Tempted by Deception - Rina Kent - E-Book

Tempted by Deception E-Book

Рина Кент

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Beschreibung

Mein Ehemann. Mein Schurke. Wir begannen mit Tod und Blut. Wir begannen mit Spielen und fleischlichen Gelüsten. Adrian und ich sollten nicht zusammen sein. Er ist verdreht. Ich bin verdreht. Was wir zusammen haben, ist der Inbegriff einer Katastrophe. Dennoch ist es uns nicht möglich, aufzuhören. Entweder wird mein Ehemann mich zerstören … oder ich werde ihn zerstören. Leseempfehlung: ab 18 Jahre

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Anmerkung der Autorin
Playlist
Was bisher geschah …

Rina Kent

 

Tempted by Deception

 

 

 

 

Tempted by Deception

 

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

»TEMPTED BY DECEPTION«.

Copyright © 2022. TEMPTED BY DECEPTION by Rina Kent

the moral rights of the author have been asserted.

 

Deutschsprachige Ausgabe © 2025. Tempted by Deception

by VAJONA Verlag GmbH

 

Übersetzung: Anne Masur

Lektorat: Alexandra Gentara

Umschlaggestaltung: Haya In Designs

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

Für die Bösewichte.

Anmerkung der Autorin

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

falls du bisher noch keines meiner Bücher gelesen hast, könnte das neu für dich sein, aber ich schreibe düstere Geschichten, die aufregend und verstörend sein können. Meine Bücher und Charaktere sind nichts für schwache Nerven.

 

Tempted by Deception ist das zweite Buch einer Trilogie und sollte zusammenhängend gelesen werden.

 

Deception Trilogie:

 

#1 Vow of Deception

#2 Tempted by Deception

#3 Consumed by Deception

 

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Mein Ehemann. Mein Schurke.

 

Wir begannen mit Tod und Blut.

Wir begannen mit Spielen und fleischlichen Gelüsten.

Adrian und ich sollten nicht zusammen sein.

Er ist verdreht.

Ich bin verdreht.

Was wir zusammen haben, ist der Inbegriff einer Katastrophe.

Dennoch ist es uns nicht möglich, aufzuhören.

Entweder wird mein Ehemann mich zerstören … oder ich werde ihn zerstören.

Playlist

 

Hate Myself – NF

Peace of mind – Villain of the Story

Drown – Bring Me The Horizon

M.I.N.E – Five Finger Death Punch

How to Save a Life – The Fray

Gasoline – Halsey

Worlds Apart – The Faim

I’ll Be Good – Jaymes Young

I Know How to Speak – Manchester Orchestra

Sorry for Now – Linkin Park

The Light Behind Your Eyes – My Chemical Romance

Fake Your Death – My Chemical Romance

Roses – Awaken I Am

Follow Your Fire – Kodaline

Lion – Hollywood Undead

Only Us – DYLYN

Choke – Royal & the Serpent

 

Die ganze Liste findet ihr auf Spotify.

 

 

Was bisher geschah …

 

Seit Adrian Volkov die obdachlose Winter von der Straße New Yorks aufgelesen und gezwungen hat, den Platz seiner toten Frau Lia einzunehmen, lebt diese auf seinem Anwesen. Dort baut sie eine Bindung zu Adrians sechsjährigem Sohn Jeremy auf, der ihr ängstlich von einer Geister-Mommy erzählt, die auch Winter kurz darauf in ihren Albträumen heimsucht … doch nicht nur dort. Eines Tages entdeckt sie im Gästehaus die echte – und durchaus lebendige – Lia und beschließt, zu fliehen. Dazu nimmt sie Kontakt zu dem »Schatten« auf, der Lia einen Auftrag gegeben zu haben scheint, und hofft, dass er ihr bei der Flucht helfen würde. Doch als sie ihn trifft, kommt ihr die Erkenntnis, dass sie nicht die obdachlose Winter ist, sondern tatsächlich Lia Volkov, Ehefrau eines Mafioso und Jeremys Mutter.

 

 

 

 

»Du wirst tun, was man dir sagt.«

Ich nicke knapp.

Es ist besser, zu gehorchen, wenn meine Mutter in diesem Zustand ist – oder in überhaupt irgendeinem Zustand.

Seit ein paar Minuten geht sie über die gesamte Länge unseres kleinen Apartments auf und ab, starrt in einer Sekunde auf ihr Handy und tippt in der nächsten darauf herum.

Meine Füße baumeln von dem großen Stuhl in unserem Wohnzimmer, der nach verbranntem Essen riecht, weil Mom es hasst zu kochen und auch nicht gut darin ist. Mein Buch, Der Nussknacker, liegt auf meinem Schoß, obwohl ich aufgrund von Moms Laune nicht lesen kann. Es schneit, die Fenster sind mit einer leichten weißen Schicht bedeckt, so wie in den Weihnachtsfilmen, aber der Kamin bietet Wärme gegen die Kälte dort draußen.

Meine Mutter ist groß und schlank und geht ständig ins Fitnessstudio. Dann bleibe ich allein zu Hause, damit sie sich wieder »in Form« bringen kann, nachdem ich sie bei meiner Geburt »ruiniert habe«. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber solche Dinge sagt sie ständig. Sie trägt eine enge Bluse und einen eleganten Rock, ihre blonden Haare sind zu einem Dutt zurückgebunden.

Ihre Lippen sind blutrot und ihre Ohrringe so lang, dass sie wie Lametta an Weihnachten herunterhängen, was ich dieses Jahr mit meinem Vater und seiner Frau, Tante Annika, gefeiert habe. Den ganzen Monat danach hat Mom ständig Dinge nach mir geworfen, aber das war es wert.

Mom hasst Tante Annika. Sie tut und sagt Dinge, die sie verletzen, wie dass sie nicht mal Kinder bekommen kann. Meine Stiefmutter erwidert darauf nichts, manchmal lächelt sie sogar, was meine Mutter noch wütender macht. Aber ich sehe Tante Annika oft alleine in ihrem Zimmer weinen. Dann stelle ich mich neben sie und tätschele ihre Hand. Manchmal reicht das schon aus, damit es ihr besser geht.

Doch Mom lässt nicht locker. Sie fordert sogar von mir, dass ich nach Dingen suche, wenn ich bei Dad bin, mit denen sie Tante Annika wehtun kann.

Doch ich will nicht, dass Tante Annika leidet. Sie backt Kuchen für mich und lässt mich von ihrem Tee trinken. Sie geht mit mir spazieren und kauft mir Handschuhe und Schals, um »meinen kleinen Körper« vor der Kälte zu beschützen, wie sie sagt. Sie umarmt mich auch und küsst meine Wangen.

Mom tut das nie.

Durch ihre Arbeit im Krankenhaus ist Mom nicht viel zuhause. Ich schon. Wenn ich von der Schule nach Hause komme, verbringe ich viel Zeit allein. Nachts ist das gruselig, weil ich mich vor den Monstern unter meinem Bett fürchte.

Mom sagt, dass das Quatsch und das wahre Monster Tante Annika sei. Weil diese »Schlampe« der Grund dafür ist, dass sie nicht mit Dad zusammen sein kann.

Über die Zeit begann ich, Mom falsche Informationen zu geben, weil ich Tante Annika nicht verletzen wollte. Als Mom das herausfand, schlug sie mich, und einmal hat sie mein ganzes Gesicht mit rotem Chilipulver eingerieben. Es brannte so stark, dass ich Sterne sah, aber ich habe nicht geweint. Mom und Dad mögen es nicht, wenn ich weine.

Mom sagt, dass Dad ein mächtiger Mann ist und ich auf ihn und sie hören muss. Aber Tante Annika hat mir erzählt, es wäre besser, nicht auf alles zu hören, was Dad sagt.

»Weil er so mächtig ist?«, fragte ich, während sie mir ein Buch vorlas, nachdem sie mir mit meinen Hausaufgaben geholfen hatte.

Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht, als sie lächelte. Ihr Lächeln ist immer traurig, ganz anders als Moms, das aussieht wie das des Bösewichts aus einem Cartoon. »Weil er gefährlich ist, malyshonuk.«

»Wie der Bösewicht in dem Cartoon?«

»M-hm.«

»Aber Mommy sagt, er ist mächtig.«

»Auf eine schlechte Art und Weise.« Sie schlang ihre Arme um mich. »Ich wünschte, ich könnte dich einfach schnappen und weglaufen, mein Liebling.«

Das wünschte ich auch. Und ich wünschte, dass sie meine Mutter wäre. Wenigstens tut sie mir nicht weh und ich fühle mich wohl bei ihr. Wenigstens mag sie mich.

Mom tut das nicht.

