Tausendmal so viel Geld wie jetzt - Juan S. Guse - E-Book

Tausendmal so viel Geld wie jetzt E-Book

Juan S. Guse

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Beschreibung

Das neue Buch von Juan S. Guse Reichtum, Tränen, Utopien: Vier Männer und ihre Kryptowährungen Der eine hat Geographie studiert und arbeitet für Mindestlohn als Friedhofsgärtner in Dortmund, verfügt aber über digitale Assets im Wert von 20 Millionen Euro. Der andere fährt noch seinen verbeulten Saab-Kombi durch die Gegend, obwohl er sich bald im Neunstelligen sieht.  Juan S. Guse hat sich ein Jahr lang mit normalen Männern getroffen, die mit Kryptowährungen reich geworden sind. Keine Developer, keine Hedgefondsmanager, keine Krypto-Influencer, sondern einfach Typen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. »Tausendmal so viel Geld wie jetzt« handelt von ihnen und davon, was ein solcher Klassensprung mit ihnen gemacht hat, was sie an den Versprechungen dieser Technologie angezogen hat, warum es immer Männer sind, wie der Wunsch nach schnellem Geld zu einer Gesellschaft im Krisenmodus passt, warum sich manche Hunde das Leben nehmen und wie sich Guse die 2000 Euro zurückholen will, die er selbst mit Krypto verloren hat.

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Seitenzahl: 160

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Juan S. Guse

Tausendmal so viel Geld wie jetzt

 

 

Über dieses Buch

 

 

Juan S. Guse hat sich ein Jahr lang mit normalen Männern getroffen, die mit Kryptowährungen reich geworden sind. Keine Developer, keine Hedgefondsmanager, keine Krypto-Influencer, sondern einfach Typen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. »Tausendmal so viel Geld wie jetzt« handelt von ihnen und davon, was ein solcher Klassensprung mit ihnen gemacht hat, was sie an den Versprechungen dieser Technologie angezogen hat, warum es immer Männer sind, wie der Wunsch nach schnellem Geld zu einer Gesellschaft im Krisenmodus passt, warum sich manche Hunde das Leben nehmen und wie sich Guse die 2000 Euro zurückholen will, die er selbst mit Krypto verloren hat.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Juan S. Guse, geboren 1989, ist Soziologe und Autor. Seine Romane »Lärm und Wälder« (2015) und »Miami Punk« (2019) erschienen bei S. FISCHER. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem KELAG-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2022. Er unterrichtet an der Kunsthochschule für Medien in Köln.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Für diese Ausgabe:

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH,

Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: KOSMOS – Büro für visuelle Kommunikation

ISBN 978-3-10-491981-2

 

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

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Warum sollte es nützlicher sein, von Prinzessinnen zu träumen als von der Tür im Büro?

Fernando Pessoa

Ich könnte diesen Friedhof kaufen

Basti zog eine leere Schubkarre hinter sich her. Es war nicht Nacht, nicht beengt oder kalt, sondern hell, weitläufig und heiß auf einer Ruhestätte am äußersten Rand Dortmunds, ohne hochwachsende Laubbäume, ohne Schatten, ohne ernstzunehmende Wolken. Grün waren hier nur die Eiben zwischen den Schotterwegen, grün war der Kriechwacholder, grün waren die Bodendecker über dieser Erde, in der seit zweihundert Jahren Menschen vergraben wurden.

Basti trug die Kappe eines namhaften Bundesligavereins. Er trug sie rückwärts, um seinen Nacken vor der Sonne zu schützen. Ringsherum ragten seine verschwitzten, lockigen Haare raus. Ein schöner Mann, der eine verbeulte Schubkarre hinter sich herzog, obwohl das doch viel umständlicher war als Schieben. Viel zu tun an diesem Tag. Basti lief zu einem Metallschuppen im hinterletzten Eck des Friedhofs, wo Werkzeug, Saatgut und andere Mittel zur Steuerung der Pflanzenwelt lagerten. Er schloss den Schuppen auf, ging rein und sah sich ratlos um. Wo anfangen? Was benutzen? Wo endet unser Planet? Einen Plastikeimer, einen Rechen und eine Astsäge mit Teleskopstab von Gardena, das nahm er sich, und in der Ferne hörte man ein markerschütterndes Grollen.

