Telluria - Vladimir Sorokin - E-Book
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Beschreibung

Ein vielstimmiges Meisterwerk vom wichtigsten zeitgenössischen Autor Russlands Nach dem von der Kritik gefeierten und preisgekrönten Roman »Der Schneesturm« setzt Vladimir Sorokin mit seinem neuesten Werk noch einen drauf: ein fulminanter literarischer Rundumschlag, der den Zustand der Welt und der Menschen darin um die Mitte des 21. Jahrhunderts zum Thema hat und auf den die aktuellen Weltereignisse bereits zu verweisen scheinen. Eurasien, Mitte des 21. Jahrhunderts: Die Welt ist nach verschiedenen Religionskriegen, Revolutionen und Aufständen in weitgehend voneinander isolierte Kleinstaaten zerfallen, in denen unterschiedlichste politische Machtstrukturen herrschen. Es gibt u.a. das kommunistisch-orthodoxe Moskowien, eine Sowjetische Sozialistische Stalinrepublik und ein feudalistisches Neukölln mit Konrad von Kreuzberg an der Spitze, der die Salafisten zurückgeschlagen hat. Köln ist eine Republik geworden, und dann ist da noch die kleine, feine Bergrepublik Telluria, aus der das kommt, was alle Menschen in diesem Meer der Barbarei haben wollen: das ultimative Mittel, das beständiges Glück erzeugt. Das Leben nach der Katastrophe ist durchaus nicht immer depressiv, man hat sich darin eingerichtet. Sorokin entfacht in diesem neuen Roman ein Feuerwerk der Poly-phonie, in 50 verschiedenen Texten fabuliert, imaginiert und parodiert er, spielt mit verschiedenen Textformen und schafft so eine großartige, wenn auch düstere Satire, die ihresgleichen sucht. An der Übertragung dieses brillanten Werks waren acht renommierte Übersetzer beteiligt.

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Seitenzahl: 460

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Vladimir Sorokin

Telluria

Roman

Aus dem Russischen vonKollektiv Hammer und Nagel:Sabine Grebing (VI, IX, XI, XXI, XXIV, XXVII, XLIV, XLIX),Christiane Körner (I, VII, XII, XIV, XXXI, XXXIX-XLII),Barbara Lehmann (II, V, X, XXVIII, XXXVII, XLIII, XLVIII),Gabriele Leupold (XIX, XXXV),Olga Radetzkaja (III, IV, VIII, XIII, XV, XVI, XXII, XXV, XXVI, XXX, XXXIV, XXXVIII, XLV),Andreas Tretner (XVIII, XX, XXIX, XXXIII, XXXVI, L),Dorothea Trottenberg (XVII, XLVI)undThomas Wiedling (XXIII, XXXII, XLVII)

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Vladimir Sorokin

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

IX. Kapitel

X. Kapitel

XI. Kapitel

XII. Kapitel

XIII. Kapitel

XIV. Kapitel

XV. Kapitel

XVI. Kapitel

XVII. Kapitel

XVIII. Kapitel

XIX. Kapitel

XX. Kapitel

XXI. Kapitel

XXII. Kapitel

XXIII. Kapitel

XXIV. Kapitel

XXV. Kapitel

XXVI. Kapitel

XXVII. Kapitel

XXVIII. Kapitel

XXIX. Kapitel

XXX. Kapitel

XXXI. Kapitel

XXXII. Kapitel

XXXIII. Kapitel

XXXIV. Kapitel

XXXV. Kapitel

XXXVI. Kapitel

XXXVII. Kapitel

XXXVIII. Kapitel

XXXIX. Kapitel

XL. Kapitel

XLI. Kapitel

XLII. Kapitel

XLIII. Kapitel

XLIV. Kapitel

XLV. Kapitel

XLVI. Kapitel

XLVII. Kapitel

XLVIII. Kapitel

XLIX. Kapitel

L. Kapitel

Anmerkungen des Autors

Inhaltsverzeichnis

I

»Erschüttern müssen wir die Kremlmauern!« Erregt lief Soran unterm Tisch auf und ab und boxte sich mit dem Fäustchen in die Handfläche. »Er-schüt-tern! Err-schüt-terrn!«

Goran sprang hoch, erkletterte die Bank, setzte sich und baumelte gewohnheitsmäßig mit den Beinchen in den abgetragenen Stiefeln. Sein von einem glatten Bart umrahmtes Gesicht mit der Höckernase und der niedrigen Stirn strahlte ruhige Sicherheit aus.

»Nicht erschüttern, sondern zerschmettern«, sprach er. »Und nicht Mauern, sondern morsche Köpfe.«

»Wie Kürbisse, wie Kürr-bis-se!« Soran schlug mit der Faust gegen das Tischbein.

»Zerschmettern wir sie.«

Goran streckte mit Nachdruck den Arm aus, stieß den Zeigefinger in den verrauchten Brodem der Lagerhalle. Und dort, als folgten sie dem Kommando des winzigen Fingers, nahmen zwei Große, donnergleich hauruckdröhnend, einen hundert Eimer fassenden Tiegel mit geschmolzenem Blei vom glühenden Ofen und schleppten ihn zu den Formkästen. Die Schritte ihrer nackten Riesenfüße ließen die Halle erzittern. Auf dem Tisch klirrte ein leeres Teeglas für Menschen in seinem Halter.

Soran machte sich ungelenk daran, auf die hohe Bank zu klettern. Ohne mit dem Beinebaumeln aufzuhören, half Goran ihm hoch. Soran stieg von der Bank auf den Tisch, richtete sich auf, ging zum Rand und stand da, die Finger in die Aufschläge seines kurzen Mantels gekrallt. Seine schmalen Äuglein hefteten sich auf den Tiegel, seine rötlichen Haarzotteln bebten, bewegt von der herüberwabernden Ofenhitze.

Die Großen schleppten den Tiegel zu den Formkästen, neigten ihn. Das Blei ergoss sich zischend und schurrend in die breite Rinne, graue Rauchschwaden stiegen auf, in der Rinne entsprangen im Nu grellweiße Bleibächlein, Dutzende Bächlein, Dutzende – und strömten und flossen in die Formkästen. Die halbnackten, verschwitzten Großen in ihren Segeltuchschürzen neigten den Tiegel gleichmäßig weiter.

Das Blei rann, zerrann, hinab in die erdfarbenen Formkästen, rann, zerrann. Soran und Goran schauten zu: der eine gespannt am Tischrand, der andere Beine baumelnd auf der Bank. Die ungeheuren Armmuskeln der Großen wölbten sich und glänzten vor Schweiß. Rauchschwaden stiegen zum Loch im Hallendach empor.

›Auf die große Sache …‹, dachte Soran.

›Mutter Erde …‹, entsann sich Goran.

Der Tiegel neigte sich immer weiter. Der Strom schien kein Ende zu nehmen. Sorans Augen tränten. Doch er blinzelte nicht und wischte die Tränen nicht ab.

Schließlich versiegte die Bleilava. Die Großen stellten den Tiegel krachend auf den Steinboden.

Soran wischte sich mit den Händchen die Augen, Goran holte seine Pfeife heraus und zündete sie an.

»Prima Arbeit, Genossen!!«, brüllte Soran aus vollem Hals, um das Brausen des Ofens zu übertönen.

Doch die Großen hörten ihn nicht. Ihre Riesenkörper teilten den Brodem der in aller Eile eingerichteten Gießstätte, als sie in die Ecke gingen, jeder einen Eimer nahmen und gierig zu trinken begannen. Nach drei Eimern banden sie sich die Schürze ab, zogen ihr sackförmiges Zeug über und kamen zum Tisch. Ihre Gestalten verdeckten die Gießstätte. Die großen Schatten fielen auf Soran und Goran.

»Pri-ma-Ar-beit!«, wiederholte Soran, und seine Äuglein funkelten zufrieden. Sein Gesicht strahlte sogar im Schatten der Großen.