»Was hat diese Hure dir erzählt?«, fragt Mom mit harschem Ton, der mich zusammenzucken lässt. Es gefällt mir nicht, wenn sie Tante Annika so nennt.

»Nichts.« Meine Stimme ist kleinlaut.

Sie stapft auf mich zu und ich klammere mich an mein Buch, warte wie immer auf den Schlag. Ganz egal, wie oft sie mich schlägt, ich werde mich nie daran gewöhnen. Ich hasse den Schmerz, den es mit sich bringt, aber vor allem hasse ich, dass sie mich nicht so behandelt, wie die meisten anderen Mütter ihre Kinder behandeln.

Manchmal frage ich Tante Annika, warum sie nicht meine Mutter ist, was sie nur wieder auf diese traurige Weise lächeln lässt.

Diesmal schlägt Mom mich nicht, aber sie krallt ihre Finger in mein Shirt und hebt mich daran hoch. Von so nahem ist sie hübsch, aber auf eine gruselige Art und Weise. Wie die Hexen aus Trickfilmen. »Verrat mir, was sie gesagt hat, du kleiner Pisser!«

Ich bekomme keine Luft.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich nicht atmen kann. Wenn Mom mich beim Weinen erwischt, drückt sie mir ein Kissen aufs Gesicht, bis ich aufhöre.

Deshalb tue ich es erst gar nicht mehr. Deshalb möchte ich mich an den Schmerz gewöhnen, damit ich nicht mehr weinen muss.

Das Buch, das Tante Annika mir gekauft hat, fällt mit einem dumpfen Schlag auf den Boden, während meine kleinen Hände nach Moms größeren greifen und versuchen, sie wegzuschieben.

»M-mom …«

Ihr Ausdruck verändert sich nicht, als sie auf mich herabstarrt. »Glaubst du, das wären Schmerzen, du kleiner Bastard? Was ist mit den Schmerzen, die ich hatte, als ich dich zur Welt gebracht habe? Glaubst du, ich wollte ein uneheliches Kind? Ich bin Dominika Alekseev, Jahrgangsbeste an der Harvard Medical School, und dennoch habe ich mich selbst geopfert. Anstatt deine jämmerliche Existenz abzutreiben, habe ich die Brut deines Vaters ausgetragen, damit er diese Schlampe verlässt. Aber hat er das getan? Nein. Immerhin gehört sie zum Adel und ist wertvoller für ihn, selbst ohne Kinder. Also glaub bloß nicht, dass du als irgendetwas anderes dienst als die Brücke zwischen deinem Vater und mir. Du bist mein Sohn, ob ich dich wollte oder nicht, und du wirst diese Schlampe nicht mir vorziehen, sonst werde ich dich verdammt noch mal umbringen. Ich werde dir dein Leben nehmen, so wie ich es dir gegeben habe. Hast du das verstanden?«

Sie stößt mich gegen den Stuhl und ich sauge tief Luft ein, keuchend und schnaufend. Das Holz bohrt sich in meine Seite und ein Splitter sticht in meinen Arm. Winzige Blutstropfen sammeln sich auf meiner Haut, bevor sie auf das Buch tropfen.

Ich haste nach vorn, lasse mich auf dem Holzboden auf die Knie fallen und wische das Cover von Der Nussknacker mit dem Handrücken ab.

Mom reißt mir das Buch aus den Fingern.

»Mom, nein!«

Sie neigt den Kopf zur Seite. »Das hast du von ihr, nicht wahr?«

Ich schüttle einmal den Kopf.

»Lüg mich nicht an. Sie ist die einzige Idiotin, die diesen Müll gut findet.« Ein durchtriebenes Grinsen überzieht ihre Lippen, als sie es anhebt und ihre Hände so positioniert, als wollte sie es durchreißen. »Wirst du mir verraten, was sie gesagt hat?«

»Ich … sie …«

»Was?«

Ich will nicht, dass sie mein Buch zerreißt, aber ich will ihr auch nichts über Tante Annika verraten.

»Also schön, du kleiner Bastard.«

»Nein!« Ich stürze mich auf sie. »Sie … sie sagte, wir würden in den Urlaub fahren.«

Sie hebt eine Braue. »In den Urlaub? Und wohin?«

»Nach Russland.«

Sie lacht, zeigt ihre perfekten weißen Zähne hinter dem Lippenstift. Der Klang ist so laut, dass ich mir am liebsten beide Hände über die Ohren geschlagen hätte, um sie nicht mehr hören zu müssen.

»Soso. Die Vorzeige-Lady plant also eine Flucht.« Noch immer mit dem Buch in der Hand zieht sie ihr Handy hervor und geht zum Kamin.

Mom betrachtet das Buch kurz und murmelt: »Müll«, bevor sie es in die lodernden Flammen wirft.

Ich haste nach vorn, versuche, es zu retten, aber die Flammen verschlingen es bereits. Tränen brennen in meinen Augen und ich schlage Mom gegen ihr Bein. »Du hast gesagt, du würdest meinem Buch nichts tun!«

»Ich habe gelogen. Und jetzt sei still.« Sie stößt mich zurück und ich lande mit dem Hintern auf dem Boden neben ihr. Der Schmerz lässt mich zusammenzucken, aber ich habe schnell gelernt, ihn zu verbergen.

Mom hält das Handy an ihr Ohr und stemmt die andere Hand in ihre Hüfte. »Es gibt eine Planänderung … Ja … ein Unfall … heute Nacht …«

Nachdem sie aufgelegt hat, wendet sie sich mit einem triumphierenden Lächeln an mich, das sie wieder wie einen Bösewicht aussehen lässt. »Endlich hast du dich als wertvoll erwiesen, du kleiner Bastard.«

»Darf ich dieses Wochenende Tante Annika sehen?«

»Nein.«

»Aber Dad hat gesagt …«

»Dein Dad wird nicht länger auf ihrer Seite stehen, Adrian. Denn egal, wie lange er bei ihr bleibt und egal, wie sehr dieses Flittchen Annika und ich ihm zu Füßen liegen, es gibt nur eine Person, die ihm wirklich wichtig ist. Die eine Person, die sein Vermächtnis fortführen wird.« Sie neigt den Kopf zur Seite. »Du.«

Ich erhebe mich, stelle mich ihr entgegen. »Dad hat gesagt, ich könnte das Wochenende mit Tante Annika verbringen.«

»Das wird leider nicht möglich sein.«

»Warum nicht?«

Sie beugt sie herunter und flüstert mir zu: »Weil deine geliebte Annika endlich verschwinden wird.«

»Nein …« Tränen strömen über meine Wangen. Alles, woran ich denken kann, ist ihr Lächeln, auch wenn es traurig war, die Umarmungen und wie sehr sie sich um mich sorgt. Sie darf nicht verschwinden und mich mit Mom und Dad allein lassen.

»Doch. Und das wird auch verdammt noch mal Zeit.« Ihr Handy klingelt und sie grinst. »Das ging schneller als erwartet.«

Ich beobachte, wie sie dem jemand am anderen Ende zuhört. Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen und sie schürzt ihre roten Lippen. Das Gewicht auf meiner Brust löst sich, als wäre es nie da gewesen. Wenn Mom sauer ist, bedeutet das, dass es Tante Annika gut geht.

»Nein, Georgy darf keinen Verdacht schöpfen … Ja … Ich werde mir etwas ausdenken, um ihn abzulenken.«

Nachdem sie aufgelegt hat, starrt sie in den Kamin, eine Hand in der Hüfte, die andere ballt sich um das Handy.

»Geht es Tante Annika gut?«, frage ich mit leiser Stimme.

Plötzlich wirbelt sie herum, als hätte sie vergessen, dass ich da bin. Das Funkeln in ihren Augen gefällt mir nicht, oder das leichte hämische Grinsen auf ihren Lippen. »Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Der beste Weg, Georgy abzulenken, bist du, du kleiner Bastard.«

Als sie langsam auf mich zukommt, stolpere ich zurück. Ich will nicht wieder geschlagen werden. Meine Beine treffen auf den Couchtisch und ich lande auf meinem Hintern.

Mom bleibt direkt vor mir stehen, ihr Schatten legt sich über mich und schirmt mich von dem Schein des Feuers ab. »Warum läufst du vor mir weg?«

Sie streicht mit ihren Nägeln über meine Wange, dann durch mein Haar, aber es ist nicht liebevoll wie bei Tante Annika, wenn sie mich ins Bett bringt. Moms Hände sind kalt, genau wie der Ausdruck auf ihrem Gesicht.

Als wäre man mitten im bitterkalten russischen Winter.

