Terafik - Nilufar Karkhiran Khozani - E-Book

Terafik E-Book

Nilufar Karkhiran Khozani

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Beschreibung

Es ist Nilufars erste Reise nach Iran und in eine ihr unbekannte Familie – die Familie ihres Vaters, der sie verlassen hat, als sie noch ein junges Mädchen war, und zurück in seine Heimat gegangen ist. Dort trifft sie auf neue Gesichter, die alle ihre Wunden und Sehnsüchte haben, und eine Gesellschaft voller Gegensätze. Nilufar lernt ein Leben kennen, das hätte ihres sein können, und einen Vater, der ihr immer dann ausweicht, wenn sie ihm nahekommt. Umgeben vom Chaos der ständig fließenden Hauptstadt Teheran und der wohlmeinenden Gastfreundschaft ihrer Verwandten entblättert Nilufar Schicht um Schicht die Zerrissenheit eines Landes, ihrer Familie und ihrer eigenen Identität.

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ZUMBUCH

Es ist Nilufars erste Reise nach Iran und in eine ihr unbekannte Familie – die Familie ihres Vaters, der sie verlassen hat, als sie noch ein junges Mädchen war, und zurück in seine Heimat gegangen ist. Dort trifft sie auf neue Gesichter, die alle ihre Wunden und Sehnsüchte haben, und eine Gesellschaft voller Gegensätze.

Nilufar lernt ein Leben kennen, das hätte ihres sein können, und einen Vater, der ihr immer dann ausweicht, wenn sie ihm nahekommt. Khosrows Geschichte ist die eines Mannes, der in Deutschland mit seiner Familie und seinen Geschäftsideen eigentlich alles richtig machen wollte und doch niemals irgendwo ankommen konnte. Es ist aber auch die Geschichte eines Mannes, der die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht aufgibt und um die Anerkennung seiner Tochter ringt.

Umgeben vom Chaos der ständig fließenden Hauptstadt Teheran sowie der wohlmeinenden Gastfreundschaft ihrer Verwandten entblättert Nilufar Schicht um Schicht die Zerrissenheit eines Landes, ihrer Familie und ihrer eigenen Identität

ZURAUTORIN

Nilufar Karkhiran Khozani, 1983 in Gießen geboren, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Psychologie und absolvierte anschließend eine Ausbildung als Verhaltenstherapeutin. Sie veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften. 2020 erschien ihr Gedichtband mit gesampelter Lyrik Romance Would Be a Very Fine Bonus Indeed. Sie war Artist in Residence beim PROSANOVA Festival 2020 und übersetzte das Skript Town Bloody Hall für den Film Als Susan Sontag im Publikum saß. »Terafik« ist ihr erster Roman. Sie lebt in Berlin.

NILUFAR KARKHIRAN KHOZANI

TERAFIK

ROMAN

Blessing

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Die vorangestellten Mottos sind entnommen aus:

Zadie Smith: The I Who Is Not Me. In: Feel Free. Essays.

London: Hamish Hamilton 2018, S. 340.

Tucké Royale: Wir sind schon da. Interview mit sechs Unterzeichnenden

des #actout-Manifests. In: Süddeutsche Zeitung Magazin vom 04.02.2021.

Copyright © 2023 by Nilufar Karkhiran Khozani

und Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotiv: © Shara Nikelait/EyeEm/Getty Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30973-2V002

www.blessing-verlag.de

I am Philip, I am Colson, I am Jonathan, I am Rivka, I am Virginia, I am Sylvia, I am Zora, I am Chinua, I am Saul, I am Toni, I am Nathan, I am Vladimir, I am Leo, I am Albert, I am Chimamanda – but how easily I might have been somebody else, with their feelings and preoccupations, with their obsessions and flaws and virtues.

(Zadie Smith, The I Who Is Not Me)

Ich komme aus einer Welt, die mir nicht von mir erzählt hat.

(Tucké Royale, Act Out Manifest)

Gießen 1989

Der Waschbetonbau stand als Wahrzeichen des Wiederaufbaus, der Eigenheimgeneration, der bleiernen Zufriedenheit in der Kohl-Ära im schmutzigen Airbrush-Sonnenuntergang eines Kalten-Krieg-Friedens. In der Dämmerung zogen schwarze Wolken auf, vereinzelte Tropfen schlugen auf dem Asphalt ein wie Granaten, ein Vogel schoss auf das Fenster zu, ein dumpfer Klang wie ein Fingertipp auf ein Mikrofon. Auf dem Gang des Fachbereichs Elektrotechnik an der Fachhochschule Gießen-Friedberg starrte Khosrow seit Stunden auf die Holztür am Ende des Flurs. Er hatte sich mehrmals vergewissert, dass dies der Tag seiner Nachprüfung war. Dies war sein letzter Versuch.

Professor Fenner kam nicht. Khosrow presste die Lippen aufeinander, seine Nasenflügel vibrierten. Er zog die Schultern zurück, reckte das Kinn und erhob sich. Jeder Schritt, den er den Flur hinab tat, erschütterte die alten Dielen unter dem Linoleum, mit jedem Schritt hinterließ er kaum sichtbare Kerben im Boden der Fachhochschule.

Ein Wasserfall strömte auf die angestaubte Stadt. Khosrow ging mit festen Schritten die Straße entlang. Seine Hände waren immer schon Fäuste gewesen. Ein ganzer Fluss rann seinen Körper hinab, er watete durch einen Ozean. Die Dämmerung hatte fast alle Farben verschluckt. Der Himmel war Zement. Am Ende der Straße stand eine schwarz-gelbe Telefonzelle. Wie eine Wespe in einem Orkanauge. Khosrow riss die Tür auf. Eine Maschinengewehrsalve aus Wassertropfen hämmerte gegen die Fenster. Er fuhr mit dem Finger über die Seiten des Telefonbuchs, F. – Fenner. Khosrow spürte das Adrenalin. Er spürte auf einmal seine Beine, und dass sie ihm wegsackten. Er konzentrierte sich mit aller Kraft auf die silbernen Ziffern des Apparats, schob eine Münze hinein und wählte. Und am anderen Ende nahm jemand ab. In seinem Kopf spulte sich der Text ab: Ich heiße Khosrow Karkhiran Khozani. Ich wurde 1956 als drittes von sechs Kindern in Abadan/Iran geboren. Mein Vater starb, als ich sieben Jahre alt war. Ich absolvierte zwei Jahre Militärdienst in der Wüste. 1979 floh ich aus politischen Gründen nach Deutschland. Ich engagiere mich im Komitee der Exiliraner. Ich studiere Elektrotechnik. Ich habe Tage, vielleicht Wochen auf der Ausländerbehörde gewartet. Ich verkaufe jeden Abend Würstchen im Imbiss. Ich habe mich beim Dekan beschwert, dass mein Diplomarbeitsthema abgelehnt und einem deutschen Kommilitonen gegeben wurde. Ich bin schlau. Ich habe gekämpft. Ich habe eine große Familie in Iran, und jetzt bin ich in Gießen. Und ich bin allein.