Seine Pfeife paffend, stieg Goran auf den Tisch, kam krummbeinig näher und stellte sich neben Soran.

Die Großen streckten den Kleinen stumm die riesigen Handflächen mit den bräunlichen Schwielenhöckern hin. Goran holte aus der Jackentasche zwei Hundertrubelscheine und legte gemächlich jedem einen auf die Hand. Der eine umschloss die hundert Rubel gleich und schob die Faust in die Tasche. Der andere hob den Schein vors Gesicht und kniff die ohnehin verquollenen Augen zu.

»Gutes Geld?«, sprachen seine kolossalen Lippen.

»Gutes Geld«, grinste Goran und entblößte tabakfleckige Zähne.

»Allerallerbestes Geld, großer Genosse!«, sagte Soran aufmunternd. »Das werktätige Moskau sagt dir Dank!«

»Wir rufen euch wieder«, paffte Goran.

Der Große knarzte, steckte die hundert Rubel weg. Und streckte die Hand von Neuem aus. Soran und Goran starrten darauf. Die Großen sahen die Kleinen an. Die Handfläche des Großen erinnerte Soran an Russland, das sich vor nicht allzu langer Zeit noch von Smolensk bis zum Uralgebirge ausgedehnt hatte. Dieses Land kannte der Moskowiter Soran nur von Abbildungen. Der Große schien ihn zu necken.

›Hat der Russland in der Tasche?‹, schoss es Soran durch den Kopf. ›Die Trolle wollen wohl Stunk‹, dachte Goran.

Quälend langsam dehnten sich die Sekunden. Sorans rötliche Brauen zogen sich drohend zusammen, Gorans Hand kroch zu seiner Jackentasche. Doch da holten die Großen mit einem durchtriebenen Knarzen aus und klatschten sich ab.

Der Schlag dröhnte den Kleinen in den Ohren.

Die Kleinen fuhren zusammen.

Die Großen brachen in Gelächter aus. Ihr Lachen dröhnte unterm Wellblechdach der Lagerhalle.

»Ein Scherz?«, Soran hob die Brauen.

»Ein Scherz …«, nickte Goran mürrisch.

Die Großen drehten sich um und schritten zur Tür. Erreichten sie. Bückten sich. Krochen auf allen vieren nacheinander durch. Die Tür fiel zu.

»Ach, man macht gern Scherze? Die sind gut, die Jungs!« Soran lief aufgeregt über den Tisch, die Mantelaufschläge fest gepackt.

»Ja, die sind gut …«, zischte Goran und zog einen teuren Blitzentlader aus der Jackentasche. »Ich wollt sie schon ein bisschen aufladen …«

Er spuckte aus. Lachte, während er auf seine krummbeinige Art daherlief, als übte er für einen alten Tanz. Und trat plötzlich heftig gegen das einsame Menschenglas. Das flog vom Tisch, verlor seinen Halter, schlug klirrend auf die Bank, zerbrach in Stücke.

»Komm, komm gucken!«, zappelte Soran und kletterte nach unten.

»Sie sind noch heiß. Lass sie erst kalt werden.«

»Komm gucken, bevor die Menschen da sind!«

Sie kletterten auf den Boden, gingen zu den Formkästen. Es waren zwanzig. Goran musste an einen alten kapitalistischen Film mit außerirdischen Monstern denken, die genau solche erdfarbenen Kokon-Eier legten. Aus den Eiern schlüpften dann irgendwelche üblen Scheusale.

Soran lief zum Werkzeugkasten, langte nach einem Vorschlaghammer, konnte ihn aber nicht von der Stelle bewegen. Fand einen normalen Hammer, schwenkte ihn überm Kopf wie eine Flagge, lief zu den Formkästen.

»Eins!«, mit Anlauf haute er auf den ersten Kasten.

Kleine Stücke brachen ab.

»Eins! Zwei! Drei!« Soran schlug wild, hartnäckig, als wärs das letzte Mal.

›So ist er auch bei seinen Auftritten …‹, dachte Goran düster, klopfte die Pfeife am Formkasten aus, stocherte mit einem leeren Tellurnagel drin herum, um sie zu säubern.

Soran, schnell ermüdet, hielt ihm den Hammer hin. Goran steckte die Pfeife weg und schlug auf den Kasten ein: gemessen und kräftig.

Beim sechsten Schlag zersprang der Kasten, brach auseinander. Drinnen glänzten die Gussstücke. Die Kleinen zertrümmerten den Kasten mit den Füßen. Die neuen Gussstücke rutschten, in Dampf gehüllt, klirrend auf den Boden: genau vierzig Schlagringe. Goran zog einen Eisenstab aus dem Werkzeugkasten, fädelte einen heißen, dampfenden Schlagring auf und hob ihn hoch.

»Fan-tas-tisch!«, Soran kniff die Augen zusammen. »Die Waffe des Volkes! Kor-rekt!«

Er streckte sein Händchen aus, spreizte die Finger, als probierte er an. Der Schlagring war für die mittlere Klasse gedacht, also für normale Menschen. Dem Großen, der ihn gegossen hatte, hätte der ganze Schlagring auf den kleinen Finger gepasst, dem Kleinen, der fürs Gießen bezahlt hatte, hätte er sogar am Bein zu lose gesessen.

»Achthundert«, erinnerte Goran.

»Das sind achthundert Zerschmetterer! Eine Macht!«

»Achthundert Helden«, nickte Goran ernsthaft.

»Achthundert tote Blutsauger!«, schüttelte Soran die Fäustchen.

In Gorans Tasche piepste das Grips los. Er ließ den Stab mit dem Schlagring fallen, zog das Grips heraus und fächerte es geübt mit einer jähen Geste auf wie ein Garmon. Im verschwommen durchsichtigen Grips erschien der Kopf eines mittelalterlichen Recken.

»Die Großen sind weg, keine Klöpse«, meldete der Ritter.

»Und die Menschen?«, fragte Goran.

»Sind da.«

»In Fünfergruppen.«

»Verstanden.«

Goran steckte das Grips weg. Soran, die Hände in den Mantel gekrallt, lief ungeduldig neben dem leeren Tiegel herum. Goran holte seine Pfeife heraus, sprang hoch und setzte sich auf einen Formkasten.

›Den Arsch wärmt er auch …‹, dachte er und fragte, während er die Pfeife stopfte:

»Und wann wird wieder gegossen?«

»Am Tag davor!« Soran patschte gegen den Tiegel. »Am-Tag-da-vor!«

»Der Führer weiß es am besten«, nickte Goran.

Dreiundzwanzig Minuten später kamen fünf Männer von proletarischem Aussehen, mit Taschen und Rucksäcken, ohne anzuklopfen zur Tür herein.