»Erdrutsch der Gießkannen«, meinte er. »Zeig ich dir nachher.«

Kurz darauf tauchte sein Chef auf. Er hatte einen grauen Zopf, ein gelbes Poloshirt von Trigema und strahlte das Wort Muldenkipper aus. Es war unklar, wo genau dieser Mann arbeitete. Ein Büro gab es jedenfalls nicht, und doch war er irgendwie ständig da, konnte aus dem Nichts hinter einem spawnen, wenn man gerade nicht hinsah. Er stellte sich in die Tür des Schuppens und fing an, auf Basti einzureden, der noch irgendetwas in den Regalen suchte. Der Mann mit Zopf wollte Dampf ablassen. Über die Hinterbliebenen, über deren Geschmack, über die Preise in den Baumärkten, über den ausbleibenden Regen, über den Staat. In einer Tour ging das so, dabei wollte Basti doch nur in Ruhe ein bisschen Kraut jäten, ein paar Hecken zurückschneiden, saure Nadeln zusammenkehren, sich die Hände dreckig machen. Dafür war er doch gekommen. Um nicht wieder den ganzen Tag vor dem Computer zu sitzen und sich vor Anspannung seine Backenzähne so abzureiben, dass sie als weißer Staub zu einer klebrigen Masse verklumpen. Dafür war er doch da. Damit er diese unerträglichen Kopfschmerzen los wurde und sich nachts im Bett nicht mehr so miserabel fühlte, weil er schon wieder jede freie Minute damit verbracht hatte, Tabellen anzustarren, Charts zu vergleichen und dann Entscheidungen zu treffen, Tausende kleine Entscheidungen, die getroffen werden konnten, die ganze Zeit. Er wollte doch einfach nur ein bisschen Gartenarbeit erledigen, hier auf dem Friedhof, sich müde machen zwischen Gräbern, leicht gebückt eine Weile den Boden anschauen. Touch Grass für 10,50 EUR/h, zweimal die Woche.

Seit einem halben Jahr arbeitete Basti an diesem Ort. Studiert hatte er ursprünglich Geo- und Erziehungswissenschaften, danach war er für ein paar Jahre Sozialarbeiter für Menschen mit Behinderung. Dass er auf dem Friedhof freiwillig seine Zeit verbrachte, obwohl er im Hintergrund und ohne sein Zutun 30000 Euro am Tag verdiente, hing mit seiner unermesslichen Liebe für Pflanzen zusammen. Im Grunde hing beides damit zusammen: Das viele Geld und der Friedhof. So fing es nämlich an, mit seinen verbotenen Pflanzen, die er im Verborgenen großzog. Die ersten versteckte er 2014 zwischen Büschen eines Dortmunder Parks, nicht weit von den Fußgängerwegen entfernt. In den Jahren darauf wurde er vorsichtiger und wich in die regionale Peripherie aus. Vor allem jedoch wurde er mit jeder Saison besser und seine Anbaufelder üppiger. Bei Hornbach hatte er schon bald eine ProjektWelt-Kundenkarte, und mit der Fläche seiner Felder wuchs auch deren Ertrag. In seinem letzten Anbaujahr brachte er über vier Kilo Trockenmasse an Marihuana auf die Waage, etwa 40 k wert.

Sein größtes Problem war damals, dass die Sommer immer trockener wurden und er in den heißen Monaten seine Pflanzen händisch mit Wasser versorgen musste. Jeden Vormittag lud er seinen roten Seat Ibiza (2002) bis unters Dach mit Wasserkanistern voll, komplett durchgefedert von der Last, und fuhr von Versteck zu Versteck, wo er die Kanister teils kilometerweit buckeln musste, weil die Pflanzen nur fußläufig zu erreichen waren. Am Ende eines Sommers waren das Auto und er jedes Mal ein bisschen kaputter.

