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Vom Zauber des Zufalls – und den wahren Genüssen im Leben Als Kate sich entgegen ihrer Überzeugung zu einer Führung durch Windsor Castle überreden lässt, verläuft sie sich im Labyrinth der Flure des Schlosses. Welch Glück, dass sie in der Küche auf eine liebenswerte alte Dame namens Betty trifft, die sich erstaunlich gut im Schloss auskennt – und ihr in royalem Porzellan einen gepflegten Beuteltee serviert. Einen Tag und eine Nacht lang werden Kate und Betty zu Freundinnen, die die Welt durch die Augen der jeweils anderen neu entdecken und gemeinsam herausfinden, was im Leben wirklich zählt. »Wir haben es immer gewusst: Sie war nie wirklich weg!«The Times Ausgezeichnet mit dem Royal Teabag-Award 2024
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Seitenzahl: 147
Veröffentlichungsjahr: 2024
Claire Parker
Roman
»Das Leben ist schön! Nur wir machen es kompliziert.«
Natürlich hatte der Zug Verspätung. Was konnte man anderes von der British Rail erwarten? Es war ohnehin eine vollkommen bescheuerte Idee gewesen, sich von Zaira überreden zu lassen, Windsor Castle zu besuchen. Vermutlich würden sie nun nicht mehr eingelassen oder mussten neue Tickets kaufen, weil die alten nicht mehr gültig waren. Im Grunde war es ja ein Skandal, dass die Aristokraten, die sich sowieso schon vom Volk durchfüttern ließen, achtunddreißig Pfund für eine Eintrittskarte verlangten, damit man die Pracht bewundern durfte, in der sie lebten.
Aber gut, Zaira war da irgendwie weird, vielleicht weil sie noch nicht so lange in UK lebte. Sie bewunderte den ganzen royalen Tamtam und hätte William vom Fleck weg geheiratet, wenn er nicht schon verheiratet gewesen wäre.
»Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht«, sagte Kate. Vermutlich sagte sie es eher zu sich selbst als zu ihrer Freundin.
Doch die antwortete: »Ganz bestimmt nicht. Enttäuscht bin ich bloß, wenn wir nicht reinkommen.«
»Wir werden reinkommen, glaub mir. Du musst nur genügend Geld auf den Tisch legen.«
Zaira seufzte. »Dir geht’s immer nur ums Geld«, sagte sie.
»Mir? Denen geht’s immer nur ums Geld! Guck sie dir doch an mit ihren Bentleys …«
»Rolls-Royces!«
»… ihren Diamanten …«
»Brillanten!«
»… ihren Samtkleidern!«
»Seidenkleidern«, schwärmte Zaira.
Zaira war nicht zu helfen.
Tatsächlich war Kate nicht einmal traurig, dass sie so viel zu spät in dem Kaff in Südengland ankamen. Je kürzer der Aufenthalt, desto besser. Sie war entschlossen, sich nicht von dem ganzen königlichen Kitsch beeindrucken zu lassen. Allein der Gedanke, dass sie als Frau im 21. Jahrhundert immer noch »Untertanin« war, war ihr zuwider. Die wussten hier doch gar nicht, wie das echte Leben aussah. Denn das echte Leben war nun einmal beschissen. Man schlug sich durch und kam ja doch zu nichts. Der Staat kümmerte sich nicht, die Chefs nutzten einen nur aus, und der König ging zum Pferderennen, während den meisten Menschen das nötige Geld zum Leben fehlte. Nein, die hatten hier doch von nichts eine Ahnung. Falls ihr »Seine Majestät« zufällig über den Weg lief, würde sie ihm mal ordentlich ihre Meinung geigen, so viel stand fest.
Als der Zug in der Station Windsor & Eton Central einfuhr, erblickte sie den Turm des Schlosses. Und darauf die Fahne mit dem königlichen Wappen. Sie musste grinsen: Er war also zu Hause.
