Teheran, Revolutionsstraße - Amir Hassan Cheheltan - E-Book

Teheran, Revolutionsstraße E-Book

Amir Hassan Cheheltan

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Beschreibung

Der gut situierte Fattah, obwohl kein richtiger Mediziner, ist zum Operateur und Klinikchef aufgestiegen, seine Spezialität: Zerrissene Hymen wieder zusammenzunähen. Als er sich in eine seiner Patientinnen, die siebzahnjährige Shahrsad, verliebt, die dem jungen Mustafa versprochen ist, kommt es zum Konfl ikt. Beide, Fattah und Mustafa, sind treue Anhänger des Regimes, Mustafa ein Wärter und Folterer im berüchtigten Gefängnis Evin, was Shahrsad gar nicht weiß, und auch Fattah hat dort gearbeitet. Eine dramatische Entwicklung setzt ein … In diesem Roman, dem ersten seiner Teheran-Trilogie, gelingt es Amir Hassan Cheheltan, ein höchst anschauliches, lebensnahes, nuanciertes und gelegentlich drastisches Bild des nachrevolutionären Teheran zu zeichnen. Spannend und unterhaltsam, voller Ironie und Sarkasmus und erzähltechnisch perfekt geschrieben, liefert dieser Roman mit einer Fülle eindrucksvoller Charaktere ein Bild der grausam schönen Großstadt und einen Eindruck von der Gewalt der iranischen Geschichte.

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Amir Hassan Cheheltan

Teheran, Revolutionsstraße

Roman

Aus dem Persischen übersetztvon Susanne Baghestani

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Der gut situierte Fattah, obwohl kein richtiger Mediziner, ist zum Operateur und Klinikchef aufgestiegen, seine Spezialität: Zerrissene Hymen wieder zusammenzunähen. Als er sich in eine seiner Patientinnen, die siebzehnjährige Shahrsad, verliebt, die dem jungen Mustafa versprochen ist, kommt es zum Konflikt. Beide, Fattah und Mustafa, sind treue Anhänger des Regimes, Mustafa ein Wärter und Folterer im berüchtigten Gefängnis Evin, was Shahrsad gar nicht weiß, und auch Fattah hat dort gearbeitet. Eine dramatische Entwicklung setzt ein …

In diesem Roman, dem ersten seiner Teheran-Trilogie, gelingt es Amir Hassan Cheheltan, ein höchst anschauliches, lebensnahes, nuanciertes und gelegentlich drastisches Bild des nachrevolutionären Teheran zu zeichnen. Spannend und unterhaltsam, voller Ironie und Sarkasmus und erzähltechnisch perfekt geschrieben, liefert dieser Roman mit einer Fülle eindrucksvoller Charaktere ein Bild der grausam schönen Großstadt und einen Eindruck von der Gewalt der iranischen Geschichte.

Über den Autor und die Übersetzerin

Amir Hassan Cheheltan, geboren 1956 in Teheran, studierte in England Elektrotechnik, nahm am Irakkrieg teil und veröffentlichte in Teheran bislang Romane und Erzählbände. Zwei Jahre hielt er sich wegen der Bedrohung durch das Regime mit seiner Familie in Italien auf. Sein Roman »Teheran, Revolutionsstraße« erschien 2009 als Welt-Erstveröffentlichung auf Deutsch, es folgten »Teheran, Apokalypse« und »Teheran, Stadt ohne Himmel« (beide bei C.H.Beck). Cheheltan veröffentlicht Essays und Feuilletons in der FAZ, der SZ, der ZEIT und anderswo. Er lebte zuletzt u. a. in Berlin und Los Angeles, inzwischen wieder in Teheran. Bei C.H.Beck ist auch sein Roman »Der Kalligraph von Isfahan« (2015) erschienen.

Susanne Baghestani, in Teheran geboren, promovierte Archäologin, übersetzt seit 1996 aus dem Persischen und Französischen, neben Werken von Amir Hassan Cheheltan auch Abbas Maroufi, Parusa Bashi und Atiq Rahimi.

 

 

 

 

Teheran Revolutionsstraße

1

Fattah drehte sich zu der Krankenschwester um, hob den Kopf, hielt die ausgestreckten Hände, die in Latexhandschuhen steckten, in die Höhe und heftete seinen von schweren Lidern beschatteten, müden Blick auf die junge Frau. Offensichtlich hatte ihn etwas verärgert. Die Schwester blickte Fattah unschlüssig an. »Mach ihn auf!« sagte er.