Trotzdem hatte er es geliebt und würde er es noch heute tun, nicht wegen des Geldes, das er mit dem Verkauf erwirtschaftet hatte, sondern wegen des Tuns an sich, wegen der botanischen Praxis und des erfüllenden Gefühls, sein eigenes Erzeugnis zu konsumieren. Der Friedhof und seine verkrüppelten Nachtschattengewächse waren für dieses Glück kein hinreichender Ersatz. Er vermisste seine Pflanzen, über die er so viel wusste, wie man sie düngt, wie man sie schützt, wie man sie kreuzt. Aber diese Liebe wurde 2018 abrupt durch seine Angst davor erstickt, was passieren würde, wenn man ihn bei diesem No-No erwischen würde.

Es gibt diese eine Szene, sie spielt nachts, in der Basti in seiner Wohnung schläft und plötzlich aufschreckt, weil jemand im Hausflur schreit: »POLIZEI, SOFORT AUFMACHEN«. Dieser Szene geht wiederum eine andere Szene voraus, ebenfalls bei Nacht. Nur wenige Tage zuvor war Bastis Bruder in Bamberg von der Polizei angehalten worden, komplett high hinterm Steuer. Die Beamtinnen baten ihn, aus dem Auto zu steigen und einen Urintest zu machen, woraufhin er ruhigen Schrittes und mit Teststreifen in der Hand ins Gebüsch ging, seine Beine auseinanderstellte, die Gürtelschnalle löste und dann – einfach wegrannte. Rein in den Wald, gogogo, alles zurücklassend, seine Brieftasche, sein Telefon und den großen Haufen an Metall und Kunststoff, der auf seinen Namen zugelassen war. Einfach weg, zwischen den Bäumen hindurch, high und voller Angst, bis er irgendwann wieder aus dem Wald auf einem Feld rauskam, von wo aus er sich orientieren konnte und zu Bekannten lief, um seinen Bruder anzurufen und ihn zu fragen, was zur Hölle er jetzt machen soll. Und dann gibt es also diese zweite Szene in Dortmund, auch bei Nacht, in der Unbekannte im Hausflur stehen und schreien: »SOFORT AUFMACHEN, SONST MACHEN WIR AUF!« Und Basti kriegt Panik, denkt an seinen Bruder, springt aus dem Bett, schnappt sich alles an Gras und Bargeld, das er in seiner Zweizimmerwohnung finden kann, steckt sie in einen Wanderrucksack und eine Ikea-Tasche und flüchtet über den Balkon.

Die darauffolgenden Tage verbrachte er bei einer Freundin. Er traute sich nicht zurück in seine Wohnung, nicht mal in den Supermarkt wollte er, wegen der Kameras und Streifenwagen. Auf der Arbeit meldete er sich krank, sein Handy zerstörte er und vergrub es unter einer Hortensie. Er konnte kaum schlafen, und ihm wurde bei allem schlecht, was mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Dreimal schaute er Der Herr der Ringe: Extended Edition Trilogie auf Blu-ray. Erst nach einer Woche, in der er nichts von der Polizei gehört hatte, wagte er sich zurück in seine Wohnung. Wie in Trance schloss er die Haustür auf, ging das Treppenhaus hoch, mit der unerträglichen Gewissheit von dem, was ihn da oben erwartete. Als er an der Wohnungstür ankam, stellte er jedoch fest, dass sie noch abgeschlossen war, ohne Spuren der Gewalt. Das Schloss war dasselbe, der Schlüssel rastete ein, seine Hände waren die seinen. Wo endet unser Planet? Vorsichtig betrat er die Wohnung. Das Licht im Flur brannte, und er sagte: »Hallo«. Alles fühlte sich merkwürdig vertraut und zugleich gefährlich an, wie in einem wiederkehrenden Albtraum, bei dem man weiß, dass gleich etwas Furchtbares passieren wird. Aber dann passierte nichts, dann war alles wie immer, und er realisierte, dass seine Wohnung genau so geblieben war, wie er sie hinterlassen hatte. Dieselben Atome, derselbe Geruch. Selbst die Balkontür war noch offen und das Laminat davor aufgequollen, weil es in der Woche stark geregnet hatte. Ansonsten war aber alles in Ordnung. Keine Absperrbänder, keine behördlichen Zettel am Kühlschrank, nur ein paar vergorene Bananen auf der Anrichte. »Alles gut«, sagte sich Basti und sackte beim Abfall des Adrenalins auf seiner roten Kunstledercouch zusammen und schlief ein. Am Tag danach erzählte ihm eine Nachbarin, dass die Polizei beim Typen über ihm eingedrungen sei, wegen Verdacht auf Drogenhandel, dass sie dessen Tür eingeschlagen hätten, vor den Augen seiner kleinen Tochter, ein einziger Horror, die Schreie des Mädchens, die Männer mit Helmen.