Wer es nicht gewohnt ist, seinen Alltag in einem Haus mit eintausendeinhundert Zimmern zu verbringen, dem kann man schwerlich verübeln, wenn er an einem solchen Ort den Überblick verliert – zumal wenn ein dringendes Bedürfnis dafür sorgt, dass man vor allem schnell gewisse Örtlichkeiten sucht. So wie Kate Bulloch, die nicht damit gerechnet hatte, dass die Führung durch Windsor Castle so lange dauern würde.
Die Leiterin der Gruppe holte gerade Luft, um ihren Vortrag über die Sammlung an da Vincis fortzusetzen, die die englische Krone ihr Eigen nennt, und Kate war in der Tat überwältigt. Allerdings weniger aus kunstgeschichtlichen Gründen, sondern vielmehr aus physiologischen. »Ehe wir in den Ostflügel gehen«, sagte die Museumsführerin, »gibt es Fragen?«
Ja! Gab es. Doch leider stand Kate zu weit hinten, um sich bemerkbar zu machen. Es wäre ihr auch peinlich gewesen – hier wurde gewiss kein »Wo sind bitte die Toiletten?« erwartet, sondern eher etwas wie: »Und in welcher Phase seines Schaffens hat Leonardo diese Skizzen entworfen?«
Zu den Vorteilen einer nicht ganz so vornehmen Abstammung gehört es, dass man früh lernt, sich unauffällig zu verdrücken. Und genau das tat Kate Bulloch, als die Gruppe sich auf zum nächsten Saal machte, staunend und raunend über all den Prunk, der sie umgab, und über den Atem der Geschichte, der sie hier umwehte. Denn das tat er! Windsor Castle ging immerhin zurück auf die Zeit von Wilhelm dem Eroberer, gewissermaßen dem Stammvater der heutigen Briten.
Während die Besichtigung mit dem berühmten Crimson Drawing Room weiterging, sah Kate sich unauffällig um. Ihre Freundin Zaira war irgendwo in der Gruppe verschwunden. Ein paar Schritte entfernt stand ein Aufseher, der verstohlen auf seinem Smartphone tippte. Eben noch hatte die Leiterin der Gruppe mit bedeutungsvoller Miene eine der »unsichtbaren Türen« für die Gäste geöffnet, von denen es angeblich Hunderte auf dem Schloss gab: schmale Durchlässe, die tapeziert oder getäfelt waren wie die Wand, in die sie hineingebaut worden waren, sodass man sie tatsächlich vollkommen übersah, wenn man nicht zufällig wusste, dass es sie gab. Nun, in diesem Fall war es nicht mehr zufällig, denn die Führerin hatte ihnen die Tür ja gezeigt … Der Aufseher wandte sich unter dem kritischen Blick der jungen Besucherin etwas von ihr ab, um weiter auf seinem Smartphone zu tippen. Und als er sich wieder zu ihr umdrehte, war sie verschwunden. Allerdings nicht im Tross der Gäste, sondern in der scharlachroten Seidentapete, mit der die Wände auf diesem Flur bespannt waren. Genauer gesagt: hinter der »unsichtbaren Tür«, die selbstverständlich für Fremde absolut tabu war!
So opulent die offiziellen Räumlichkeiten, die Zimmer und Flure, die Säle und Treppen in einem Anwesen wie Windsor Castle auch dekoriert sind, so schlicht, so nüchtern und trist sind die Gänge und Winkel, die Hauswirtschaftsräume und Vorratskammern, in denen sich die Bediensteten bewegen. Es war, dachte Kate, als lebten zwei Häuser unter einem Dach – ein prachtvolles, bewunderungswürdiges und ein armseliges, bedauernswertes. Was Kate in ihrer Notlage nicht das Geringste ausmachte. Sie hatte schon befürchtet, sie müsste sich zwecks Erledigung ihrer Angelegenheit auf des Königs vergoldetem Sitz niederlassen. Nun, sie würde etwas Reelleres vorfinden – wenn sie es denn fand.