Und er stammelte: »Wo waren Sie?«

Berlin 2016

Lichtpunkte

Die Lichtpunkte der Hochhausfassade vor meinem Balkon lesen sich wie ein Sternbild. Balkone formieren sich zu endlosen Wiederholungen, pixelige Reflexionen gegen den Himmel wie in einem gigantischen Mosaik aus Leerstellen. Ich stehe dort manchmal abends und höre den Geräuschen zu, die aus den Blöcken kommen. Ich frage mich, wie mein Leben hätte verlaufen müssen, um mich wie die Menschen dort in einer der gegenüberliegenden Wohnungen wiederzufinden, in einem Zuhause mit mir vertrauten Menschen und Familienfotos an der Wand. Ich kann mir so schlecht vorstellen, dass ich hier auf dem Balkon eines Berliner Plattenbaus stehe und gleichzeitig ein Teil von mir zu einem ganz anderen Land gehört. Als wären die Orte auf seltsame Weise verhakt, ein Zeitgitter, das mich komplett überfordert. Aber ich stehe ja hier, denke ich. Das ist ja real.

In meiner Wohnung gibt es keine Fotos an der Wand. Sie sieht nach über zehn Jahren immer noch aus, als wäre ich nur übergangsweise hier. Statt Familienfotos habe ich lediglich ein großes Flipchart-Papier an der Wand, das ich kurz vor meiner Reise wieder hervorgeholt hatte, um mich ein wenig zu orientieren. Manchmal schaue ich mir abends die gezackten und gekreuzten Linien darauf an. Sie sehen aus wie die Umrisse der Hochhausfassade, die sich in meinem Kopf festgesetzt haben. Ein Familienentwurf. Ich betrachte die Verbindungen zwischen den Angehörigen auf dem Genogramm, das ich vor ein paar Jahren während meiner Ausbildung hatte zeichnen müssen. Eine einfache Linie für eine Partnerschaft, eine doppelte für eine Ehe, eine durchgestrichene für eine Trennung oder Kontaktabbrüche, eine gezackte für eine »konfliktreiche Beziehung«, eine gestrichelte für unsteten Kontakt. Mein Koffer ist vollgestopft mit Haribo ohne Gelatine und Merci-Schokolade und kurz vor dem Platzen. Ich hoffe, es wird reichen.

»Wann kommst du endlich nach Iran?«, hatte mein Vater immer am Telefon gefragt. »Ich weiß nicht, wenn ich mit den Prüfungen fertig bin, irgendwann.« Ich hatte immer gerade Prüfungen. Eigentlich hatte ich es nie wirklich vor. Mein Leben lang hatte mich meine Mutter davor gewarnt, in »so ein Land« zu reisen. Ich konnte ja bis auf ein paar Floskeln nicht mal Persisch. Ich konnte mir auch lange Zeit nicht vorstellen, was es dort zu entdecken gäbe, außer einer Menge Vorschriften und »Schwierigkeiten«, über die mein Vater sich immer am Telefon beklagte. Mein Vater und ich hatten uns ohnehin nicht wirklich viel zu sagen. Alles an ihm erschien mir weit weg, schon immer. Andererseits ließ mich der Gedanke, einmal die Grenzen niederzureißen und »dieses Land« mit eigenen Augen zu sehen, nicht mehr los. Bei meinen Freunden in Berlin besaß Iran sogar einen gewissen Coolnessfaktor. Außerdem machte mein Vater keinerlei Anstalten, erneut nach Deutschland zu kommen. Ich vermisste ihn eigentlich nicht, wie man eben einen Unbekannten nicht vermissen kann. Er verschwand nie richtig, sondern blieb eine nicht ausgesprochene Frage. Seit seinem letzten Besuch in Berlin, der inzwischen fünf Jahre her ist, haben wir uns nicht mehr gesehen.