Die Schwester war immer noch verwirrt, gab sich zwar einen Ruck, wusste aber nicht, was tun. Fattah sagte, »Öffne meinen Kragenknopf, ich bin am Ersticken.«

Dabei riss er, um die Schwester von seiner dringlichen Lage zu überzeugen, die Augen auf und atmete schwer.

Auf dem Krankenbett, das von einem gelblichen, schmierigen Laken voll großer bläulicher und violetter Flecken bedeckt war, lag ein blasses junges Mädchen mit geschlossenen Augen unter dem weißen Licht einer Lampe, die an einer Kette von der Zimmerdecke herabhing. Die nackten, mageren Beine hatte es an den Knien abgewinkelt und hielt sie gespreizt. Wie eine Fiebernde bebte sie leicht, und aus ihren halbgeöffneten Lippen drangen dumpfe, lange Seufzer hervor.

Vor den niedrigen Fenstern unter der Zimmerdecke hingen Zweige. Die Scheiben waren beinahe vollständig von Schlammspritzern übersät und bis zur Hälfte von Staub und Unrat bedeckt. Trübes, mattes Licht fiel in das Zimmer. Keine Vorhänge verhüllten die Scheiben, eine unglaubliche Fahrlässigkeit. Draußen fuhr ein Motorrad mit ohrenbetäubendem Lärm vorbei, und das Mädchen auf dem Bett öffnete plötzlich die Augen und jammerte. Unwillkürlich wandten sich Arzt und Krankenschwester um und starrten zum Fenster.

Die Schwester streifte nacheinander ihre Handschuhe ab. Sie öffnete seinen obersten Kragenknopf. Fattah stieß jäh den Atem aus und sagte, »Na endlich … Den nächsten, … öffne auch den nächsten!«

Der Arzt sagte mit kurzen Atemstößen, den Blick durch den Schlitz seiner halbgeöffneten Lider auf sie geheftet, »Dank dir.«

Ein weiterer Atemstoß, und diesmal schlug der Krankenschwester der Geruch von saurem, vergorenem Brot und fauligem Fleisch in einer farblosen Wolke ins Gesicht. Fattah schloss zufrieden die Augen.

Das Mädchen auf dem schmalen Bett wandte langsam den Kopf und warf einen Blick auf die beiden. Dann biss sie sich auf die Unterlippe und jammerte erneut. Sie hatte Schmerzen.

Fattahs rotes, schwammiges Doppelkinn war mittlerweile in seinem Hemdkragen versunken. Aus den Augenwinkeln warf er einen Blick auf das Mädchen und knurrte, »Diese Huren!  … Ständig geben sie sich jedem Erstbesten hin und dann fällt ihnen bei der Hochzeit ein, dass sie nur noch oberhalb des Bauchnabels Mädchen sind!«

Gehässigkeit lag in seinen Worten, und er blickte um sich, als wolle er ihre Wirkung auf seine Patientin und die Schwester prüfen. Die Krankenschwester pflichtete ihm bei, »Diese Ferkel!«

Fattah machte sich ans Werk. Aus dem Edelstahlgefäß neben sich nahm er sterile Watte und säuberte die Umgebung der Operationsstelle. Dabei sagte er mit hämischer Freude, »Es tut weh, nicht wahr!?«

Das Mädchen öffnete kurz die Augen und nickte. Fattah sagte noch strenger als zuvor, »Du bist ja nicht zu Besuch gekommen, meine Beste, das hier ist eine Operation! Daran hättest du früher denken sollen!«

Dann deutete er auf eine Schale aus Edelstahl und befahl der Krankenschwester, »Gib her!«

Die Schwester schob den Rollwagen heran und hielt ihm die Schale hin. Fattah entnahm ihr die Klemme. Als der Blick des Mädchens auf die Klemme fiel, biss es sich auf die Unterlippe, und ein Jaulen durchzog seinen Brustkorb. Fattah verzog hasserfüllt das Gesicht und sagte verächtlich, »Sei still! Dass ich ja keinen Ton mehr von dir höre!«

Er starrte sie immer noch an. Das Mädchen hatte jetzt die Augen, in denen Furcht und ein Flehen flackerten, weit geöffnet, doch Fattah starrte es weiterhin zornig an. Erneut biss sie sich auf die Lippen. Die perlenförmigen Schweißtropfen, die auf ihren Schläfen glänzten, hatten sich in schmale Rinnsale verwandelt und durchnässten den zarten schwarzen Flaum ihrer Ohrläppchen.