Mit pochendem Herzen stahl sie sich einen engen Flur entlang, auf den nur von einem sehr entfernten schmalen Fenster trübes Licht hereinfiel. Eine Tür zur Linken war verschlossen, eine zur Rechten führte zu einer steilen Treppe. Lieber nicht, dachte Kate. Sie hatte schon so genügend Probleme, sich zu orientieren.
Ein Stück weiter zweigte der Flur ab und ließ eine ermutigende Anzahl von Türen erkennen, hinter denen womöglich das Gesuchte zu finden war. Allerdings führte die erste in eine Putzkammer, übervoll mit Eimern und Besen, Staubsaugern und Staubfeudeln. Die nächste Tür gab den Blick frei auf eine schmale Liege, auf der offenbar kürzlich noch jemand geruht hatte, ohne hinterher die Laken wieder straff zu ziehen. Auf dem Kopfkissen lag aufgeschlagen, mit dem Rücken nach oben, sodass mehrere Seiten geknickt waren, ein Buch. Ein Mann, dachte Kate unwillkürlich. Eine Frau, dachte sie, als sie den Titel las: Küsse im Herbst.
Die dritte Tür war verschlossen, die vierte öffnete sich zum Glück wieder, als Kate die Klinke herunterdrückte (alt, abgegriffen und definitiv nicht vergoldet). Die junge Frau atmete auf, als sie Kacheln erblickte. Sie keuchte, als sie den Rest sah: eine Küchenzeile, einen Tisch mit zwei Stühlen, Geschirr, eine Etagere mit Sandwiches. Und einen Hund.
Der Hund keuchte nicht. Er bellte. Nur ein Mal übrigens, aber das hatte es in sich.
Kate wollte die Tür schon wieder eilig zuziehen, da blickte von der anderen Seite jemand freundlich hervor und fragte: »Suchen Sie etwas?«
Gerne hätte Kate gesagt: die Toilette. Aber das fiel ihr in dem Moment nicht ein. Das heißt: Auch wenn es ihr eingefallen wäre, hätte sie es vermutlich nicht aussprechen können, so erschrocken war sie. Weshalb sie die nächste halbe Minute mit Erklärungsversuchen verbrachte wie: »Ich … äh … sorry … also …«
Die alte Dame, die den Hund übrigens mit einem Fingerschnipsen zum Schweigen gebracht hatte, lächelte freundlich und schlug vor: »Kommen Sie doch erst einmal herein.«
Was Kate dann auch tat. Schon weil sie inzwischen nicht mehr ganz sicher war, ob sie den Weg zurück jemals allein wiederfinden würde. »Eine Tasse Tee vielleicht?«, fragte die alte Dame und deutete auf einen offensichtlich selten gespülten Teepott, in dem schon das Sieb hing. Daneben dampfte ein Kessel auf einer Gasflamme.
»Das … das ist sehr freundlich«, erwiderte Kate. »Aber zuerst müsste ich … also, ich müsste mal …«
»Oh, aber natürlich! Gleich links die zweite Tür gegenüber«, erklärte die alte Dame. »An der Klinke hängt innen eine Schlaufe. Die können Sie über den Nagel an der Wand legen.« Ein verblüffend unbefangenes Lächeln: »Der Schlüssel existiert nämlich nicht mehr.«
»Verstehe«, schwindelte Kate und nickte. Dann beeilte sie sich, zum ersehnten Ort zu kommen, fand das Patent nützlich, wenn auch befremdlich, und erledigte, was die Natur ihr zu erledigen gebot. Entzückt nahm sie zur Kenntnis, dass es immerhin Seifen von Woods of Windsor an diesem Ort gab, wenn ihn auch sonst nichts mit der Pracht verband, die in den öffentlichen Räumlichkeiten des Schlosses herrschte.
Es wäre Kate Bulloch im Traum nicht eingefallen, die alte Dame noch länger zu belästigen. Allein, der Versuch, in eine andere Richtung zu flüchten, endete, wie es Menschen ohne Orientierung gelegentlich geschieht: Er führte Kate dorthin zurück, von wo sie gekommen war. »Ah!«, rief die alte Dame. »Da sind Sie ja wieder.« Der Hund bekräftigte die Feststellung mit einem beherzten Knurren.