Vor vier Monaten dann rief er mich wieder an, wie immer Freitagvormittag, der freie Tag in Iran und kurz vor meiner Mittagspause in der Klinik. Auf meinem Handy, das auf meinem Mensatablett lag, leuchtete die ganze Zeit »Papa Iran« auf. Ein Kollege fragte: »Willst du nicht drangehen? Scheint wichtig zu sein.« Was sollte schon Wichtiges sein? Ich schob das Handy diskret zur Seite. Mein Vater erreichte mich später, um mir beiläufig zu erzählen: »Nilufar, ich werde immer älter, außerdem, wie soll ich sagen, ich lebe jetzt nicht mehr alleine, ich kann nicht einfach so nach Deutschland kommen.« Ich nahm mein Handy und suchte mir eine Ecke auf dem Stationsflur. »Also, Fatemeh und ich, wir haben beschlossen, dass du dieses Jahr zu uns kommst. Fatemeh ist sehr nett, du wirst sie mögen, sie freut sich schon, und ihre Kinder auch, die werden wir alle besuchen! Ich sage dir noch, was du alles mitbringen sollst.« – »Ich kann hier nicht einfach weg, wie stellst du dir das vor, was soll das überhaupt?« Mein Kollege von vorhin lief wieder im weißen Kittel an mir vorbei und zwinkerte mir zu. Ich lief rot an. »Ich will wirklich, dass du wenigstens ein Mal nach Iran kommst. Du bist schließlich auch Iranerin! Ich möchte, dass du hier alle kennenlernst!« Ich hatte viele meiner Verwandten tatsächlich noch nie gesehen. Ich wusste nur, dass es sie gab, als wären sie Gefangene in einem Paralleluniversum. Da war mein Onkel Hassan, der älteste Bruder meines Vaters. Er hatte sieben Kinder. Konservativ und sehr religiös sei er, das war für den Rest der Familie untragbar. Ein anderer Bruder war einfach verschollen, nach Kanada ausgewandert. Mein dritter Onkel Mehdi war in meiner Erinnerung riesengroß. Er war sogar mal Vizebürgermeister von Teheran gewesen, aber das war alles, was ich wusste. Er hatte einen Sohn und eine Tochter, die aber deutlich älter waren als ich. Meine Tante Rudabeh und ihr Mann, den alle bei seinem Nachnamen Hashemian nannten, hatten eine Tochter ungefähr in meinem Alter, Narges, sie habe ich nie kennengelernt. Als Mehdi, Hashemian und Rudabeh uns mal in Deutschland besucht hatten – ich ging Rudabeh ungefähr bis zur Hüfte –, kam Narges nicht mit. Ich weiß noch, dass alle wahnsinnig große Koffer hatten und dass in unserer kleinen Plattenbauwohnung, die plötzlich viel größer schien, auf einmal viel mehr los war. Sie brachten viele Geschenke mit, staunten über alles, was ich machte, und die ganze Zeit spielte irgendjemand mit mir. Das Wichtigste war aber, dass sie Nanejun mitbrachten, meine Großmutter. Wo immer ich hinging, hielt sie meine Hand, als wäre das schon immer so gewesen. Ich war traurig, als sie schließlich nach drei Monaten Visumsdauer meine Hand wieder loslassen musste und abreiste. Seit ich ein Kind war, habe ich sie nicht mehr gesehen. Iran bleibt in meinem Kopf wie ein ständig tropfender Wasserhahn. Ich konnte nicht mehr nicht an dieses Land denken. Dann buchte ich einfach ein Ticket.

Ich stehe vor einem Muster aus vielen durchgestrichenen Linien, ein Ornament, das bei längerem Hinsehen verschwimmt, wie die Kachelmuster in den alten persischen Bauwerken. Die Linien und Symbole formieren sich immer wieder neu. Ein Gitter, in dem sich die Lebenswege der Generationen kreuzen. Das Quadrat meines Vaters verbindet eine Gerade mit meinem Quadrat, da war ich klein, da lebten wir zusammen. Dann die Scheidung, er ging wieder nach Iran zurück, also eine durchgestrichene Linie. Ob nicht doch eine gezackte Linie besser gewesen wäre oder vielleicht eine unterbrochene? Ich kann mich schwer entscheiden. Nanejun thront über allen wie eine Sonne. Das Quadrat neben ihr ist ebenso durchkreuzt. Mein Großvater ist sehr früh verstorben, ebenfalls das Herz, er sei eines Tages einfach umgefallen. Eine große Katastrophe für meine Großmutter, mein Vater war gerade erst sieben und Pouya, ihr Ziehsohn, noch ein Baby. Die Linie zwischen Pouya und seiner Frau Shirin ist die einzige, die ich nicht durchgestrichen gemalt habe.

»Du kannst doch bei uns bleiben. Gefällt es dir etwa nicht, bei deinem Vater zu bleiben? Und meinst du etwa nicht, Fatemeh würde gut für dich kochen?« Ich konnte mir kaum vorstellen, mich fast vier Wochen der Obhut meines Vaters auszuliefern. Ich würde keine einzige Entscheidung mehr treffen können. Tatsächlich war er komplett für mich verantwortlich, sobald ich einen Fuß auf iranischen Boden setzte, so wollte es das Gesetz, aber generell war jeglicher Widerstand bei meinem Vater zwecklos. Er schaffte es am Ende einfach immer, so lange zu diskutieren, bis er seinen Willen durchgesetzt hatte. Sicherlich würde er Fatemeh vorschieben, sie würde wahnsinnig enttäuscht sein, wenn ich nicht so lange bei ihnen blieb wie vorgesehen. Mein Plan, in Teheran an der Uni einen Kurs für Ausländer zu belegen und erst mal im Hotel zu wohnen, ließ sich nicht umsetzen. Ich konnte bisher kaum mehr als das Alphabet, obwohl ich einiges mehr verstand, als ich selbst sagen konnte. »Warum willst du unbedingt Geld ausgeben für ein Hotelzimmer? Das ist nicht wie in Deutschland. Du musst hier viele Regeln befolgen und abends zu Hause sein. Wo ist dieses Institut überhaupt? Und deine Tante Rudabeh besteht darauf, dass du auch eine Weile bei ihr wohnst. Wir regeln das alles. Deine Cousine Narges ist da und kann mit dir überall hingehen. Damit du nicht mit der U-Bahn fahren musst. Die U-Bahn ist viel zu voll, da bekommst du gar keine Luft und wirst eingequetscht. Warum willst du überhaupt so einen Kurs an der Uni machen? Die lernen doch nur von morgens bis abends. Bei uns in der Familie kannst du auch Persisch lernen. Du kannst dich mit Fatemeh unterhalten. Von den vier Wochen kannst du zwei in Teheran bei Tante Rudabeh wohnen und zwei bei Fatemeh und mir in den Bergen, dort habe ich ein kleines Ferienhaus gebaut. Das wird dir gefallen! Oder ist es dir peinlich, dass wir nicht so ein großes Haus haben wie die anderen? Wir werden außerdem viel unterwegs sein und Verwandte besuchen. Da bleibt keine Zeit für einen Sprachkurs.« Schließlich willigte ich ein, einige Zeit bei ihm und einige Zeit bei Tante Rudabeh und Narges zu verbringen.

