Tentakel - Rita Indiana - E-Book

Tentakel E-Book

Rita Indiana

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Beschreibung

Ein karibischer Roman vom Strand der Zukunft – und die uralte Frage, brennend wie der Kuss einer Seeanemone: Wer ist Ich? "Tentakel" tankt den magischen Treibstoff lateinamerikanischer und karibischer Traditionen, um deren Grenzen lustvoll hinter sich zu lassen. Ein Roman, der unsere Fragen nach Identität, Sex und Gender auf unkonventionelle Weise verhandelt – und eine so bemerkenswerte wie befreiende Antwort findet. Ein kompromissloses, schnelles, unverschämtes Buch, an dem sich nicht nur die Voodoo-Geister scheiden – wie immer, wenn Literatur etwas wagt.

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Aus dem dominikanischen Spanisch von Angelica Ammar

Die spanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel La mucama de Omicunlé bei Editorial Periférica in Cáceres. Die Übersetzung aus dem dominikanischen Spanisch wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.

E-Book-Ausgabe 2018

© 2015, Rita Indiana and Editorial Periférica

© 2018 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Reinhard Dirscherl / AGE / F1online

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142337

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3293 2

http://www.wagenbach.de/

Für Noelia

Full fathom five thy father lies;

Of his bones are coral made;

Those are pearls that were his eyes;

Nothing of him that doth fade,

But doth suffer a sea-change

Into something rich and strange.

Sea-nymphs hourly ring his knell:

Ding-dong.

Hark! now I hear them — Ding-dong, bell.

William Shakespeare, The Tempest

OLOKUN

Die Klingel von Esther Escuderos Wohnung ist auf Meeresrauschen programmiert. Das Dienstmädchen Acilde hat gerade seinen Arbeitstag begonnen und hört, wie jemand unten, am Tor vor dem Gebäude, erneut mit Gewalt auf den Klingelknopf drückt. Dadurch setzt das Meeresrauschen pausenlos von Neuem an, und der Klang anbrandender Wellen wirkt zunehmend unrealistisch. Acilde führt Zeigefinger und Daumen zusammen und aktiviert damit in ihrem Auge die Überwachungskamera zur Straße. Sie sieht einen der vielen Haitianer, die über die Grenze geflüchtet sind, seit die Quarantäne über die andere Seite der Insel verhängt wurde.

Das Sicherheitssystem des Gebäudes erkennt den Virus in dem Schwarzen und schießt einen Strahl tödlichen Giftgases ab. Zugleich werden die Nachbarn darüber informiert, dass sie den Eingang des Gebäudes meiden sollen, bis die Sammelroboter, die auf den Straßen und Gassen patrouillieren, den Körper abgeholt und zerlegt haben.

Als der Mann zu zucken aufhört, loggt Acilde sich aus und macht sich wieder daran, die großen Fenster zu putzen, über die sich jeden Tag ein klebriger Rußfilm legt, der nur dank Windex weicht. Als sie den Glasreiniger mit dem Tuch abwischt, sieht sie, wie auf dem Gehsteig gegenüber ein Sammelroboter einen weiteren Illegalen fängt, eine Frau, die sich erfolglos hinter einem Müllcontainer versteckt hat. Der Roboter hebt die Frau mithilfe seines Metallarms in die Höhe und deponiert sie mit der Schnelligkeit eines vernaschten Kindes, das sich ein schmutziges, auf dem Boden liegendes Bonbon in den Mund steckt, in der mittleren Kammer seiner Apparatur.

Auch etwas weiter die Straße hinauf arbeiten zwei Sammelgeräte unermüdlich; auf die Entfernung kann Acilde allerdings nicht erkennen, hinter welchen Menschen die gelben Maschinen her sind, die aussehen wie Bulldozer auf einer Baustelle.

Mit dem rechten Daumen berührt sie ihr linkes Handgelenk, um den PriceSpy zu aktivieren. Die App blendet in ihrem Sichtfeld Marke und Preis der Roboter ein. Die Marke heißt Zhengli, die englische Übersetzung des Wortes, to clean up, erscheint darunter, zusammen mit aktuellen Nachrichten und Bildern. Die chinesischen Aufräumgeräte sind von der kommunistischen Großmacht gestiftet worden, »als kleine Unterstützung in den schweren Zeiten, die die karibischen Inseln nach dem Unglück vom 19. März durchleben müssen«.

