sie anlässlich der Trauer um ihren Vater trug, brachte in seiner Verhaltenheit ihren hellen Teint bestens zur Geltung.
So zog sie von Kabarett zu Kabarett und von Nachtclub zu Nachtclub und begegnete dabei immer wieder denselben Mädchen, bis ein oder zwei ihr zulächelten und ein paar Worte mit ihr wechselten.
Sie wunderte sich, mit welcher Gelassenheit die Mädchen jede Absage einsteckten, doch waren einige von ihnen schon zu apathisch, um sich über ihr Schicksal zu beklagen oder sich gar dagegen aufzulehnen. Andere zuckten nur die Schultern oder machten Witze über das Pech, das sie verfolgte.
Fiona hatte gerade bei einem ziemlich schäbigen Nachtclub in der Regent Street eine Absage erhalten, da die Stelle schon besetzt war, als sie erfuhr, dass Paglioni möglicherweise eine neue Animierdame benötigte.
»Brenda hat einen Job beim Theater bekommen«, erzählte das Mädchen, das neben ihr stand. »Sie gehen nächste Woche auf Tournee - als eine Art Generalprobe, glaube ich - und wenn es ein Erfolg wird, kommen sie nach London zurück. Sie hat Glück, vier Pfund in der Woche! Ja, und deshalb wird Paglioni jemand Neues brauchen.«
Also stellte sich Fiona am nächsten Morgen in die Schlange, die vor Paglioni’s wartete.
Es war ein kühler, regnerischer Tag, und sie standen gut eine Stunde über die vereinbarte Zeit hinaus zitternd und fröstelnd im Freien, ehe Paglioni auftauchte.
Ein paar Kellner räumten gerade auf und lüfteten den Raum, in dem es nach abgestandenem Rauch roch. Am Boden lagen Aschenreste, Zigarettenkippen und Papierschnitzel.
Bei Tag besehen machte der ganze Raum einen ziemlich schäbigen, schmutzigen Eindruck, was abends durch eine geschickte Ausleuchtung überspielt wurde.
Fiona empfand Paglioni gegenüber spontane Abneigung, als sie ihn das erste Mal sah. Er war ein untersetzter, dunkelhäutiger Italiener, noch unrasiert, aber schon mit einer Zigarre im Mundwinkel.
Er behielt seinen Hut auf, als er die Mädchen begrüßte, und nahm sich immer sechs auf einmal vor; sie standen ziemlich verloren in der Mitte der Tanzfläche, während er einen Kellner wegen einer kleinen Unachtsamkeit ausschimpfte.
Schließlich wandte er ihnen seine Aufmerksamkeit zu. Fiona war früh aufgestanden und eine der ersten sechs. Er begutachtete sie von Kopf bis Fuß, stellte ihr ein paar Fragen und inspizierte anschließend die anderen.
Zwei von ihnen erschienen ihm nicht schön genug, und er schickte sie auf der Stelle fort.
Zu guter Letzt wurde Fiona auserkoren. Während sie sich innerlich freute, konnte sie kaum die Enttäuschung auf den Gesichtern der anderen ertragen, die wieder in den Regen hinaus gingen, um weiterzusuchen.
Heute Morgen konnte Fiona nur daran denken, was für eine Freude es war, nicht wieder auf Arbeitssuche gehen zu müssen. Sie räkelte sich genüsslich in ihrem Bett und warf einen Blick auf den Wecker, der auf einem Stuhl neben ihr stand.
»Halb elf!«
Sie sprang aus dem Bett, öffnete die Tür und trug ihr Frühstückstablett herein. Der Tee war schon ziemlich kalt, aber sie trank ihn dennoch und aß auch die dicke, harte Scheibe Brot auf, die auf dem Teller lag.
Sie wusste nicht, ob sie es ohne Mittagessen bis abends durchhalten würde, wenn sie bei Paglioni’s wieder etwas zu essen bekam.
»Wer ist das?« erkundigte sich Fiona bei Clare, als sie nach einer Viertelstunde Tanzen zu ihrem Platz zurückging.
Sie war bereits einen knappen Monat bei Paglioni’s und kannte viele der Gäste vom Sehen. Mit einigen der Männer verstand sie sich ausgezeichnet. Die Frauen schnitten sie allerdings. Sie hatte bald begriffen, wie unterschiedlich sich die Männer ihr gegenüber verhielten, je nachdem, ob sie allein oder in Begleitung einer Frau waren.