»Kümmere dich um deinen Pass. Du gehst zur Botschaft in Berlin und lässt dir einen Reisepass ausstellen, du machst das schon. Du brauchst kein Visum.« Mir war bis dahin gar nicht bewusst gewesen, dass ich tatsächlich als iranische Staatsbürgerin zählte. Ich hatte nie ein Ausweisdokument bekommen. »Doch, doch«, sagte mein Vater. »Ich schicke denen eine Ausweiskopie von mir, du stehst da als meine Tochter drin. Das reicht. Du bist dann automatisch Iranerin.«

Ich machte mich also in der darauffolgenden Woche auf den Weg zur iranischen Botschaft, um mir meinen Pass ausstellen zu lassen. Ich stieg an der Station Podbielskiallee aus der U3 und blieb erst mal auf dem Bahnsteig vor einer Werbetafel stehen. Ich hoffte, niemanden zu sehen, der mich kannte, denn meine ehemalige Fakultät lag in einer Seitenstraße. Ich wollte aber auch keinen schlechten Eindruck in der Botschaft machen und erst im Angesicht der Überwachungskamera mein Kopftuch überziehen. Ich holte also einen dünnen Schal aus dem Rucksack und zog ihn unbeholfen über den Kopf. Es war mir irgendwie unangenehm. Ich zupfte ihn in der Spiegelung der Plastiktafel zurecht und nahm den entgegengesetzten Ausgang als früher zu Studienzeiten. Dann ging ich die Treppen hoch, die Allee entlang, vorbei an Wahlplakaten, die Menschen auf einem fliegenden Teppich zeigten, vorbei an einem Polizeihäuschen, das aussah wie eine Eisdiele. Ich spürte die Blicke eines Beamten, während ich vorbeiging. Ich ging extra nicht schneller. Ich schaute extra nur geradeaus. Was machte er hier überhaupt den ganzen Tag? Dachte er, ich plante einen Anschlag? Ich blieb so unauffällig wie irgendwie möglich mit Kopftuch. Ich kontrollierte meine Augen und meine Mundwinkel, denn ich wusste, dass sie Menschen als Erstes verraten, und ich wusste, dass die Beamten das wissen. Ich ging weiter bis zur Kreuzung und fühlte mich ertappt. Ich schaute zurück, in die Augen des Beamten, und nahm mein iPhone langsam aus der Tasche. Ich sah, wie er mich mit seinem Blick fixierte. Als sei er mein Spiegel, führte er seine Hand gleichzeitig mit meiner Bewegung zum Holster. Die Pistole sah aus wie ein Spielzeug. Ich hob das Handy zum Mund. Parallel zu meiner Armbewegung erstarrte sein Gesicht, seine Muskeln spannten sich an, seine Augen fixierten mich. Er machte langsam einen Schritt auf mich zu. Ich ließ den Arm sinken, seine Hand fuhr zurück, ich hob ihn wieder an, seine Finger griffen ans Holster. Ich fixierte ihn weiter mit meinem iPhone in der Hand und bewegte ihn wie eine Marionette, zum Holster und zurück, steckte das Handy schließlich wieder in die Tasche und sah sein Gesicht zusammenfallen. Beim Ausatmen rutschten seine Schultern nach unten und seine Hand baumelte über den Asphalt. Er machte kehrt. Ich lächelte innerlich und ging weiter.

Am Tor der Botschaft zog ich meinen Schal tiefer ins Gesicht und sah extra nicht in die Kamera. In der mit riesigen Teppichen ausgelegten Empfangshalle stellte ich mich in eine der Schlangen, über denen Schilder in arabischer Schrift klebten. Ich sah in der Schlange für »Visa« – das einzige Wort in lateinischer Schrift im Saal – eine Frau ohne Kopftuch, die dem Beamten hinter der Glaswand direkt in die Augen schaute, während er peinlich berührt zu Boden starrte. Ich sah, wie sie mit dem Beamten sprach, ein Formular mitnahm und wieder hinausging, und ich dachte: Ich will, dass sie mich ansieht, dass sie mir in die Augen sieht und mir erklärt, warum sie ohne Kopftuch gekommen ist. Ich wollte ihr sagen, ich bin nicht anders als du, ich könnte im Café oder in der U-Bahn neben dir sitzen, erklär mir, warum du also die Regeln missachtest, als seist du besser, freier und mutiger als ich, und ich wusste, sie würde mich ansehen und wahrscheinlich ihren Freunden sagen, ich bin besser, freier und mutiger, und ich interessiere mich einfach für fremde Länder und Musik und Katzen, und wenn ich etwas will, dann bekomme ich es auch.

In der Nacht fuhr ich wie so oft ziellos mit der U-Bahn umher. Ich liebte es, die Stadt von ihren Gedärmen her zu erkunden. So fühlte ich mich am wohlsten, vom Untergrund verschluckt und von einem Neonlicht beleuchtet, das allem einen zweidimensionalen Schein gab, als wäre die Welt nur gezeichnet. An der Endstation Alexanderplatz erklang kurz vor Morgengrauen ein Gebet aus dem Lautsprecher, This train terminates here. All change please, das von den glänzenden Kacheln abperlte und zerrann. Ich stieg über schlafende Körper aus der U-Bahn-Station hinaus in die Stadt, die mit einer zentimeterdicken Eisschicht bedeckt war, auf der ich lief wie auf Glasscherben. Ich ging durch eine Sinfonie aus Balkonen und Fenstern. Mir schien, die Hochhäuser beherbergten Tausende stumme Familien, die nebeneinander, übereinander lebten. Die eckigen Silhouetten bildeten ein endloses Ornamentmuster wie auf Kacheln im Inneren von Moscheen. Schaute ich länger auf eine Hochhausfront, verschoben sich die Balken vor meinen Augen wie in einem Kaleidoskop. Absolute Stille. Ich schaute mir die Häuser an, wie flache Gemälde, als wären sie nicht echt, hochgezogen, um die Namenlosen einzusortieren. Wie viele hier abends ihre Gedanken in einer abendlichen Zigarette ausdrückten. Es lag noch eine Beklommenheit in der Luft. Ich stellte mir ein Leben in einer dieser Boxen im Berlin der frühen Achtziger vor, durchleuchtet von den Straßenlampen über den breiten Flächen zwischen den Blöcken und den Augen der Nachbarn, mit endlosem Horizont, aber ohne die Möglichkeit, jemals ein Leben jenseits davon zu führen.

Ich schaute in den von zwei Hochhäusern eingerahmten Himmel. Zwischen den Wänden stieg mein Atem auf wie der Rauch eines Schwelbrands.