Mom greift um meinen Arm und ich bleibe starr wie ein Baum, unfähig, mich zu bewegen. Sie wählt eine Nummer auf ihrem Handy und schnieft ein bisschen, bevor sie es sich ans Ohr hält. »Oh, Georgy! Was machen wir nur mit Adrian?«

Als sie innehält, kann ich die wütenden Flüche auf Russisch am anderen Ende der Leitung hören.

Tränen laufen über Moms Wangen. Immer, wenn sie mit Dad redet, weint sie, obwohl ihre Miene auch jetzt noch wie die eines Bösewichts aussieht.

»Er … er ist hingefallen und hat sich den Arm gebrochen … Ich weiß nicht, was ich tun soll. Kannst du herkommen? Bitte!«

Noch mehr Flüche von meinem Vater. Noch mehr Russisch.

»Oh, mein Baby!«, schreit Mom und legt auf. Sie schnieft noch einmal, und dann kehrt einfach so ihr normaler Gesichtsausdruck zurück. »Also, Adrian, dir macht es doch nichts aus, für deine Mutter ein kleines Opfer zu bringen, oder?«

Bevor ich antworten kann, legt sie ihre Hand um meinen Arm und verdreht ihn mit einer harten, schnellen Bewegung.

Ein hässliches Knacken hallt durch die Luft und ich kreische.

 

 

 

 

Ohne Schmerz erreicht man nie etwas Gutes.

Seit ich ein kleines Mädchen war, wurde mir diese Tatsache mit blutbefleckten Fingern eingebläut.

Ich wurde in Schmerz geboren, unter Schmerzen aufgezogen, und habe ihn schließlich akzeptiert.

Doch egal, wie viel Schmerz ich auch erdulde, ich habe es nie geschafft, ihm gegenüber abzustumpfen. Nicht einmal, indem ich alles daran setzte, meinen Körper darauf zu trainieren.

Schmerz ist real, erstickend, und mit der richtigen Menge an Druck wird er auch meine letzten Barrieren durchbrechen.

Doch meine Ausdauer ist stärker.

Lauter Jubel erfüllt den Saal noch lange, nachdem der Vorhang nach dem großen Finale des Nussknackers gefallen ist. Ich bleibe en pointe, die Hände zu meinem Salut erhoben, obwohl ich von den Augen des Publikums abgeschirmt bin.

Meine Knöchel schreien danach, von ihrem Elend erlöst zu werden, so wie sie es in den letzten Monaten immer wieder getan haben. Lange Proben und endlose Touren haben meine Sinne abgestumpft und beinahe ausbluten lassen.

Ich brauche ein paar Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen, bevor ich sanft auf meinen Fußsohlen lande. Meine Ballettschuhe sind inmitten des Trubels hinter der Bühne nicht zu hören.

Andere Tänzer atmen erleichtert auf, klopfen sich gegenseitig auf die Schulter oder stehen einfach nur sprachlos da. Obwohl wir zum New York City Ballet gehören, einer der renommiertesten Tanzkompanien der Welt, mindert das den Druck nicht. Wenn überhaupt, dann macht es ihn noch zehnmal stärker.

Von uns wird erwartet, dass wir unser absolut Bestes geben, wenn wir auf die Bühne gehen. Als das Ensemble seine Tänzerinnen und Tänzer auswählte, gab es nur eine Regel: Fehler sind nicht erlaubt.

Wir erhoffen uns den tosenden Applaus am Ende der Vorstellung nicht nur, er wird von uns erwartet.

Der Regisseur, Philippe, ein großer, schlanker Mann mit Glatze und dichtem weißem Schnurrbart, kommt in Begleitung unserer Choreografieleiterin Stephanie herein.

Philippe lächelt, sein Schnurrbart folgt der Bewegung, und wir alle atmen erleichtert auf. Er ist nicht der Typ, der nach einer Show viel lächelt, es sei denn, wir haben einen perfekten Auftritt hingelegt.

»Ihr wart hinreißend. Bravo!«, sagt er mit ausgeprägtem französischem Akzent und klatscht. Sein gesamter Körper scheint in die Bewegung mit einzustimmen, sein farbenfroher Schal fliegt umher und der enge Blazer schmiegt sich an seinen Torso.

Alle anderen folgen seinem Beispiel, sie klatschen und gratulieren einander.

Alle, außer mir, dem männlichen Hauptdarsteller Ryan und der zweiten weiblichen Hauptdarstellerin Hannah.

Manche Tänzer versuchen, ein Gespräch mit Philippe einzuleiten, aber er ignoriert sie unverfroren, als er auf mich zukommt, meine Hand an seinen Mund hebt und mit seinen Lippen und seinem Schnurrbart über meine Knöchel streicht. »Meine wunderschöne Prima Ballerina. Heute Abend warst du ein wahres Kunstwerk, Lia chérie.«

»Danke, Philippe.« Ich ziehe meine Hand so schnell wie möglich zurück und zucke zusammen, als ein Schmerz durch die Sehne in meinem linken Bein schießt. Da muss sofort ein Schmerzpflaster drauf.

»Du musst mir nicht danken. Ich bin derjenige, der sich geehrt fühlt, eine Muse wie dich zu haben.«

Das bringt mich zum Lächeln. Philippe ist definitiv der beste Regisseur, mit dem ich je gearbeitet habe. Er versteht mich besser als jeder andere.

»Ryan.« Er nickt dem männlichen Tänzer zu und rollt das R auf dramatische Weise. »Du warst perfekt.«

»Wie zu erwarten war.« Arrogant hebt Ryan eine Augenbraue. Er besitzt dieses absolut perfekte amerikanische Aussehen mit kantigem Gesicht, tiefblauen Augen und einem Grübchen im Kinn.

»Du auch, Hannah«, sagt Philippe herablassend zu ihr. »Aber für Giselle musst du an deiner Pointe arbeiten.«

Ihre Miene erhellt sich, als sie mir ein hämisches Grinsen zuwirft und sich dann räuspert. Hannah ist blond, ein bisschen größer als ich und hat Katzenaugen, die sie immer mit einer dicken Schicht Make-up betont. »Soll das bedeuten, dass es für die Hauptrolle ein Vortanzen geben wird?«

Stephanie tritt neben Philippe vor. Sie hat tiefdunkle Haut und Naturlocken, die mit einem pinkfarbenen Band zurückgehalten werden. Als ehemalige Prima Ballerina des NYC Ballets hat sie den Ruf, genauso stur wie Philippe zu sein, doch überraschenderweise bilden sie ein gutes Team. »Es wird ein Vortanzen geben, aber nicht für die Hauptrolle.«

»Aber warum …« In letzter Sekunde schneidet Hannah sich selbst das Wort ab.

Stephanie nickt ihr zu. »Die Produzenten haben bereits entschieden, dass Lia unsere Giselle sein wird.«

Hannah wirft mir einen boshaften Blick zu. Ich erwidere ihn kühl. Seit meinem fünften Lebensjahr Ballett zu trainieren, hat mich gelehrt, über ihrer kindischen Eifersucht und den Zickenkriegen zu stehen. Ich bin hier, weil ich den Tanz liebe und gerne Charaktere darstelle, die ich im wahren Leben nicht sein kann. Alles andere war nur Hintergrundrauschen.

Wahrscheinlich habe ich deshalb keine Freunde. Bei dem Versuch, von mir zu profitieren, kriechen mir einige in den Arsch, aber dann fallen sie mir in den Rücken, und andere sind ganz offen heimtückisch.

Jeder hier ist nur ein Kollege. Und wie Grandma zu sagen pflegte: An der Spitze kann es sehr einsam sein.

Meinen Sehnen melden sich erneut, doch ich lasse mir den Schmerz nicht anmerken. Während dieser Marathon-Auftritte überlaste ich mich und benötige Nachsorge.

Sofort.

Ich neige meinen Kopf zu Philippe und Stephanie. »Wenn ihr mich entschuldigen würdet.«

»Quoi? Wirst du uns bei der Feier etwa keine Gesellschaft leisten?«, bemerkt der Regisseur. »Das wird den Produzenten gar nicht gefallen.«

»Ich muss mich um meine Nachsorge kümmern, Philippe.«

»Dann tu das und gesell dich danach zu uns, chérie.«

»Ich befürchte, das schaffe ich nicht. Ich bin erschöpft und brauche Ruhe. Bitte richte ihnen mein Bedauern aus.«

Philippe und Stephanie scheinen mit dieser Antwort nicht zufrieden zu sein, doch sie nicken. Es ist äußerst ungewöhnlich, dass die Prima Ballerina nicht an der After-Show-Party teilnimmt, aber sie wissen nicht, wie sehr ich das Rampenlicht außerhalb des Tanzes hasse. Außerdem sind die meisten Produzenten sexistische, perverse Arschlöcher. Solange es nicht absolut unausweichlich ist, möchte ich daher lieber keine Zeit mit ihnen verbringen.