Es gab da einen jungen Mann, der ziemlich gut aussah, und mit dem sie eines Abends zwei- oder dreimal hintereinander getanzt hatte. Er war guter Stimmung gewesen und hatte sich zu ihr und Clare an den Tisch gesetzt und darauf bestanden, ihnen Champagner zu spendieren.
Paglioni registrierte dies mit sichtlicher Zufriedenheit. Am nächsten Abend sah Fiona, wie ihr neuer Freund in Gesellschaft von anderen Männern und drei Frauen das Lokal betrat.
»Da kommt Harry!« sagte sie aufgeregt zu Clare. »Vielleicht kommt er rüber und setzt sich zu uns.«
Doch Clare nahm ihr sofort jegliche Hoffnung.
»Ganz sicher nicht«, sagte sie scharf, »und versuch um Himmels willen nicht, seine Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen, Fiona. Du darfst ihm nicht zunicken oder ihn anlächeln, ehe er es nicht tut.«
Fiona musste rasch erkennen, dass Harry an diesem Abend nicht die geringste Lust dazu verspürte. Er wich ihren Blicken bewusst aus, doch als er zwei oder drei Nächte später wieder bei Paglioni’s auftauchte, benahm er sich genauso ausgelassen und freundlich wie bei ihrer ersten Begegnung.
Der Mann, nach dem sich Fiona bei Clare erkundigt hatte, war groß und sah für einen älteren Herrn recht gut aus, doch seine Gesichtszuge trugen deutliche Spuren eines zu üppigen und ausschweifenden Lebens.
Er hatte eine unangenehme Art zu tanzen, zu anzüglich, fand Fiona. Obwohl er kaum etwas gesagt hatte, mochte sie ihn nicht und kehrte bei der nächsten Gelegenheit an ihren Tisch zurück.
Er selbst bestellte sich eine Flasche Champagner, begab sich an seinen Platz und verzehrte eine Portion Austern.
Ganz offensichtlich war er eine bedeutende Persönlichkeit, denn er bekam den Ehrenplatz - ein Sofa in einer kleinen Nische, die allem berühmten oder königlichen Gästen vorbehalten blieb, die Paglioni’s die Ehre gaben.
»Das ist Lord Winthrop«, erklärte Clare. »Er ist unvorstellbar reich und wohnt in dem prächtigen Haus an der Ecke der Park Lane.«
»Winthrop-House!« rief Fiona. »Natürlich, ich kenne es. Ich glaube, ich mag ihn nicht so sehr.«
»Das wundert mich nicht«, erwiderte Clare. »Er ist ein Scheusal. Aber da kommt mein alter Freund. Wir werden uns heute nicht mehr sehen - ich esse mit ihm zu Abend.«
Sie lächelte, als ein ältlicher General, mit kahlem Schädel und ein wenig außer Atem, auf sie zukam. Sie setzten sich an einen Tisch am Ende des Raumes, und Clare bestellte sich die teuersten Speisen auf der Karte. Das geschah nicht nur in Übereinstimmung mit Paglioni‘s Anweisungen - natürlich erwartete er von den Mädchen, dass sie die Gäste dazu verleiteten, möglichst viel auszugeben -, sondern Clare war von Natur aus habgierig.
Fiona war nur kurze Zeit an ihrem Platz, als Lord Winthrop sie erneut aufforderte. Unwillig stand sie auf und hätte am liebsten abgelehnt, doch sie sah, wie Paglioni sie von der Tür aus beobachtete.
Lord Winthrop tanzte ziemlich gut, doch fasste er sie viel zu fest.
»Du bist sehr schön, finde ich«, bemerkte er schließlich.
»Danke«, entgegnete Fiona so kurz angebunden wie möglich. Sie war auf diese Art Komplimente nicht erpicht, zumindest nicht von jemandem, den sie, nicht mochte.
»Isst du morgen mit mir zu Abend?« fuhr Lord Winthrop fort.
Fiona suchte fieberhaft nach einer geeigneten Ausrede.
»Ich glaube, ich habe schon jemand anderen«, wandte sie zögernd ein.
»Das geht schon in Ordnung«, meinte er. »Ich gebe Paglioni Bescheid, dass ich dich haben möchte.«
»Bitte, tun Sie das nicht«, stieß Fiona hastig hervor. »Ich glaube, ich kann es selbst regeln.«
»Dann ist es abgemacht, meine Liebe«, antwortete er. »Ich bin gegen elf Uhr hier.«
Einen Augenblick fasste er sie noch fester.