Die Informationsflut blockiert ihr Sichtfeld und erschwert das Abstauben der Keramikfiguren. Sie schließt das Programm, um sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.

Esther, die gerade – wie man vom Wohnzimmer aus hört – am Waschbecken ihrer Morgentoilette nachgeht, kontrolliert Acildes Gewissenhaftigkeit, indem sie gelegentlich auf der Suche nach einem Staubkörnchen mit dem Finger über die Figuren streift. Die Sammlung der Alten besteht vor allem aus Fischen, Booten, Sirenen und Muscheln, alles Geschenke von Kunden, Patenkindern und Sterbenskranken, die ihre letzte Hoffnung in Esther Escuderos Heilkräfte setzen. Glaubt man den sozialen Netzwerken, hat Präsident Bona seinen Wahlsieg und Machterhalt dieser graumelierten Dame zu verdanken, die jetzt in ihren blauen Seidenpantoffeln in die Küche schlurft und sich in eine große Tasse den Kaffee einschenkt, den Acilde ihr vor ein paar Minuten gekocht hat.

In ihrer ersten Arbeitswoche ist Acilde eine dieser Keramikfiguren heruntergefallen, ein pastellfarbener Pirat, der auf dem Boden zerbröselte. Zu ihrem Erstaunen hat Esther sie nicht ausgeschimpft, sondern mit der weihevollen Miene, die beinahe alles begleitet, was sie sagt, erklärt: »Fass es nicht an, etwas Böses ist da entwichen.« Die Alte füllte Wasser in eine Kalebasse und schüttete es über die Keramikscherben. Dann wies sie Acilde an: »Hol Schaufel und Besen und wirf alles durch die Hintertür auf die Straße.«

Für Acildes Chefin war ein schwarzer Schmetterling ein dunkler Totengeist; brannte eine Glühbirne durch, wollte Chango sich manifestieren; und heulte am Ende eines Gebets eine Autosirene los, war es das Zeichen, dass ihre Bitte erhört worden war.

Bevor sie zu Esther kam, hat Acilde im Parque Mirador Schwänze gelutscht. Bekleidet ging ihr Körper mit den winzigen Brüsten und den schmalen Hüften als der eines fünfzehnjährigen Jungen durch. Sie hatte mehrere Stammkunden, vor allem verheiratete Männer, Mittsechziger, die nur einen hochkriegten, wenn ein hübscher Knabe den Mund spitzte. Acilde zog meistens ein übergroßes Sweatshirt an, in dem sie noch jünger aussah, und statt wie die anderen über den Gehsteig zu schlendern und mögliche Kunden anzulabern, setzte sie sich im orangefarbenen Licht der Straßenlaternen auf eine Bank und tat so, als lese sie einen Comic. Je unbekümmerter das Kind wirkte, das sie spielte, desto mehr Kunden angelte sie sich. Manchmal ging sie so in der Rolle des Schuljungen auf, der mit einem angewinkelten Bein auf der Bank saß und frische Luft schnappte, dass sie ganz vergaß, warum sie da war – bis ein Hupen sie zurückholte an den Rand des Parque Mirador, wo bemitleidenswerte Typen sie durch die Scheiben ihrer BMWs musterten.

Mit dieser Strategie hatte sie auch Eric, Esthers rechte Hand, aus seinem Wagen gelockt. Eric, ein kubanischer Arzt mit den Gesichtszügen eines Filmstars, hatte es eigentlich nicht nötig, für Sex zu bezahlen, aber die kleinen weißen Mittelklasse-Jungs, die sich für einen Trip prostituierten, machten ihn ganz verrückt. In der Morgendämmerung hatte Acilde ihm damals in der Präsidentensuite – so wurde die kleine Lichtung zwischen den Büschen genannt, wo das Gras weicher war – einen geblasen. Eric hatte ihren Kopf dabei festgehalten, ihre glatten Wangen gestreichelt und war in ihrem Mund gekommen. Kurz darauf massierte er schon wieder seinen Penis.