Fattah beugte den Kopf, legte die Hände auf die Schenkel des Mädchens und spreizte sie. Er schob den Kopf noch näher heran, streckte dabei eine Hand zur Krankenschwester aus und befahl, »Taschenlampe!«

Die Schwester schaltete die Taschenlampe ein und hielt sie ihm hin. Fattah deutete zwischen die Beine des Mädchens und sagte, »Siehst du! … Diese Huren!«

Die Taschenlampe erhellte den betroffenen Bereich vollständig. Fattah schob seine Brille mit dem Handrücken hoch, inspizierte noch einmal gründlich die Stelle und nahm mit der Klemme die Geweberänder auf.

Das Mädchen presste die Zähne auf die Unterlippe und jaulte vor Schmerz auf. Ihre Stirn war schweißüberströmt. Fattah stieß mit dem Ellenbogen die Taschenlampe beiseite und sagte, »Ich brauch sie nicht mehr.«

Dann stocherte er mit einem Finger in dem Stahlgefäß herum und sagte, »Gib mir einen Nähfaden.«

Dabei blickte er verstohlen auf das Mädchen und sagte gleichgültig, »Gleich ist es vorbei.«

Das Mädchen jammerte wieder. Fattah sagte, »Ich habe dir zwei Betäubungsspritzen gegeben. Das bisschen Schmerz wirst du wohl noch ertragen!«

Das Mädchen brach in Tränen aus, »Sie wissen ja nicht, Doktor … Als ob …«

Fattah spreizte die Hände, »So ist es nun mal …! Außerdem, hast du denn damals keine Schmerzen gehabt, als …«

Er blickte zur Zimmerdecke und bat um Vergebung. Sein Blick kehrte jetzt mitleidig zum Mädchen zurück. In diesem Mitleid lag jedoch ein heimliches Vergnügen, und er schüttelte einige Augenblicke den Kopf.

Außerhalb des Zimmers saßen in einem halbdunklen Flur zwei ältere Frauen auf einer eisernen Bank dicht nebeneinander und blickten ängstlich auf die geschlossene Tür des Ärztezimmers. Die ältere der beiden, die ihr Gesicht mehr verhüllt hatte, öffnete kurz ihren Tschador und schlang ihn wieder um sich. Sie seufzte und sagte zu ihrer Sitznachbarin, »Liebe Mehri Chanum, sprich einen Segen, ein Gebet für alle Sorgen ist auch recht, … Da vergeht die Zeit wie im Nu! Sprich einen Segen!«

Mehri, die um die zweiundvierzig war, begann wie eine Kranke oder eine Mutter, die ihr Kind in den Armen hält, um es einzuschläfern, ihren Oberkörper zu einer sanften, monotonen Melodie zu wiegen. Dann stieß sie jäh einen leisen Ton aus, der wie ein Pfiff klang, und starrte mit schräg gelegtem Hals und kummervollem Blick die schmutzigen Fliesen des Flurs an. Hinter der verschlossenen Tür schrie das Mädchen plötzlich auf. Mehri sprang auf, blickte entsetzt auf ihre Begleiterin und brach beinah in Tränen aus. »Was tun die ihr an, liebste Batul?«

Ihre Stimme bebte, Batul strich ihr über den Rücken, und Mehri grub sich die Nägel ins Gesicht. Batul ergriff Mehris Hand. »Nichts, mein Kind, nichts«, sagte sie. »Gleich ist es vorbei!«

Als hätte alle Kraft sie verlassen, lehnte Mehri sich zurück und jammerte, »Jetzt ist schon eine halbe Stunde vergangen, seit er mein Kind dort hinein gebracht hat. Allmählich schlägt mir das Herz bis zum Hals …«

»Na na! Hast du denn nicht gehört, was er gesagt hat? Eine Wunde zu verbinden dauert eine halbe Stunde. Das ist doch eine Operation und kein Kinderspiel!«

Mehri legte die Hände aufeinander, »Ich fürchte, dass sie mein Kind dort drinnen verstümmeln.«

Batul schürzte die Lippen, »I wo!  … Verstümmeln? Doktor Fattah versteht sein Handwerk. Der ist so geschickt, man glaubt es kaum!«

Mehri, die sich wieder beruhigt hatte, schloss die Augen und begann erneut sich zu wiegen. Abermals ertönte jener pfeifende Ton, der dem Gesurr einer eingesperrten Fliege glich. Wenig später hellte sich plötzlich ihr Gesicht in tiefem Frieden auf, als hätten sich die Tore des Paradieses vor ihr geöffnet.