»Wo wohnst du?«
»Ich habe ein Zimmer«, entgegnete Fiona.
»Ist es hübsch?«
»Es ist sehr klein«, antwortete sie. »Ich will schon seit langem ausziehen, aber es ist sehr schwierig, etwas zu finden.«
»Kannst du Freunde mit nach Hause nehmen?« erkundigte er sich.
Fiona merkte, worauf seine Frage abzielte, und wehrte rasch ab: »O nein, das geht nicht. Ich wohne bei der Frau eines Chauffeurs, und mein Zimmer grenzt direkt an ihres.«
»Nicht gerade günstig für ein so schönes Mädchen wie dich«, meinte Lord Winthrop süffisant.
Fiona schüttelte den Kopf.
»Ich nehme nie Freunde mit nach Hause«, erklärte sie entschieden und hoffte, ihrer Antwort den nötigen Nachdruck verliehen zu haben.
»Vielleicht gehst du stattdessen mit ihnen nach Hause?« bohrte er weiter.
»Nein«, entgegnete Fiona. »Ich bin so müde, wenn ich hier herauskomme, dass ich nur noch heim möchte... Ich glaube, der Tanz ist zu Ende. Wollen Sie nicht weiteressen?«
»Ich komme später noch mal rüber und tanze mit dir«, verkündete er und drückte sie zum Schluss so fest an sich, dass Fiona rot vor Wut an ihren Tisch zurückging.
»Der alte Kerl bekommt wohl Anwandlungen«, meinte sie zu Paul.
Er lachte. »Ich würde mich nicht daran stoßen«, antwortete er. »Immerhin hat er das Geld dafür.«
»Ich finde ihn widerlich«, stieß Fiona hervor.
Paul sah sie etwas herablassend an.
»Wie lange willst du dieses Jungfrauengehabe eigentlich noch vor dir hertragen?« meinte er. »Am Anfang mag es ja Spaß machen, aber auf Dauer zieht die Nummer mit den unschuldigen Kinderaugen nicht. Und überhaupt«, fügte er in milderem Ton hinzu, »würde ich aufpassen, dass ich Seine Lordschaft nicht beleidige. Er ist bekannt dafür, dass er sich sofort beschwert, und er ist einer unserer besten Kunden.«
Fiona nickte. »Das habe ich schon begriffen, bei dem Tamtam, das man um ihn macht.«
»Vergiss es nie«, riet ihr Paul. »O je - die Kapelle spielt einen Tango. Da müssen wir als erste auf die Tanzflache.«
Er und Fiona erhoben sich und fingen an zu tanzen.
Nach und nach gesellten sich zwei oder drei weitere Paare hinzu, aber Fiona war sich die ganze Zeit über bewusst, dass Lord Winthrop jede ihrer Bewegungen mit seinen Blicken verfolgte.
Sie zeigten alle Figuren und Schritte eines bühnenreifen Tangos, doch Fiona dachte nur darüber nach, wie sie dem Kerl, der sie andauernd beobachtete, entwischen könnte. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass etwas Hässliches passieren würde, und wollte ihm um jeden Preis aus dem Weg gehen.
Clare würde sie deswegen sicherlich für einen Dummkopf halten, und Paul würde sie auch nicht verstehen. Es gab niemanden, dem sie ihre Sorgen anvertrauen konnte. Möglicherweise waren sie unbegründet, aber Fiona hatte das sichere Gefühl, dass der Lord ihr Schwierigkeiten bereiten würde.
In den letzten Wochen hatte sie sich bei Paglioni’s gut eingewöhnt. Zu Anfang hatten ihr die langen Nächte zu schaffen gemacht, aber inzwischen war sie daran gewöhnt und hatte gelernt, trotz des Lärms fast bis Mittag zu schlafen.
Allerdings hatte sie kein Geld auf die Seite legen können. Im Gegenteil, sie hatte bereits den Lohn der nächsten Woche für ein. neues Kleid ausgegeben, das sie dringend brauchte.
Vor dem Gedanken, sich eine andere Arbeit suchen zu müssen, graute ihr, aber gleichzeitig war ihr bewusst, dass ihre jetzige Beschäftigung allein von ihrem eigenen Verhalten abhing. Eine einzige Beanstandung genügte, und sie würde kurzerhand entlassen und fände sich wieder unter den langen Reihen der Arbeitslosen.