»Kauf bitte auch ein Geschenk für Onkel Mehdi und Onkel Hassan«, schrieb mein Vater ein paar Wochen vor meinem Flug. Dass wir auch Mehdi und Hassan besuchen würden, überraschte mich. Offenbar war mit der Ankündigung meines Besuchs politisches Tauwetter eingetreten. Bisher hatte ein großer Riss zwischen dem als fanatisch-religiös verschrienen Hassan und dem Rest der Familie geklafft. Seit Jahren sprachen die Brüder nicht mehr miteinander, selbst mit den Kindern gab es kaum Kontakt, es hätte sich nicht geschickt. Mehdi war als ehemaliger Beamter zumindest bei Pouya unten durch. Wie sehr er mit dem Verwaltungsapparat verstrickt gewesen war, wusste niemand so genau, nur dass alles, was er einmal besessen hatte, mittlerweile zwischen seinen Fingern zerronnen war. Sowohl Hassan als auch Mehdi wurden in der Familie nie erwähnt. Pouya hatte sogar alle Bilder, auf denen er mit einem der beiden zu sehen war, vernichtet. Selbst zwischen Rudabeh und meinem Vater gab es kaum noch Kontakt, was allerdings daran lag, dass mein Vater es nicht lassen konnte, früher oder später mit allen Streit anzufangen. Irgendwann fühlte er sich von jedem hintergangen. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass mein Vater einen derartig diplomatischen Stunt durchziehen und die Kontakte wieder aufnehmen würde, aber er meinte es offenbar ernst. »Wir werden Hassans Familie in Isfahan besuchen. Seine Kinder mit ihren Familien werden auch alle da sein. Halt dich an Shirin, sie ist eine Frau, sie kann dir genauer sagen, was du alles mitnehmen sollst.«

»Am besten, du kaufst für alle Merci-Schokolade, das mögen die«, sagte mir Shirin, als ich sie anrief. »Und für Narges Make-up.«

Shirin und ihr Mann Pouya sind meine Vertrauten auf dieser Reise. Sie sind außer mir die Einzigen unserer Familie in Deutschland. Pouya, der jüngste Sohn von Nanejuns früh verstorbenem Bruder, wurde von ihr sozusagen mit aufgezogen und ist ungefähr zehn Jahre jünger als mein fast sechzigjähriger Vater. Er versucht, seit er Anfang der Achtziger nach Deutschland kam, Iran hinter sich zu lassen. Noch vor ein paar Jahren, als er Shirin noch nicht kannte, schwor er sich, nie wieder einen Fuß auf iranischen Boden zu setzen. Wegen der Kinder jedoch ließ auch er sich schließlich wieder dazu überreden, wenigstens die Großeltern alle paar Jahre zu besuchen. Ich war erleichtert, dass sie zur gleichen Zeit fliegen wollten wie ich, mit ein paar Tagen Vorsprung, um Shirins Eltern im Norden zu besuchen.

Er fühle sich nun mehr oder weniger heimisch im Allgäu, sagt Pouya immer wieder. Während seines endlosen Medizinstudiums wartete er noch mit Anfang dreißig in Wohnheimen mit Blick über Bielefeld oder Bamberg darauf, dass sich sein Traum von einer eigenen Arztpraxis endlich materialisierte. Ich erinnere mich an Hoppe, hoppe, Reiter auf seinem Schoß, ich mochte ihn von allen Verwandten am liebsten. Er war wie ein Onkel für mich, oft bei uns zu Besuch, immer fröhlich.

Weil ich ahnte, dass mein Besuch ziemliche Kreise ziehen würde, hielt ich mich an Shirins Rat und kaufte gleich kiloweise Merci für die Familien von Hassan, Mehdi und Rudabeh und noch ein paar weitere Kilo in Reserve, weil ich völlig den Überblick darüber verloren hatte, wie viele Kinder sie jeweils hatten und welche Leute ich treffen würde.

Während ich meine Reise vorbereitete, schickte mein Vater aus seiner kleinen Wohnung in Karadsch, einer Zwei-Millionen-Stadt nördlich von Teheran, Telegram-Nachrichten an das halbe Land und kündigte meinen Besuch an.

»Hashemian mag gerne diese Haribo, aber pass auf wegen Gelatine, das darfst du nicht einführen.«

»Und für Rudabeh?«

»Eine Bluse oder ein Kopftuch. Und Kaffee, bring bitte Kaffee mit, aber gemahlen, hörst du?«

»Hast du überhaupt eine Kaffeemaschine?«

»Dort gibt es Manteaus, das sind so ganz leichte Mäntel für warmes Wetter«, erklärte Shirin. »Nimm irgendwas Weites, das die Arme bedeckt und bis zum Knie geht, am besten aus Leinen oder so. Was Stil angeht, können wir mit denen eh nicht mithalten. Was die tragen, haben wir hier gar nicht, und die Mode ändert sich so oft. Mit Fatemeh wirst du schon klarkommen, sie ist bestimmt nett zu dir, die freuen sich immer, wenn jemand sie besucht, du wirst sehen. Und da ist noch etwas. Dein Vater hat uns eigentlich verboten, dir das zu sagen.« Shirin fing auf einmal an, herumzudrucksen. Natürlich kommt so was jetzt, wo mein Ticket schon gebucht ist, dachte ich. »Er war, als er wieder nach Iran zurückgekehrt ist, vor Fatemeh schon mal verheiratet. Seine damalige Frau wollte unbedingt mit ihm nach Deutschland fahren, um dich kennenzulernen, aber dein Vater hat Angst gehabt, dass du sauer bist und ihn dann nicht mehr sehen willst. Deshalb durften wir die ganze Zeit nichts sagen, obwohl sie wirklich total nett war. Sehr modern.« Mir stand der Mund offen, aber ein Teil von mir war nicht überrascht. »Sag ihm auf keinen Fall, dass ich dir das erzählt habe, er weiß nicht, dass du es weißt.« Ich rollte mit den Augen. Ich hätte mich tatsächlich gefreut, sie kennenzulernen. Die Situation war mir merkwürdig vertraut. Zwischen meinem Vater und mir schien es mehr Geheimnisse als Wörter zu geben. Ich war nicht mal wirklich sauer, nur wahnsinnig genervt, dass alles dermaßen umständlich ablief. Shirin zuckte mit den Schultern: »Das ist einfach typisch Iran, keiner sagt die Wahrheit, und immer müssen sie alles kompliziert machen.« »Klar«, sagte ich, »ich sage nichts«.