Inhaltsverzeichnis

III

Wenn aber dereinst Vergelt fordert der Topmanager des Gossudaren, zum Ruhme der KPdSU und aller Heiligen, zum Wohle des Volkes und nach Gottes alleinigem Willen, auf Geheiß des internationalen Imperialismus, mit Verweis auf den aufgeklärten Satanismus, im Schweiß des rechtgläubigen Patriotismus, im unverbrüchlichen Konsens und Seelenfrieden mit der Finanzexpertise nach kapitalistischem Pi mal Daumen, im Namen der Geschichte des russländischen Staates, welcher die volle spitzentechnologische Kompetenz hat, zu zerschmettern und zu vereinen, zu animieren und zu diktieren, umfassend zu versöhnen und brutalst eins überzubrettern den Heiligtümern der Großen Ökumene des Volkes und der sowjetischen Parawissenschaft, den Anordnungen des Wohnungskomitees verpflichtet und den Bestarbeitern der nationalen Nanotechnologien des Heiligen Geistes nacheifernd, im Sinne der weiteren Förderung demokratischer Maßnahmen in Einsiedeleien und Betriebskollektiven, Freudenhäusern und Kindertagesstätten, Ranzbuden und Glitzerschuppen, Strelitzenkolonien und Baugenossenschaften, in Boulevardblättern und Katakombenkirchen, im Nahkampf zu Felde, im Dunstkreis der Macht, in Gen-Inkubatoren, auf den Strohsäcken, Pritschen und Latrinen aller Straflager unserer Unermesslichen Heimat qua stillschweigend vereinbarter Zwischenablage; welcher sich auskennt mit gemeinnützigen Verwertungen und feindlichen Übernahmen und weiß, wie man effizient Druck macht, anscheißt, abzockt, verdrischt, arschfickt und im Klo kaltmacht: und zwar den Ruhm der siegreichen russischen Waffen im Lichte der Geheiminstallationen von Zentralkomitee und Gewerkschaftsdachverband, die die pechgrimmigen Feinde und schwarzen Erzraben der progressiven Menschheit vernichten mit Hilfe des smarten Alt-Kaders von der Tochtergesellschaft respektive der korrekten Typen von der Orthodoxen Bank; welcher die imperialistischen Traditionen des Recken-Hightech bewahrt und mehrt: in nationalen Sondervertrauenszonen an den Ufern des Großen Russischen Flusses, in mönchischen Zellen und monarchischen Leitartikeln, in kommunistischen Kassibern und theologischen Wer-liebern, in Sexualverordnungen und Schattenhaushalten, in unschuldig hingemeuchelten Knaben, die starben für unsere Devisenmarktinterventionen, für Brot und Salz, für Schreie und Flüstern, für Kreuz und Quer, für den präsidialen Autokorso, für den viehischen Antisowjetismus, für die weiße Birke zitternd ohne Blatt, für die proletarische Internationale, für Dollar und Euro, für Schwanz und Eier, für Smartphones der siebten Generation, für Machtvertikale und scharfe Finanzaufsicht, Land und Freiheit zuwider, schwarzen Kassen und Weißer Bruderschaft zum Trotz, im Namen des ungebrochenen geistigen Heldentums von Androiden, Pensionären, Nationalbolschewiken, Getreidebauern, Webern, Polarforschern, Leibwächtern, Homosexualisten, Spin- und Ehrendoktoren, Humangenetikern, Kombattanten, Serienmördern, Angestellten des Kultur- und Dienstleistungssektors, von Zaren und Bojaren, Strippern und Stripperinnen, Taubstummen und Zungenrednern, Fronbauern und Knechten, Alten und Jungen, allen ehrenwerten Leuten, die stolz die Namen eines Wassili Buslajew, Sergius von Radonesch oder Juri Gagarin tragen, die Feinde der Fälscher der russischen Geschichte mit erbittertem Hass verfolgen und zu Felde ziehen gegen Kommunismus, orthodoxen Fundamentalismus, Faschismus, Atheismus, Globalismus, Agnostizismus und Neofeudalismus, gegen dämonische Einflüsterungen, virtuelle Zauberei und Verbalterrorismus, gegen Computersucht, gegen liberale Rückgratlosigkeit und aristokratischen Nationalpatriotismus, gegen Geopolitik, Manichäismus, Monophysitismus und Monotheletismus, Eugenik, Botanik, angewandte Mathematik und die Theorie großer und kleiner Zahlen, für Frieden und Wohlstand überall auf der Welt, für das Reich Gottes in uns, für den toten Kameraden und für Christus unsern Herrn, auf das Wohl des lieben Brautpaars, auf das Licht am Ende des Tunnels, auf den Tag des Opritschniks, auf die tapferen Heldenmütter, auf alle, die auf See sind, auf Sacharow und Lyssenko, auf des Lebens goldnen Baum, auf BAM, KAMaz und GULag, auf den Großen Perun, auf die Droge Tellur, auf den Rauch des Vaterlands, auf des Siegers Lorbeerkranz, auf den kreativen Enthusiasmus, auf den radikalen Ikonoklasmus, auf TBC und KGB, für den guten Ruf, für einen Schweinehuf, für ein Linsengericht, für ein Schwefellicht, für blauen Rauch, für einen vollen Bauch, für ein Bett im Stroh, für Nestor Machno, für die Ideale des Humanismus, Neoglobalismus, Nationalismus, Antiamerikanismus, Klerikalismus und Voluntarismus allezeit, jetzt und immerdar, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen.

Inhaltsverzeichnis

IV

Um Viertel nach sechs trat sie aus ihrer Haustür, und mein Herz zog sich zusammen: Bei ihrem ersten Anblick von Weitem war ich bestürzt, ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie so klein sein würde, so zerbrechlich und winzig; kaum ein Schulmädchen, eher schon ein Däumling, ein Märchenwesen, eine wundervolle Elfe mit grauem Mützchen und kurzem schwarzem Mäntelchen, so kam sie mir über die Gorochow-Gasse entgegen.

»Guten Tag!«

Ihre zarte, bezaubernd ruppige Knabenstimme, die ich mit keiner anderen verwechseln könnte! Eine ganze Woche lang habe ich sie am Telefon gehört, diese absurde, verfluchte Woche, die sich wie Gummi gedehnt und mich schier um den Verstand gebracht hat, die Woche unserer unerträglichen, sinnlosen Nicht-Begegnung.

Meine Hände greifen nach ihr, berühren, fassen, halten sie. Ich will sicher sein, dass sie kein Geist ist, dass sich unter dem raschelnden Mantel kein Hologramm verbirgt.

»Guten Tag«, sagt sie noch einmal, senkt den Kopf und sieht mich aus ihren zauberhaften grüngrauen Augen von unten an. »Warum sagen Sie denn nichts?«

Ich sage weiterhin nichts. Im Gesicht ein idiotisches Lächeln.

»Haben Sie lange gewartet?«

Freudig schüttle ich den Kopf.

»Ich hinke furchtbar hinterher mit Humaniora!« Ihr Blick fällt in eine mit Abfall übersäte Seitengasse, sie zupft ihren Schal zurecht. »Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Vor gerade mal drei Tagen haben unsere Ölgötzen von Lehrern sich erst bequemt, die Bücher zu verteilen. Stellen Sie sich das vor!«

Ich will mir nichts und niemanden vorstellen außer dir, mein Augenstern.

»Sie haben doch lange gewartet, nicht wahr?« Streng zieht sie die schmalen Brauen zusammen.

»Gar nicht«, sage ich. Es klingt, als würde ich gerade erst sprechen lernen.

»Kommen Sie, wir schnappen ein bisschen frische Luft.« Sie packt mich mit ihrer kleinen Hand am Ärmel und zieht mich hinter sich her.

»Ihre Antworterin ist komplett baichi, wenn Sie mich fragen. Ich rufe an und sage ganz deutlich: Bitte auszurichten, dass ich nicht im Geflecht bin, unser Grips zu Hause ist gestern mal wieder gestockt – eine einfache Bitte, sollte man meinen, oder? Darauf sie: Wüsste nicht, wem ich das ausrichten sollte, Herzchen. Herr im Himmel, sie braucht doch nur den roten Splitter zu drücken, ist das denn so bass schwer? Huyan! So ein Miststück! Bestrafen Sie sie!«

»Das werde ich, unbedingt.«

Wie ein Zombie gehe ich neben meiner Holden her.