Mehri und Batul waren Nachbarinnen, die keine Geheimnisse voreinander hatten, ein Herz und eine Seele. Ihre dienstäglichen Fahrten nach Dschamkaran, wo sie bei Sonnenuntergang eintrafen, ließen sie nie ausfallen.[*] Nach Fürbitten, Gebeten und ausführlichem Tränenvergießen kehrten sie früh abends zurück nach Teheran. Sie vertrauten einander all ihre Kümmernisse an, weshalb Batul die erste und einzige war, die von Schahrsads verlorener Unschuld erfahren hatte. Batul war allerdings auch findig und hilfsbereit. Sie war es, die Doktor Fattah und, wichtiger noch, das Geld für seine Bezahlung aufgetrieben hatte. Sie hatte es von Mirsa Yadollah bekommen, einem frommen alten Mann, dessen Mündel sie war. Das Geld hatte sie genommen, ohne zu sagen, wozu sie es brauchte. Für einen gottesfürchtigen Menschen, hatte sie gesagt, für eine Dienerin Gottes, sie will es für ihre Ehre verwenden, nur soviel.

Das Geld hatte sie mit der Rechten bekommen und mit der Linken Mehri gegeben.

Fattah schnitt die Enden der Operationsfäden ab und reichte die Schere der Krankenschwester. »Es ist vorbei!«

Sein Brustkorb schwoll an, als habe er die Schlacht am Chaiber-Pass gewonnen. Das Mädchen öffnete die Augen und bestätigte seine Worte mit einem kraftlosen Lächeln. Während Fattah die Handschuhe abstreifte, ließ er Kopf und Hals kreisen und sagte, »Du hast dich also ganz schön herumgetrieben, oder?«

Das Mädchen nickte.

»Und bist auf alle Bäume und Mauern geklettert?«

Wieder nickte das Mädchen.

Fattah näherte ihr seinen Kopf und sagte listig und spöttisch, »Das kannst du deiner Tante erzählen!«

Das Mädchen blickte ihn rechthaberisch an. Fattah setzte wieder eine strenge Miene auf, »Wann, sagtest du, ist die Hochzeit?«

Das Mädchen klagte, »Sie wollen erst noch um meine Hand anhalten.«

»Soll heißen?«, fragte Fattah.

»Erst in zwei, drei Monaten.«

Der Arzt blieb einen Augenblick reglos stehen und fragte dann, »Weshalb hattet ihr es denn so eilig?«

Er näherte sich dem Mädchen und senkte die Stimme, »In der nächsten Zeit wirst du dich ja wohl zurückhalten können.« Er lachte auf. Das Mädchen sah ihn nur stumm an, als könnte es kein Wässerchen trüben.

Fattah zog sich zurück, rümpfte die Nase wie über einen schlechten Geruch und sagte, »Schau mich nicht so an! Das hast du doch nicht nur ein-, zweimal gemacht, das war genau zu sehen. Jetzt spielt sie für mich die Unschuld vom Lande!«

Die Krankenschwester amüsierte sich über die Anzüglichkeiten des Doktors. Jede seiner Bemerkungen bestätigte sie mit einem Nicken, sobald aber das Mädchen sie anblickte, verzog sie das Gesicht und rümpfte ebenfalls die Nase. Als sei sie Marias unzerrissenes Hemd.

Die Zimmertür öffnete sich und Licht erhellte den Flur. Batul und Mehri erhoben sich hastig von ihren Plätzen und richteten sich her. Batul sagte, »Mögen Sie nicht erschöpft sein, Doktor! Gott segne Sie!«

Mehri legte den Hals schräg, »Wie geht es ihr, Doktor?«

Fattah war wie alle Ärzte und alle bedeutenden Persönlichkeiten meist in Eile und erwiderte lustlos, »Es geht ihr gut. Passen Sie besser auf Ihre Töchter auf, damit sie sich nicht so viel herumtreiben!«

Mehri sah den Arzt gekränkt an und senkte dann beschämt den Kopf. »Ich warte oben auf Sie«, sagte er.

Fattah öffnete eine schmale Tür auf der anderen Flurseite und stieg ein enges Treppenhaus hinauf. Oben befand sich ein helles Areal, eine Klinik, die rund um die Uhr geöffnet war, erfüllt vom Geruch von Alkohol, von quietschenden Rollbetten und jammernden Patienten.

