Teslas unvorstellbar geniales und verblüffend katastrophales Vermächtnis (Band 1) - Neal Shusterman - E-Book + Hörbuch

Teslas unvorstellbar geniales und verblüffend katastrophales Vermächtnis (Band 1) E-Book und Hörbuch

Neal Shusterman

0,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Ein kaputter Toaster, eine uralte Kamera, eine defekte Autobatterie: Wie konnte Nick ahnen, dass es sich bei dem Schrott auf seinem Dachboden um bahnbrechende Erfindungen Nikola Teslas handelt? Leider sind die Gegenstände nicht nur genial, sondern auch gefährlich. Denn der Geheimbund der Accelerati will sie für sich - um jeden Preis! Teslas Vermächtnis ist der Auftakt zu einer neuen, rasanten Trilogie für Jungen und Mädchen ab 11 Jahren. Unglaubliche Erfindungen des Genies Nikola Tesla spielen eine entscheidende Rolle in dieser temporeichen Abenteuergeschichte, die alle Eigenschaften eines Lieblingsbuches aufweist: Spannung, Humor, Verschwörungen, sympathische Protagonisten und gefährliche Verschwörungen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 353

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:8 Std. 7 min

Sprecher:Tim Schwarzmaier

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Joelle und Erin N.S.  

1.  Und jetzt auch noch ein Loch im Kopf

Nick wurde von einem fliegenden Toaster abgeschossen. Genauer gesagt von einem fallenden Toaster. Von einem antiken, verchromten Toaster aus massivem Metall, der eine Delle im Holzboden hinterließ – und kurz zuvor eine tiefe Risswunde in Nicks Stirn.

»Verdammt!« Das war noch einer der freundlichsten Flüche, die Nick ausstieß, als er von der Dachbodenleiter stürzte, die sich daraufhin mit knarrenden Federn in die Decke zurückzog wie die Landestelze eines Raumschiffs.

Nicks kleiner Bruder Danny rannte sofort in den Flur und brüllte: »Dad! Der Dachboden hat Nick umgebracht!«

Angesichts der Mengen von Blut, die Nick vergoss, war das gar nicht so weit hergeholt. Das viele Blut beunruhigte Nick natürlich, aber vor allen Dingen fragte er sich, wie sein Vater reagieren würde. Sie hatten in letzter Zeit schon genug Stress gehabt.

Nicks Dad sprintete die Treppe hoch und verschaffte sich schnell einen Überblick über die Lage.

»Alles kein Problem, alles kein Problem«, sagte er (wie immer, wenn es ganz offensichtlich ein Problem gab), zog sein T-Shirt aus und drückte es auf Nicks Stirn. Da er heute schon einige Umzugskisten ins Haus geschleppt hatte, war das Shirt ziemlich verschwitzt. Nick hatte deshalb so seine Zweifel, was die Hygienebedingungen anging, aber wenn man ein sprudelndes Loch im Kopf hat, ist einem fast alles recht.

»Ins Auto, Danny!«, befahl Nicks Dad, bevor er ihn auf die Arme hob und die Treppe hinuntertrug. Er hatte noch eine Menge Kraft aus alten Baseballerzeiten.

»Ich kann selber laufen, Dad«, meinte Nick. »Mein Kopf ist im Eimer, nicht meine Beine.« Nick war vor Kurzem vierzehn geworden und konnte sich nicht mehr erinnern, wann sein Dad ihn das letzte Mal getragen hatte.

Als sie durch die windschiefe, abblätternde Haustür ihres neuen Heims traten, hatte Nick eine grausige Vision: Vor seinem geistigen Auge sah er, wie die versammelten Kids aus der Nachbarschaft das kleine Familiendrama mit einem amüsierten Lächeln beobachteten.

Na super, dachte er. Genau so wollte ich mich vorstellen.

Im Auto stapelten sich die Überreste ihres alten Haushalts, die noch alle leicht nach Rauch stanken – damit sie auch ja nicht vergaßen, was sie hierher verschlagen hatte, Tausende Kilometer in den Nordwesten. Auf dem Weg nach Colorado hatte der Wagen zwei Mal schlappgemacht. Nick fragte sich, ob er die Fahrt zur Notaufnahme durchhalten würde.

»Immer schön auf die Wunde drücken!«, rief sein Dad, als er den Motor anließ und beim Ausparken den einen oder anderen Umzugskarton in der Einfahrt plättete, doch das T-Shirt an Nicks Stirn war mittlerweile genauso durchgeblutet wie durchgeschwitzt. Und schon rasten sie los, durch eine Gegend, die sie nicht kannten, zu einem Krankenhaus, das überall und nirgendwo sein konnte.

Wäre Nick vor zwei Monaten zu einer Wahrsagerin gegangen, die ihm prophezeit hätte, dass sie Tampa, Florida verlassen und nach Colorado Springs ziehen würden, hätte er sein Geld zurückverlangt. Warum in aller Welt sollten sie das tun? Seine Mom war eine angesehene Zahnärztin und sein Dad … na ja, sein Dad hatte auch öfter mal einen Job und alle mochten ihn. Soweit Nick es beurteilen konnte, stand ihr Leben auf einem sehr soliden Fundament.

Aber einem Feuer ist egal, wie solide das Fundament ist, auf dem eine Familie steht. Ein Feuer verschlingt alles.

Es gibt leichtere Übungen, als am ersten Tag in einer neuen Stadt ein Krankenhaus aufzutreiben. Vor allem, wenn das Navi nicht funktioniert, weil dein Dad vergessen hat, die Handyrechnungen zu zahlen. Nick fand sich damit ab, dass es exakt zwei Möglichkeiten gab: Entweder würde die Wunde von selbst verheilen oder er würde verbluten. Sein Dad fragte aus Prinzip nicht nach dem Weg. Auch nicht im Notfall.

Als sie schließlich doch noch am Colorado Springs Memorial Hospital ankamen, war es ein Krankenhaus wie jedes andere. In der Notaufnahme hing eine Wolke aus Ungeduld und Gereiztheit, in der diverse Hustenattacken, Knochenbrüche und stümperhafte, durchnässte Verbände herumschwirrten.

Obwohl Nicks Wunde nur noch leicht blutete, hielt er sich das Shirt zur Sicherheit weiter an die Stirn. Neben ihm spielte Danny mit seinem alten Nintendo DS. Ihr Dad füllte Formulare aus und versuchte, der Herrscherin über die Patientenaufnahme begreiflich zu machen, dass ihre Krankenversicherung auch in Colorado gültig war. Da wäre es einfacher gewesen, mit Terroristen zu verhandeln.

Endlich war alles geklärt, und Nick musste nur noch abwarten, bis man ihn aufrief und die Wunde nähte.