Sie hält sich an meinem Arm fest, ihre Stiefeletten klappern auf dem Asphalt und zermalmen die Eisschicht der über Nacht gefrorenen Pfützen. Schade, dass sie in Zivil ist. In Uniform ist sie noch bezaubernder. In Uniform war sie, als ich sie zum ersten Mal sah: Die Mädchen auf dem Schulhof standen im Kreidekreis, sie spielten ihr Lieblingsspiel. Der rote Ball flog in die Höhe, ihr Name wurde gerufen. Sie rannte los, fing den Ball aber nicht gleich, er traf einmal auf dem Asphalt auf und sprang wieder hoch, sie griff ihn, drückte ihn an die Brust, etwa auf der Höhe, wo auf ihrer braunen Schuluniform das Abzeichen SO aufgenäht war, und rief: »Stander!« Die Schülerinnen, die in alle Richtungen auseinandergestoben waren, erstarrten, wie gelähmt vom Klang des strengen deutschen Wortes. Sie warf den Ball nach ihrer hochgewachsenen Freundin, traf sie am Kopf, ein verärgertes »Autsch!« ertönte, und schon prustete sie los, die kleine Hand auf dem Mund, und beugte die hinreißenden Knie, und schüttelte das bezaubernde, mit einem Zopf umwundene Köpfchen, Entschuldigungen murmelnd, wobei sie versuchte, ihr himmlisches Gelächter zu unterdrücken …

Aus ihren entzückenden, leicht aufgeworfenen, von zartem goldenem Flaum gekrönten Lippen dringen wundersame Worte:

»Die Leute spinnen alle, ganz ehrlich. Gestern stehe ich in der Aptekarski-Gasse in der Schlange nach Rindernem an, plötzlich haut mir von hinten wer auf den Rücken. Was ist denn jetzt schon wieder?, frage ich mich. Eine Hand hält mir einen Zettel hin: Bin stumm, bitte untertänigst, mir um Christi willen drei Pfund Rinderknochen zu kaufen. Aber das Komischste ist, den Kerl an sich kriege ich partout nicht zu sehen. Kein Gesicht, kein Körper, ich sehe bloß eine Hand! Und wo bitte schön ist das Individuum selber?!«

Bei diesem Satz bleibt sie stehen und stampft mit ihrem kleinen Absatz auf.

»Wahrscheinlich war er geblendet von Ihrer Schönheit und hat sich deshalb hinter dem Rücken der anderen Wartenden versteckt«, scherze ich unbeholfen.

»Ach was, von wegen Schönheit! Das war einfach ein Trick, verstehen Sie nicht? Irgendein Gauner hat aus einem gestohlenen Grips eine Hand geformt!«

»Ach so …«

»Ja! Und diese Hand spaziert jetzt seelenruhig an irgendeiner Warteschlange entlang. Sie kann um ein Almosen bitten, sie kann aber auch jederzeit eine Manteltasche erkunden, wenn es ihr beliebt. So einfach ist das!«

»Geben Sie mir Ihre Hand«, sage ich unvermittelt und ergreife ihr behandschuhtes Händchen.

»Wieso denn?«

Misstrauisch sieht sie mich an.

Ich schiebe ihren Mantelärmel zurück und presse die Lippen auf ihr kindliches Handgelenk, auf die schlanken Venen, tauche ein in berauschende Wärme und Zartheit. Sie lässt es geschehen, sieht mich schweigend an.

»Ich bin verrückt nach Ihnen«, flüstere ich den Venen zu. »Sie machen mich verrückt … verrückt … verrückt …«

Ihr köstliches Elfenhandgelenk ist nicht breiter als zwei meiner Finger. Ich küsse es, sauge mich fest wie ein Vampir. Ihre andere Hand berührt meinen Kopf.

»Sie sind wirklich früh ergraut«, sagt sie leise. »Siebenundvierzig Jahre, und schon fast weißes Haar! War das der Krieg?«

Nein, im Krieg bin ich nicht gewesen. Ich umarme sie und hebe sie an meine Lippen. Plötzlich schlüpft sie flink wie eine Eidechse aus meinen Armen und läuft davon, die Gasse hinunter. Ich setze ihr nach. Sie biegt um eine Ecke. Ich falle zurück. Sie ist eine vorzügliche Läuferin.

»Wo wollen Sie denn hin!«

Auch ich biege um die Ecke. Weit vor mir blitzen ihr schwarzer Mantel und die graue Mütze auf. Sie läuft über die Alte Basmanny-Straße auf die riesige graue Ringmauer zu, die Moskau (wo ich wohne) vom Samoskworetschje trennt (wo sie wohnt). Als sie die Mauer erreicht, lehnt sie sich mit dem Rücken dagegen und breitet die Arme aus.

Ich eile auf meine flinke Elfe zu.

Ihre zarte Gestalt wirkt so klein vor der zwölf Meter hohen Mauer, die sich wie eine graue, trübe Welle über ihr auftürmt, dass mir angst wird: Was, wenn dieser Beton-Tsunami plötzlich über dem Quell meiner Freude zusammenschlägt? Und ich sie nie mehr in die Arme schließen kann?

Mit einem Satz bin ich bei ihr.

Sie steht mit geschlossenen Augen da und presst die ausgebreiteten Arme gegen die Mauer.

»Ich stehe so gern hier«, sagt sie, ohne die Augen zu öffnen. »Man hört, wie Moskau dröhnt auf der anderen Seite.«

Wie eine Feder hebe ich sie hoch und flüstere in ihr großes Kinderohr:

»Mein Engel, haben Sie Erbarmen mit mir!«

»Was wollen Sie denn?« Ihre Arme umschlingen meinen Nacken.

»Werden Sie mein!«

»Ihre Mätresse?«

Ich spüre ein Lachen in ihrem kleinen Bauch hüpfen.

»Meine Geliebte.«

»Sie wünschen ein heimliches Rendezvous?«

»Ja.«

»In einem Gasthof?

»Ja.«

»Was das wohl kostet?«

»Zehn Rubel.«

»Ganz schön teuer«, höre ich sie dicht an meiner Wange nüchtern sagen, mit einer Traurigkeit, die nichts Kindliches hat. »Kann ich wieder runter?«

Ich setze sie ab. Sie rückt ihr Barett zurecht. Ihr Gesicht ist jetzt genau auf der Höhe meines Sonnengeflechts, in dem das Verlangen nach ihr sporadisch atomare Explosionen auslöst.

»Gehen wir?«

Sie nimmt meine Hand, als wäre ich eine Schulkameradin. Wir gehen an der Mauer entlang, schieben mit den Füßen Abfall beiseite. Sie schaukelt meine Hand vor und zurück. Das Samoskworetschje ist so schmutzig und unaufgeräumt wie eh und je, doch mich interessiert weder der Müll noch das Samoskworetschje, noch Moskau, noch Amerika, noch die Chinesen auf dem Mars. Ich betrachte das Objekt meines Begehrens, ihr konzentriertes kleines Gesicht. Sie überlegt, wägt ab.

»Wissen Sie was«, sagt sie langsam und bleibt stehen. »Ich bin einverstanden.«

Heftig ziehe ich sie an mich, schlinge meine Arme um sie, küsse ihr warmes, blasses Gesicht.

»Warten Sie, halt …« Sie stemmt sich gegen meine Brust. »Ich kann erst nächste Woche.«

»Grausame!« Ich sinke vor ihr auf die Knie. »Bis nächste Woche überlebe ich nicht! Ich flehe Sie an! Morgen im ›Slawjanski Basar‹, wann immer Sie wollen!«

»Tut mir leid«, seufzt sie, »Humaniora. Ich muss bis übermorgen fertigschreiben und abgeben, sonst geht es mir an den Kragen. Ich stehe schon seit dem ersten Halbjahr auf der schwarzen Liste. Ich muss mich bessern.«

»Ich flehe, flehe Sie an!« Ich küsse ihre abgetragenen Handschuhe.

»Glauben Sie mir, eigentlich würde ich auf Humaniora pfeifen, aber meine liebe Mama leidet so sehr, wenn ich bestraft werde. Sie ist bass mitfühlend. Und außer Mamascha habe ich doch niemanden. Mein Papa ist im Krieg geblieben. Und mein großer Bruder auch. Blöde Humaniora …«

»Wann machen Sie mich also glücklich?« Ich drücke ihre zarten Hände.

Ihre graugrünen Augen blicken nachdenklich auf die Mauer.