»Und obwohl mir ja nichts passiert ist, hatte ich danach das sehr reale Gefühl, entkommen zu sein, im letzten Moment nicht vom Zug überrollt worden zu sein. Verstehst du? Ab da war für mich eigentlich Ende. Weil diese Panik, ich weiß nicht, ob du schon mal eine Panikattacke hattest, wegen zu viel THC oder was. Ah, dann weißt du ja ungefähr, was ich meine, also das war so real, ich kann’s gar nicht anders beschreiben als real, dieser Terror in meinem Gehirn, dass mir klarwurde: Die Pflanzen müssen weg, die müssen verdorren oder vergammeln, egal. Und vor allem musste ich ja das ganze Bargeld loswerden, pronto.«

Circa 20000 EUR hatte Basti noch rumliegen, die er nicht ohne weiteres bei der Sparkasse einzahlen konnte. Glücklicherweise hatte er einige Monate zuvor angefangen, für sich selbst chemische Drogen im Darknet zu bestellen, und wusste, dass man dafür Bitcoins brauchte, deren Besitzverhältnisse nicht nachvollziehbar seien und mit denen man wohl außerdem noch andere Sachen machen könne. Es war ihm letztlich aber auch egal, alles war besser als diese vielen kleinen bis mittleren Euroscheine, die wie ein tonnenschweres Gewicht auf seiner Brust lagen. Also stieg er eines Morgens in den blauen VW Golf VI (2009) seiner Mutter und fuhr mit einem Rucksack voller Bargeld von Dortmund auf die Autobahn und von da weiter bis nach Belgien, um sich hinter der Grenze an einem Bitcoin-Automaten die ganze Kohle auf seine Krypto-Wallet zu schicken.

»Und so fing das an. Ich wusste ja gar nicht, was das sein soll, eine Blockchain. Ich hab das, wie gesagt, bis dahin nur genutzt, um Drogen zu kaufen. Für mich war das alles ein Brei an Wörtern des Darknets, und Bitcoin gehörte halt auch dazu, bis ich realisiert habe: Ah krass, der Preis liegt ja jetzt bei 1000 Dollar. Davor waren es 200. Aha, aha. Also, ich sag dir jetzt irgendwelche Zahlen, aber so ungefähr. Und in der Zeit kam eine Freundin zu mir, die noch früher als ich in der Szene war, und meinte: ›Hast du schon von Ethereum gehört?‹ Und ich so: ›Ne, keine Ahnung.‹ Hab mir das dann mal in Ruhe angeguckt und gedacht: Aha, aha. Zwei Tagen später noch mal nachgeschaut, und da war Ether schon vierzig Prozent teurer. Daraufhin hab ich all meine Bitcoins da reingesteckt, obwohl ich ja wirklich nicht verstanden hatte, was das ist, aber mit dem Geld hätte ich eh nichts anfangen können, so viele Drogen hätte ich gar nicht nehmen können.«