»Stirbst du jetzt auch?«, fragte Danny, ohne vom Bildschirm aufzublicken.

Zuerst wollte Nick die blöde Frage mit einer bissigen Bemerkung beantworten, doch er wurde völlig unerwartet von einer Welle des Mitgefühls überrollt. Oder war es eine Gehirnerschütterung? »Nein, nein. Ich werd schon wieder. Wir schaffen das schon.«

Jetzt sah Danny ihn doch an. »Kannst du das beweisen?«

Nick sagte nichts. Theoretisch zogen sie nach Colorado Springs, um in ein nigelnagelneues Leben zu starten. Aber eine Theorie war eben nur eine Theorie.

Wenn man ein entfesseltes Feuer betrachtet, kann man sich nur schwer vorstellen, dass es sich dabei bloß um eine einfache chemische Reaktion handelt: Energie wird in Form von Licht und Wärme freigesetzt. Ein richtiges Feuer scheint zu leben – als hätte es eine Seele, die noch finsterer ist, als die Flammen hell sind. Wer lange Zeit ins Feuer starrt, spürt im tiefsten Inneren, dass es von einem kochenden Zorn angetrieben wird. Als hätte es Spaß daran, den Menschen Schmerzen zuzufügen.

Das Feuer, das Nick Slates altes Zuhause auffraß und sein Leben umkrempelte, war besonders zerstörerisch veranlagt. Es brannte so heiß und gierig, dass schon nach ein paar Minuten nur noch Asche übrig war.

Später kam es ihm vor, als wären sie alle gleichzeitig aufgewacht: Sein Vater rannte in Dannys Zimmer, seine Mutter in Nicks. Dann ratterten sie zusammen die Treppe hinunter, wo man vor lauter Rauch kaum noch etwas sah.

Nick duckte sich und hielt den Atem an. Er kannte sein Zuhause gut genug, um den Weg auswendig zu wissen: am Fuß der Treppe rechts, dann fünf Meter geradeaus, dann links und raus aus der Haustür.

Aber wenn man Panik hat, funktionieren Raum und Zeit vollkommen anders.

Als Nick gegen eine Wand krachte, wusste er plötzlich nicht mehr, wo rechts und links war. Er schnappte nach Luft, schluckte schwarzen Rauch und hustete. Ihm wurde schwindlig.

»Weiter, Nicky!«, hörte er seine Mom rufen. »Nicht stehen bleiben!«

In der Küche explodierte irgendetwas. Eine Druckwelle rauschte durch den Flur und sprengte die Haustür aus den Angeln – und zwischen den Rauchschwaden und Flammen öffnete sich ein qualmendes Portal in die Nacht. Nick sprintete los und landete auf der Wiese vor dem Haus, neben seinem Vater und seinem Bruder.

Seine Mutter war doch gleich hinter ihm gewesen?

Als er sich umdrehte, war sie verschwunden. Er sah nur noch das brennende Haus.

»Mom!«, brüllte Nick.

Sein Dad schob ihn beiseite und rannte zurück zur Tür.

Nick war sicher, dass sein Vater immer noch ein großer Held war. Er würde sich in die Flammen stürzen und seine Frau auf den Armen ins Freie tragen. Wie auf dem Foto, auf dem er seine Braut über die Schwelle hob.

Aber sein Vater schaffte es gar nicht erst ins Haus. Eine zweite Explosion schleuderte ihn zurück und ließ das Verandadach vor die Tür krachen. Da kam niemand mehr rein. Nick, sein Dad und Danny standen auf dem Rasen und konnten vor Fassungslosigkeit nicht mal schreien. Schweigend sahen sie zu, wie ihr altes Leben einstürzte und Nicks Mom mit sich riss.

Insgesamt hatte Nick dem Toaster vier Stiche zu verdanken. Während der Arzt seine Stirn eilig zusammenflickte, erzählte er ununterbrochen von den viel übleren Verletzungen, die er in seiner Laufbahn schon genäht hatte, als wäre Nicks kleine Risswunde eine herbe Enttäuschung. Wahrscheinlich sollte Nick erst wiederkommen, wenn ihm ein Alien aus der Brust sprang; alles andere wäre keine Herausforderung für den Meister der Nähnadel.

»So eine Narbe ist gar nicht verkehrt«, meinte Nicks Dad auf der Rückfahrt zu dem schwer renovierungsbedürftigen Haus, das sie geerbt hatten. »Wenn man eine Narbe im Gesicht hat, wissen die Leute, dass man was erlebt hat. Ich meine, Harry Potter hat doch auch eine Narbe auf der Stirn!«

»Harry Potter ist eine Buchfigur, Dad«, sagte Nick.

»Ja, aber das ändert doch nichts daran, dass …« Und die restliche Fahrt über zählte Nicks Vater so viele Vorteile von Narben auf, dass Danny am Schluss wild entschlossen war, sich auch eine zuzulegen.

Sie bogen in die zugewucherte Einfahrt ein, an deren Ende sich das verwitterte viktorianische Haus erhob. Die Fenster im oberen Stockwerk starrten Nick an wie die Augen eines Menschen, der lange nicht mehr gelächelt hatte. Nick wurde schon wieder schwindlig – und diesmal lag es nicht an seiner Kopfverletzung.

»Hey«, sagte Nicks Dad. »Wir haben in letzter Zeit ganz schön viel mitgemacht, was?« Seine kräftigen Finger strichen behutsam über das Stück Mull, das der Arzt auf Nicks Stirn geklebt hatte. »Warum suchst du dir nicht als Erster ein Zimmer aus?«

Ihr neues Heim hatte jahrelang leer gestanden, doch die Möbel rochen immer noch nach Großtante Greta. Nick hatte Großtante Greta nie kennengelernt, aber jetzt wusste er zumindest sehr genau, wie sie gerochen hatte.

Dad hatte beschlossen hierherzuziehen. Nick hätte deswegen natürlich einen Aufstand anzetteln können – da sein Dad seit der Katastrophe absolut am Boden lag, hätte er sich sicher nicht gewehrt, und sie wären in Tampa geblieben. Doch Nick hatte geantwortet: »Gute Idee.« Früher hatte Nicks Mom seinem Dad gesagt, was von seinen Vorschlägen zu halten war, und irgendwer musste diese Aufgabe ja übernehmen. »Das wird ein Abenteuer.«

Und so hatten sie das bisschen Zeug zusammengepackt, das sie hatten retten können, das Hotelzimmer verlassen, in dem sie zwei Monate lang gehaust hatten, und sich auf den Weg nach Colorado gemacht.

Während Dad wieder Umzugskisten ins Haus schleppte, pflanzte Danny sich vor den Fernseher und zappte stur durch die Kanäle, obwohl überall dasselbe Schneegestöber lief. Er konnte nicht fassen, dass sie kein Kabelfernsehen hatten.