Die Tänzerinnen verschwinden nach und nach in der Umkleide, unterhalten sich leise miteinander.

Hannah beugt sich zu mir und flüstert: »Vielleicht erkennen die Produzenten so endlich, was für eine talentlose Schlampe du in Wirklichkeit bist.«

Ich starre sie an. Glücklicherweise ist sie nicht groß genug, um auf mich herabschauen zu können. »Wenn du dich mehr auf dein Training statt auf deine Beleidigungen konzentrieren würdest, hättest du wahrscheinlich die Chance, mir ein paar Hauptrollen abzunehmen.«

Sie schnalzt mit der Zunge und zieht eine Grimasse, was ihr starkes Make-up hervorhebt, mit dem sie wie eine Hexe aussieht. »Wie viele der Produzenten hast du gefickt, Lia? Wir alle wissen, dass man niemals so viele Hauptrollen bekommen würde, wenn man nicht herumhurt.«

Ihre Worte treffen mich nicht. Sie sind unwahr, trotzdem höre ich sie schon seit Jahren von der gesamten Ballett-Truppe. Am Anfang wollte ich noch beweisen, dass ich keine Hure war und mich mein hartes Training so weit gebracht hatte, aber schnell wurde mir die Sinnlosigkeit dessen bewusst. Menschen glauben nur das, was sie glauben wollen.

Also habe ich mich daran gewöhnt, was nicht bedeutet, dass ich mich von Hannah oder irgendjemandem sonst herumschubsen lasse. Ich straffe die Schultern und sage mit spottender Ruhe: »Bis dahin wirst du Miss Nummer zwei bleiben.«

Sie hebt ihre Hand, um mir eine Ohrfeige zu verpassen, aber Ryan schnappt sich ihr Handgelenk und zieht sie an sich. »Nana, Hannah, sie ist es nicht wert.«

Er senkt seinen Kopf und küsst sie, wild, mit Zunge, aber seine Augen fixieren mich. Die Lust in ihnen und in seiner engen Hose ist mehr als deutlich.

Ich wende mich ab und mache mich auf den Weg in meine private Backstage-Umkleide, aber ich werde mich dort nicht umziehen. Nachdem mir einmal Juckpulver in die Kleidung geschüttet wurde, kontrolliere ich alles genau, bevor ich duschen gehe, aber heute ist mir nicht danach. Ich werde es einfach zu Hause erledigen.

Sobald ich die Tür hinter mir schließe, halte ich inne. Unzählige Blumensträuße von Bewunderern und dem Produktionsteam erfüllen den Raum und lassen mir kaum genug Platz, um mich zu bewegen.

Ich bahne mich durch sie hindurch, bis ich einen Strauß aus weißen Rosen entdecke. Meine Lippen verziehen sich zum ersten echten Lächeln an diesem Abend, als ich sie an meine Brust drücke und meinen Kopf senke, um ihren Duft tief einzuatmen. Sie riechen nach Zuhause und Glück.

Sie riechen nach Mom, Dad und schönen Erinnerungen.

Ich weigere mich, sie mit dem Tag in Verbindung zu bringen, an dem alles endete. Nachdem ich die Rosen wieder abgestellt habe, nehme ich die Karte und lese sie lächelnd.

 

Du bist die wunderschönste Blume auf Erden, Duchess. Du bist nicht nur auf einem harten Pflaster aufgewachsen, du bist auch noch erblüht. Weiter so. Ich bin stolz auf dich, meine kleine Duchess.

 

In Liebe

L.

 

Luca.

Obwohl wir uns nicht mehr so oft sehen, wird unsere Freundschaft ewig bestehen.

Mein Lächeln erstarrt, als ich den Kopf hebe und in den Spiegel blicke. Ich trage ein hellrosafarbenes Tutu mit einem Mieder aus Musselin und einem Tüllrock. Um meine Brüste und Taille herum ist es eng, aber dann wird es weiter.

Mein Haar ist zurückgebunden und auf meinem Gesicht liegen mehrere Schichten aus Make-up und Glitzer. Doch ich habe keine Zeit, es abzuwischen. Wenn ich jetzt nicht verschwinde, wird mich einer der Produzenten darauf festnageln, ihre Angeber-Party zu besuchen – wo sie mich ihren Partnern vorführen wie Rindvieh auf einer Auktion.

Ich öffne die Spangen und löse meine Haare, dann ziehe ich die Ballettschuhe aus. Als ich die Blutstropfen auf meinem großen Zeh sehe, zucke ich zusammen und massiere ihn. Nichts, worüber ich mir Sorgen machen müsste.

Schmerz bedeutet, dass ich mein Bestes gegeben habe.

Nachdem ich meine bequemen Ballerinas angezogen habe, werfe ich meinen langen Kaschmirmantel über und wickle mir den Schal um den Hals, der auch mein halbes Gesicht verdeckt.

Dann linse ich in den Flur und stelle sicher, dass niemand da ist, bevor ich mir Lucas Blumenstrauß und meine Tasche schnappe und zum Parkplatz eile.

Ich atme tief aus, als ich auf die Straße fahre, mit den Blumen auf dem Beifahrersitz als einzige Gesellschaft.

Ich wünschte, ich könnte Luca anrufen und mit ihm sprechen. Aber dass er nicht Backstage gekommen ist, um mich dort zu treffen, bedeutet, dass er sich gerade bedeckt hält.

Schon seit wir uns als Kinder kennenlernten, bestand sein Leben daraus, im Schatten zu stehen und sich mit den falschen Leuten abzugeben.

Ich bin keine Idiotin. So viel, wie er sich um mich gekümmert hat, weiß ich, dass Luca sein Geld nicht auf legale Weise verdient hat, aber wie er sagte: Je weniger ich weiß, desto besser. Er will mich nicht in Gefahr bringen, genauso wenig wie ich.

Also passen wir mehr oder weniger aus der Ferne aufeinander auf.

Aber ich vermisse ihn.

Ich möchte ihm alles über den heutigen Auftritt erzählen und wie der Schmerz in meinem Knöchel mich in den Wahnsinn treibt. Ich möchte ihm von dem Blut erzählen, weil er versteht, was es bedeutet, Schmerzen zu haben.

Er ist die einzige Person, die ich sowohl zu meiner Familie als auch meinen Freunden zählen kann. Und es ist schon Monate her, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Ich hatte gehofft, dass er heute eine Ausnahme machen und aus seiner Deckung hervortreten würde, aber offenbar war das nicht der Fall.

Weniger als dreißig Minuten später erreiche ich die Tiefgarage meines Wohngebäudes. Es liegt in einem ruhigen Vorort von New York City und hat ein ausgezeichnetes Sicherheitssystem, durch das ich mich zu Hause sicher fühlen kann.

Mein Knöchel pocht, als ich aus dem Auto aussteige. Ich lehne mich gegen die Tür, um durchzuatmen, während ein Krampf versucht, sich an die Oberfläche zu kämpfen. Nach ein paar tiefen Atemzügen schließe ich den Wagen ab, erinnere mich dann aber an den Strauß. Ich mag Luca nicht in Fleisch und Blut begegnet sein, aber wenigstens kann ich durch die Blumen seine Präsenz spüren.

Ich will sie gerade holen, als der laute Klang quietschender Reifen die Garage erfüllt. Ich ducke mich und verhalte mich still, dann ertönt ein weiteres Quietschen.

Für gewöhnlich würde mich dieser Lärm nicht stören, aber diese verstörenden Geräusche so spät am Abend in einem Wohngebäude wie meinem zu hören, ist selten. Eigentlich sollte es sogar unmöglich sein.

Ich starre zu der Kamera in der Ecke hoch, an der ein rotes Licht blinkt, und stoße zittrig den Atem aus.

Ich bin in Sicherheit.

Aber aus irgendeinem Grund verlasse ich das Versteck neben meinem Auto nicht. In diesem Moment habe ich das durchdringende Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren wird, wenn ich jetzt aufstehe.

Der Schmerz in meinem Knöchel pulsiert fester, als würde er meinen Stress spüren und daran teilhaben.

Direkt in meinem Blickfeld kommt ein schwarzer Mercedes mit quietschenden Reifen zum Stehen und hinterlässt hässliche schwarze Spuren auf dem Boden.

Doch niemand steigt aus.

Noch ein schwarzer Wagen, diesmal ein Van, bleibt hinter dem anderen stehen. Dann beobachte ich entsetzt, wie die Fenster heruntergelassen werden und Kugeln in Richtung des Mercedes fliegen.

Ich zucke zusammen, lege beide Hände über meine Ohren, um sie vor den lauten Schüssen zu schützen. Ich weiche zurück, bis ich zwischen meinem Auto und der Wand kauere. Zum Glück lasse ich immer genug Platz.