Er war ein erfahrener und wohltätiger Arzt, der nicht in den Kliniken der Oberstadt, sondern im Untergeschoß eines Spitals in einer verwinkelten Gasse im Stadtzentrum die Jungfernhäutchen der Mädchen vernähte, um die Ehre ihrer Familien wiederherzustellen. Die Kellerräume ragten über die Gasse nur um einen halben Meter hinauf, und ihre niedrigen Fensterscheiben erzitterten den ganzen Herbst über vom heulenden Wind. Gott allein wusste, wie viele Mädchen Fattah vor dem Unglück bewahrt hatte. Er verlangte dreihunderttausend Tuman und vernähte ihre Hymen. Ein prominenter Hymenoplastiker der Stadt, der diesen Ausdruck mit solch kräftigem amerikanischen Akzent aussprach, dass alle davon überzeugt waren, er habe diese Spezialausbildung in Amerika absolviert. Jedenfalls galten ihm die Fürbitten einer Gebetskette von Mädchen, die leichtfertig über Straßengräben gesprungen, auf Bäume geklettert und Fahrrad gefahren waren und auch sonst kein Abenteuer ausgelassen hatten! Weshalb sie dann …

Auf seinem Operationshonorar beharrte er nicht sonderlich, wusste er doch, dass man eines Tages unter einer Handbreit Erde liegen und außer ein, zwei Ellen grobem Baumwollnessel nichts mitnehmen würde. Er ließ mit sich verhandeln, es sich aber nicht vorher anmerken, weil dann alle die Operation gratis verlangt hätten. Jedenfalls hatte er sich aufgrund dieser Barmherzigkeit in der Gegend einen Namen gemacht. Von der Revolutionsstraße bis zur Seyyed Ali Kreuzung und Mochber-od-Doule einerseits, und von Darwaseh Schemiran bis nach Fachr-Abad andererseits gab es nur einen anständigen Arzt, und das war Doktor Fattah.

Viele wussten nicht, dass er fünfzehn Jahre zuvor Assistent im Operationssaal gewesen war, doch jetzt besaß er immerhin eine Klinik, eine karitative Klinik mit zehn, zwölf jungen und diensteifrigen Ärzten, die ihn respektierten. Seitdem die Absolventen der medizinischen Fakultäten, die in sämtlichen Kuhdörfern wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, den Arbeitsmarkt überschwemmten, gab es Ärzte wie Sand am Meer, und Fattah wusste jeden, der zufällig an seiner Klinik vorbeikam, irgendwie an sich zu binden. Sie verlangten ja auch kein großes Honorar, etwa das eines Rohrlegers oder Elektrikers. Es gefiel ihm, dass eine Handvoll Ärzte für ihn arbeitete, und er genoss es, wenn sie vor ihm liebedienerten. Allerdings beriet er sie auch in medizinischen Angelegenheiten; schließlich hatte er in seinem Leben schon ein paar Hemden mehr zerschlissen. Wenn sie ständig ›Herr Doktor‹ sagten und hinter ihm her eilten, um einen Vorschuss oder Urlaub zu erbitten, erfüllte eine besondere Wonne sämtliche Fasern seines Körpers. Bei solchen Gelegenheiten wandte er sich mürrisch, herablassend und schwerfällig zu ihnen um, musterte sie durch die Schlitze seiner verquollenen Augenlider und zertrat die letzten Reste ihres Stolzes und Selbstvertrauens. Dann wedelte er wie besonders wichtige Persönlichkeiten, die ein leichtsinniges Kind auf ihrem Weg zu großen Taten aufhält, mit der Hand umher, und sagte teilnahmslos und mit gequältem Lächeln, »Ihr schon wieder! Was hast du jetzt auf dem Herzen, mein Bester?«

Der junge Arzt würde furchtsam sagen, »Wenn Sie so freundlich wären … Ich hätte gern ein paar Tage Urlaub.«

Fattah würde schweigend und mit finsterer Miene einige Augenblicke den Kopf schütteln und den jungen Arzt erschrecken.