Nick ging hoch und hob den Toaster auf, der ihm so übel mitgespielt hatte.

Es war ein altertümliches Ding aus geschwungenem, von einigen Rostflecken angeknabbertem Chromstahl mit einem schwarzen Sockel aus einem Zwischending aus Gummi und Plastik. Nick spähte in die beiden tiefen Schlitze an der Oberseite: Gewundene Drahtspulen verloren sich in der Dunkelheit. Dafür, dass das Ding nicht besonders groß war, war es enorm schwer.

Und das war nicht das Einzige, was Nick beunruhigte. Der Toaster hatte irgendetwas sehr Seltsames an sich – aber was? Nick war nur eines klar: Auf dem Dachboden war das antike Relikt hervorragend aufgehoben gewesen.

Also streckte er sich und zerrte an der Luke, die hinauf in den Speicher führte. Als sich die Holzleiter ausklappte, wich Nick zur Sicherheit einen Schritt zurück. Wer konnte schon wissen, was noch alles auf die Idee kommen würde, plötzlich herunterzufallen? Aber die Luft war rein. Nick klemmte sich den Toaster unter den Arm und kletterte hoch.

Der Dachboden war viel weitläufiger als gedacht. Über Nick spannten sich kahle, spinnwebverhangene Balken, die sich weit oben in der Mitte trafen.

Nick sah sich nach einem guten Platz für den Toaster um – und fand keinen. Jetzt wusste er, warum das Ding heruntergefallen war. Der Speicher war bis oben hin vollgestopft mit altem Schrott, wobei »Schrott« noch sehr nett ausgedrückt war:

Sofas und Sessel, von den Motten so gründlich zerfressen, dass quasi nur noch die Federung übrig war. Ein fast vollständig weggerostetes Fahrrad. Ein klobiges Tonbandgerät mit riesigen Spulen. Eine antike Boxkamera. Ein veraltetes Hochdruckreinigungsgerät (oder so ähnlich). Ein Handmixer mit eigenartigen flachen Rührstäben. Und andere technisch fragwürdige Geräte, bei denen Nick nicht mal erraten konnte, wozu sie mal gut gewesen sein könnten.

Dann stellte er sich vor, wie es hier oben ohne den ganzen Sperrmüll aussehen würde. Ja, dann könnte es sich auf dem Dachboden wirklich gut leben lassen.

Danny steckte den Kopf durch die Falltür. »Da oben sind bestimmt lauter Spinnen.«

»Ach was. Nur ein paar Menschenfresserspinnen«, sagte Nick.

»Sehr witzig«, erwiderte Danny, zog sich aber vorsichtshalber zurück.

Als Nick Slate sich auf dem Friedhof der nutzlosen Gerätschaften umblickte, kam ihm eine naheliegende Idee – eine Idee, die seinem Leben eine neue Wendung geben und die Zukunft der Menschheit entscheidend beeinflussen sollte.

Nick nahm sich vor, einen kleinen Flohmarkt in der Einfahrt zu veranstalten.

2.  Alles muss raus

Hätte man Caitlin Westfield nach ihrem Ausflug zu dem Privatflohmarkt gefragt, wieso sie das alte Tonbandgerät gekauft hatte, hätte sie eine Reihe logischer Erklärungen auf Lager gehabt:

1. Es war ein antiker Alltagsgegenstand, der sich hervorragend für ihr Kunstprojekt eignete. Sie könnte es zerlegen und die Teile zu einer künstlerisch wertvollen Collage anordnen.

2. Es war ein ziemlich cooles Stück völlig veralteter Technik, und sollte sie es doch nicht kurz und klein hauen, könnte sie es vielleicht sogar an ein Museum weiterverkaufen.

3. Der Junge, der den Flohmarkt veranstaltete – ein Typ, der gerade erst in die Stadt gezogen war –, sah aus, als hätte er das Geld bitter nötig.

Nichts davon wäre gelogen gewesen, aber die eigentliche Antwort war nicht dabei. Ehrlich gesagt wusste Caitlin selbst nicht so recht, wieso sie das Tonbandgerät unbedingt mitnehmen wollte. Es hatte sie auf unerklärliche Weise angezogen.

Und mit einem grünen Zettel hatte alles angefangen.

Hätte der Zettel eine andere Farbe gehabt, wäre Caitlin vielleicht nicht mal stehen geblieben, um ihn zu lesen. Doch sie stand eben auf leuchtendes Grün, sie lackierte sich sogar oft ihre Nägel in demselben Grünton. Damals hielt sie es für einen Zufall. Später sollte sie bezweifeln, dass es so etwas wie »Zufälle« gab.

ANTIQUITÄTEN, ALTES SPIELZEUG, MÖBEL! TONNENWEISE COOLES ZEUG! Das stand auf dem Zettel, und Caitlin war sofort Feuer und Flamme. Sie hatte eine Berufung (auch wenn ihre Eltern und ihr Freund Theo eher von einem »Hobby« gesprochen hätten): Sie sammelte reizvolle, romantische oder auch rostige Überbleibsel aus alten Zeiten und zerdepperte sie mit einem Vorschlaghammer. Und das, was dabei übrig blieb, klebte sie in Mustern, die meist nichts mit gängigen Vorstellungen von »Schönheit« zu tun hatten, auf große Leinwände. So verwandelte sie Müll in Kunst. Oder in Münst, wie sie es nannte.

Ihr Kunstlehrer war natürlich ein Banause allererster Güte. Er gab Caitlin regelmäßig schlechte Noten, bloß weil sie keine Obstschale malen konnte.

Sie zerlegte Obstschalen lieber in ihre Einzelteile.

Caitlin gelang ein Drahtseilakt, der kaum jemandem glückte: Sie war zugleich unglaublich beliebt und völlig anders als alle anderen. Sie war die erste Cheerleaderin in der Geschichte ihrer Schule, die ihren Vater dazu gebracht hatte, in ihrem Namen ein Patent anzumelden – auf ihre selbst erfundenen Pompoms, die inzwischen die gesamte Cheerleader-Truppe verwendete: pfiffige Glitzerzeugkonstrukte, die einem sofort ins Auge sprangen (leider nicht nur im übertragenen Sinne, sondern hin und wieder auch buchstäblich).

Um Material für ihre Münst zu sammeln, graste Caitlin ohnehin jeden Flohmarkt ab, aber dieserhier interessierte sie ganz besonders. Sie kannte die Adresse. Das Haus war berühmt-berüchtigt, ein ausufernder Schandfleck inmitten eines ansonsten hochanständigen Vorortviertels, nicht groß genug, um als Villa durchzugehen, aber ausladender als die meisten Nachbarhäuser. Sollte das Haus jemals einen Käufer finden, würde man es wohl entweder in ein Bed and Breakfast oder in ein Bestattungsinstitut umwandeln.