»Beug dich vor, ich steck ihn dir rein«, befahl er ihr, als Acilde noch zur Seite ausspuckte, sich mit beiden Händen die Kniepartien ihrer Levi’s säuberte und die fünftausend Pesos für den Blowjob verlangte. »Ich will dich ficken«, sagte Eric im Licht der Autoscheinwerfer, die ihm über Brust und Bauch glitten. Acilde hatte den Satz »Gib mir meine Kohle, Schwuchtel« noch nicht zu Ende gesagt, da war Eric schon über ihr und drückte sie auf den Boden. Ihre Schreie – »Ich bin ein Mädchen, scheiße« – wurden vom Gras in ihrem Mund erstickt. Zu diesem Zeitpunkt war es Eric ohnehin restlos egal, wer oder was sie war, er zwängte ihr seinen trockenen Schwanz in den Arsch. Erst als er fertig war und Acilde aufstand, um sich die Hose anzuziehen, entzündete er ein Feuerzeug und sah nach, ob es stimmte, ob er es wirklich mit einer Frau zu tun hatte. »Ich bezahl dir einen Aufschlag für die Spezialeffekte«, sagte er. Und beim Anblick des Bündels Scheine, das er ihr hinhielt, nahm sie seine Einladung zum Frühstück an.

Die Stände mit frittiertem Fisch, die das Seebeben von 2024 von der Strandpromenade gefegt hatte, waren im Parque Mirador wieder aufgetaucht wie Fliegen, die man mit der Hand verscheucht hat. Diese neue, nach hinten versetzte Promenade entlang des Strandes, der kontaminiert war von nicht geborgenen Leichen und überschwemmtem Schrott, war ein Paradies, verglichen mit manchen Vierteln im oberen Teil der Stadt, wo die Sammelroboter nicht nur ihre üblichen Ziele, sondern auch Obdachlose, psychisch Kranke und Prostituierte aufgriffen.

Sie setzten sich auf Plastikstühle unter bunten Sonnenschirmen und bestellten gebratene Kochbananen mit Bratwürstchen.

»Gibt nichts Schlimmeres als einen süchtigen Stricher«, sagte Acilde zu Eric und schlang ihr Essen herunter. »Die stecken sich das Geld direkt in die Nase, die Muttersöhnchen, aber ich nicht, ich will ’ne Ausbildung zum Koch machen, Chef in ’nem piekfeinen Restaurant werden, und mit dem, was ich verdien, lass ich mir die Dinger hier wegmachen.«

Sie fasste sich mit beiden Händen an die Brüste, die Eric jetzt, da er wusste, dass es sie gab, als zwei Pünktchen, kaum größer als Bienenstiche, unter dem T-Shirt erahnen konnte.

»Ich kann dir einen Job besorgen, einen besseren als den hier, bei jemandem, der dich gut gebrauchen könnte«, sagte Eric.

»Ich will keinen Mann, der mich aushält«, warnte ihn Acilde und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. Eric erklärte ihr den Deal:

»Nein, nein, es geht um eine alte Santera, eine Vertraute des Präsidenten, die braucht jemanden wie dich, jung und aufgeweckt, der für sie kocht und das Haus in Ordnung hält.«

Acilde sah ihn verwirrt an. »Warum sollte die eine Stricherin wie mich haben wollen?«

Eric überlegte einen Augenblick, dann sagte er:

»Ich kann sie dazu bringen, dir die Kochschule zu bezahlen.«

Acilde führte Zeige- und Mittelfinger zusammen, um ihr Postfach zu öffnen, und streckte ihren Ringfinger aus, den Eric mit seinem berührte, sodass er in seinen eigenen Augen die Datei sah, die Acilde mit ihm teilte. Es war die Werbung für einen italienischen Kochkurs mit Chefkoch Chichi De Camps, den man diese Woche zum Sonderpreis buchen konnte, eine Schürze, die das Konterfei des berühmten Kochs mit dem Doppelkinn und der Cashewnase zierte, gab es gratis dazu.