»Du bist doch gerade erst aus dem Urlaub zurückgekehrt!«

Der junge Arzt würde hastig erwidern, »Nein, Herr Doktor, das war vor drei, vier Monaten!«

»Kannst du es nicht auf kommende Woche verschieben?«

»Nein, Doktor, meine Mutter ist im Dorf erkrankt. Es gibt keinen, der ihr eine Spritze geben könnte.«

»Nun, und wie viele Tage?«

»Fünf Tage.«

»Mehr als drei gehen nicht, füll dein Formular aus und bring’s mir, damit ich es unterschreibe.«

Der junge Arzt würde herumdrucksen, und ehe er Fattah erweichen konnte, ihm die fünf Tage Urlaub zu genehmigen, würde dieser sagen, »Beeil dich, mein Bester, ich muss meine Arbeit erledigen!«

Dann würde er ihn mit einem kalten, leblosen Blick abwartend anstarren. Diese Blicke waren von besonderer Beschaffenheit, und ihre unerschöpfliche Frostigkeit sorgte für Furcht und Schrecken.

Gelegentlich kam es auch vor, dass sein Gegenüber einen Vorschuss brauchte und sagte, »Zwanzigtausend Tuman.«

Daraufhin würde Fattah das Gesicht verziehen und erwidern, »Das Geld wächst doch nicht auf den Bäumen, mein Bester … Zehntausend Tuman genügen dir! … Geh, füll das Formular aus und bring’s mir zum Unterschreiben! Lauf schon, ich hab zu tun!«

Er hatte stets zu tun. Überallhin schleppte er eine schwarzlederne Aktentasche mit sich, die vermutlich mit wichtigen Dokumenten gefüllt war. Aufrecht, mit kugeligem Oberkörper und kurzem Hals, schritt er kräftig aus und trug stets ein wohlwollendes Lächeln zur Schau, vermutlich, um seinen für andere quälenden Hochmut abzumildern. Ein Lächeln, das sein hochmütiges Auftreten jedoch verstärkte, was ihm sehr wohl bewusst war.

Fattah schloss die Tür seines Zimmers hinter sich, ging zum Waschbecken und wusch sich gerade die Hände, als es klopfte.

»Wer ist da?«

Es war Mehri, und Fattah rief, sie solle eintreten. Mehri trat ein, schloss die Tür und verhüllte ihr Gesicht. Sie neigte den Kopf zur Seite und blieb dort stehen. Der Arzt sagte, »Setz dich.«

Mehri tat es. Fattah drehte den Wasserhahn zu, nahm das schmierige Handtuch vom Halter und trocknete sich die Hände, wobei er zu seinem Tisch ging und sich dahinter setzte. »Und nun?«

Er lächelte und starrte Mehri an. Sie zog hastig den Briefumschlag mit dem Geld unter ihrem Tschador hervor. Mit einem Blick auf das Kuvert und einem Blick auf Mehri wiederholte er, »Und nun?«

Sie legte das Kuvert auf seinen Tisch und stieß es sacht mit den Fingerspitzen zu ihm hin. Fattah warf das Handtuch auf den Tisch, nahm das Kuvert, wog es achtlos in der Hand, »Wie viel ist es?«

Mehri senkte den Kopf und murmelte, »Hundertfünfzig.«

Fattah presste die Lippen aufeinander. Er legte das Kuvert auf den Tisch und schob es in ihre Richtung.

»Ich hatte doch gesagt, … Das geht nicht!«

Mehri sagte flehend, »Doktor, bei Ihren Ahnen! … Bei Gott, wir haben nichts zu Beißen!«

Fattah blickte zur Decke, rotierte auf seinem Drehstuhl und sagte, »Jetzt fängt sie wieder damit an!«

Dann ließ er sich vor der Frau über den Tisch sinken und sagte, »Meine Beste, begreifst du denn nicht?«

»Aber …«

»Hör mir gut zu! Ich habe diesen Preis akzeptiert, weil Hadschi Salamatian sich für dich verwendet hatte, sonst rühr ich unter dreihundert keinen Finger.«

Die Frau schniefte und erwiderte, »Dann geben Sie mir ein paar Tage Zeit, damit ich auch den Rest auftreibe.«

Fattah steckte das Geldkuvert in seine Schreibtischschublade, »Nur bis zum Wochenende!«

Die Frau erhob sich von ihrem Platz. Sie senkte den Kopf, »Gott segne Sie!«

Fattah wedelte sie mit der Hand fort, »Außerdem darf sie sich eine Woche lang nicht aus dem Bett rühren, das bedeutet absolute Ruhe!«

Die Frau sagte, »Gott schenke Ihnen ein langes Leben!«

Sie war noch nicht zur Tür hinaus, als Fattah hinzufügte, »Ich habe zu ihr gesagt, sie soll noch zehn oder zwanzig Minuten liegen bleiben, dann können Sie sie mitnehmen.«