Ich lese seine WhatsApp-Nachricht, während ich innerlich immer noch den Kopf schüttele. Vielleicht wäre die Reise eine Gelegenheit, diesen ewigen Kreislauf aus Heimlichtuerei und falschen Versprechungen zu durchbrechen und einmal Klartext zu reden. Vielleicht würde ich endlich etwas mehr über ihn erfahren, und es gäbe eine Chance, an so etwas wie eine Beziehung anzuknüpfen, damit ich nicht ständig versuchen musste, eine Leerstelle zu beschreiben, wenn andere mich nach ihm fragten – ohne zu ahnen, dass so beiläufige Fragen zu meinem Vater mich vor kaum lösbare Aufgaben stellten, weil mir durch unsere Existenz im sprachlichen Zwischenraum das Vokabular fehlte.

Mit meiner Reise schien für die Familie eine neue Zeitrechnung begonnen zu haben. Dass ich noch nie in Iran war, auch nicht, als ich noch klein gewesen war und mein Vater mit uns in Gießen gelebt hatte, liegt daran, dass 1984, ein Jahr nach meiner Geburt, das Buch Nicht ohne meine Tochter von Betty Mahmoody veröffentlicht wurde. Ein paar Jahre später kaufte es auch meine Mutter aufgrund einer Brigitte-Rezension und las es kurz vor unserer geplanten Reise nach Iran. Dieser unglückliche Zufall führte dazu, dass sie sich weigerte, mit meinem Vater und mir zusammen nach Iran zu fliegen. Wir flogen nicht, obwohl die Geschenke schon gekauft waren und ich mich riesig auf meine erste Reise gefreut hatte, auf der ich Nanejun und die anderen sehen würde.

Das Buch hatte ziemlichen Eindruck hinterlassen. Es könnte ja tatsächlich sein, dass man uns entführte und ich dann nicht mehr zurückkönnte. Das kam mir damals mit sieben Jahren absurd und ziemlich unfair vor, aber seit Nicht ohne meine Tochter war klar, dass man Menschen aus diesem Land nicht trauen konnte und vor allem bei Männern mit allem rechnen musste. Sogar das Auswärtige Amt warnte: Sogenannten Doppelstaatlern könnte in Iran bis hin zu Inhaftierung und Verurteilung alles blühen.

Nicht ohne meine Tochter sei in vielen Dingen klischeehaft und reißerisch gewesen, las ich später in Wikipedia. Dennoch fragte ich meinen Vater vor ein paar Wochen, ob ich etwas zu befürchten hätte.

»Nilufar, jeden Tag gehen Tausende Iraner, die im Ausland leben, mit ihren Familien durch die Kontrolle, und jeden Tag fliegen Tausende von dort wieder nach Hause nach Deutschland oder in die USA oder nach Australien.«

Es kommt mir lächerlich vor, dass letztendlich ein Buch dazu geführt hat, dass ich nie mit meinen Cousinen gespielt habe, als wir noch Kinder waren, während die anderen iranischen Kinder, die ich kannte, jedes Frühjahr zum Neujahrsfest Nowruz hinflogen. Dass ich bis heute nur schlecht Persisch spreche, dass meine Verwandten dort zu etwas Monströsem in meinem Kopf geworden sind, dass es letztlich ein Buch ist, das mich meiner Sprache beraubt hat.

Die vor mir ausgebreiteten Linien fangen in meinem Kopf an zu verschwimmen. Je länger ich auf das Papier starre und überlege, ob ich für jedes der Quadrate ein Geschenk habe, desto mehr fühle ich mich zu diesen Menschen hingezogen, auch wenn ich mir kaum vorstellen kann, meinem Vater nach all der Zeit gegenüberzustehen. Ich gehe zu meinem randvoll mit Haribo und Merci-Schokolade gefüllten Koffer und klappe ihn zu.

Teheran 2016

Ankunft

Im Morgengrauen lande ich gleichzeitig mit Hunderten von Menschen am Imam Khomeini Airport in Teheran, ziehe mein Kopftuch ins Gesicht und gehe durch die Passkontrolle.

Es erscheint mir geradezu unwirklich, dass jemand in meinen neuen Pass schaut, ein zweites Mal, »bitte warten Sie einen Moment«, ein Blick in den Computer, »bitte bleiben Sie hier stehen«, und ich dann, »nur ein paar Fragen«, von zwei Soldaten hinauseskortiert werde. Als ich meinen Pass aus den Händen des Beamten zurücknehme, wie die Reisenden vor und hinter mir in der Schlange, versuche ich, das Buch, das damals meine Mutter davon abgehalten hat, mit mir nach Iran zu fliegen, zu vergessen. Hinter der Glasscheibe erkenne ich meine Tante Rudabeh und ihren Mann, Hashemian. Sie sind sichtbar älter geworden, seit ich sie im Grundschulalter das letzte Mal gesehen habe. Neben Rudabeh und Hashemian steht ihre Tochter, meine Cousine Narges, mit locker über die Haare gelegtem Schal und Manteau, bunte Blumenmuster und leuchtende Farben. Schließlich eine kleine, im schwarzen Tschador verhüllte Frau um die fünfzig. An ihrer Seite eine Gestalt in beigefarbener Hose, die auf dem Arm zwei riesige Blumenbouquets balanciert. Der Oberkörper verschwindet fast vollständig hinter den Bouquets, während die Blüten als wachsame Köpfe über den wartenden Gesichtern thronen – mein Vater.