»Ich darf nicht alles so schwarzsehen«, dachte sie bei sich und versuchte, sich zusammenzunehmen. »Wie dumm von mir, und das alles nur wegen eines alten Mannes, der mich zum Essen eingeladen hat!«
Sie sah sich kurz nach ihm um. Er beobachtete sie noch immer. An ihren Tisch zurückgekehrt, sagte sie in einem plötzlichen Wutausbruch zu Paul: »Wie ich das hier hasse!«
Er sah sie überrascht an.
»Wenn du was Besseres weißt...«
Fiona blickte ihn verlegen an und lachte. »Weiß ich nicht«, gestand sie.
»Ich hab’ schon Schlimmeres erlebt«, meinte Paul und nahm einen großen Schluck Wasser.
Dann stand er auf, ging auf eine jugendliche Adelswitwe von fünfundsechzig Jahren zu und bat sie um den folgenden Foxtrott. Als er an einem Spiegel vorbeikam, warf er einen selbstgefälligen Seitenblick hinein,
»Er ist viel zu dumm, um etwas Besseres zu verdienen«, dachte Fiona bei sich.
Dann sah sie, dass Lord Winthrop aufgestanden war und zu ihr herüberkam.
Unter den Gästen, die das Lokal besuchten, gab es einen Mann, den Fiona sehr schätzte. Eine Zeitlang wusste sie nicht, wer er war, doch schließlich fand sie heraus, dass er aus einer berühmten Adelsfamilie stammte, Jim Macdonald hieß und große Ländereien in Schottland besaß.
Clare hatte sein Bild eines Tages im Tatler entdeckt und es Fiona gezeigt. Und einen Abend später - welch ein Zufall! - war er an ihren Tisch herübergekommen und hatte Fiona zum Tanz aufgefordert.
Er war in Begleitung eines weiteren Mannes, beide in Abendkleidung, und schon, als sie Paglioni’s betraten, hatte sich Fiona insgeheim gewünscht, dass er sie um einen Tanz bitten würde.
All die Male, die sie ihn früher gesehen hatte, war er in Gesellschaft von Frauen gewesen, und es war ihr ganz besonders aufgefallen, dass er sich nie mit den geschwätzigen jungen Dingern umgab, die sie nicht leiden konnte. Seine Begleiterinnen zählten im Allgemeinen zu den Jungverheirateten, und zwar zu den bildhübschesten.
Sie waren selten eine größere Gruppe - meist vier, höchstens einmal sechs Personen -, und schienen stets sehr interessante Gespräche zu führen. Sie tanzten sehr selten, höchstens zwei- oder dreimal während des Abends.
Jim Macdonald war ausgesprochen groß und gutaussehend. Selbst unter den vielen interessanten Gästen, die sich Nacht für Nacht bei Paglioni‘s ein Stelldichein gaben, stach er deutlich hervor.
Er war blond und hatte graue Augen, aus denen ständig Funken von Lebensfreude sprühten, und obgleich er nicht im landläufigen Sinne schön war, so verkörperte er doch den typisch englischen Gentleman mit einer Spur Abenteuer.
Er ließ sich Fiona nicht in der üblichen Weise vorstellen, sondern ging einfach an ihren Tisch und sprach sie an: »Darf ich Sie um einen Tanz bitten?«
Sie nahm seine Aufforderung augenblicklich an, voll Erleichterung darüber, dass sie noch frei war. Sie tanzten eine Weile, ohne ein Wort zu sagen, dann brach Jim als erster das Schweigen.
»Ich ahnte, dass Sie eine ausgezeichnete Tänzerin sind«, meinte er. »Ich habe mich nicht geirrt.«
Seine Stimme klang tief und warm, und Fiona lächelte ihn an.
»Es freut mich, dass ich Sie nicht enttäuscht habe.«
»Im Gegenteil«, antwortete er. »Ich liebe es, mit jemandem zu tanzen, der es beherrscht. Aber ich fürchte, mit mir ist es nicht weit her - ich habe zu wenig Gelegenheit zum Üben.«
»Ich finde, Sie tanzen sehr gut«, entgegnete sie und fügte rasch hinzu: »Ich meine das ehrlich.«
»Danke«, sagte er lächelnd. Das Eis war gebrochen, und sie unterhielten sich angeregt.