Die Frau drehte sich zu ihm um und blickte ihn ratlos abwartend an. Fattah sagte, »Die Krankenschwester wird es Ihnen zeigen.«

Es war Herbst, ein Herbst wie alle anderen in Teheran; für eine Stadt, die an allen Tagen eines langen Sommers in der Hitze nach frischer Luft gelechzt hatte, die Gelegenheit aufzuatmen. Jetzt aber wehte ein scharfer, trockener Wind aus der Gebetsrichtung im Südwesten, verschob die öligen Luftmassen, heulte und wirbelte durch die verwinkelten, bedrückten Gassen, schleuderte Staub und Unrat in die Gesichter der Passanten und versuchte von Zeit zu Zeit einen der kahlen Bäume am Straßenrand zu entwurzeln. Unmittelbar bevor die Bäume brechen konnten, legte sich der Wind jedoch immer wieder, schwoll dann erneut rasch an und raubte allen den Frieden.

Auf der gegenüberliegenden Seite, wo Fattah seinen Wagen abgestellt hatte, hatte man die Mauern eines Hauses mit schwarzen Tüchern verhängt, aus deren sperrangelweit geöffneter Tür Stimmengewirr und Klagegesänge drangen. Auf dem Tuch am Hausgiebel wurden die Hinterbliebenen mit einem großen Schriftzug zum Tod ihres Märtyrers beglückwünscht und man kondolierte ihnen. Fattah blieb einen Augenblick stehen und sah dem Kommen und Gehen zu. Plötzlich leuchteten die Lichter am kronenförmigen Gerüst der Hedschleh auf, und alle riefen einen Segensspruch.[*] Fattah trat näher. An der Hedschleh hingen zwei Bilderrahmen, die im Widerschein der verspiegelten Säulen aufleuchteten. Das Foto in einem der Rahmen zeigte einen alten verbrauchten Mann, das andere Foto einen lebhaften stolzen Jugendlichen. Die Gesichter der beiden ähnelten sich außerordentlich. Waren zwei Personen gestorben? Und waren sie Vater und Sohn? Fattah las die Zeilen unter den Fotos … Nein, nur einer war gestorben, ein Mann, der fünfunddreißig Jahre alt geworden war, ein Opfer der irakischen Giftgasangriffe. Die Fotos zeigten ihn im Abstand von wenigen Jahren, zu Anfang und zu Ende des Kriegs.

Fattah legte die schwarzlederne Aktentasche auf den Rücksitz seines Wagens, setzte sich ans Steuer und erblickte die Frauen, wie sie sich hinter einer dichten Staubwolke, die der Wind umherwirbelte, am Ausgang der Gasse von ihm entfernten. Das Mädchen hinkte, und die beiden schwarz verschleierten Frauen stützten es. Gelegentlich blieben sie stehen, vermutlich damit das Mädchen wieder Atem schöpfen konnte.

Fattah startete mit einem schiefen Lächeln im Mundwinkel den Motor, legte den Gang ein und setzte den Wagen in Bewegung. Er fuhr langsam, und während er sie betrachtete, kam ihm eine Idee. Als er die Gruppe erreicht hatte, bremste er kurz ab und presste die Hand auf die Hupe.

Mehri drehte sich um und senkte den Kopf. Fattah sagte, »Ihr hättet doch ein Taxi rufen können! So geht das …«

Dann sagte er, »Steigt ein, damit ich euch heimbringe.«

Das Mädchen hatte sein Gesicht unmerklich dem Wagen zugewandt, sein blasses Profil glich einer Zeichnung.

Mehri sagte, »Wir machen Ihnen zuviel Umstände, Doktor, es ist nicht weit bis nach Hause.«

Fattah erwiderte lustlos, »Steigt ein.«

Die Frauen taten wie befohlen. Mehri stieg als Erste ein, das Mädchen kam in die Mitte. Batul schloss die Wagentür und sagte, »Gott schütze Sie!«

Der Wagen fuhr an, und die Frauen ordneten ihre Kleidung. Fattah erblickte im Rückspiegel das Gesicht des Mädchens mit seinen langen Wimpern und hohlen Wangen. An wen erinnerte sie ihn bloß?

Er fragte, »Wo wohnt ihr?«

Mehri antwortete, »In der zweiten Gasse nach der Kreuzung, aber auf der anderen Straßenseite.«

»Also sind wir Nachbarn!«, lachte Fattah.