»Tja«, erwiderte Kate. »Tut mir leid.«
»Das muss es nicht!«
»Die Wege hier sind aber auch unübersichtlich.«
»Ach.« Die alte Dame machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist der Eindruck, den man gewinnt, solange man noch denkt, man müsste alles entdecken und jeden Winkel erkunden.«
Kate lachte. »Da haben Sie vermutlich recht. Dabei …« Sie senkte die Stimme. »Dabei gehöre ich eigentlich gar nicht hierher, wissen Sie?«
»Tatsächlich?« Die alte Dame setzte die Brille auf, die sie an einem silbernen Kettchen um den Hals gehängt hatte. »In der Tat. Ich kann mich nicht erinnern, Sie hier schon einmal gesehen zu haben.«
»Na ja«, gab Kate zu bedenken. »Sie werden auch nicht jeden hier kennen, was? Hier arbeiten doch bestimmt ein paar hundert Leute.«
Nun war es die alte Dame, die lachte und den Zeigefinger hob. »Da haben Sie allerdings recht, Miss«, gab sie zu. »Und es wird auch nicht leichter mit dem Alter.«
»Ach, so alt sind Sie doch gar nicht«, schwindelte Kate, die die Lady auf mindestens achtzig Jahre schätzte und sich dabei überaus wohlwollend vorkam.
»Ich spreche auch nicht von mir«, erklärte die alte Dame und winkte sie unter dem kritischen Blick des Hundes herein. »Aber hier kann es schon mal vorkommen, dass man jemandem längere Zeit nicht begegnet, verstehen Sie?«
Kate nickte verwirrt.
»Und dann erkennt man manchen alten Zausel nicht wieder.«
Kate musste kichern. Die Alte gefiel ihr. »Und Sie?«, fragte sie frech. »Arbeiten Sie schon lange hier?«
»Ach, ich gehöre sozusagen zum Mobiliar«, erklärte die alte Dame. »Ich bin hier aufgewachsen.«
»Wirklich?«
»Mein Vater hat schon hier gearbeitet.«
»Ach. Das stelle ich mir aufregend vor«, sagte Kate zu ihrer eigenen Überraschung. »Dann haben Sie gewiss auch die Queen noch erlebt.«
Die alte Dame hob amüsiert die Augenbrauen. »Was denken Sie denn? Die hat schließlich auch zum Mobiliar gehört, nicht wahr? Nun? Wollen Sie mir bei einer Tasse Tee Gesellschaft leisten?« Sie deutete auf den Pott, aus dem sie das Sieb entfernt hatte und der nun auf einem Tablett stand mit zwei Tassen, gerade als hätte sie sich schon darauf eingestellt, ihren Tee in Gesellschaft zu trinken.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Kate. »Ich würde ja wirklich gerne, aber ich fürchte …« Sie blickte zur Tür.
»Sie fürchten, die lassen Sie nicht wieder raus?«
»Doch. Das schon. Aber ich könnte Ärger bekommen«, gab Kate zu bedenken.
Die alte Dame lachte auf. »Was, denken Sie, sollte passieren? Dass man Sie rauswirft?«
Das war sicher der naheliegendste Gedanke – und der am wenigsten erschreckende. Allerdings gehörte Kate Bulloch zu den Zeitgenossinnen, deren Ärger oft größer war als der, mit dem andere Leute sich herumschlagen mussten. Denn manche Menschen haben einfach das Pech, Ärger anzuziehen. »Hausfriedensbruch?«, murmelte sie. »Versuchter Diebstahl? So was?«
»Verstehe«, sagte die alte Dame nachdenklich, während sie das Tablett mit erstaunlicher Behändigkeit auf dem kleinen Tisch platzierte und auf einen der Stühle deutete. Kate setzte sich und stellte erstaunt fest, dass sie von ihrem Platz aus einen fabelhaften Blick auf den Park hatte, durch den sich eine geradezu endlos erscheinende Auffahrt als schimmerndes Band auf dem grünen Meer makellosen Rasens hinzog. »Hübsch, aber äußerst unpraktisch«, erklärte die alte Dame, die Kates Blick gefolgt war. »Ohne Pferd kaum zu bewältigen.«
»Sie reiten?«, fragte die Besucherin in anerkennendem Ton. Dass hier sogar die Dienstboten ritten, überraschte sie wirklich.