Mühselig, sich zu fragen, ob Basti ein prototypischer Krypto-Millionär ist. Er hat keinen Developer-Hintergrund, keinen MBA, er hat nie in Frankfurt gearbeitet, hat nie getradet, er kommt nicht aus dem Online-Poker, ist kein misogynes Schwein, war nie Mitglied einer kriminellen Organisation. Ein Mann ist er, das schon. Ein U40-Mann im Westen. Aber jenseits von Geschlecht und Alter sind Basti und die anderen, von denen dieses Buch handelt, nicht repräsentativ für irgendwas. Wer sollte das auch sein? Wohl aber sind es Fälle wie seiner, die mich am meisten interessiert haben: Gewöhnliche Menschen, die aufgrund eines Gemischs aus Zufall, überschüssigem Geld und Glauben an diese eine sehr spezifische Technologie über Nacht einen Klassensprung erlebt haben, der ihr Verhältnis zur Welt für immer verändert hat.

Und dazu gehörte auch dieser Fichtenast. Der sollte nämlich ab. Dieser Ast einer alten Fichte, der auf knapp zweieinhalb Metern Höhe über einem der Schotterwege hing, der musste weg, denn von da oben kackte ein Tier runter, und zwar immer auf dieselbe Stelle, mitten auf den Friedhofsweg. Es war unklar, von wem die schwarz-roten Kotkugeln stammten, wahrscheinlich einem Vogel, der die Früchte der Eiben aß. Bastis Chef bestand auf jeden Fall darauf, dass Ast und Haufen verschwanden, egal, ob das Tier dann morgen vom nächstbesten Baum schiss. Die Fichte könne eh etwas Pflege vertragen, meinte Basti und machte sich an die Arbeit, mit seiner Astsäge mit Teleskopstab von Gardena, RatschRatsch. Auch diese Szene gehört dazu: Wie dieser Mann, den ich erst seit ein paar Tagen kannte und der mir im Laufe der nächsten Monate sein halbes Leben erzählen würde, wie er vor mir stand und an diesem trockenen Ast rumjuckelte, weil es ihm ein älterer Mann befohlen hatte, obwohl doch er, der Mann mit der Säge, in den letzten 48 Stunden mehr Geld gemacht hatte als der Muldenkipper-Mann in einem Jahr Lohnarbeit.

Bastis Kapitalanhäufung durchlief zwei Eskalationsstufen. Anfangs war seine Krypto-Praxis noch von Leichtigkeit geprägt. Das Kaufen und Verkaufen von Tokens, das Vergleichen von Kursen, das Konsumieren von Memes auf Twitter, alles war Fun & Good Vibes. Er schlief gut, war konzentriert auf der Arbeit, überhaupt hat er stets weitergearbeitet, kein Problem, und nach Feierabend setzte er sich dann an den Laptop, um nachzusehen, wie sich die Dinge im Laufe des Tages entwickelt hatten, so wie andere sich nach einem langen Tag danach sehnen, endlich Baldur’s Gate 3weiterzuspielen. In diesen ersten unschuldigen Jahren war Krypto für ihn nur eine Sache unter vielen. Mal gewann er, mal verlor er Geld, mal fing er ein neues ballbasiertes Hobby an, mal besuchte er seinen Vater in Israel, mal verliebte er sich unglücklich in seine Hautärztin. Dass sein Hirn noch nicht restlos von abseitigen Protokollen belagert war, lag nicht nur daran, dass er bis 2019 noch vergleichsweise überschaubare Summen bewegte, sondern vor allem daran, dass man bis dato nur wenig »Interessantes« tun konnte.