Acildes Zimmer in Esthers Haus war eine dieser winzigen Kammern, wie sie im Santo Domingo des 20. Jahrhunderts in den Wohnungen üblich gewesen waren, als noch jeder ein festes Dienstmädchen hatte, das mit im Haus lebte und – für weniger als den Mindestlohn – putzte, kochte, wusch, auf die Kinder aufpasste und unauffällig die sexuellen Bedürfnisse der männlichen Familienmitglieder befriedigte. Der Boom in der Telekommunikationsbranche und die Fabriken der Freihandelszone hatten neue Arbeitsplätze für diese Frauen geschaffen, die sich nach und nach aus der Sklaverei verabschiedeten. Inzwischen wurden diese sogenannten Dienstbotenzimmer als Abstellräume oder Arbeitszimmer verwendet.

Die Stelle war ein Geschenk des Himmels. Ihre Runden im Mirador hatten gerade fürs Essen und das monatliche Datenvolumen gereicht, das für sie absolut lebensnotwendig war. Ging sie auf den Strich, aktivierte sie den PriceSpy, um anhand der Kleidung ihrer Kunden den jeweiligen Tarif festzulegen. Für die Arbeit hatte sie eine Playlist zusammengestellt, die mit »Gimme! Gimme! Gimme!« von ABBA endete. War die Nacht so gut wie vorbei, bestand die Herausforderung darin, sich noch schnell einen Kunden zu angeln, ihn abzufertigen und zu kassieren, bevor die Live-Version des Liedes zu Ende war.

Wenn ihr das gelang, belohnte sie sich mit einem Teller Ravioli Quattro Formaggi im El Cappuccino, einer Trattoria ein paar Straßen weiter. Die Ravioli bestellte sie mit den paar Brocken Italienisch, die sie online lernte, wenn im Mirador gerade nichts ging, und sie malte sich aus, welch eingehende Unterhaltungen sie einmal mit den Typen führen würde, die täglich im El Cappuccino zu Mittag aßen, Italiener mit sündhaft teuren Schuhen, die über Geschäfte und Fußball redeten.

Immer wieder stellte sie sich vor, einer der Männer könnte ein Freund ihres Vaters sein und sie aufgrund ihrer Ähnlichkeit erkennen. Die reine Hirnwichserei. Ihr Vater war gerade lange genug bei ihrer Mutter geblieben, um sie zu ficken und zu schwängern. Ihre Mutter Jennifer war dank ihrer goldbraunen Haut und ihren schönen glatten Haaren mit einem Modelvertrag nach Mailand gereist, dann aber am Heroin hängen geblieben und in Rom gelandet, wo sie in der Metro den Arsch hinhielt. Sechsmal hatte sie abgetrieben, bevor sie aus irgendeinem Grund beschloss, das siebte Kind zu kriegen, nach Hause zu fliegen und Acilde ihren Eltern in die Hände zu drücken, einem verbitterten Bauernpaar aus Moca, das in die Hauptstadt gezogen war, nachdem der Geist von La Llorona zwei Jahre Regen gebracht und ihr Stück Land verheert hatte.

Die Großeltern hatten Acilde aus reiner Lust geschlagen, weil sie zu jungenhaft war, weil sie immer Fußball spielen wollte, weil sie heulte oder weil sie nicht heulte. Acilde rächte sich für die Schläge in der Schule an jedem, der sie schief ansah. Wenn sie sich prügelte, vergaß sie, wo sie war, und ein roter Nebel verschleierte ihren Blick. Ihre Fingerknöchel wurden mit der Zeit immer kräftiger von den Narben, die sie sich zuzog, wenn sie auf Stirnen, Nasen und Wände eindrosch. Sie hatte die Hände eines Jungen, aber das genügte Acilde nicht: Sie wollte auch den Rest.

Ihren Großeltern war ihr männliches Gehabe ein Dorn im Auge. Großvater César suchte unermüdlich nach einem Heilmittel für die Krankheit seiner Enkelin, bis er eines Tages einen Nachbarsjungen anschleppte, der es Acilde mal so richtig besorgen sollte. Oma und Opa hielten sie fest, eine Tante legte ihr die Hand auf den Mund. In dieser Nacht war Acilde von zu Hause abgehauen. Sie fand Unterschlupf bei ihrem schwulen Klassenkameraden Peri, der in einem der Studios wohnte, die seine Mutter, Doña Bianca, an Studenten vom Land vermietete. Am Tag des Seebebens ging Acilde zum Parque Mirador und beobachtete mit Tausenden anderen Schaulustigen und Leuten im Pyjama, die gerade noch davongekommen waren, wie die Riesenwelle ihre Großeltern in ihrer miefigen Wohnung in der Siedlung El Cacique verschlang.