Caitlin war also ein bisschen neugierig. Man konnte ja mal nachschauen, wer dort eingezogen war.

Ursprünglich wollte sie Theo mitnehmen, aber der schrieb ihr die übliche SMS: sd. Also war er spät dran.

Sie antwortete mit tud, was in ihrer gemeinsamen Kurzsprache treffen uns dort bedeutete. Dabei wusste sie, wie unwahrscheinlich es war, dass Theo sich aufraffen konnte. Vor allem, falls ein Spiel lief.

Deshalb rief Caitlin ihn noch mal an, um ihn an sein Versprechen zu erinnern, sie zu dem Flohmarkt zu begleiten.

»Ist was dazwischengekommen«, antwortete Theo. »Wie sagt man so schön? Die Wege des Bären sind untergründlich.«

Caitlin redete sich ein, dass Theo mit voller Absicht jedes bekannte Sprichwort verstümmelte. Alles andere hätte sie zu sehr beunruhigt. Sie bemühte sich sogar, diese nervige Angewohnheit clever zu finden.

Ihre Diskussion endete mit Theos Ankündigung, vorbeizukommen, »wenn es hinhaut«. Also würde er nicht vorbeikommen. Caitlin beschloss, ihn nicht zu vermissen.

Caitlin hatte sich schon fertig gemacht und wollte gerade aus dem Haus gehen, als der Sturm einsetzte. Zunächst ließ eine rasante Veränderung des Luftdrucks sämtliche Fenster beschlagen, kurz darauf legte der Regen los wie ein zu allem entschlossener Irrer. Man hätte fast auf die Idee kommen können, eine Arche zu bauen. Der Flohmarkt und das Haus interessierten Caitlin brennend – aber nicht so sehr, dass sie sich dafür gleich in das Wetterinferno stürzen wollte.

Doch als sie sich schon darauf einstellte, den Vormittag mit einer Schüssel Popcorn und einem guten Film zu verbringen, überlegte sie es sich urplötzlich anders und rannte hinaus in den Regen.

Nick musste hilflos zusehen, wie das alte Gerümpel, das er eben erst auf der langen Einfahrt verteilt hatte, durch den unerwarteten Regenguss endgültig ruiniert wurde.

»Was stehst du da rum?«, rief sein Vater. »Schaffen wir das Zeug in die Garage!«

Nick, sein Dad und sein Bruder sprinteten in den Regen und versuchten, möglichst viele Sachen auf einmal ins Trockene zu schleppen. Aber was sollte das bringen? Es hatte über eine Stunde gedauert, alles rauszutragen. Und jetzt wollten sie in Sekundenschnelle alles wieder reintragen?

»Ich kapier das nicht«, meinte Nick, während er mit einem Berg Sperrmüll auf den Armen zurück zur Garage hetzte. »Ich hab extra den Wetterbericht gehört. Teilweise bewölkt, haben sie gesagt. Kein Regen in ganz Colorado.«

»Im Wetterbericht erzählen sie doch immer Quatsch!«, entgegnete Dad. »Weißt du noch, zu Hause?«

»Aber das war Florida!«, rief Nick mit einem Anflug von Wehmut. Also war zu Hause auch für seinen Dad immer noch unten im Süden. »Wir sind hier im Mittleren Westen. Hier spielt das Wetter nicht dauernd verrückt.«

»Mittlerer Westen?«, hakte Danny nach. »Ich dachte, Colorado ist der Westen.«

»Wir sind bei den Rocky Mountains«, erklärte Dad. »Das ist westlicher als der Mittlere Westen, aber nicht ganz so westlich wie der westliche Westen.«

Danny nickte, als wären damit alle Fragen geklärt.

Sie rannten noch zweimal zwischen Garage und Einfahrt hin und her. Danach waren sie alle drei nass bis auf die Knochen, und in der Garage stand bloß eine Handvoll Sachen.

»Das bringt doch nichts«, ächzte Nick. »Und wenn wir alles hier reinkriegen … bei dem Regen kommt doch keiner. Alles umsonst.«

»Weißt du was?«, meinte sein Dad. »Du hast dir Mühe gegeben, und Mühe muss sich lohnen.« Er zückte seinen Geldbeutel und zog drei Zwanziger heraus. »Sechzig Dollar. Viel mehr hättest du sowieso nicht eingenommen.«

Nick warf einen verstohlenen Blick in den Geldbeutel. Jetzt war er leer. »Lass mal, Dad. Ich würd’s eh nur für Süßkram und Chips auf den Kopf hauen.«

Einen Augenblick lang wartete sein Vater noch ab, die Scheine in der ausgestreckten Hand; dann steckte er das Geld wieder ein. »Wie du meinst. Aber dann genießen wir wenigstens unseren ersten Colorado-Regen.« Er klappte drei durchgesessene Gartenstühle aus und stellte sie am Rand der Garage auf wie Kinosessel.

Und mehr wäre vermutlich nicht geschehen, hätte der Sturm keine Folgen gehabt, die diejenigen, die ihn geschickt hatten, bestimmt nicht beabsichtigt hatten.

Um einen ordentlichen Sturm zu erzeugen, müssen sich viele Gewitterwolken zusammenballen – und in der Natur der Gewitterwolke liegt es, einen Großteil des Sonnenlichts zu verschlucken. Deshalb wurde es in der Garage immer dunkler, obwohl es neun Uhr morgens war. Wenn es dunkel wird, will der Mensch Licht machen, und in der alten Garage war nie eine Deckenbeleuchtung installiert worden.

»Ich kann mein Comic nicht mehr lesen!«, nölte Danny, als sie so zu dritt auf ihren Stühlen saßen.

»Dann geh halt rein«, meinte Nick.

»Nein! Ich will den Colorado-Regen genießen.«

Ihr Vater deutete in eine Ecke der Garage. »Steckt doch das da ein.«

Das da war ein alter Bühnenscheinwerfer – eine einzelne, übergroße Glühbirne auf einer verrosteten Stange, praktisch ein Wattestäbchen in riesig und elektrisch. Es war besonders anstrengend gewesen, das große, superschwere Ding vom Dachboden vor die Haustür zu schaffen. Sie hatten es hinten in der Garage platziert, weil es auf der leicht abschüssigen Einfahrt gefährlich schief stand.

Nick ging los und suchte sich eine Steckdose, bugsierte den Scheinwerfer in die Mitte der Garage und steckte ihn ein. Er ertastete einen kleinen Schalter direkt unter der Birne und drehte ihn um einen Viertelkreis nach rechts. Die überdimensionale Glühbirne erstrahlte wie ein Leuchtturm und machte sich daran, die Welt zum Guten oder Schlechten zu verändern.