Die Schüsse halten an, bauen sich wie das Crescendo eines Musicals auf, werden höher und höher, schneller und härter und lauter. Eine Sekunde lang denke ich, dass es niemals aufhören wird. Dass es auf ewig so weitergehen wird.

Doch dann legt sich Stille über die Garage.

Das Herz schlägt mir bis in den Hals, beinahe hätte ich mich übergeben, als ich plötzlich ein Rascheln und dann Flüche in einer fremden Sprache höre.

Könnte ich in einem Albtraum gefangen sein?

Ich vergrabe die Fingernägel in meinem Handgelenk und drücke zu, bis Schmerz auf meiner Haut explodiert. Nein. Das ist kein Albtraum. Das ist die Realität.

Die Stimmen klingen aufgeregt, wütend, und scheinen sich nicht zurückzuhalten. Wahrscheinlich sollte ich nicht hinsehen, aber wie soll ich dieser schrecklichen Folge von Black Mirror entkommen, wenn ich nicht sehe, was vor sich geht?

Ich achte darauf, dass mein Körper immer noch hinter dem Auto versteckt ist, greife an die Motorhaube und linse daran vorbei. In der Windschutzscheibe des Mercedes sind mehrere Einschussstellen zu erkennen, doch das Glas hat nicht nachgegeben.

Alle Türen stehen offen und ich erwarte bereits, ein paar Leichen zu entdecken, aber der Wagen ist leer. Stattdessen stehen drei Männer in dunklen Klamotten daneben, jeder einzelne hält eine Waffe. Zwei von ihnen tragen Anzüge. Einer ist bullig und blond und hat einen finsteren Ausdruck auf dem Gesicht; der andere ist schlanker und hat lange braune Haare, die in seinem Nacken zusammengebunden sind. Sie zwingen einen pummeligen Mann vor ihrem dritten Gefährten auf die Knie.

Er trägt ein schlichtes schwarzes Hemd und eine schwarze Hose. Die Ärmel sind ein wenig hochgekrempelt und entblößen die Anfänge seiner Tattoos. Eine seiner Hände ruht still an seiner Seite, in der anderen liegt eine Pistole, mit der er auf den Kopf des pummeligen Mannes zielt.

Obwohl ich ihn nur im Profil sehe, wird deutlich, dass er derjenige ist, der das Sagen hat.

Der Boss.

Aus dieser Entfernung erkenne ich ihn nicht genau, nur die dunklen Haare und die Bartstoppeln. Und er ist groß. So groß, dass ich mich ihm größentechnisch sogar hier in meinem Versteck unterlegen fühle.

Dann huscht mein Blick zu dem Van, was ich sofort bereue. Zwei Männer liegen übereinander auf dem Boden, regungslos. Blut verschmiert ihre unkenntlichen Gesichter.

Galle steigt mir in den Hals und ich muss tief einatmen, um nicht zu würgen und damit meine Anwesenheit preiszugeben.

Als ihre Stimmen wieder einsetzen, werde ich von dem Anblick abgelenkt, meine Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf die Szene vor mir. Die beiden Männer reden in einer Sprache mit ihrem Boss, die ich nicht kenne. Es klingt Osteuropäisch.

»Wer hat euch geschickt?«, fragt der Boss dann mit russischem Akzent, und die Ruhe in seinen Worten lässt mich schlucken. Er schreit nicht, weder tritt noch schlägt er, aber diese Stimme ist die größte Bedrohung von allen.

»Fick dich, Volkov«, zischt der Pummel, ebenfalls mit einem Akzent in seiner Stimme – Italienisch.

»Das ist nicht die richtige Antwort. Wirst du mir eine geben oder soll ich mir deine Familie vornehmen, sobald ich mit dir fertig bin?«

Schweiß tritt dem pummeligen Mann auf die Stirn und er flucht auf Italienisch, was ich wiedererkenne. Das ist die einzige andere Sprache, die ich neben Englisch spreche.

»Was hättest du davon?« Der Pummel zittert stark.

»Das ist keine Antwort. Offenbar ist es dir lieber, wenn ich mich um deine Familie kümmere.«

»Nein. Warte!«

»Letzte Chance.«

»Der Boss wollte ein Auge auf dich –« Der Mann kann seinen Satz nicht beenden, bevor der Boss den Abzug drückt.

Der Schuss hallt mit einer gespenstischen Endgültigkeit durch die Luft.

Ich schlage mir beide Hände über den Mund, um meinen Schrei zu unterdrücken. Mein Magen verdreht sich, will den Apfel erbrechen, den ich zum Abendessen hatte.

Die leeren Augen des Mannes verdrehen sich, als er leblos zu Boden fällt. Träge lässt der Boss die Hand mit der Waffe ebenfalls an seine Seite sinken. Seine ausdruckslosen Augen sind auf die Leiche gerichtet, als wäre sie nur Staub auf seinen Lederschuhen. Sein Ausdruck bleibt unverändert – ein bisschen konzentriert, ein bisschen gelangweilt und absolut ungeheuerlich.

Soeben hat er kaltblütig einen Mann hingerichtet, und er zeigt keinerlei Reaktion.

Das ist noch beängstigender als die Tat selbst.

Als ich kurz davorstehe, mein Abendessen zu erbrechen, dreht sich sein Kopf zur Seite.

In meine Richtung.

 

 

Ich bin wie erstarrt.

Meine Glieder haben sich in Stein verwandelt und mein Körper verweigert meinem Gehirn den Befehl, sich in Bewegung zu setzen.

Zu fliehen.

Zu überleben.

Die Klauen der Angst legen sich um meinen Brustkorb und halten mich an Ort und Stelle gefangen.

Und das ist noch nicht einmal das Seltsamste daran.

Zu behaupten, die Waffe in seiner Hand würde mir keine Angst machen, wäre gelogen. Seit ich nach New York gezogen bin und einen vollkommen anderen Lebensstil angenommen habe, bin ich keiner Pistole mehr so nahe gekommen. Doch etwas vollkommen anderes raubt mir den Atem und lässt meine Lunge brennen.

Etwas vollkommen anderes stößt rostige Dolche in meine Brust und verhindert, dass mein Körper auf die Befehle meines Gehirns reagiert.

Es ist das düstere Eis in seinen grauen Augen.

Sie sind hart und unnachgiebig wie der Winter, und genauso kalt, mit der einzigen Bestimmung, jedes Leben, das sich ihm in den Weg stellt, zu vernichten.

Er starrt mich mit stillem Interesse an. Sein Blick ist nicht finster oder gehässig, doch die Bedrohung ist deutlich.

In seinem Schweigen.

In der Tatsache, dass er genau wusste, wohin er blicken muss, als hätte er mich schon von Anfang an wahrgenommen.

Lähmende Angst zerrt an meinen Gliedern, als der Überlebensinstinkt in mir zum Leben erwacht. Es ist, als befände ich mich wieder in dieser schwarzen Box, ganz allein, und der einzige Weg zu überleben, ist es, mich ins Freie zu graben.

Diese Kindheitserinnerung habe ich immer als meine dunkelste Zeit betrachtet, als den einen Moment, mit dem ich alles andere vergleiche. Die Sticheleien, das Gerede hinter meinem Rücken, die Schikane.

Einfach alles.

Aber jetzt habe ich das Gefühl, dass diese Erinnerung in den Schatten gestellt werden könnte. Damals habe ich überlebt, aber meine Chancen, hier lebend rauszukommen, gehen gegen Null.

Dennoch erhebe ich mich auf zittrigen Beinen und sprinte hinter den Autos entlang, in der Hoffnung, es bis zum Fahrstuhl zu schaffen und – ich bin keine zwei Schritte mehr davon entfernt, als ein harter Griff sich um meinen Unterarm legt und ich mit einer Hand über dem Mund zurückgezogen werde.

Ich halte nicht inne, um zu sehen, wer es ist.

Adrenalin schießt durch meine Adern und ich winde mich, schlage um mich und beiße in die Hand. Meine Bewegungen sind panisch und weit davon entfernt, gezielt zu sein. Ich bezweifle, dass ich irgendeinen Schaden anrichte, was mich jedoch nicht davon abhält, weiterzumachen. Ich werde nicht zulassen, dass sie mir wehtun.

Während meiner Bemühungen, mich zu befreien, schleppt mich der bullige, blonde Kerl dorthin, wo die Hinrichtung stattgefunden hat. Bei dem Anblick des Toten mit dem Loch in der Stirn, der zusammengesackt auf dem Boden liegt, verdrehen sich meine Eingeweide. Meine Bemühungen werden dringlicher und ich trete und kratze, doch meine Hilferufe dringen nur gedämpft hervor, wie in einem schlechten Horrorfilm.