»Ich denke … am Samstag.«

»Am Freitag, mein Engel, am Freitag!«

»Nein, Samstag«, schließt sie ernsthaft. Innerlich ist sie viel reifer als ihre kindlichen Jahre vermuten lassen. Wie früh sie erwachsen werden, diese Kriegskinder! Ihr Vater ist bei Perm gefallen. Unsereiner war ganz anders in diesem Alter …

»Nun gut, also Samstag. Um sechs, passt Ihnen das?«

»Okay«, knurrt sie, nun vollends wie ein Junge.

»Das Restaurant im ›Slawjanski Basar‹ ist ausgezeichnet, sie machen phantastische Desserts, Limonaden, Torten, unglaubliche Schokoladentürme …«

»Ich mag Pistazieneis, Kakao mit Sahne und weiße Schokolade.« Sie zupft mein verrutschtes Cachenez zurecht. »Stehen Sie doch auf, hier ist es schmutzig, und Sie sind fein angezogen.«

Beim Aufstehen bemerke ich im Müll auf dem Boden einen leeren, schwarz angelaufenen Tellurnagel. Ich hebe ihn auf und zeige ihn ihr:

»Gar nicht schlecht lebt sichs bei Ihnen im Samoskworetschje!«

»Oha!«, ruft sie, nimmt mir den Nagel ab und betrachtet ihn von allen Seiten.

Meine Hände liegen auf ihren Schultern.

»Also am Samstag, um sechs?«

»Um sechs«, wiederholt sie, ohne den Blick von dem Nagel zu wenden. »Manche Leute haben so ein Glück. Wenn ich groß bin, will ich es unbedingt mal probieren.«

»Wozu?«

»Um meinen Papascha und meinen Bruder zu treffen.«

Eine andere hätte gesagt, sie will ihren Märchenprinzen kennenlernen. Da sieht man, was der Krieg mit den Kindern macht … Drei Lastwagen mit Landmoskauern in gelben Kitteln fahren an uns vorbei. Im letzten wird gesungen.

Mit einem neidischen Seufzer schleudert sie den Nagel gegen die Mauer, seufzt ein zweites Mal und tippt an meinen Mantelknopf:

»Ich muss gehen.«

»Ich begleite Sie.«

»Nein, nein!« Entschlossen hält sie mich zurück. »Ich gehe allein. Leben Sie wohl!«

Sie winkt mit ihrer kleinen Hand, dreht sich um und läuft los. Wie ein hungriger Löwe sehe ich ihr nach: Da läuft es fort, mein Reh. Und jedes Aufblitzen ihrer Knie und ihrer Stiefeletten, jedes Schwingen ihres Mantels, jedes Beben ihres grauen Baretts bringt den Moment näher, in dem ich im Halbdunkel eines Hotelzimmers an ihren rosafarbenen Bonbons saugen werde, bis mir schwindlig wird, und dann meine Samoskworetscher Elfe mit einem Schwung auf die Vertikale meiner Leidenschaft pflanzen und sie auf den Wellen zärtlichen Vergessens schaukeln und einlullen werde, bis über ihre Schulmädchenlippen wieder das Zauberwort kommt: »Humaniora«.

Inhaltsverzeichnis

V

»Richard, Bereitschaft 7!« Samiras Stimme singt im rechten Ohr von Richard.

Er kämpft sich durch die lärmende Karnevalsmenge, während in seinem rechten Ohr Ziffern piepen, die nacheinander in seinem rechten Auge rot aufblitzen. Dann beginnt er die Reportage:

»Liebe Zuschauer, da bin ich, Richard Scholz, RWTV. Endlich sind wir wieder hier, in Köln, wo der lang erwartete Kölner Karneval stattfinden kann. Seit drei Jahren warten wir alle sehnlichst auf diesen Rosenmontag, drei Jahre lang war es den Kölnern verwehrt, auf die Straße zu gehen, weil die Okkupanten unseren Karneval als ›Atem des Teufels‹ verdammten. Und sogar jetzt, da wir gesiegt haben, ist bei einigen Mitgliedern unserer jungen Regierung ein gefährliches Syndrom aufgetreten: das kurze Gedächtnis. Sie wollen sich nicht erinnern, sie verdrängen alles, sie sagen, es müsse endlich Schluss sein mit dem Rumwühlen in der Vergangenheit, man habe in der Gegenwart zu leben und in die Zukunft aufzubrechen, ganz wie die fröhliche Karnevalsmenge. Aber das ist eine gefährliche Tendenz, und man muss das so lange wiederholen, bis das Syndrom des ›kurzen Gedächtnisses‹ aus den parlamentarischen und ministerialen Köpfen verschwunden ist. Karneval – das ist etwas Großartiges! Gerade heute, an so einem ausgelassenen Tag, möchte ich euch und eure Kinder, damit ihr es niemals vergesst, an jenen stillen Maienmorgen vor drei Jahren erinnern, als im Kölner Vorort Leverkusen bei Sonnenaufgang neunzehn ›Herkules‹-Transporter aus Bukarest die Fallschirmjäggerdivision ›Taliban‹ absetzten. Damals haben drei dunkle Okkupationsjahre ihren Anfang genommen. Die Taliban besetzten Nordrhein-Westfalen. Ein anderes Leben begann. Sie hatten sich auf die Machtergreifung vorbereitet und bereits intensive Untergrundarbeit betrieben. Hierfür konnten sie auf radikale Islamisten in der hiesigen Bevölkerung zurückgreifen, und dann …«

»Richard, fass dich kürzer!«, singt Samiras Stimme in Richards Ohr.

»Wir haben alle in Erinnerung, was dann folgte: Hinrichtungen, Folter, körperliche Züchtigungen, Verbot von Alkohol, Kino, Theater, Erniedrigung von Frauen, Depression, eine niederdrückende Atmosphäre, Inflation, Kollaps, Krieg. Lasst uns alles daransetzen, dass sich in unserem jungen Staat, in der Rheinisch-Westfälischen Republik, dergleichen niemals wiederholt. Der wahhabitisch-talibanische Hammer darf nie wieder über dem Rhein hängen! Wir und unsere Kinder wollen in einem freien Staat leben, mit Optimismus in die Zukunft schauen und die Worte des Dichters bedenken, der über den Krieg schrieb …«

Zitate von Celan, Brecht, Heym und Grünbein stehen in seinem rechten Auge zur Wahl.

»›Schwarze Milch der Frühe, wir trinken sie abends, wir trinken sie mittags und morgens, wir trinken sie nachts.‹ Seit drei Jahren hat unser Volk diese schwarze Milch der Okkupation getrunken, viele Westfalen haben sich jene ›Gräber in den Lüften, da liegt man nicht eng‹ geschaufelt, und so verneigen wir uns vor jenen Gräbern, jenen Widerstandskämpfern, um ohne Angst und Groll einer bessere Zukunft entgegenzuschreiten …«

»Richard, Achtung, links: der Präsident und der Kanzler«, summt ihm Samira wespengleich ins Ohr.