Caitlin hatte eine Wahnsinnsangst, noch einmal vom Blitz getroffen zu werden. Nüchtern betrachtet wusste sie, wie gering die Wahrscheinlichkeit war. Da sie ihre Ohrringe abgelegt hatte, trug sie nur noch einen metallischen Gegenstand am Körper: ihr Handy. Das hatte zwar eine Antenne, aber die steckte im Gehäuse und lockte im Gegensatz zu ihren metallischen Pompoms in der Regel keine Blitze an.

Niemand machte ihr einen Vorwurf wegen ihrer Astraphobie – ihre krankhafte Angst vor Blitzen beruhte eben auf einer schlechten Erfahrung. Sie ging Caitlin nur ziemlich auf die Nerven.

Doch heute schob sie die Furcht beiseite und marschierte entschlossen durch den Sturm, auch wenn sie sich dabei immer wieder mit ihrem grünen Fingernagel am Kopf kratzte und sich fragte wieso. Wieso musste sie unbedingt zu diesem Flohmarkt? Wieso ging sie dafür das Risiko ein, vom Zorn des Himmels heimgesucht zu werden?

Von Weitem fand Caitlin das große viktorianische Haus wie immer sehr eindrucksvoll, doch aus der Nähe wirkte es sogar noch heruntergekommener als von der Straße aus. Die Holzbalken waren angeknackst, ein paar Fenster eingeschlagen und die meisten Fliegengitter zerfetzt. Die verschnörkelten Holzverzierungen unter dem Dach waren entweder durchgefault oder ganz abgefallen. Das Gebäude müsste von oben bis unten renoviert werden. Caitlin fragte sich, was für eine Familie dort wohl eingezogen war. Wie pleite musste man sein, wenn man sich nichts Besseres leisten konnte als diese Bruchbude? Und dass die Leute ihr altes Zeug bei einem Flohmarkt verkaufen wollten, statt es einfach zur Müllkippe zu kutschieren, war auch kein gutes Zeichen.

Überrascht stellte Caitlin fest, dass sie trotz des schlechten Wetters nicht als Erste eingetroffen war. Gut ein Dutzend Leute standen schon im strömenden Regen, einige mit Regenschirm, andere ohne, und stöberten in den pitschnassen Sachen, als wüssten sie genau, wonach sie suchten. Obwohl sie wahrscheinlich keine Ahnung hatten.

Vielleicht lag es an dem faszinierenden Licht, das aus der Garage drang. Das Licht schien eine unwiderstehliche Anziehungskraft auszuüben, die offenbar nicht nur Caitlin die Einfahrt hinunter zum Flohmarkt lockte.

Als Caitlin sich zu dem Campingtisch vor der Garage durchdrängelte, fielen ihr zwei hoffnungslos uncoole Kerle aus ihrer Schule auf. Der eine, Vince, war ein trübsinniger Typ, der ausschließlich Schwarz trug, der andere, dessen Name ihr nicht einfiel, war spanischer Abstammung und ein bisschen dick. Catlin blieb nicht stehen, winkte den beiden aus Höflichkeit aber kurz zu.

Die Familie, die den Flohmarkt veranstaltete, hatte kaum genug Hände, um das ganze Geld einzusammeln, das die Leute ihnen entgegenstreckten. Okay, eigentlich war es keine Familie, sondern ein einziger Teenager, der den Laden schmiss. Und sein kleiner Bruder kniete auf dem Boden und klaubte heruntergefallene Scheine auf.

Vor dem Campingtisch stand ein älterer Herr mit einer großen, vielfarbigen Glasröhre in der Hand. Er hielt sie vor die Lampe in der Garage und beobachtete, wie das Prisma im Inneren der Röhre das Licht in winzige Regenbögen zerlegte.

»Das ist eine Eins-a-Antiquität«, meinte der Junge hinter dem Tisch. »Ist sicher sehr viel wert.«

»Ich geb dir vierzig Dollar dafür«, erwiderte der Mann.

Der Junge lachte. »Eigentlich wollte ich nur zwanzig, aber ich sag nicht Nein.«

Der Mann reichte ihm zwei Scheine und ging seines Weges, die Glasröhre an die Brust gedrückt wie ein Neugeborenes.

Caitlin sah zu, wie zwei Frauen um die Aufmerksamkeit des Verkäufers rangen. Die eine wollte offenbar ein elektrisches Mehlsieb erwerben (oder was auch immer das sein sollte), die andere eine altmodische Trockenhaube, die vielleicht aus einem antiken Friseursalon stammte. Beide hielten dem Jungen gleichzeitig Scheine unter die Nase.

»Du bist ja ein richtiges Verkaufstalent«, wandte Caitlin sich an den Jungen, nachdem die beiden Kundinnen mit ihren Schätzen gegangen waren. »Die zahlen alle mehr, als der Kram wert ist.«

»Ich weiß«, flüsterte der Junge ihr zu. »Ich kapier’s ja auch nicht.« Er überreichte seinem Bruder die Scheine, und dieser sortierte sie in eine X-Men-Brotzeitdose ein.

Der Typ dürfte ungefähr in Caitlins Alter sein. Unter seiner Tampa-Bay-Baseballkappe lugte kurz geschnittenes dunkles Haar hervor, das halb über einen kleinen Verband über seinem linken Auge fiel. Er war schön braun gebrannt, aber seine Kleidung war vor circa drei Jahren in Mode gewesen. Florida, dachte Caitlin mit einem stummen Schnauben. Der Kerl konnte einem direkt leidtun. Ein Wort wehte durch ihre Gedanken: Montage. Ein zufällig aufgefundenes Dings, das man erst mit anderen Teilen kombinieren musste, um es in etwas Neues zu verwandeln. Etwas Besseres.

»Hätte nie gedacht, dass die Leute in Colorado Springs so viel Geld übrig haben«, sagte der Junge.

»Haben sie auch nicht«, meinte Caitlin.

Dann verstummte sie und wartete ab. Gleich würde sich der Typ in einem Anfall übertriebener Begeisterung vorstellen – wie 99Prozent aller Jungs, wenn sie Caitlin kennenlernten. Doch der Typ schwieg ebenfalls, sodass sie etwas tat, was sie praktisch noch nie getan hatte: Sie stellte sich selbst zuerst vor. »Ich bin übrigens Caitlin.«

»Ich bin Nick.« Der Junge stützte die Hände flach auf den Tisch. »Du bist leider ein bisschen spät dran, das beste Zeug ist schon weg. Aber ein bisschen was liegt noch hier auf dem Tisch, und in der Garage sind noch ein paar größere Sachen. Kann ich dir nachher zeigen. Viel Spaß!«

»Danke, danke«, meinte Caitlin, seltsam enttäuscht von seiner Reaktion, und betrachtete das Sammelsurium auf dem Campingtisch.