Peri konnte ganze Dialoge aus Komödien des vorigen Jahrhunderts auswendig, die sonst niemand gesehen hatte, wie Police Academy und Geschenkt ist noch zu teuer. In diesen Filmen sah Acilde das bedächtige Leben vor mehr als fünfzig Jahren und wunderte sich jedes Mal, wie die Leute damals ohne integriertes Datenpaket oder all das zurechtgekommen waren.

Bei Peri schlugen Jugendliche aus wohlhabenden Familien auf, um Pillen zu schlucken und manchmal tagelang Giorgio Moroder Experience zu spielen. Dieses Live-Rollenspiel von Sony versetzte einen auf eine ziemlich realistisch wirkende Disco-Party im Jahr 1977, wo man mit anderen Fevers tanzte. So nannten die Kriegsspiel-Fans die Millionen von Spielern, die an der virtuellen Party teilnahmen und die Zeitreise mit Trips kombinierten, um völlig in den sinnlich pochenden Synthesizerklängen von Donna Summers »I Feel Love« aufzugehen, das in Giorgio Moroder Experience eine volle Stunde dauerte. Wenn im Morgengrauen der Stoff und die Kohle, um welchen zu kaufen, zur Neige gingen, machten Peri und sein Freund Morla einen Ausflug in den Mirador und schafften ein paar Stunden an, um den zweiten Teil der Party zu sponsern.

Morla kam aus dem Viertel, er studierte Jura und handelte mit allem, was er in die Hände bekam, von Obstbäumen über noch nicht legalisierte Drogen bis hin zu Meeresgeschöpfen, Luxusprodukte, die von wohlhabenden Sammlern inzwischen hochgeschätzt wurden, seit die »drei Katastrophen« praktisch allem Leben unter Wasser ein Ende bereitet hatten. Morla träumte davon, für die Regierung zu arbeiten, und vor Peris anderen Freunden erfand er sich eine bessere Herkunft, doch die Beamtenkinder schauten nur verächtlich auf ihn herab, wenn sie über den PriceSpy sahen, dass seine Versace-Hemden schlechte Imitate waren.

Es war Morla, der Acilde zum ersten Mal von der Rainbow Bright erzählte, einer Injektion, die in den Kreisen unabhängiger Wissenschaftler bereits angewendet wurde und eine komplette Geschlechtsumwandlung ohne jeden chirurgischen Eingriff versprach. Die Wirkung des Umwandlungsverfahrens wurde mit den Entzugserscheinungen bei Heroinabhängigen verglichen, wenngleich die mittellosen Transsexuellen, die als Versuchskaninchen gedient hatten, ihn als tausendmal schlimmer beschrieben. Trotzdem dachte Acilde von diesem Moment an nur noch an die fünfzehntausend Dollar, die das Zeug kosten sollte. Sie musste Geld machen. Und weil ihr nichts Besseres einfiel, begleitete sie die anderen noch am selben Abend zum Mirador.

Längst im Haus von Esther, träumte Acilde davon, die Kenntnisse, die sie in den von Esther und Eric finanzierten Kochkursen erworben hatte, in einem Restaurant in Piantini in die Praxis umzusetzen, um sich dort als kreditwürdig zu erweisen und mit einem Darlehen die ersehnte wundersame Ampulle zu erstehen. Die Alte war ganz verrückt nach ihren Pasta-Kreationen, sie stand sogar nachts auf, um heimlich die Reste zu essen. Seit der Schreckensnacht im Haus ihrer Großeltern litt Acilde unter Schlaflosigkeit und vertrieb sich die Zeit mit Hanteltraining und in den sozialen Netzwerken, wo sie nach einem Foto ihres mutmaßlichen Vaters suchte. Während sie ihren Bizeps stählte, gab sie den Namen ihres Erzeugers in die Bildersuchmaschine ein und hielt Ausschau nach jemandem, der ein ähnlich kräftiges Kinn und ähnlich dichte Augenbrauen hatte wie sie; Merkmale, die von großem Vorteil sein würden, wenn sie es eines Tages schaffte, die Rainbow Bright zu kaufen.