»Freunde, da vorne links sehe ich unseren Präsidenten, General Kasimir von Lützow, und Kanzler Safak Bastürk. Wie bereits berichtet, sind sie auf dem Appellhofplatz zur Karnevalsmenge hinzugestoßen und über die Brückenstraße zum Alter Markt gegangen. Zunächst waren sie zu Fuß unterwegs, und es war so gut wie kein Rankommen, nicht einmal für mich, den Kölner Ex-Kung-Fu-Champion. Aber jetzt sitzen sie hoch zu Ross: der Präsident auf einem Schimmel mit einer weißen Decke, darauf die Kreuzzeichen, der Kanzler auf einem Rappen mit grüner Decke und Halbmond. Schöne Pferde für den Ritterkampf. Freunde, das ist symbolisch, das ist wunderschön und aktuell. Es symbolisiert nicht nur die Politik unseres Staates, sondern die Einheit zweier Kulturen, zweier Zivilisationen, zweier Religionen, der katholischen und der islamischen. Es symbolisiert jene Einheit, die unserem Land dazu verholfen hat, den blutrünstigen, starken Feind zu überwinden und den grausamen Krieg zu überstehen. Der Präsident und der Kanzler, kühn, fröhlich, voller Tatkraft, beschenken die Menge mit Kamellen aus den riesigen goldenen Füllhörnern des Überflusses. Und sie sehen nicht nur wie richtige Ritter aus – sie sind es auch. Wir alle erinnern uns an General von Lützows berühmten Wintermarsch von der niederländischen Grenze nach Köln. Auch die Bilanzen aus der Kriegszeit haben wir nicht vergessen: die Befreiung von Oberhausen, die blutigen Schlachten bei Düsseldorf, die glanzvolle Düsseldorfer Operation und den bereits in die zeitgenössische Kriegsgeschichte eingegangenen Bochumer ›Kessel‹, als General von Lützows Armee die Taliban einkreiste. Dies brach ihnen das Genick. Der Feind musste sich zurückziehen, genauer gesagt – die Flucht war bereits unabwendbar, als die Schlächter der Taliban in Panik auf die östliche Grenze zustürmten und ihr ideologischer Anführer, der sogenannte Brennende Imam, seinen …«

»Richard, Schluss mit dem Präsidenten. Komm zum Kanzler.«

»… verdienten Tod auf den Straßen des von den Taliban zerstörten Troisdorf fand. Zu dieser Zeit leitete Safak Bastürk, der zukünftige Kanzler unseres Staates, die heroische und entsagungsvolle Arbeit im Kölner Untergrund: Er gründete eine Widerstandsarmee und schmiedete in den Katakomben unserer Stadt den Excalibur des Sieges, was die Taliban ihrem Sturz immer näher brachte. Dieser Held, Ruhrpatriot, vormals Ingenieur für Wärmetechnik, wurde in den Jahren der Okkupation zu einer lebenden Legende, einem Idol des Untergrunds. Um ihn scharten sich seine islamischen Glaubensbrüder, die in Hass gegen das barbarische Taliban-Regime entbrannt waren. Von Tag zu Tag, von Monat zu Monat wuchs die Prämie, welche die Taliban auf seinen Kopf ausgesetzt hatten! ›Serbest El‹, die Widerstandsarmee, gönnte den Okkupanten keine ruhige Minute. Weisheit und Heldentum der Kämpfer von ›Serbest El‹ ist es zu verdanken, dass die Erde buchstäblich unter den Sandalen der Taliban brannte und ihre …«

»Richard, Schluss mit der Vergangenheit. Gegenwart, Gegenwart!«

»… Tage bereits gezählt waren. Aus diesem Grund ist es uns heute vergönnt, nicht nur den Sieg zu genießen, sondern auch den Karneval, den ersten seit drei Jahren: diesen wundervollen, fröhlichen, schönen, lauten Rosenmontag. Schaut, wie viele Rosatöne die festliche Menge schmücken, wie viele blumengekränzte Kinder mit Rosenblüten-Köpfen! Das sind die Kinder unserer Zukunft, Kinder, denen verheißen ist, Bürger unseres jungen Staates zu werden und den Frieden zu bewahren, den ihre Väter auf den Wiesen bei Duisburg, in den Vororten Bochums und auf den Kölner Straßen erkämpft haben. Mögen sie glücklich werden! Der Präsident und der Kanzler werfen aus den goldenen Füllhörnern des Überflusses Kamelle in die Menge. Bedeutet dies nicht eine Hoffnung für Frieden, für Wohlstand und Wohlergehen?«

»Richard, das Publikum, Kontakt.«

»Freunde, es ist Zeit, mit den Teilnehmern des Karnevals zu sprechen.« Er wendet sich an ein Paar mittleren Alters, das sich als mittelalterliche Narren verkleidet hat.

»Hallo! Wo seid ihr her?«

»Aus Pulheim! Hallo allerseits. Hallo, Köln!«

»Ihr seid doch bestimmt heilfroh, heute hier zu sein, oder?!«

»Na klar! Der Karneval ist wieder da! Cool!«

»Der Karneval ist wieder da! Und mit ihm ist auch das friedliche Leben in euer Pulheim zurückgekehrt.«

»O ja! Das ist ein Zeichen! Wir haben gesiegt! Unser Sohn hatte sich bei von Lützow als Freiwilliger gemeldet.«

»Lebt er?«

»Ja, Gott sei Dank! Schade, zurzeit ist er auf Dienstreise in Oslo. Er hätte sich uns liebend gern angeschlossen. Egal, er ist mit uns!«

Das Pärchen dehnt das Grips aus und ruft das Hologramm eines jungen Mannes auf.

»Hallo, Martin!«

»Hallo, ihr! Ich bin mit euch! Grüße aus Oslo!«

»Martin, hier Richard Scholz, RWTV. Mann, Sie werden es bestimmt bereuen, dass Sie nicht Urlaub genommen haben. Sie könnten hier sein und die Luft der Freiheit atmen!«

»Klar, klar werde ich das bereuen! Verdammt, tu ich jetzt schon! Das war dumm von mir, kein Zweifel! Wow! Diese Luft – ich spüre es!«

»Junge, hier ists einfach supertoll! So ein Gefühl, als ob wir jetzt alle verwandt sind, für ewig!«

»Cool! Ich höre unser Kölsch. Da fahr ich total drauf ab, hier in diesem verpennten Oslo.«

»Martin, Ihre Eltern haben uns berichtet, Sie hätten bei General von Lützow gedient. Welche Städte haben Sie denn befreit?

»Ich durfte leider nur in Duisburg und Düsseldorf dabei sein. Vor dem Bochumer ›Kessel‹ habe ich eine Kontusion bekommen. Und da bin ich eben, wie soll ich sagen, aus dem Prozess herausgefallen.«

»Waren Sie am ersten Tag des Sieges in Düsseldorf?!«

»Na klar! Das war cool! Von Lützow ist einfach großartig. Ich bin froh, dass wir so einen Präsidenten haben!«

»Da kommt er gerade, auf einem Schimmel!«

»Wow! Cool! Scheiße, ich bin so ein Idiot, dass ich nicht da geblieben bin!«

»Junge, du bist mit uns, du bist hier!«

»Mama, da ist ja Safak Bastürk! Der Held des Untergrunds! Mann, würde ich dem gerne die Hand drücken! Wow! Ich geh jetzt zum Pub und besauf mich!«

»Junge, lass die Finger vom norwegischen Aquavit. Davon kriegst du bloß Depressionen!«

»Bleib beim Bier, Martin!«

»Junge, unser Reissdorf schenken die dort bestimmt nicht aus!«

»Nimm lokales, nur lokales!«

»Na klar doch, Papa!«

»Martin, sagen Sie, in Oslo ist weiterhin alles ruhig?«

»Ja, Glück gehabt. Für die Norweger ist alles glimpflich abgegangen. Der Krieg ist gar nicht bis hierhergekommen. Die haben nur ein paar Raketen abgekriegt, aber die Gebäude sind unversehrt geblieben. Anders als bei uns. Wow! Sehe Trolle und Gnome! Cool!«

»Gehen wir zu den Trollen! Viel Glück, Martin!«

Drei Große, als Trolle herausgeputzt, tragen Gnome auf den Schultern, die Süßigkeiten in die Menge werfen. Richard kämpft sich zu ihnen durch.

»Stopp, Richard! Die Trolle können warten. Da hinten ist Sabina Gritsch«, klingelt Samira im Ohr.

Richard dreht sich um, geht an der Menge vorbei in die Gegenrichtung. Gritsch, hochgewachsen und muskulös, wird begleitet von ebenso großen und muskulösen Amazonen-Freundinnen. Sie tragen Kostüme der Elfenkrieger aus Herr der Ringe.