Fiona begleitete ihn an seinen Tisch zurück und aß mit ihm zu Abend; im Gespräch entdeckten sie überrascht, wieviel sie gemeinsam hatten. Das war eigentlich verwunderlich, wenn man bedachte, wie unterschiedlich ihr Leben verlaufen war. Mit einem Mal war der Abend verflogen und das Lokal beinahe leer.
»Ich finde, wir sollten uns wieder treffen«, schlug Jim vor, »wie wäre es morgen Mittag?«
Freudig willigte Fiona ein.
Anderntags aßen sie in einem kleinen Restaurant in der Dover Street zu Mittag und unterhielten sich während eines vorzüglichen Essens in aller Ruhe miteinander. Jim hatte in seinem Leben schon so vieles erlebt!
Er war auf dem Gut seiner Familie in Schottland aufgewachsen; gegen Ende des Ersten Weltkrieges wurde er eingezogen, und als der Krieg vorüber war, konnte er dem Landleben nichts mehr abgewinnen.
So war er nach Afrika gegangen und hatte dort ein Jahr lang eine Farm betrieben, bis sein Vater krank und zu alt geworden war, um das Familiengut alleine zu verwalten.
Nach England zurückgekehrt, fand Jim kaum mehr Gelegenheit, ins Ausland zu gehen, wenn er auch hin und wieder die ganze Welt bereiste. Er hasste es, nichts Richtiges zu tun zu haben, und so hatte er sich dem Automobilbau zugewandt und war mittlerweile Direktor einer der größten Firmen des Landes. Doch trotz all seiner Erfahrungen war er noch immer jung und genoss das Leben in vollen Zügen.
Was Frauen anbelangte, war er sehr verwöhnt, denn er sah einfach zu gut aus, als dass sie ihm nicht nachgelaufen wären. Sie waren so hinter ihm her gewesen, dass er am Ende glaubte, die Frauen seien nur zu seinem Vergnügen erschaffen worden.
Anders als die vielen Männer, die Fiona bei Paglioni’s getroffen hatte, machte Jim ihr nicht die üblichen Komplimente und versuchte in keiner Weise mit ihr zu flirten. Aber sie wäre keine Frau gewesen, wenn sie nicht gespürt hatte, dass sie Eindruck auf ihn machte.
Als sie in ihrem kleinen Zimmer stand und sich für den Abend zurechtmachte, wanderten ihre Gedanken immer wieder zu Jim. Wie faszinierend er war! Sie war beinahe fertig angezogen, als ihr plötzlich einfiel, dass sie wieder mit Lord Winthrop zu Abend essen musste. Sie schauderte. Ihr erster gemeinsamer Abend war zwar ohne Zwischenfälle verlaufen, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass er auf eine unangenehme Art gefährlich für sie sei.
Bei ihrem ersten gemeinsamen Abendessen hatten sie sich recht angenehm unterhalten, aber er hatte immer wieder versucht, ihr Knie unter dem Tisch zu berühren oder ihre Hand zu halten. Zum Schluss hatte er ihr angeboten, sie nach Hause zu fahren, aber sie hatte geistesgegenwärtig eine Ausrede erfunden. Sie hätte einer Freundin versprochen, sich mit ihr zu treffen, erklärte sie - sie habe ja nicht wissen können, dass er ihr ein so entgegenkommendes Angebot machen wurde.
»Aber das nächste Mal musst du annehmen«, drängte er, und ihr blieb nichts anderes übrig als einzuwilligen.
Lord Winthrop stellte ihr eine Unmenge Fragen über ihr Leben, aber sie gab ihm nur ausweichende Antworten. Sie spürte kein Verlangen, mit diesem alten Lebemann über sich, ihre Neigungen und Gefühle zu sprechen.
Mittlerweile wusste sie von Clare eine ganze Menge über ihn.
Er besaß sehr viel Geld, das sein Großvater im Brauereiwesen verdient hatte.
Er hatte keinen Sohn, lediglich zwei verheiratete Töchter und eine Ehefrau, die sich die meiste Zeit in Paris aufhielt und sich mit Männern abgab, die ihre Söhne hätten sein können.
Lord Winthrop war ein einsamer Mensch, aber er war nie lange ohne irgendeine Art von Mätresse. Dabei blieb er immer seinem Typ treu: Er machte sich nur etwas aus Blondinen.