Jedes Mal, wenn sie auf einem Foto ein Gesicht mit ähnlichen Zügen entdeckte, schlug ihr Herz schneller, bis sie dann im Geiste die kurze E-Mail formulierte, die sie dem Mann auf dem Foto schreiben könnte:

»Hallo, hast Du es 2008 mit einer dominikanischen Prostituierten getrieben?«

Nach diesen Exkursionen ins Internet ging sie in die Küche und kümmerte sich um die nötige Proteinzufuhr für ihre Muskeln, wobei sie ihre Arbeitgeberin, die gebeugt vor dem offenen Kühlschrank stand und direkt aus der Tupperdose aß, regelmäßig zu Tode erschreckte.

Sie machten Kaffee und setzten sich an den Küchentisch, wo Esther Acilde aus ihrem Leben und von ihrer religiösen Berufung erzählte.

Esther Escudero war in den Siebzigerjahren während der zweiten, zwölfjährigen Regierungszeit von Joaquín Balaguer auf die Welt gekommen, einer blutigen Zeit, »fast so blutig wie die heutige«, sagte sie, ohne den Blick von der Tasse zu heben, beschämt, einem Regime so nahe zu stehen, das die ausländischen Journalisten – noch – nicht als Diktatur bezeichneten.

»2004, mit dreißig, habe ich mich in meine Chefin verliebt. Ich war Redakteurin in ihrem Nachrichtenmagazin auf Canal 4. Sie war verheiratet und hatte ein Kind. Ihr Mann drohte, uns umzubringen. Bis dahin hatte ich mich immer gegen die Dinge gewehrt, die ich sah und spürte. Offenbar hat der Typ jemanden bezahlt, der schwarze Magie betrieb und mich mit einem Fluch belegte. Meine Menstruation hörte überhaupt nicht mehr auf. Ich dachte, ich würde sterben. Ich lag schon im Krankenhaus, als mich eine alte Frau besuchte. Sie hieß Bélgica und war früher einmal mein Kindermädchen gewesen. Man sah sie nie ohne ihr lilafarbenes Kopftuch, und in ihrem Mundwinkel hing immer ein Zigarettenstummel. ›Komm, wir gehen nach Kuba‹, sagte sie zu mir. Ich fragte sie, ob sie verrückt sei und wer das denn bezahlen solle, aber sie hatte schon alles vorbereitet, eine arme Schwarze vom Land. Ich verstand überhaupt nichts, aber ich war so allein und schwach, dass ich mich überreden ließ. Es stellte sich heraus, dass die Familie meiner Großmutter dem Kult anhing, und Bélgica hatte versprochen, dafür zu sorgen, dass ich der Tradition treu blieb. In Matanzas lernte ich meinen Paten kennen, Belarminio Brito oder Omidina, ein ganz schlimmer Sohn von Yemayá, der mich zur Santera weihte und mir das Leben zurückgab. Kaum hatte ich den Raum der Santos betreten, hörte ich zu bluten auf, schau nur, ich bekomme noch immer eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke. Dieser Mann hat mich den Toten entrissen, die mich mitnehmen wollten, diesen dunklen Totengeistern, die man geschickt hatte, um mich krank zu machen. In den Weissagungen bei meiner Initiation wurde offenbar, dass ich schon im Bauch meiner Mutter verflucht worden war – von der Geliebten meines Vaters, einem bösen Luder – und dass der neue Fluch sich mit dem alten verbunden hatte. So geht das, mein Kind, wie in der Chemie. Omidina taufte mich Omicunlé, die Decke über dem Meer, weil mir auch prophezeit wurde, dass meine Patenkinder und ich das Haus von Yemayá beschützen würden. Ach Omidina, baba mi, wie gut, dass du gestorben bist und das nicht mehr mit ansehen musst.«

Als die Sonne aufging, führte Esther sie in eine Ecke des Wohnzimmers und setzte sich auf eine Matte. Sie steckte ihre langen grauen Haare unter eine perlfarbene Mütze und nahm aus einem weißen Baumwollbeutel eine Handvoll Muscheln. Mit den Muscheln in der geschlossenen Faust strich sie in Kreisen über die Matte.