Da trat Vince neben sie. Er hatte eine besonders finstere Miene aufgesetzt. In den Händen hielt er einen schwarzen Kasten, der an eine Autobatterie erinnerte, nur anders. Zwischen den Polen, an denen verbogene, halb verschmorte Kabel eingehakt waren, war die gesamte Oberseite durchgerostet.

»Was ist das?«, fragte Vince den Verkäufer.

Nick ließ sich den schwarzen Kasten geben. »Sieht nach einer alten Autobatterie aus … aber die ist schon lange tot.«

»Irgendwann werden wir alle tot sein«, verkündete Vince mit einem Schulterzucken. »Warum sollten Batterien denn nicht sterben? Ich nehme sie.«

»Äh … okay«, sagte Nick und gab ihm den Kasten zurück.

»Spinnst du, Vince?«, fragte Caitlin. »Das ist eine alte, kaputte Batterie!«

»Na, vielen Dank auch«, meinte Nick lächelnd. »Ruinierst mir das Geschäft, indem du einfach so die Wahrheit sagst. Echt fies von dir.« Er nickte Vince zu. »Aber sie hat recht. Das Ding ist nichts mehr we–«

»Du kriegst zehn Dollar dafür«, fiel Vince ihm ins Wort.

Nicks Bruder reagierte sofort – die Brotzeitdose öffnete sich wie das Maul einer fleischfressenden Pflanze.

»Aber das Teil ist nicht mal einen Dollar wert!«, beteuerte Nick.

»Na gut«, erwiderte Vince. »Neun.«

Nick schüttelte den Kopf. »Drei, und das ist mein letztes Angebot.«

»Du bist ein zäher Brocken«, meinte Vince und warf drei Dollarnoten in die Brotzeitdose, die schon vor Scheinen überquoll.

»Ich glaube, normalerweise funktioniert das ein bisschen anders«, sagte Caitlin trocken, nachdem Vince mit seiner Autobatterie abgezogen war.

Nick sah vom Tisch auf und musterte Caitlin mit einem beinahe misstrauischen Blick. »Warum kommen die alle im strömenden Regen angerannt und drücken mir ihr Geld in die Hand? Ist das eine Verschwörung, oder was?«

»Ja, ist ziemlich verrückt«, meinte Caitlin. Doch dann musste Nick sich um die nächste Kundin kümmern, eine Nonne, die einen uralten Staubsauger kaufen wollte, und Caitlin konnte das Gefühl selbst nicht mehr beiseitedrängen: Sie musste sofort ihr ganz persönliches Fundstück suchen gehen.

Als sie zum anderen Ende des Campingtischs wanderte, stand sie auf einmal neben dem spanischstämmigen Typen aus der Schule. Sein Name lag ihr auf der Zunge, aber nicht wirklich – Marshall oder Randall oder so ähnlich? In seiner Familie gab es irgendwelche merkwürdigen Probleme, die sich letztes Jahr durch die Schule gerüchtet hatten, doch das Thema hatte Caitlin nicht übermäßig interessiert.

»Hi, Caitlin«, sagte Marshall/Randall. »Würde mich wundern, wenn du hier noch was findest. Das ist lauter alter Schrott. Das brauchbare Zeug ist schon weg.«

»Ja, aber rein zufällig suche ich etwas …«

»Etwas Neues«, schnitt Marshall/Randall ihr das Wort ab. »Was denn sonst?«

»Im Gegenteil«, widersprach Caitlin. »Etwas Altes. Etwas …«

»Etwas Hippes, was?« Warum konnte der Typ sie nicht einfach mal ausreden lassen? »Nee, besonders hip ist der Kram auch nicht. Lauter Müll. Typisch Flohmarkt, was?«

»Mitchell?«, sagte Caitlin, als sie eine plötzliche Eingebung hatte. »Stimmt doch?«

»Mitch ist mir lieber.«

An sich wollte sie Mitch fragen, ob er auch von einer Art Anziehungskraft hierhergelockt worden war, aber das brachte sie nicht über die Lippen. »Warum bist du hier?«

Mitch trat von einem Fuß auf den anderen, als wäre ihm die Frage unangenehm. »Na ja, ich dachte, ich … ich schau mal vorbei und … sorry, ich muss weiter.«

Caitlin war es nicht gewöhnt, mitten im Gespräch stehen gelassen zu werden. Das hatte andersherum zu laufen. Meist hatte sie Wichtigeres oder zumindest Interessanteres zu tun, als ermüdende Gespräche mit grenzwertigen Personen zu führen. Von daher war sie einigermaßen überrascht, als Mitch einfach so die Kurve kratzte und auf den Campingtisch zusteuerte. Er hatte sein Objekt der Begierde gefunden.

Am Anfang schien der Flohmarkt ein vollkommener Reinfall zu werden – doch kaum hatte es angefangen zu stürmen, trafen die Interessenten scharenweise ein. Nick wäre nie auf die Idee gekommen, dass die Kunden kamen, weil er den alten Bühnenscheinwerfer eingeschaltet hatte. Warum auch?

Zuerst verkaufte er den Killertoaster an die Dame von nebenan, die so uralt war, dass sie sogar aus derselben Epoche stammen könnte wie ihr neues Haushaltsgerät. Dann sicherte sich ein Mädchen mit verkniffenem Gesicht und unterschiedlich langen Zöpfen die primitive Boxkamera. Ein Typ leistete sich einen uralten Fernseher, beziehungsweise etwas, das einem uralten Fernseher ähnelte. Eine Frau erwarb den Handmixer mit den eigenwilligen Rührstäben, ein anderer Kunde kaufte sich einen gusseisernen Wäscheständer (oder so), und selbst die antike Nähmaschine (oder war es ein vorsintflutlicher Entsafter?) ging schnell weg.

Dad, der den Leuten half, die Waren ins Auto zu schleppen, kam überhaupt nicht mehr hinterher, und Danny musste auf einen Werkzeugkasten umsteigen, denn die Brotzeitdose war bald zu klein für ihre enormen Einnahmen. Doch mit jedem Verkauf schlug Nicks euphorische Stimmung weiter um, zunächst in Verwunderung und schließlich in Misstrauen. Er fragte sich, was Caitlin dem pummeligen Jungen zugeflüstert hatte. Redeten sie etwa hinter seinem Rücken über ihn? Und jetzt kam der Junge auch noch zum Tisch.