»Hallo, Sabina! Richard Scholz, RWTV. Unsere Zuschauer und ich freuen uns, Sie zu sehen, die Heldin des Bochumer ›Kessels‹, hier, in der festlichen Menge!«

»Ich grüße alle, die es wert sind.« Stolz, im Gefühl der eigenen Würde, hebt Sabina die Hand.

Ihre Freundinnen heben ebenfalls die Hände.

»Wie ist Ihre neue Hand?«

»So ganz meine ist sie zwar noch nicht, aber immerhin macht sie schon, was ich will«, lächelt Sabina.

»Liebe Zuschauer, für alle, die sich nicht an die Geschichte von Sabina Gritsch erinnern, auch wenn es nur wenige sind, da bin ich mir sicher, denen also will ich es noch einmal vor Augen führen: der Bochumer ›Kessel‹, das Gebäude der Universität, wo der letzte Herd des Widerstands der Taliban war, die geisteswissenschaftliche Fakultät, der Jeep des Kommandanten des dritten Regiments von Georgsmarienhütte, die Granate, von den Taliban geworfen, Sabina Gritsch, die sie mit der Hand abfing, den Kommandeur rettete und dabei ihre Hand verlor. Und davor der Kampf am Hustadtring, wo Sabina aus ihrer ›Wespe‹ den Schützenpanzer getroffen hatte. Sie ist eine Heldin! Ehre dem Karneval, an dem Heldinnen wie Sabina Gritsch und ihre Kampfgefährtinnen teilnehmen! Sabina, ist das heute ein glücklicher Tag für Sie?«

»Ich bin glücklich, dass das Böse besiegt wurde und der schwarze Turm mit dem Allsehenden Auge eingestürzt ist. Wir haben ihn umgeworfen!«

Die Amazonen-Freundinnen stoßen einen Kampfruf aus.

»Wunderbar! Der talibanische Sauron ist besiegt, das Volk jubelt! Sabina, was möchten Sie unseren Zuschauern an diesem Tag wünschen?«

»Ich wünsche allen Bewohnern unseres Rheinischen Königreichs Goldenen Wind, Reine Ufer und Neue Morgenröte! Auf die Neue Morgenröte!«

»Auf die Neue Morgenröte!«, schreien die Amazonen.

»Der wunderschöne Schlachtruf der Bochumer Walküren! Wir haben ihn nicht vergessen! Sabina, sind Sie schon ins heimatliche Bochum zurückgekehrt?«

»Mein Haus in Aspai haben die Orcs zerstört, die geliebte BRUST ist im Krematorium der Goblins verbrannt worden, die geflügelte Silvia traf sich mit der Ewigkeit, die goldhaarige Mascha flüchtete nach Amerika. Aber ich halte Den Stab, ich habe die Weiße Decke von den Nephrit-Pforten abgezogen, ich glaube an die Überwindung des Grauen Nebels. Wie schon früher treiben wir im Fluss der Reinen Liebe.« Sabinas Freundinnen stoßen den Ruf der Walküren aus.

»Wunderbar! Ich bin mir sicher, dass euer Fluss der Reinen Liebe heute direkt in den Rhein mündet! Sabina, wunderschöne Amazonen, seid glücklich! Im Namen aller Zuschauer küsse ich Ihre wunderschöne erneuerte Hand, die neue Hand des friedlichen Lebens!«

Er kniet vor Sabina nieder, küsst ihr die Hand.

»Richard, rechts, rechts, rechts!«, piekst ihn Samira. »Zwetan Mordkowitsch!«

»Freunde, schaut her, wer hier in der Nähe war! Zwetan Mordkowitsch, das berühmte Ass, der Husar der Lüfte, der den Himmel unseres Landes schützte und stechende Schläge aus der Luft verteilte! Hallo, Zwetan!«

»Hallo!«

»Sie sind also mit der Familie hier – und so zahlreich!«

»Klar, heute bin ich mit dem ganzen Kommando hier!«

»Was können Sie, ein Held des Himmels, unseren Zuschauern sagen?«

»Ich bin sehr froh, hier zu sein, zusammen mit allen …«

»Endlich auf der Erde, ja?«

»Ja, auf der Erde, mit meinen Verwandten, mit allen, die ich geschützt habe.«

»Dank euch können wir heute ruhig über diese Erde gehen, ohne der Gefahr von Bombenanschlägen, ohne der Angst vor Explosionen und pfeifenden Kugeln ausgesetzt zu sein. Der Luftalarm über Köln ist verstummt. Zwetan, das haben wir euren Heldentaten in der Luft zu verdanken. Sie persönlich haben vier Flugzeuge der Taliban abgeschossen, vier Hurensöhne, die unseren friedlichen Himmel erschüttert haben.«

»Ja, etwas ist gelungen. Das Wichtigste ist, dass man mich nicht abgeschossen hat. Der Himmel stand mir bei.«

»Ja, Zwetan, und ein Himmel ist das heute. Wie für uns bestellt. Keine einzige Wolke.«

»Der Himmel ist wunderschön, wir sind alle fröhlich …«

»Die schwarzen Wolken haben sich verzogen, ja?«

»Ja, sodass jetzt alles gut ist …«

»Sodass am Himmel nur noch Sonne ist, ja? Und keine schwarzen Silhouetten!«

»Ja, ein friedlicher Himmel – das ist gut.«

»Toll gesagt, Zwetan. Wollen Sie den Regimentskameraden der Staffel ›Westfälischer Falke‹ einen Gruß übermitteln?«

»Ja, ja, Husaren der Luft, ich erinnere mich an euch alle und liebe euch! Wir haben gesiegt! Es lebe der Karneval!«

»Es lebe der Karneval! Danke, Zwetan! Und jetzt, Freunde, gehen wir zu den Trollen!«

»Stopp, Richard, Fatima macht weiter. Du hast frei.«

 

Richard nimmt ein Stück schlaues Plastik von seiner Schulter, steckt es in die Tasche. Mit Mühe kämpft er sich aus der Menge, geht in die Filzengrabenstraße zu seinem Roller, er stellt sich drauf und fährt am Ufer entlang nach Hause. Er schließt auf, geht hinein, steigt drei Stockwerke hoch und öffnet die Tür. Er tritt in den Flur und zieht das Jackett aus.

Die Stimme von Silke, seiner Frau(verstärkt durch den Lautsprecher) Bist du das?

Richard(hängt das Jackett auf) Ich bins.

Die Stimme von Silke Hast du Hunger?

Richard Und wie.

Die Stimme von Silke Ohne mich.

Richard Du hast schon?

Die Stimme von Silke Später.

Richard geht in die kleine, mit alten Möbeln eingerichtete Küche, öffnet den altmodischen Kühlschrank, holt eine Flasche Bier heraus, macht sie auf, trinkt aus der Flasche. Guckt in den Kühlschrank, entnimmt ihm eine Reisschale mit nicht mehr ganz frischem Hähnchensalat und zwei Würstchen. Setzt Wasser auf, legt die Würstchen in einen Topf, übergießt sie mit kochendem Wasser. Isst den Salat im Stehen, beißt von der Schale ab und guckt aus dem Fenster. Draußen ein schmaler Hof, eine alte Kastanie, verrostete Fahrräder und überfüllte Müllcontainer. Nachdem er aufgegessen hat, nimmt er die Würstchen aus dem Topf, verspeist sie hastig und spült mit Bier nach. Die leere Flasche stellt er in einen Plastikkasten für Leergut. Er nimmt einen Apfel, beißt hinein, geht aus der Küche durch den schmalen Korridor zur Toilette, uriniert, den Apfel zwischen den Zähnen. Dann hält er inne. Spuckt den Apfelstrunk aus, stöhnt grimmig, geht abrupt hinaus, knallt mit der Tür, murmelt »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, als er den Hosenstall zumacht, läuft hinaus in den Flur und landet im einzigen Zimmer seiner Wohnung. Es ist mit Antiquitäten vollgestopft, die offensichtlich öfter umgezogen sind. Einige Sachen sind in Plastik verpackt. Auf einem ovalen Esstisch steht ein Glashäuschen. Das Haus von Silke, einer kleinen, hübschen, schlanken Blondine. Sie ist nicht größer als eine 0,3-l-Bierflasche. Silke wippt auf einem winzigen Skitrainingsgerät, das in der Mansarde ihres Häuschens steht. Sie trägt Sportkleidung. Aus dem Häuschen dringt rhythmische Musik. Richard läuft zum Tisch und hängt sich, auf die Arbeitsplatte gestützt, über das Häuschen.