»Ich bin völlig sicher vor ihm«, meinte Clare. »Leider! Ich hätte nichts dagegen, mit dem alten Knaben eine Weile herumzuziehen. Früher einmal hat er einer von uns über hundert Pfund Bares und einen fantastischen Pelzmantel geschenkt!«
»Ich will so etwas nicht«, sagte Fiona mit einem Schaudern, aber Clare lachte sie nur aus.
»Sei nicht dumm«, wandte sie ein. »Früher oder später musst du in den sauren Apfel beißen - warum also nicht mit jemandem, der Geld hat!«
»Vielleicht erwartet er das gar nicht von mir«, meinte Fiona. Doch Clare lachte nur, und Fiona wusste, dass ihre Hoffnung auf Sand gebaut war.
»Zumindest könnte ich ihn hinhalten«, überlegte sie, »wenn mir nur eine gute Ausrede einfällt, damit er mich nicht nach Hause begleitet.«
Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, eine strenge und fürsorgliche Mutter zu erfinden, aber sie war sicher, dass er ihr keinen Glauben schenken würde.
Sie war den Tag über mit Jim so glücklich gewesen, dass sie dieses Damoklesschwert völlig vergessen hatte. Doch nun, als sie sich für den Abend fertig machte, kehrte die Erinnerung an Lord Winthrop drohender zurück.
Sie konnte es sich nicht leisten, ein hässliches Kleid anzuziehen oder sich schlecht zu schminken - sie wusste, dass Paglioni sie mit Argusaugen überwachen würde. Erst kürzlich hatte sie eine Rüge erhalten, weil sie die Einladung eines älteren Herren zu Champagner ausgeschlagen hatte. Sie war müde gewesen und hatte Kopfschmerzen gehabt, und von Champagner wäre alles nur noch schlimmer geworden. Stattdessen hatte sie Brandy mit Soda bestellt. Ihr Begleiter begnügte sich deshalb mit einer halben Flasche Champagner, und Paglioni bekam es mit.
Am nächsten Abend rief er Fiona zu sich ins Geschäftszimmer.
»Was der Gast bestellt, das trinkst du, und zwar gefälligst Champagner, wenn möglich. Lass dir das ein für alle Mal gesagt sein!«
Fiona verstand diese deutliche Warnung und war froh, nur mit einer Strafpredigt davongekommen zu sein.
Als sie auf die Straße trat, regnete es.
Wenn sie etwas fürchtete, dann Regen; er ruinierte ihre Frisur, und wenn sie nicht aufpasste, kam sie mit einem zerknitterten und beschmutzten Kleid zu Paglioni’s.
Glücklicherweise erwischte sie einen Bus, ohne lange warten zu müssen. Sie trug ihre Abendschuhe in einem Päckchen unter dem Arm, doch als sie nach dem Fahrgeld suchte, fiel es ihr herunter, und die Schuhe purzelten heraus.
Ein Mann, der ihr gegenübersaß, hob sie auf und reichte sie ihr.
»Vielen Dank«, sagte sie.
Der Mann war jung, vielleicht achtundzwanzig oder neunundzwanzig Jahre, sehr schlicht aber ansprechend gekleidet und mit einem ausgesprochen gewinnenden Lächeln.
Zu ihrem Leidwesen stellte sie fest, dass sie nur eine Zehn- Schilling-Note bei sich hatte. Sie hatte es versäumt, sich Wechselgeld zu besorgen. Der Schaffner schüttelte missbilligend den Kopf.
»Lassen Sie mich aushelfen«, sagte der junge Mann und reichte dem Schaffner ein Zwei-Pence-Stück.
»Aber das möchte ich nicht annehmen... Können Sie mir vielleicht zehn Schilling wechseln?« erkundigte sich Fiona.
Der Fremde stand auf und setzte sich neben sie.
»Ich fürchte, nein«, entgegnete er seelenruhig.
Der Schaffner hatte das Geld längst eingesteckt, die Fahrkarte gelocht und war weitergegangen.
»Es ist wirklich schrecklich nett von Ihnen, aber wie soll ich es Ihnen zurückgeben?« fragte Fiona.
»Überhaupt nicht«, antwortete er. »Sie können doch wohl schlecht eineinhalb Pennies für eine Briefmarke ausgeben, nur um es mir zurückzuschicken!«
Sie mussten beide lachen.
»Ich habe Sie schon oft in dem Bus gesehen«, fuhr er fort.
»Das stimmt, ich fahre meist um diese Zeit«, entgegnete Fiona.