Ich nehme meinen Koffer vom Band und gehe an einem gelangweilten Zollbeamten vorbei. Dann trete ich durch die Schiebetür hinaus und schaue zu meiner Familie in der weiß gefliesten Halle, als stünde ich in der Matrix. Seit ich meinen Pass von der Botschaft abgeholt habe, ist das hier offiziell auch mein Land, und es gibt nichts, woran ich mich festhalten könnte bei meinen ersten Schritten in einer Heimat, in der ich bis jetzt nie gewesen war. Schaue ich in meinen Pass, erkenne ich mich kaum wieder, das Foto zeigt ein Gesicht, von einem Kopftuch eingerahmt (Shirin: »Mein Gott, Nilufar, du hättest ruhig deine Haare rausgucken lassen können, das sieht ja aus wie ein Foto von vor fünfzig Jahren, was denkst du, wie man in Iran auf die Straße geht?«), zwei Augen, eine durch das Drucken und Prägen kaum vorhandene überbelichtete Nase und zwei schmale Lippen.

Zuerst umarmen mich Rudabeh und Hashemian. Rudabeh drückt mich lange auf eine Tanten-Art, kein Blatt passt zwischen uns. Jetzt habe ich Angst, dass ich sie zerquetsche. Bei unserer letzten Begegnung, als ich sieben war, hatte ich es andersherum in Erinnerung. Auch Hashemian umarmt mich, grinst und macht dabei eine Handbewegung auf Hüfthöhe, sodass ich verstehe, was er sagt: »Du warst erst so groß!« Mein Vater stellt umständlich die Bouquets auf dem Boden ab, kommt dann auf mich zu und umarmt mich unsicher. Als wüsste er nicht, ob es angebracht sei. Ich bestaune artig die Blumen. Eins der Bouquets ist halb so hoch wie ich und sieht aus wie eine ganze Gartenlandschaft. »Das ist Narges«, sagt mein Vater mit einer Handbewegung in Richtung meiner Cousine. »Sie ist Bauingenieurin und leitet eins der größten Bauprojekte im Nahen Osten.« Ich weiß so gut wie nichts über Narges, die fast so alt ist wie ich. Und irgendwie weiß ich auch kaum etwas über ihn.

Als wir uns auf den Weg zu Rudabehs Wohnung im Norden der Stadt machen, ist es fünf Uhr morgens. Das Auto ist voll mit Familienmitgliedern, die sich Mühe geben, trotz der ständigen Querelen miteinander auszukommen. Die Einzige, die sie um diese Zeit haben schlafen lassen, ist Nanejun. Sie bewohnt bei Rudabeh das untere Stockwerk. Dass sie überhaupt noch lebt, denke ich.

Narges’ Augen funkeln mich im Auto direkt an, und sie erzählt mir in gebrochenem Englisch von allen möglichen Familienmitgliedern. Ich könnte Narges sein, denke ich. Ich schaue aus dem Fenster auf dem Rücksitz raus auf die Autobahn: nichts Ungewöhnliches. Autobahn, ein paar Autos, ansonsten Dunkelheit. Am Tag gebe es hier viel Stau. »Big terafik«, sagt Narges. Aber noch ist von dem berüchtigten Teheraner Straßenverkehr nicht viel zu spüren. Irgendwann fahren wir in die Stadt rein, der Tag bricht an, die Menschen werden gerade wach. Ich könnte sie alle sein.

Hashemian sitzt am Steuer. Er ist zu Scherzen aufgelegt, genau wie ich ihn in Erinnerung hatte. Rudabeh übersetzt, so gut sie kann, während er mich ausfragt. Sie drückt im Auto immer wieder meine Hand und scheint sich ernsthaft zu freuen, mich zu sehen.

Rudabeh. Die Linie zur Familie von Rudabeh wurde auf dem Genogramm ebenfalls gekappt, schon als mein Vater noch in Deutschland gelebt hatte. Damals ging es um Immobilien und um viel Geld. Mein Vater zeigte mir Bilder meiner Cousine Narges, als ich klein war, sagte ihren Namen dazu und schrieb ihn in arabischer Schrift unter die Fotos. Natürlich ist sie auch Ingenieurin, wie fast alle aus meiner Familie. Berufe sind oft eine familiäre Entscheidung in Iran, und ich komme aus einer Familie, in der alle Ingenieure werden. Das ist einfach so.

Nach einer Stunde fährt Hashemian ab, biegt in eine Seitenstraße, sagt mir, ich solle kurz aussteigen, und schiebt mich in den kleinen Eingang einer Bäckerei. Die erste Luft, die ich in diesem Land atme, ist erfüllt vom Geruch von warmem Brot, das um diese Zeit aus den Öfen geholt wird. »Barbari«, sagt Hashemian, zeigt auf die flachen länglichen Laibe und strahlt. Er nimmt einen ganzen Arm voll und trägt sie zum Auto, und wir fahren weiter über eine noch leere Autobahn in eine Stadt, die gerade lebendig wird.

Von uns als Familie gab es so gut wie keine Fotos, von mir selbst nur ein paar offizielle aus der Schule. Mein Vater zeigte mir einmal Fotos aus Iran, ein paar in Schwarz-Weiß, Familienfotos, die ebenfalls aussahen wie Klassenfotos, Männer in Anzügen aufgereiht, davor Frauen, in der Mitte oft Nanejun. Mein Vater sah auf den Fotos aus wie ein völlig anderer Mensch. Als sei er anstelle der Bilder mit der Zeit verblasst. Vielleicht hatte meine Mutter damals Angst, Fotos von uns zu schießen. Vielleicht befürchtete sie, dass unsere äußerste Schicht im Blitzlicht eines Fotoapparats oxidieren würde, dass mit jedem Blitz etwas von den Körpern abplatzen, verpuffen würde wie die oberste Schicht bei einem Ölbild. Das Übertreten der Landesgrenzen, um ein neues Leben anzufangen, habe ich mir oft genau so vorgestellt. Ich beobachtete meinen Vater, wie er schweigsam im Sessel hinter einer Zeitung saß. Er wirkte, als sei er eigentlich weit weg. Ob ich meinen Vater vermisse, hat meine Freundin mich mal gefragt. Ich wusste nicht genau, was ich vermissen sollte. Dass mein Vater irgendwann nicht mehr bei mir war, kam mir nur folgerichtig vor, und ich hatte keine Vorstellung davon, wie sich ein Leben mit einem Vater anfühlt. Ich war irgendwie davon ausgegangen, dass ich nur zufällig bei meinen Eltern lebte. Als seien sie für ihre Rollen gecastet worden und diese Familie insgesamt ein großer Irrtum.