Kaltes Metall trifft auf meine Stirn und mein gesamter Körper erschlafft. Ich stehe vor ihrem Boss mit diesem durchdringenden Blick, seine eisigen grauen Augen bohren sich in meine. Mein Herz pocht und meine Lippen zittern unter der Hand, die meine Stimme abschneidet.

Von so nahem ist er sogar noch hinreißender, aber auf eine subtile Art und Weise. Wie die seltenen attraktiven Leute, die nicht aus der Menge hervorstechen wollen.

Wird er mich jetzt töten, so wie er es mit diesem Mann getan hat? Wenn ich daran noch Zweifel gehabt hätte, hätte die vollkommene Teilnahmslosigkeit in seinem leeren Blick sie ausradiert.

Dieser Mann ist fähig, unzählige Menschen zu töten, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Er ist fähig, Leben zu beenden und dann davonzuschlendern, als wäre nichts geschehen.

»Kolya wird jetzt seine Hand wegnehmen und du wirst still sein«, sagt er so beiläufig, als würde er mich auf einen Tee einladen. »Wenn nicht, werde ich dich mit anderen Methoden zum Schweigen bringen müssen.«

Mein Gesicht muss genauso blass sein wie die weißen Neonröhren über unseren Köpfen. Alles, woran ich denken kann, ist das Metall, wie es auf meine Stirn drückt, und dass ich bald demselben Schicksal entgegensehen werde wie der italienische Mann.

»Nicke, wenn du verstanden hast«, fährt er mit seinem gelassenen Tonfall fort.

Welche andere Wahl hätte ich, als zuzustimmen? Ganz sicher will ich nicht herausfinden, was seine »anderen Methoden« sind.

Ich nicke, aber er sieht mich eine Sekunde zu lange an, stiehlt mir die Luft zum Atmen. Ich glaube, er hat mein Nicken nicht gesehen, doch dann neigt er seinen Kopf zu dem Mann hinter mir. Kolya hat er ihn genannt.

Der Mann löst seine Hand von mir, einfach so, und überlässt mich seinem Boss. Ich massiere die Stelle, wo er mich festgehalten hat, spüre bereits den Bluterguss, der sich dort bildet. Angespannt starre ich geradeaus, lasse meinen Blick nicht zu den Leichen wandern, denn dann müsste ich mich übergeben.

Der Boss studiert mich für einen langen Moment, sein Blick gleitet von meinem Gesicht zu meinem Arm. Ich lasse meine Hand sinken und bemühe mich, sie ruhig an meiner Seite zu halten.

»Wenn du kämpfst oder schreist, werden dir die Konsequenzen nicht gefallen.« Er drückt die Waffe fester gegen meine Stirn, um seine Aussage zu untermauern.

»O-okay.« Ich klinge wie ein verängstigtes Kätzchen.

Das bin ich ja auch.

Diese Männer haben gerade andere Männer ermordet. Warum sollte mein Schicksal ein anderes sein?

Er zieht seine Pistole nach unten, bis zum Grübchen meiner Wange. Ich schlucke, was nicht nur an der tödlichen Waffe liegt. Die Art und Weise, wie er das Metall über meine Haut zieht, scheint voller Vorfreude zu sein.

Sein Blick brennt sich in mich – ist nahezu invasiv –, als würde er mich bewerten und entscheiden, ob ich es wert bin, eine Kugel zu verschwenden.

Wenn ich hier lebend herauskommen will, muss ich mich clever anstellen. Ich muss mir meinen Weg aus dieser Situation heraus feilschen, so gut es geht.

»Ich werde so tun, als hätte ich nichts gesehen.« Meine Stimme zittert, obwohl ich mich bemühe, so zuversichtlich und neutral wie möglich zu klingen.

»Wirst du das?« Er mokiert sich nicht über mich, aber sein Tonfall verrät, dass er mir kein einziges Wort glaubt. »Bist du dir sicher, dass du nicht den Notruf wählen wirst, sobald du um die nächste Ecke verschwindest?«

Meine Lippen öffnen sich. Ich hätte wissen sollen, dass er so weit denken würde. Ich meine, ja, natürlich werde ich die Polizei rufen. Wer, der noch bei klarem Verstand ist, würde einen Mord beobachten – sogar einen Dreifachmord – und kein Wort darüber verlieren?

Bei dem Gedanken an die Toten zieht sich mein Magen angespannt zusammen, und ich muss die Galle herunterschlucken.

»Ja«, flüstere ich.

»Wieso glaube ich dir nicht?« Seine langsame Stimme lässt vermuten, dass er nicht nur denkt, ich würde lügen, sondern auch den Gedanken lächerlich findet, dass ich dachte, ich könnte ihn an der Nase herumführen.

Ach, scheiß drauf! Scheiß auf Gerechtigkeit. Ich muss mich jetzt selbst retten. Und dabei wird mir Gerechtigkeit nicht helfen.

»Das werde ich wirklich nicht«, sage ich, und diesmal meine ich es ernst, denn solange seine Waffe zwischen uns hängt wie eine Guillotine, habe ich absolut nicht vor, ihn zu verraten.

»Wie ist dein Name?«, fragt er aus heiterem Himmel und trifft mich damit vollkommen unvorbereitet.

Ich grüble über einen falschen Namen nach, denn je weniger er über mich weiß, desto besser. Aber bevor ich antworten kann, hebt er mein Kinn mit seiner Waffe an. »Und lüg mich nicht an. Ich habe meine Wege, die Wahrheit herauszufinden, und wenn ich dich bei einer Lüge erwische, wird das dein erster und letzter Fehler gewesen sein.«

»Lia«, platze ich heraus, als die Angst mich überwältigt. »Mein Name ist Lia.«

»Lia …« Er spricht meinen Namen mit seinem Akzent aus, als würde er dadurch eine andere Bedeutung erhalten. »Du wirst also vorgeben, nichts gesehen zu haben, Lia?«

Ich nicke öfter als nötig, bei jeder Bewegung trifft mein Kinn gegen die Pistole und erneut steigt Übelkeit in mir hoch.

»Wie kann ich da sicher sein?«

»Sie … Sie können mir vertrauen.«

Seine Lippen zucken, und plötzlich halte ich den Atem an, während ich darauf warte, dass dieses Lächeln sich befreit, doch das tut es nicht. Es scheint irgendwo außer Reichweite gefangen zu sein, genau wie der Rest seiner Emotionen. »Dir vertrauen? Bestimmt merkst du selbst, wie absurd das klingt.«

»Da sind Überwachungskameras«, platze ich wieder heraus. Ich will ihm erzählen, dass die Polizei alles über die Morde herausfinden wird – und meinen bevorstehenden, sollte er das durchziehen.

»Mach dir um die keine Gedanken. Sie bestehen nicht aus Fleisch und Blut, weshalb wir uns darum schnell kümmern können. Das aktuelle Thema bist du.«

Ein Mensch. Aus Fleisch und Blut, dem er wehtun kann.

Seine unterschwellige Drohung hängt in der Luft und bahnt sich rasch ihren Weg zu meinen angespannten Nerven.

Ich zerbreche mir den Kopf, dann flüstere ich schließlich: »Ich … Ich habe Geld. Es ist nicht viel, aber …«

»Sehe ich etwa wie jemand aus, der dein Geld braucht?«

Ich sehe ihn an, sehe ihn wirklich an. Seine gebügelte Hose und das elegante Hemd. Seine Lederschuhe und die teure Uhr an seinem Handgelenk. Er sieht definitiv nicht wie jemand aus, der Geld braucht. Allerdings hat er es spezifiziert. Er sagte, er brauche mein Geld nicht, als wäre das eine Kategorie für sich.

Er führt die Spitze seiner Waffe an meinen Mund und ich erschauere, erinnere mich daran, wo dieser Lauf noch vor wenigen Sekunden war.

»Diese Lippen werden geschlossen bleiben. Du wirst all unsere Gesichter vergessen.«

Ich nicke unterwürfig. Mein einziger Fokus liegt darauf, seinen wirbelnden Iriden zu entkommen, die noch kühler sind als der Winter draußen.

»Nur ein Wort, und ich werde es erfahren. Und glaub mir, du willst wirklich nicht, dass das passiert, Lia. Das würde dir nicht im Geringsten gefallen.«

Ein Ausbruch der Angst lässt meine Schultern zucken, und ich starre ihn entgeistert an. Wie sollte er davon erfahren? Wäre das überhaupt möglich?

»Ist das klar?«, fragt er langsam, ohne jegliche Eile, um seine Worte in meinen Kopf zu brennen.

Ich nicke.

Er senkt seine Waffe und ich seufze erleichtert auf.