In diesem Moment hob das Mädchen die Lider, um den Besitzer des Augenpaars anzublicken, das es so unverhohlen im Spiegel anstarrte. Ihr fiel ein Satz aus einem Buch ein, das sie heimlich nach Hause mitgebracht hatte, »Der Mann zog sie mit Blicken aus«.

Fattah sank das Herz in dem Moment in die Kniekehlen und er erkannte den Grund für seine Unruhe. Diese Augen besaß nur eine, jene, in die Fattah jahrelang verliebt gewesen und die unerreichbar geblieben war. ›Aber ich hatte sie doch vergessen!‹

Kaum hatte er sich das gesagt, brach eine Erinnerung, die seine gesamte Jugend brennend durchzogen hatte, wie eine alte Wunde wieder auf, und er erkannte jäh ihre Vergeblichkeit.

Die enge Straße war voll von Abgasen, kreischenden Kindern, hupenden Mopeds und Stimmengewirr. Die Autos fuhren wie eine geschlagene Armee ziellos durcheinander. Was überhaupt keine Rolle spielte, waren Fahrbahnmarkierungen und Verkehrsschilder, die überflüssigerweise auf schiefen Sockeln an den Straßenrändern montiert waren.

Die Wagen überholten einander auf beiden Seiten, Mopeds schlängelten sich im Zickzackkurs hindurch, und plötzlich wurde das Auto von rechts geschnitten, weil sein Fahrer wenden wollte. Fattah trat abrupt auf die Bremse, die Frauen auf dem Rücksitz wurden nach vorn geschleudert, und der Arzt stieß halb verschluckte Flüche und Vergebungsrufe aus. Dann lächelte er im Rückspiegel die Frauen an.

Die Fahrsitten dieser Stadt, jähes Abbremsen und saftige Verwünschungen, die durch das offene Seitenfenster des Fahrers hinausgeschleudert wurden! Die Antworten waren ebenso drastisch, kamen aber meistens nur zur Hälfte an. Zu diesem Getümmel gesellten sich die Passanten, die an den Straßenrändern entlangliefen, weil die Bürgersteige von fliegenden Händlern und ihren Kunden besetzt waren.

Fattah blickte erneut in den Rückspiegel; wieder diese Augen voll Scham und Unschuld. Sie lösten in ihm Unruhe und Wärme zugleich aus. Eine bittersüße Freude kreiste durch seine Adern. Er griff sich an die Brust und kratzte sich, kratzte abermals, und es gefiel ihm. Als sei er berauscht.

Schahrsad hingegen hatte plötzlich das Gefühl, sie habe diesen Mann schon früher irgendwo gesehen. Dieses Gesicht erschien ihr vertraut … Aber wo? Ihre Erinnerung kam aus weiter Ferne, von einem Ort, der sich womöglich auf die Zeit vor ihrer Geburt bezog.

Mehri sagte, »Wenn Sie hier anhalten würden, bitte …«

Fattah drosselte das Tempo, »Lassen Sie mich wenden, um Sie auf die andere Seite zu fahren.«

Mehri erwiderte, »Machen Sie sich bitte keine Umstände, diese zwei Schritte sind doch nichts.«

Fattah überhörte die Höflichkeitsfloskel der Frau und wendete wenige Meter nach der gestrichelten Linie. Die beiden Frauen zu Seiten des operierten Mädchens sahen einander verlegen an, beschämt von dieser unerwarteten Liebenswürdigkeit. Mehri sagte, »Wir machen Ihnen Umstände!«

Und sie nickte, zusammen mit Batul, zur Bestätigung.

Fattah konnte jetzt ihr Profil sehen. Das Mädchen blickte hinaus, und es schien, als entweiche seinen halbgeöffneten Lippen ein warmer Dunst, der sich im Wagen ausbreitete. Mehri sagte, »An dieser Gasse, bitte.«

Fattah bremste leicht und blickte auf die Einmündung der Gasse. »Ich fahr Sie bis vors Haus«, sagte er.

»Nein, um Gottes willen«, erwiderte Mehri.

Aber er war bereits abgebogen und fragte, »Bekommt man in Ihrem Haus nicht mal eine Tasse Tee zu trinken?«

Ein feines Kichern ließ im Nu seine ganze bisherige Autorität verblassen. Die Frauen wagten es mitzulachen, und Mehri sagte, »Ich bitte Sie, Doktor!«