Über der Stadt

Der erste Tag. Nanejun sitzt im Schneidersitz auf dem Teppich. Als ich mich zu ihr hinunterbeuge, weiß sie genau, wer ich bin. Sie strahlt. Sofort fragt sie, wie es meiner Mutter geht. Ich sage aus Reflex »gut«. Sie zieht meinen Kopf zu sich heran und küsst mich, und mir wird warm. Es hat sich nichts verändert, denke ich. Mein Vater ist derweil auf dem Treppenabsatz bereit, direkt wieder zu gehen. Ich könne doch einfach den Nachmittag über hierbleiben und mich ein bisschen mit Nanejun beschäftigen, das passe ihm ganz gut. »Ich komme dich dann nachher abholen, und heute Abend machen wir alle zusammen einen Ausflug! Nanejun nehmen wir auch mit!«

Am Abend stehen wir in Teheran am Fuße des hohen Funkturms. »Müssen wir unbedingt so etwas machen?«, raunt Fatemeh meinem Vater zu, der mir ihre Einwände zögerlich übersetzt. Es hätte doch so viele sinnvollere Ausflugsziele gegeben, etwas kulturell Wertvolles, nicht diese stumpfsinnige Unterhaltungsmaschine, das habe doch mit Iran nichts zu tun, es gebe doch so viel Interessanteres zu sehen, sagt Fatemeh. Mein Vater beschwichtigt, ich nicke ihm als gute Tochter verständnisvoll zu. Hier ist alles, was Iran nicht zu sein schien. Im Bauch des Turms laufen wir vorbei am Safeway, am New York Fried Chicken und an unzähligen Shoppingmalls. Unten beim großen Springbrunnen versammeln wir uns wieder. Es entsteht das einzige Familienfoto. Von rechts nach links: Pouya im blauen Poloshirt, Shirin, seine Ehefrau, lachend aus dunklen Augen, mit den beiden Töchtern Mia und Lotte, Narges mit ihrem bunten Kopftuch, Hashemian grinsend neben mir und meiner Tante Rudabeh, Fatemeh, wie eine schwarze Schachfigur in ihrem Tschador, mein Vater mit den abgebrochenen Zähnen.

Wir treten am Eingang in einen gläsernen Aufzug, um auf die Aussichtsplattform des Milad-Tower zu fahren. Die Glastür schließt, wir fahren nach oben. Die Familie ist zusammengeschoben auf einen Quadratmeter. Auf einmal sind wir in dieses Vakuum gequetscht, ein Anfang für einen ersten Tag. Ich werde mit der Aufzugskabine in die Höhe gezogen und sehe ein Leben an mir vorbeiziehen. Es könnte eins meiner Leben sein, über dem ich am Drahtseil hänge. Ich schwinge über der Heimatstadt meines Vaters, er steht im Glasaufzug hinter mir und drückt sich an die unsichtbare Wand.

Dann stehen wir auf der Aussichtsplattform über der Stadt. Von hier oben sehe ich eine Flusslandschaft aus Lichtern, Adern aus Straßenverkehr, eine Stadt, in der alles ineinanderfließt. Heften sich meine Augen an einen Punkt, werden sie mitgeschleift und versinken im Lichtermeer. Als lägen zwischen mir und den anderen Menschen Jahrhunderte, und trotzdem stehen sie neben mir. Meine Familie klemmt sich zusammen mit mir und Nanejun vor den Selfiestick, während Hunderte andere Familien neben uns das Gleiche machen. Wie die anderen stehen wir mit verzogenen Mündern, Eistüten und rutschenden Kopftüchern vor der Handykamera. Wir fotografieren uns von schräg oben und gruppieren uns auf der Aussichtsplattform unter dem nahen Himmel wie ein menschliches Sternbild in der Teheraner Nacht.

Splitter

»Ich mache mich gleich wieder auf den Weg«, sagt mein Vater, als wir zurück bei Rudabeh sind. Er hat gerade einmal Nanejun im Wohnzimmer abgeliefert und rasch einen Tee mit mir und den anderen getrunken. Ich bin überrascht, schließlich wollte er jahrelang, dass ich ihn in Iran besuche, und jetzt scheint er es eilig zu haben. Er wirkt unsicher und nestelt an seinem Jackett. Ich hätte mir denken können, dass meine plötzliche Anwesenheit in seinem Land ihn total überfordert. Vielleicht liegt es auch einfach nur an den eineinhalb Stunden Stop-and-go nach Karadsch, die mein Vater wie jeden Tag noch pendeln muss, weil die Metropole Teheran, die aus allen Nähten platzt, für ihn zu teuer geworden ist. Er verabschiedet sich unbeholfen »morgen machen wir was Schönes«, und ich setze mich wieder zu Nanejun ins Wohnzimmer.

In den folgenden Tagen schüttele ich Hände und absolviere Teerunden, bei denen ich mit den Anwesenden im Quadrat sitze. Alte Fotos werden gezeigt. Manche Fotos, auf denen ich klein bin, nimmt Rudabeh aus der Vitrine heraus und küsst sie, dann legt sie sie wieder zurück. Während wir beisammensitzen, schneidet Fatemeh einen Pfirsich für mich, von dem sie mir die Spalten reicht. Narges übersetzt alles auf Englisch, und Hashemian macht Komplimente über mein iPhone und fragt, ob es wirklich so gute Fotos macht. Rudabehs Hände zittern, der Arzt hat gesagt, sie soll nicht so viel in der Küche arbeiten. Trotzdem stellt sie in den zwei Wochen, die ich bei ihr verbringe, jeden Morgen zum Frühstück warmes Brot, Käse, Marmelade, Butter und Honig bereit, sie knackt mir Walnüsse und brät mir Spiegeleier, während die anderen arbeiten sind und Nanejun noch schläft. Sie macht es so seit Jahrzehnten für ihre Gäste. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagt sie. Auch wenn das Leben hart sei, Khoda – Gott – passe auf uns auf. Die Luft ist warm und trocken, und die Kanarienvögel zwitschern im Treppenhaus.