»Benutz deine Worte, Lia.«

»Ja.« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.

»Sag: ›Ja, ich verstehe‹.«

»Ja … ich verstehe.«

Er hebt seine andere Hand und ich erstarre, als seine Finger den Platz seiner Waffe einnehmen und sanft über meine Lippen streichen. Flammen tänzeln über meine Haut, obwohl seine Berührung wie eine Begegnung mit dem Tod wirkt. Buchstäblich und im übertragenen Sinne.

»Diese Lippen bleiben versiegelt.«

Mir schnürt sich die Kehle zu, ich bin unfähig zu sprechen oder auch nur zu nicken.

Er lässt genauso schnell von mir ab, wie er gekommen ist, und eine kühle Welle trifft mich dort, wo gerade noch die Flammen loderten, löscht sie mit unnachgiebiger Härte.

Der Boss neigt seinen Kopf in Richtung des Fahrstuhls. »Geh.«

Im ersten Moment glaube ich ihm nicht, dass er mich einfach gehen lassen wird. Zögerlich trete ich einen Schritt nach hinten, erwarte, dass er sich wieder auf mich stürzt.

Er zeigt keine Anzeichen, mir folgen zu wollen.

Ich weiche zwei weitere Schritte zurück, ohne den Blickkontakt abzubrechen. Als er sich immer noch nicht regt, renne ich zum Fahrstuhl und drücke auf den Knopf.

Mein panischer Blick liegt nach wie vor auf ihm.

Dem Fremden.

Dem verdammt gruseligen Fremden.

Er bleibt an Ort und Stelle stehen, die Waffe hängt regungslos an seiner Seite, während seine Aufmerksamkeit noch immer auf mir liegt, als würde er überlegen, mir nicht doch noch ins Gesicht zu schießen.

Als die Fahrstuhltür sich öffnet, stürze ich hinein. Ich halte den Atem an und zittere unkontrolliert, während ich mein Stockwerk und den Code eingebe. Das erste Mal tippe ich ihn falsch ein, weil meine Hände beben und meine Gedanken zerstreut sind. Ich muss es noch mal versuchen, bevor der Code akzeptiert wird.

Endlich schließt sich die Tür. Ich lasse mich auf den Boden sinken und übergebe mich mitten in den Fahrstuhl.

Er hat mich nicht getötet. Er hat mir keine Kugel in den Kopf gejagt.

Warum fühlt es sich dann so an, als hätte ich trotzdem gerade mein Todesurteil unterschrieben?

 

 

 

 

Es ist eine Woche her, seit ich Zeugin eines Mordes an drei Menschen wurde, während ich selbst irgendwie unverletzt blieb.

Eine ganze verdammte Woche, in der ich mir die Nägel abgekaut, mich vor meinem eigenen Schatten erschreckt und eine ungesunde Besessenheit zum Rückspiegel meines Autos entwickelt habe.

Eigentlich sollte ich mir eine Auszeit gönnen, bevor ich mich wieder auf die bevorstehende Ballett-Saison vorbereite, aber ich habe das Gefühl, eine schlimmere Achterbahnfahrt hinter mir zu haben als nach mehreren aufeinanderfolgenden Auftritten.

Oberflächlich betrachtet könnte es wie eine dämliche Paranoia wirken. Da er mich gehen ließ, könnte es so aussehen, als läge meine Besessenheit von ihm nur an dem Adrenalinstoß, den ich in dieser Nacht erfahren hatte.

Doch es ist keine Paranoia.

Bei Weitem nicht.

Ich bin keine Idiotin. Mir ist bewusst, dass es mit dieser Nacht nicht getan ist. Wenn überhaupt, dann ist es der Anfang von etwas Hässlichem, über das ich keine Kontrolle habe.

Ich habe überlegt, zur Polizei zu gehen, aber den Gedanken schnell wieder verdrängt. Ich glaubte ihm, als er sagte, dass er es herausfinden würde. Ich glaubte ihm, als er sagte, die Konsequenzen für mich wären schrecklich.

Immerhin habe ich beobachtet, wie er kaltblütig einen Mann getötet hat, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. So eine Person wäre auch zu noch grässlicheren Taten fähig.

Um meine Theorie zu bestätigen, eilte ich am nächsten Tag nach einer schlaflosen Nacht zur Rezeption. Ich fragte den Rezeptionisten, ob in der Parkgarage etwas vorgefallen war, aber er schaute mich nur an, als wäre ich eine verrückte alte Hexe. Ich flehte ihn an, mit mir dorthin zu gehen, und als wir dort ankamen, fanden wir nichts. Nada.

Ich hatte nicht erwartet, die Autos oder Leichen noch vorzufinden, aber zumindest etwas Blut, Patronenhülsen, irgendeinen Beweis für das, was ich erlebt hatte.

Doch das Aufräumkommando war gründlich gewesen.

Das Einzige, was noch zu sehen war, waren leichte schwarze Bremsspuren, aber auch die waren nur noch schwer zu erkennen.

Kurz zog ich in Betracht, dass mir mein Kopf nur einen kranken Streich gespielt hatte. Das tut er immer, wenn mir alles zu viel wird. Meine Dämonen kommen zum Spielen raus, und mein Unterbewusstsein tritt in einen Kampf mit meinem Bewusstsein, quält mich in meinem eigenen Kopf.

Aber das kann in dieser Situation nicht der Fall gewesen sein.

Ich hatte mein Schmerzempfinden getestet. Ich weiß, dass es keine Halluzination war.

Der Punkt ist: Jemand, der über Nacht einen Dreifachmord verschleiern kann, ist sicher auch in der Lage dazu, herauszufinden, ob ich mit der Polizei gesprochen habe.

Und ich war nicht bereit, mich selbst für die Gerechtigkeit zu opfern.

Trotzdem rief ich Luca an. Da ich vermutete, dass der Fremde und seine Männer Teil einer kriminellen Organisation sein könnten, dachte ich, er wüsste vielleicht etwas und könnte mir sagen, wie ich mich schützen könnte.

Aber Luca war nicht zu erreichen.

Obwohl es nicht untypisch für ihn war, hin und wieder von der Bildfläche zu verschwinden, manchmal sogar für einen ganzen Monat, wurde meine Paranoia und Angst nur noch weiter angefeuert, als er weder auf meine Anrufe noch auf E-Mails reagierte.

Die Stunden, die ich in dieser Woche geschlafen habe, kann ich an einer Hand abzählen, trotz der Hilfe von Medikamenten. Meine Albträume bauschten sich immer weiter auf, gerieten außer Kontrolle, und ich hatte Schlaflähmungen – die Angst davor ließ mich auch tagsüber immer wieder in Tränen ausbrechen.

Wenn es so weitergeht, werde ich schon bald zusammenbrechen.

Ich atme tief ein und betrete den Backstage-Bereich. Wenn alles andere aus dem Ruder läuft, bleibt mir immer noch eine Sache, die ich kontrollieren kann.

Das Ballett.

Ich trage ein hellrosafarbenes Tanz-Trikot und einen kurzen schwarzen Rock sowie meine eingetragenen elfenbeinfarbenen Ballettschuhe. Normalerweise trage ich sie wochenlang zu Hause ein, bevor ich mit ihnen trainiere oder sie sogar bei einem Auftritt trage.

Über die Zeit werden sie flexibler und unterstützen mich beim Spitzentanz, besonders bei einer anstrengenden Probe – so wie heute.

Alle Tänzer betreten die Bühne, während Philippe und Stephanie über die Choreografie reden. Die anderen Tänzer hassen Philippes Perfektionismus, aber ich liebe es. Er respektiert die Kunst zu sehr, als etwas Halbherziges zu akzeptieren. Außerdem wurde Giselle kürzlich vom Royal Ballet aufgeführt, wodurch es international an Bedeutung gewann, und er wird erst zufrieden sein, wenn er diese Vorstellung übertroffen hat.

Womit wir schon zwei sind.

Die Giselle zu spielen, ist schon mein Traum, seit ich das Stück als kleines Mädchen das erste Mal gesehen habe. Die Geschichte ist magisch und voller Herzschmerz. Hoffnung und Verzweiflung. Liebe und Tod. Für mich war es das Wunderschönste, was eine Ballerina tanzen konnte.

Als Teenager hatte ich bereits die Chance, bei Giselle mitzuspielen, aber nur als Teil des Corps de Ballet. Ich durfte nicht diese Verzweiflung erleben und im Kopf einer Frau leben, die so sehr betrogen wurde, dass sie sich in ihren eigenen Verstand zurückzog.

Diese Geschichte hat mich zutiefst berührt, sodass ich sie einfach erleben und in jeder Faser meines Körpers spüren muss.