Richard Silke, ich brauche einen Nagel!

Silke(bewegt sich weiter) Das ist ja mal was ganz Neues.

Richard Ich brauche einen Nagel!

Silke Lieber, das ist öde.

Richard(schreit) Ich brauche einen Nagel!

Silke Mir platzt der Kragen. Ritsch – und das wars.

Richard kann sich gerade noch zusammenreißen, setzt sich auf einen Stuhl, die geballten Fäuste auf dem Tisch.

Silke(bewegt sich weiter) Du siehst sehr aggressiv aus. Verstehe, du bist müde. Hab deine Reportage gesehen.

Richard Gib mir einen Nagel.

Silke Beruhige dich, Lieber.

Richard Gib mir einen Nagel!

Silke Noch drei Minuten, und ich bin fertig, dann komme ich zu dir, und wir beruhigen uns gemeinsam.

Richard(schlägt mit der Handfläche auf den Tisch) Ich brauche einen Nagel!

Silke(bewegt sich weiter) Richard, du brauchst keinen Nagel.

Richard Gib mir einen Nagel!

Silke Richard, hast du deine Medikamente genommen?

Richard Silke, mach die Tür auf!

Silke Nein, mach ich nicht.

Richard(verliert die Selbstbeherrschung) Ich hau dir deine Scheißhütte kaputt!

Silke Machst du ja doch nicht.

Richard(hysterisch) Mach auf, du Miststück!

Silke Lieber, nimm deine Medikamente. Das letzte Mal hast du sie am Morgen genommen.

Richard(nimmt den Stuhl, holt aus) Pass auf, du Hure …

Silke(bewegt sich ruhig und gleichmäßig) Ich pass schon auf, ich pass schon auf.

Richard schleudert den Stuhl mit einem Schrei aufs Bett und sinkt zu Boden.

Silke Du bist einfach müde. Ich hab Karneval noch nie gemocht. Er macht einen fertig.

Richard(lässt kraftlos den Kopf hängen) Gib mir einen Nagel …

Silke Nimm deine Medikamente. Dann geht es dir gleich besser.

Richard(schreit) Mach die Scheißmusik aus!!

Silke stellt die Musik ab, steigt von dem Trainingsgerät herunter, hängt sich ein Handtuch um den Hals.

Silke Ich verstehe, Liebster, wie satt du es hast, diesen patriotischen Schwachsinn zu erzählen. Aber wieso lässt du deinen Frust an mir aus, dem Menschen, der dir am nächsten steht?

Richard schweigt.

Silke Du hast alles superprofessionell gemacht. Die werden dir zusagen, da bin ich sicher.

Richard(lässt den Kopf hängen) Die Entscheidung hängt nicht von der Qualität der Reportage ab.

Silke In der Probezeit hängt alles von allem ab.

Richard In meinem Fall hängt es nur von dieser Idiotin ab.

Silke Es interessiert nur dein Psychosoma. Dein professionelles Niveau ist allen längst bekannt.

Richard(schüttelt den Kopf) Die können mich mal …

Silke Können oder nicht können. Aber die halten nun mal die Stellung. Du musst schon mit ihnen rechnen, Lieber.

Silke steigt in die zweite Etage hinunter, betritt eine durchsichtige Duschkabine, zieht sich aus und stellt sich unter die Dusche.

Richard Und wir sitzen jetzt ohne Geld da – noch einen ganzen Monat lang.

Silke Macht dir das Angst? Wir verhungern schon nicht.

Richard Ich brauche eine Dosis.

Silke Hättest du gleich sagen sollen. Stattdessen heißt es: »Wir sitzen ohne Geld da!«

Richard Eine einzige! Und ich krieg mich wieder ein.

Silke Du bekommst einen Anfall. Und dann nehmen sie dich nicht.

Richard Eine Dosis! Von einer krieg ich keinen Anfall!

Silke Eine reicht dir nicht. Und für fünf haben wir, wie du gerade getönt hast, kein Geld.

Richard Wenn wir einen Nagel verkaufen, haben wir fünfhundert Mark.

Silke Um dir für zwanzig eine Dosis zu kaufen? Eine tolle Arithmetik, mein Lieber.

Richard Wir haben nicht mal zwei Mark! Das gabs noch nie! Und ich hab noch Schulden!

Silke Liebster, es wird alles gut, wenn sie dich nehmen. Bitte, deine Medikamente!

Richard Gib mir einen Nagel.

Silke Du weißt doch, dass die Nägel unsere eiserne Ration sind. Wenn ich dir einen Nagel gebe, kaufst du gleich hundertmal eine Dosis. Und dann fängt all das an, was wir bereits bis zum Erbrechen kennen.

Richard Ich kauf nur eine einzige Dosis, ich schwöre!

Silke O schwöre nicht, ruhmreicher Ritter.

Richard Wir haben kein Geld! Die Situation ist kritisch! Keinen einzigen Pfennig!

Silke Niemand hat jetzt Geld. Die Nachkriegsreform, wie unser Präsident sagt, nimmt langsam, doch stetig Kontur an. Aber der Preis für Nägel steigt. Acht Prozent in drei Tagen. In ein paar Monaten haben wir mein Tellur-Erbe verdoppelt.

Richard Einen Nagel, Silke! Wir haben doch acht davon! Nur einen! Und wir werden uns normal fühlen!

Silke(kommt aus der Dusche, trocknet sich mit einem Handtuch ab) Ich fühle mich ganz normal. Hör auf zu betteln.

Richard Du … so ein Miststück?!

Silke Hast es dir doch so ausgesucht.

Richard Du siehst doch, dass es mir schlecht geht, oder?

Silke Nimm die Medikamente.

Richard(schreit) Scheiß der Hund auf diese Medikamente!! Mir ist schlecht! Wirklich!

Silke(zieht den Bademantel an) Richard, was bist du: stark oder schwach? Als du mich in deiner Jackentasche durch das brennende Bochum getragen hast, wusste ich, dass du stark bist. Und auch als wir im Keller saßen. Und als du Hundefleisch gebraten hast. Und als du durch jenen Tunnel gerannt bist, und als du dich mit drei Behinderten geschlagen hast. Da warst du stark. Ich war stolz auf dich. Schrecklich stolz. Damals hast du die Drogen vergessen. Aber sobald der Krieg zu Ende war, bist du auf einmal schwach geworden. Was ist los mit dir?

Richard Ich brauch nur einen Nagel! Einen! Dann komm ich wieder zu mir.

Silke(schreit) Ich gebe dir keinen Nagel!

Richard sitzt schweigend da. Silke steigt hinunter in die erste Etage, geht in die Küche, trinkt Wasser, setzt sich an den Tisch und legt die Beine hoch. Sitzt da, trinkt Wasser.

Silke In einem Monat werden sie dich einstellen, und dann kriegst du auch deinen Lohn. Wir werden Geld haben.

Richard Ich … brauche …

Silke Du brauchst eine Dosis. Gut. Ich hab was zurückgelegt.

Richard Was denn? Den Diamantring von deiner Oma? Kein Schwein braucht jetzt Diamanten!

Silke Richtig. Das braucht keiner. Nein, kein Ring.