»Hi. Ich heiße Mitch, Mitch Murló.«

»Merlot?«, fragte Nick. »Wie der Wein?«

»Nein, Murló. Stell dir vor, du drehst Murphy und López durch den Fleischwolf und füllst das Gemisch in eine Wurstpelle – so ungefähr. Ein halb spanischer/halb irischer Name, der total französisch klingt. Haben sich meine Eltern ausgedacht.« Mitch blickte sich wohlwollend um. »Einen schicken Flohmarkt hast du da. Also, fängst du bald an der Rocky Point Middle School an, oder bist du älter oder jünger und ich habe bloß dein Alter nicht richtig geraten?«

»Äh …« Nick brauchte ein paar Sekunden, um ein mentales Satzdiagramm von Mitchs Frage zu erstellen. »Äh … doch, doch, du hast richtig geraten. Ich gehe in die Achte. Ich fange am …«

»Am Montag an?«, unterbrach Mitch ihn. »Großartig! Aber vorher sollten wir uns unbedingt unterhalten. Ich kann dir sagen, welchen Lehrern man aus dem Weg gehen sollte und wo man rumhängen kann, ohne eine Abreibung zu riskieren.«

»Danke, aber ich …«

»Du willst es lieber gleich wissen? Geht klar. Okay, da wäre erst mal MrsKottswold …«

Nick hatte seinen Stundenplan schon bekommen, er konnte also keinen Lehrern mehr aus dem Weg gehen. Doch Mitch war offenbar nicht auf einen interessierten Gesprächspartner angewiesen, um sich prächtig zu unterhalten. Erst nach einem minutenlangen Vortrag über die Schule konnte Nick die Diskussion wieder auf den Flohmarkt lenken. »Aha, gut zu wissen … okay, was hast du da?«

»Ach, das.« Mitch schaute an sich hinab, als wäre ihm entfallen, dass er etwas in den Händen hatte. Oder als wäre ihm das Ding ein bisschen peinlich. »Das will ich meiner kleinen Schwester zum Geburtstag schenken.« Er hielt die Apparatur hoch: eine Metallscheibe mit einem beweglichen Pfeil in der Mitte. Vielleicht war es tatsächlich ein Spielzeug – als Nick klein war, hatte jedes Kind ein ähnliches Ding gehabt, mit Bauernhoftieren am Rand und einem Pfeil in der Mitte. Wenn man einen Hebel betätigte, rotierte der Zeiger und eine blecherne Stimme quäkte Tiernamen und Tierstimmen. Mach mit! Sag den Namen! hatte in bunten Buchstaben auf dem Pfeil gestanden. Doch das Gerät in Mitchs Händen war aus schwerem Stahl, am Rand befanden sich keine Tiere, sondern eingravierte geometrische Symbole, und an einer Zugschnur baumelte ein Elfenbeinring.

»Das ist doch cool«, meinte Mitch.

»Ja, klar«, sagte Nick. »Deine Schwester wird ganz aus dem Häuschen sein, wenn sie irgendeinen alten Schrott bekommt statt irgendwas …«

»Statt irgendwas Neuem, Originalverpacktem? Da kannst du drauf wetten! Meine Schwester ist gegen die Kommerzialisierung von Geburtstagen im kapitalistischen Amerika und so.« Mitch spielte an der Zugschnur herum. »Aber egal. Was willst du dafür?«

Nick zuckte mit den Schultern. »Vielleicht so …«

»Ich hab leider nur zehn Dollar dabei«, meinte Mitch, während er seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche zog. »Aber ich kann heimgehen und noch was holen.«

»Okay, was soll das?«, zischte Nick. »Was ist hier los? Wer steckt dahinter? Vielleicht diese Caitlin?«

»Hä? Was redest du da?«, fragte Mitch empört und hielt ihm den Zehner hin.

Seufzend nahm Nick den Schein entgegen. »Na gut. Dann wünsche ich deiner Schwester viel Spaß damit.«

Als Caitlin Richtung Garage schlenderte, sah sie es. Es war perfekt.

Ein altes Tonbandgerät. Eine klobige Apparatur, etwa so groß wie ein Koffer, mit zwei tellerähnlichen Spulen, auf denen tatsächlich noch Tonband war! Die Inspiration traf Caitlin wie ein Blitz – das war ihr nächstes Münst-Projekt: Sie würde der Maschine die Eingeweide rausreißen, die Drähte und Elektroteile auf dem Gehäuse und rundherum drapieren und schließlich den ganzen Schlamassel mit Tonband einwickeln. Einen Titel wusste sie auch schon:

Medienwahnsinn.

Auf dem eiligen Rückweg zu Nicks Tisch riss sie bereits die Scheine aus dem Geldbeutel. Caitlin war klar, dass sie in dieselbe Falle tappte wie alle anderen Kunden, aber was konnte sie schon dagegen tun? Ursprünglich wollte sie höchstens zehn Dollar ausgeben, doch ohne zu wissen warum, hielt sie Nick einen Zwanziger hin.

»Was willst du für das Tonbandgerät?«, fragte sie. »Reichen zwanzig? Ich kann dir auch mehr geben.«

Nick betrachtete den Schein in ihrer Hand. Statt das Geld anzunehmen, schüttelte er den Kopf. »Das ist doch Schrott! Wertloser Schrott! Was habt ihr denn alle?«

Caitlin spürte, wie ihre Augen feucht wurden (was mehr als ungewöhnlich war). »Ich weiß es doch selbst nicht! Wirklich nicht! Aber bitte, nimm das Geld und verkauf mir das Ding. Sonst kann ich für nichts garantieren!«

Da streckte Nick den Arm aus, als wäre er leicht benommen. Caitlin fragte sich, ob er das Geld oder ihre Hand nehmen wollte – er sah aus wie ein Reh, das jeden Moment von einem nahenden Auto überfahren wurde. Das war Caitlins letzter Eindruck, bevor Nick sie packte.

Und dieser Eindruck kam nicht von ungefähr.

Ein Mercedes, der seine besten Tage hinter sich hatte, raste die Straße hinunter. Nicht dass der Fahrer das Gaspedal absichtlich durchgedrückt hätte – er war bloß auf einmal in so großer Eile, den Flohmarkt zu erreichen, dass er keine Wahl hatte. Er registrierte kaum, wie die Reifen die Bordsteinkante hinaufrumpelten, und auch der Baum, der kurz darauf vor ihm auftauchte, war nun wirklich kein Grund, auf die Bremse zu treten. Noch dazu waren die altersschwachen Scheibenwischer dem prasselnden Regen nicht gewachsen, und so sah er die beiden Kids vor seiner Motorhaube gar nicht erst. Der Fahrer sah nur den Campingtisch vor der Garage, der in einem besonderen, verlockenden Licht stand. Nein, verlockend war untertrieben. Es war unwiderstehlich …

Nick hatte keine Zeit zum Nachdenken. Er konnte nur noch handeln. Er rammte Caitlin zur Seite und riss sie zu Boden – während neben ihnen der Wagen gegen den Baum prallte. Eine Viertelsekunde später, und die Motorhaube hätte sie beide zerquetscht. Nicks Reflexe hatten ihnen haarscharf das Leben gerettet. Jetzt lagen sie zusammen auf dem nassen Gras, und Caitlin starrte ihn von unten herauf an.