Ich war die Prima Ballerina in Romeo und Julia, Schwanensee und kürzlich auch in Der Nussknacker. Aber Giselle? Giselle wird der Höhepunkt meiner Karriere sein. Etwas, von dem ich eines Tages noch meinen Enkeln erzählen werde.

»Es versteht sich von selbst«, Philippe durchbohrt jeden von uns mit seinem üblichen strengen Blick, seine gute Feierlaune ist vorüber, »dass ich von jedem einzelnen totale und eiserne Disziplin erwarte. Ihr werdet nicht zunehmen. Niemand wird hier mit einem Kater auftauchen. Keine falsche Atmung. Schon wenn ihr gekrümmt dasitzt, seid ihr raus. Ich will zu jedem Zeitpunkt des jolis postures sehen, oder ich hole Tänzer an Bord, die sie mir zeigen. Faite vite, allez-y!«

Alle verteilen sich, um sich aufzuwärmen, und stellen ihre professionellen Mienen zur Schau. Ryan steht neben mir, während er seine langen Beine dehnt. »Wieder eine Liebesgeschichte zwischen dir und mir. Glaubst du, das ist Schicksal?«

Ich richte meine Aufmerksamkeit ungerührt nach vorn, während ich langsam einen Plié absolviere. Meine Knöchel pochen nicht mehr so schmerzhaft wie in jener Nacht, aber ich spüre immer noch den lauernden Krampf in meinen Sehnen, der darauf wartet, loszubrechen.

»Ich dachte, dein Schicksal läge bei Hannah, Ryan.«

»Höre ich da etwa Eifersucht heraus, meine liebe Lia?«

Diesmal richte ich meinen Blick fest auf ihn. »Das ist der Unterschied zwischen uns beiden, Ryan. Du hörst Eifersucht. Ich höre, lass mich in Ruhe.«

Ich warte nicht auf seine Antwort, sondern gehe zu Stephanie, um mit ihr über einen Teil der Choreografie zu sprechen. Ihre Haltung ist vornehm und elegant, und obwohl sie bereits in ihren Fünfzigern ist, hat sie immer noch die Anmut einer Königin.

Sie schickt gerade einen Angestellten weg, als ich mich ihr nähere, und verschränkt die Arme vor der Brust. »Was gibt es?«

»Hast du die Choreografie für den letzten Teil des ersten Aktes bereits ausgearbeitet?«

»Warum fragst du?« Durch die hohe Anzahl der Zigaretten, die sie täglich raucht, klingt ihre Stimme rau.

»Ich habe mir die Aufführung von –«

Sie schneidet mir mit erhobenem Finger das Wort ab. »Habe ich euch nicht gesagt, dass ihr euch keine anderen Aufführungen ansehen sollt? Bist du eine Nachahmerin, Lia?«

»Nein. Ich habe sie mir angesehen, um inspiriert zu werden und dann meine eigene Note einzubringen.«

»Warum? Hängst du irgendwo fest?«

»Ein bisschen.«

»Bei welchem Teil?«

»Am Ende des ersten Aktes, direkt bevor Giselle stirbt. Wie kann ich die Emotionen ausdrücken, ohne melodramatisch zu wirken?«

»Zunächst einmal musst du aufhören, über Giselle in der dritten Person zu sprechen. Du bist jetzt Giselle. Wenn du nicht in ihr lebst, wird sie auch nicht durch dich leben.« Sie legt eine Hand an meine Brust. »Wenn du nicht zulässt, dass sie dein Herz und deine Seele einnimmt, wirst du nur als eine weitere Ballerina in die Geschichte eingehen, die Giselle nicht gut genug dargestellt hat.«

Stephanies Worte treffen mich härter als erwartet. Vage nehme ich aus dem Augenwinkel wahr, wie sich die Türen zum Theatersaal öffnen und die Produzenten hereingeschneit kommen, in Begleitung ihrer Geschäftspartner. Sie sehen uns oft bei den Proben zu, auch wenn Philippe es leidenschaftlich hasst.

»Denk daran«, sagt Stephanie und nimmt meine Hand in ihre. »Um Giselle zu werden, musst du eine ganze Ballerina und eine ganze Person sein. Niemand bestreitet, dass du eine ganze Ballerina mit perfekter Technik und einer Eleganz bist, über die in allen Ballettkreisen gesprochen wird, aber bist du auch eine ganze Person, Lia?«

Sie lässt mich los und ruft einen Angestellten zu sich, ohne zu bemerken, welche Fessel sie gerade an meinem Knöchel befestigt hat.

Meine Unsicherheit taucht an die Oberfläche, versucht mich zu ersticken und in die Tiefe zu ziehen.

Ich drehe mich um und stopfe all diese Emotionen an den Grund meines Magens. Luca sagte einmal, dass ich mich meiner Vergangenheit stellen muss, wenn ich weiterleben will, aber ich habe mich geweigert. Stur habe ich dieses schwarze Loch zugeschüttet, zusammen mit der schwarzen Box und allem, was in meinem Leben vorging. Es geht mir gut und das wird es auch weiterhin, ganz egal, was er und Stephanie sagen.

Nach dem Aufwärmen gehen wir die Eröffnungsszene durch. Ich höre nicht auf, mich zu bewegen, und mache auch keine Pausen. Denn ich habe das Gefühl, dass mein Knöchel sonst Probleme machen könnte. Ich sollte mich deswegen mit Dr. Kim treffen. Schon seit ich genug Geld verdiene, um ihn als meinen behandelnden Arzt zu engagieren, kümmert er sich um meine Beine. Er ist der beste Orthopäde in der Gegend, und da seine Tochter ebenfalls Ballerina werden will, versteht er, wie sehr uns auch der leichteste Schmerz in unseren Knöcheln aus dem Gleichgewicht bringen kann. Aber ich bin mir sicher, dass er mich wie üblich mit einer Salbe wieder nach Hause schicken wird.

Als es Zeit für meinen Auftritt ist, trete ich in Giselles Fußstapfen. Ich bin das schüchterne Bauernmädchen, das es liebt, zu tanzen, ohne sich um die Welt um sie herum zu scheren. Ich springe, denn wirble ich herum und lasse die Symphonie durch meine Adern fließen.

Da es mehr oder weniger eine Soloszene ist, verschließe ich mich meiner Umgebung und wende mich dem Leben in meinem Kopf zu. Dem Leben eines armen Bauernmädchens, das nichts anderes tun will, als zu tanzen. Nicht wissend, dass sie mit ihrer Unschuld einen Wolf im Schafspelz auf sich aufmerksam macht.

Und dann spüre ich es. Ich will gerade zum Sprung ansetzen, als eine kribbelnde Präsenz mich aus den Fängen meiner fragilen Giselle reißt.

Zum ersten Mal während einer Probe schaue ich ins Publikum. Dort sitzen die Produzenten und unterhalten sich angeregt miteinander.

Doch eine Person gehört nicht zu den Produzenten.

Ganz und gar nicht.

Seine dunklen grauen Augen verhaken sich mit meinen und ich verliere das Gleichgewicht. In letzter Sekunde fange ich mich, lande jedoch auf meinen Füßen anstatt auf meinen Zehenspitzen, wie es die Choreografie vorsieht.

Er ist hier.

Der Fremde ist zurückgekehrt.

 

 

 

Mir stockt der Atem.

Ich blinzle einmal, zweimal, versuche verzweifelt, es auf einen weiteren Streich meiner Fantasie zu schieben, eine Manifestation meiner Dämonen und Halluzinationen.

Vielleicht ist mein Verstand so erschöpft, dass er sich Dinge ausdenkt.

Zitternd hebe ich eine Hand an mein Handgelenk und versenke meine Fingernägel darin. Sofort explodiert Schmerz auf meiner weichen Haut und mein Mund öffnet sich.

Das ist real.

Es ist kein Traum oder eine Halluzination. Ich werde nicht schweißgebadet aus diesem Albtraum erwachen. Das ist die reale Welt.

Ein paar Sitzreihen entfernt sitzt der Fremde, der mir vor einer Woche eine Pistole an den Kopf gehalten hat, inmitten der Produzenten. Er trägt einen grauen Kaschmirmantel über dem schwarzen Hemd und sein Haar ist elegant gestylt. Er sieht aus wie ein CEO auf dem Weg zu einem Geschäftsmeeting. Seine Haltung ist gelassen – regelrecht normal.

Aber an ihm ist nichts normal.

Sogar aus dieser Entfernung spüre ich die Gefahr, die in Wellen von ihm ausstrahlt und Dolche direkt in meine Brust bohrt. Seine Miene ist neutral, aber auch mit finsterem Blick könnte er nicht furchteinflößender sein.

---ENDE DER LESEPROBE---