»Früher«, erwiderte die Gastgeberin vage und schenkte ihr Tee ein. Kräftigen Tee, die Tasse war fast schwarz.
»Hmmm«, machte Kate und beugte sich darüber. »Der duftet richtig gut.«
»Den gibt’s hier nur für die Dienstboten«, erklärte die alte Dame verschmitzt. »Die Herrschaften aus dem Ostflügel bekommen dergleichen nicht. Die müssen was Feineres trinken.« Sie zwinkerte der jungen Frau zu und goss sich selbst etwas ein. »Milch?«, fragte sie.
Kate schüttelte den Kopf.
»Braves Mädchen.« Die alte Dame kicherte. »Aber Zucker? Nein? Ich schon.« Sie kippte einen gut gehäuften Löffel in ihre Tasse. Und zwei weitere hinterher. »Dann erzählen Sie mal«, sagte sie.
»Was soll ich erzählen?« Irgendwie hatte Kate auf einmal das Gefühl, der Stuhl, auf dem sie saß, würde unvermittelt heiß. Als hätte man eine Herdplatte eingebaut. Wozu der lauernde Blick des Hundes, der sich zu ihren Füßen niedergelassen hatte, beitrug.
»Wer sind Sie? Wo kommen Sie her? Was machen Sie so?«
Die alte Dame erwies sich als gute Zuhörerin. Während sie an ihrem Tee nippte und den Blick nicht von ihrer jungen Besucherin wandte, lauschte sie den Erzählungen, die sie von einem Vorort von Glasgow zu einer Bar in den Docks, in einen Boxclub im East End und schließlich zu einem Club am Bahnhof führten. Kate war, wie man so sagt, einigermaßen herumgekommen. Was sie nicht war, war irgendwie nach oben gekommen. Wie auch? Sozialer Aufstieg sei in dieser Gesellschaft schlicht nicht vorgesehen, erklärte sie der alten Dame. Das Vereinigte Königreich sei schließlich eine Klassengesellschaft. Und da hätte ein fucking Underdog gefälligst unten zu bleiben.
Kate wunderte sich einmal mehr, dass sie sich von Zaira zu dem Ausflug nach Berkshire hatte überreden lassen. Ein Schloss zu besichtigen wäre ihr selbst jedenfalls nicht im Traum eingefallen, den Haushalt der Royals zu bewundern erst recht nicht. Ein nutzloses Pack war das, Leute, die sich auf Kosten der Steuerzahler ein faules Luxusleben leisteten. Nun, zum Glück gehörte sie nicht zu den Steuerzahlerinnen. Obwohl sie es gern getan hätte. Aber dann hätte sie ja auch eine Sozialversicherung gebraucht …
»Und Sie haben wirklich in einem Boxclub gearbeitet?«, fragte die alte Dame fasziniert, die Tasse schwebte unter ihrer Nase.
»Es war der einzige Job, den ich nach der Sozialarbeit bekommen habe«, erklärte Kate entschuldigend.
»Hm. Die Sozialarbeit wurde vermutlich schlecht bezahlt?«
Kate lächelte erstaunt. Wie ahnungslos manche Menschen doch waren. »Die Sozialarbeit war gemeinnützig«, erklärte sie ihrer Gastgeberin.