»Ich meine, was hab ich anfangs schon gemacht? Ein paar Token gekauft und gewartet. Mehr gab es nicht. Keine On-Chain-Swaps, keine Stakes, nichts, was mich irgendwie gebockt hätte. Das kam alles erst so 2020, wenn ich mich richtig erinnere. Da knallte dann natürlich auch voll die Pandemie rein, damit hängt ja auch vieles zusammen in Krypto, vor allem der Bullrun von 20/21, weil plötzlich so unfassbar viel Geld aus dem Mainstream reinfloss, von irgendwelchen Leuten, die gelangweilt zu Hause hockten und Kohle übrig hatten oder Angst vor Inflation, und auf einmal stiegen alle Boote. Bist du nicht auch in der Zeit eingestiegen? Jedenfalls ging das Ganze erst ab dem Moment für mich wirklich voran, also mit dem On-Chain-Traden, mit dem Einschließen von Ether, mit Collateral, mit dem ganzen guten, guten Zeug.«

Vor Basti öffnete sich ein Hasenbau, von dem er nicht wusste, wie tief er reichen würde. Mehr von allem. Mehr Projekte, mehr Versprechungen, mehr Launches und Drops, mehr witzige Namen, mehr Erzählungen über die Zukunft. Immer tiefer robbte er sich rein und hörte schon bald auf, Handelsbörsen wie Binance oder Kraken zu nutzen, um alles selbst in der Hand zu haben. So macht man das nämlich, so signalisiert man sich und den anderen, dass man es ernst meint und sich der Sache auch ideell verschreibt. Denn diese Börsen, die als zentralisierte Umschlagplätze für Transaktionen fungieren, stünden dem grundlegenden Krypto-Ethos diametral gegenüber, weil man denen das Recht übertrage, mit den eigenen Assets zu handeln, und das sei nicht cool und schlicht unvernünftig, erklärte mir Basti, während er die klebrige Paste aus Vogelscheiße und Eibenbeeren aufs Alublech schob. Not your keys, not your coins, noch so eins der vielen Mantras. Selbst solle man doch bitte die eigenen Assets verwalten und nicht irgendwelchen Dritten überlassen, schließlich wolle man mit Krypto ja nicht das alte Modell der Banken und Broker reproduzieren, sondern das Finanzsystem von Grund auf dezentralisieren, unnötige Zwischenmänner loswerden und Marktzugänge demokratisieren.

Jeder und jede solle zum Mond fliegen können. Ohne Kontakte und Insiderwissen, ohne MBA, ohne teure Infrastruktur. Einfach chillig von zu Hause auf Preissteigerung niederschwelliger Assets spekulieren, um auf Kosten anderer Gewinne abzuschöpfen. Dieser kleinanlegerischen Logik nach wäre Krypto nicht wirklich anders als Meme-Aktien, teure Uhren, seltene Lego-Sets oder Magic-Karten. Der Unterschied ist, dass all diese Wertanlagen nicht an utopische Visionen von Gesellschaft gekoppelt werden. Niemand, der sich zehn originalverpackte Lego-TIE-Fighter-Helmets (2018) auf den Dachboden stellt, möchte grundsätzlich etwas an der Art und Weise ändern, wie die Welt funktioniert. Niemand, der ein First-Edition-Charizard (PSA-Grade 9) luftdicht verpackt, will ins Wesen unserer Wirtschaft eingreifen. Im Gegenteil steckt hinter diesem wortwörtlich konservierenden Handeln die Überzeugung, dass die Dinge weitergehen sollen und werden wie bisher. Krypto ist in dieser Hinsicht anders gelagert, da es fast immer mit ideologischem Vorzeichen erzählt wird, als gesellschaftliche Disruption und Bruch mit dem Stand der Dinge. Mit Bourdieu würde man sagen: Die Annahme, dass es bei Krypto um technoökonomische Veränderungen im Dienst des Gemeinwohls geht, ist die Illusio des Feldes. Wie genau diese Veränderungen aussehen, kommt sehr darauf an, wen man danach fragt, aber nicht wenige greifen gerne ins höchste normative Regal, wie der High Priest of Bitcoin, Max Keiser, wenn er sagt, dass Bitcoin perfektes Geld sei, mit dem wir die gesamte Menschheit neu starten würden.

Von den zahlreichen, wechselhaften Utopien, die in Krypto zirkulieren, schien eine Basti besonders wichtig: Finance for everyone, banking the unbanked