Als Erstes bat sie um Frische: »Omi tuto, ona tuto, tuto ilé, tuto owo, tuto omo, tuto laroye, tuto arikú babawa.«

Dann pries sie die Gottheiten, die über allen anderen stehen: »Moyugba Olofin, Moyugba Olodumare, Moyugba Olorun …« Dann ehrte sie die Toten des Kultes – »Ibaé bayen tonú Oluwo, Babalosha, Iyalosha, Iworó« – und ihre verstorbenen Lehrer: »Ibaé bayen tonú Lucila Figueroa Oyafunké Ibaé, Mamalala Yeyewe Ibaé, Bélgica Soriano Adache Ibaé …« Sie zollte denen Tribut, die sie in den Kult eingeführt hatten: »Kinkamanché, meinem Paten Belarminio Brito Omidina, meinem Oyugbona Rubén Millán Baba Latye, Kinkamanché Oluwo Pablo Torres Casellas, Oddi Sa, Kinkamanché Oluwo Oyugbona Henry Álvarez …«

Sie bat Eleggua, Oggún, Ochosi, Ibeyi, Changó, Yemanyá, Orisha Oko, Olokun, Inle, Oshún, Obba und Babalu Ayé, Oyá und Obbatalá um ihren Segen und die Erlaubnis, die Befragung vorzunehmen, »um Tod und Krankheit abzuwenden, Verluste, Tragödien, Streit, Klatsch und andere Übel, damit alles Böse ferngehalten werde und das Iré zur Überwindung von Widrigkeiten verhelfe, dem wohlwolle, was da komme vom Himmel und vom Meer, damit das Iré die Wege öffne und Gesundheit und Intelligenz bringe, Ehe, Wohlstand, Fortschritt, Geschäfte, Arbeit, Harmonie, Freiheit und Glück«.

Von den sechzehn Muscheln, die sie auf die Matte warf, blieben vier mit der Öffnung nach oben liegen.

»Iroso«, sagte Esther, so hieß das Zeichen, das sich im Orakel zeigte. Sie sah auf und ergänzte den Merkspruch des Zeichens: »Niemand weiß, was sich in den Tiefen des Meeres verbirgt.«

Nachdem sie die Muscheln noch ein paarmal geworfen hatte, diagnostizierte sie:

»Die Zeichen verheißen dir Iré, du sollst Glück haben, und alles Gute wird dir geschehen. Hintergehe niemanden. Vertraue dich niemandem an, keiner soll wissen, was du denkst oder was du tun wirst. Geh nicht über Löcher, begib dich nicht in Löcher, Löcher in der Straße, Löcher auf dem Feld, denn die Erde will dich verschlingen. Menschen wie du sind stets umgeben von Neidern und Heuchlern, als seist du eine Tochter der Fallen und der Falschheit. Du bist die Freundin deines Feindes. Der Heilige schützt dich vor dem Unglück, aber gib Acht vor dem Gefängnis. Verborgene Hinterlassenschaften und Reichtümer werden dir zuteil.«

Wie in einem guten Film glaubte sie Esther alles, solange sie die Santera vor sich hatte. Doch kaum war sie weg, verschwand der Glaube an diese unsichtbare Welt des Verrats, der Pakte und der entsandten Toten. Eines Abends, als sie mit ihrem Training fertig war, hörte Acilde ein Summen, das aus dem Zimmer kam, in dem der Altar für Yemayá stand, jene Meeresgöttin, der Omicunlé diente. Esther schlief. Acilde wagte sich in den Raum. Es roch nach Räucherstäbchen und Blütenwasser, nach alten Tüchern und dem Meeresduft, den die Lambí-Muscheln bergen. Sie näherte sich dem Altar, in dessen Mitte die drei Fuß hohe Replik eines antiken griechischen Kruges stand. Eric ärgerte Esther gerne damit, dass er sie eines Tages erben würde, und Acilde kannte dank des PriceSpy ihren schwindelerregenden Preis. Auf dem Mittelstück des Gefäßes war eine Frau abgebildet, die ein Kind am Knöchel über ein Gewässer hielt, als wolle sie es hineintauchen. Rings um den Krug waren Opfergaben und Attribute der Göttin niedergelegt, ein altes Ruder, das Steuerrad eines Bootes, ein Fächer aus Pfauenfedern.