»Ich hätte gedacht, das wäre sie immer«, entgegnete die und nippte erneut. »Etwa nicht?«
»Na ja«, sagte Kate. »Normalerweise ist sie schlecht bezahlt. Aber sie wird immerhin bezahlt.«
»Und in Ihrem Fall?«
Kate seufzte und nahm ebenfalls einen Schluck von ihrem Tee, hielt inne und nickte anerkennend. »Der ist wirklich gut!«, stellte sie fest. Dass die Sozialarbeit genau genommen Sozialstunden war, würde sie ihr lieber nicht auf die Nase binden.
»Die Dienstbotenmischung eben«, schwärmte die alte Dame.
»Glücklich, wer hier arbeiten darf, was?«, meinte Kate und lachte. Für einen winzigen Augenblick fand sie das fast tatsächlich. Absurd. Bei den Royals angestellt zu sein, das war ja eigentlich das Letzte, was sie sich vorstellen konnte.
Die alte Dame indes wiegte den Kopf. »Ich würde sagen, das hängt von der Art der Tätigkeit ab.«
»Oh! Sicher.« Damit hatte sie vermutlich recht, egal, wie man zur Aristokratie stand. »Und Sie sind zuständig für …?«
»Ich? Ach. Ich bin hier seit jeher das Mädchen für alles, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Kate verstand es zwar nicht, nickte aber dennoch und befand: »Toll. Da haben Sie sicher viel Verantwortung, Ma’am.«
»Ma’am!«, rief die alte Dame und lachte einmal kurz auf. »Ich komme mir ja vor wie meine eigene Großmutter. Oder wie die Queen selig.« Sie zwinkerte Kate zu und schlug vor: »Nennen Sie mich doch einfach Betty.«
»Betty. Klar. Ich heiße Kate.«
»Kate«, wiederholte die alte Dame und betrachtete sie erstaunt. »Was es alles gibt ...«
Einen Augenblick lang herrschte zwischen den beiden Frauen verlegenes Schweigen, dann ermunterte Betty ihre neue Bekannte: »Nun? Was macht man also in einem Boxclub so. Als Frau.«
»Tja, Mädchen für alles trifft es in dem Fall wohl auch ganz gut«, gab Kate zu. »Ich habe mich um die Bar gekümmert, um frische Handtücher, ab und zu medizinische Versorgung …«
»Ach!«, warf Betty voll Bewunderung ein. »Dann verstehen Sie sich auf medizinische Fragen?«
»Pflaster«, erklärte Kate. »Kalte Kompressen. Steaks.«
»Steaks?«
»Für die Veilchen.«
»Oh.«
»Manche schwören darauf«, erklärte Kate. »Machen Sie das hier nicht auch so?«
»Ach, hier gibt es nicht so oft blaue Augen«, erwiderte Betty, und es klang beinahe bedauernd. »Und waren Sie auch als Nummerngirl im Einsatz?«
»Nummerngirl?«, keuchte Kate, die sich prompt an ihrem Tee verschluckte. »Das war ein Sportclub, keine Boxarena. Bei uns wurden keine großen Fights inszeniert. Und ich bin nicht mal sicher, ob sie bei denen noch Nummerngirls haben heutzutage.«
»Große Fights«, wiederholte Betty sinnierend. »So was hätte ich gerne mal gesehen.« Auf einmal schien ihr etwas in den Sinn zu kommen. Sie stand auf, langte nach der Etagere auf der Anrichte und stellte sie auf das Tischchen. »Bitte, greifen Sie doch zu, Kate.«
Tatsächlich spürte Kate inzwischen ein wenig Hunger, weshalb sie der Aufforderung gerne nachkam. So eine Führung durch Windsor Castle konnte einen durchaus hungrig machen – und die Aufregung zwischendurch, als sie sich beinahe verlaufen hätte, sowieso. »Danke«, sagte sie und biss in ein Stück Shortbread, während der Hund zu ihren Füßen leise knurrte.
»Henry? Aus!«, befahl die alte Dame, worauf der Hund augenblicklich still war und ergeben zu ihr aufblickte.
»Mmhhhh«, befand Kate. »Köstlich! Selbst gemacht?«