»Sorry, aber … kann es sein, dass wir gerade beinahe gestorben wären?«

»Glaube auch«, sagte Nick und half ihr auf. Gemeinsam bestaunten sie die um den Baumstamm geknautschte Motorhaube. Es war seltsam – der Moment nach der Nahtoderfahrungwar genauso alltäglich wie der Moment vor der Nahtoderfahrung. Nick kam zu dem Schluss, dass ihm erst viel später dämmern würde, was soeben passiert war. Im Augenblick hatte er keine Zeit, den Verstand zu verlieren.

Danny kam angerannt. »Ist wer gestorben? Dad ist grad im Bad, aber wenn irgendwer gestorben ist, kann ich ihn schnell holen.«

Der Fahrer wühlte sich durch die Airbags, stieg aus und wandte sich an die paar Leute, die sich für den Unfall interessierten. Seinen demolierten Wagen würdigte er keines Blickes. »Bin ich hier richtig? Ist noch was da?« Damit marschierte er zu dem langen Campingtisch und gesellte sich zu den Interessenten, die weiter in den tieftraurigen Resten von Nicks Sperrmüll kramten. Inzwischen waren nur noch Bruchstücke von Gegenständen übrig, aus denen Nick nicht mal schlau geworden wäre, wären sie noch vollständig gewesen. Mit den Einzelteilen war nicht das Geringste anzufangen, und trotzdem studierten die Kunden die Ware wie Goldsucher, die eine frische Ader entdeckt hatten.

»Die sind doch alle wahnsinnig!«, rief Caitlin – und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Und ich war eben noch genauso drauf …«

Der Schock des Beinahe-Tods hatte sie offenbar aus ihrem Traumzustand gerissen. Aber Nick merkte, wie es sie schon wieder in die Garage trieb, zu dem Tonbandgerät. Er folgte ihr.

»Ich hab’s doch schon bezahlt, oder?«, fragte Caitlin und legte die Hand auf das Tonbandgerät, als hätte sie Angst, Nick könnte es ihr wieder wegnehmen.

Währenddessen strömten immer mehr durchnässte Gestalten von der Straße herüber, viele ohne Schirm, einige sogar ohne Regenjacke. Sie wurden von der Garage angezogen wie die Motten vom Licht.

Vom Licht, dachte Nick.

Er betrachtete die übergroße Glühbirne des Bühnenscheinwerfers. Ihr Licht füllte die gesamte Garage aus und warf lange, schmale Schatten auf das Getümmel vor dem Campingtisch, wie Speichen eines Rads. Es war ein seltsames Licht – nicht direkt hypnotisierend, aber sehr beruhigend. Durchdringend. Ein verborgener Magnetismus schien an Nick zu zerren. Aber war das nicht alles Schwachsinn?

Nick legte die Hand unter die Glühbirne, nahm den Schalter zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte ihn nach links. Klick.

Das Licht erlosch. Der Glühfaden verblasste zu einem orangefarbenen Glimmen und erkaltete schließlich vollständig. Als Nick sich zu den kaufwütigen Menschen am Campingtisch umdrehte, sah er, wie sie alle einen letzten Blick auf den Schrott in ihren Händen warfen und das Zeug weglegten.

»Tja«, sagte jemand. »Wenn das keine Zeitverschwendung war.«

Das sahen die übrigen Interessenten ähnlich. Ihre Kommentare reichten von Enttäuschung bis Entrüstung.

»Dass ich deswegen das Spiel verpasst habe!«

»Schauen Sie sich bloß mein Kleid an! Patschnass!«

»Und das soll ein Flohmarkt sein? Veralbern kann ich mich selber.«

»Hab ich etwa grad meinen Wagen gegen einen Baum gesetzt!?«

Als hätten sie bereits verdrängt, dass sie noch vor ein paar Sekunden ihre Taschen geleert hatten, um alles zu kaufen, was sie kriegen konnten.

Caitlin tauchte neben Nick auf und sagte mit einem tiefen, zittrigen Einatmen: »Jetzt geht’s mir besser.«

»Das Tonbandgerät willst du jetzt wohl nicht mehr?«

Sie blickte zu Boden, vielleicht ein wenig beschämt. »Doch, schon. Aber … aber nicht mehr ganz so dringend wie vorhin.«

Nick nickte, griff in die Kasse und zog einen Zwanziger heraus. »Hier. Ich hab mehr als genug verdient. Das Tonbandteil gibt’s umsonst.«

Zögerlich nahm Caitlin den Schein entgegen, sichtlich mitgenommen von den jüngsten Erlebnissen. »Danke. Aber das Ding ist zu groß zum Tragen. Ich komme nachher mit meiner Mom vorbei.«

»Okay … also wenn du sowieso vorbeikommst, kannst du auch gern zum Essen bleiben.«

Caitlin setzte ein verkrampftes, entschuldigendes Lächeln auf. »Ich glaube, ich hole einfach das Tonbandgerät ab.«

»Alles klar«, sagte Nick und tat, als wäre er kein bisschen enttäuscht oder peinlich berührt. »Danke fürs Kommen.«

Und im nächsten Moment war sie weg, einfach so – genau wie all die anderen, die sich seit Neuestem nicht mehr für Nicks Müll interessierten. Als Letzter verschwand der Mann, der den Baum gerammt hatte; er musste erst noch ein paar Stoßstangenteile in den Kofferraum werfen, und es war nicht leicht, mit einem schrumpelnden Airbag auf dem Schoß rückwärts auszuparken.

Aber was soll’s. Dafür konnte Nick sich mit dem prallsten Geldbeutel seines Lebens trösten! Wobei es ihm vorkam, als würde ihm das Geld nicht so richtig gehören. Als hätte er es den Leuten durch einen unbeabsichtigten Schwindel abgeluchst.

»Mensch«, sagte Dad, als er aus dem Haus trat und die spärlichen Überreste erblickte, die hier und dort noch auf dem Tisch lagen. »Das ist ja toll gelaufen!«

»Ja«, sagte Nick. »Überraschend toll.«

»Können wir jetzt endlich was essen?«, fragte Danny. »Ich bin am Verhungern.«

»Geht ihr was essen. Ich lad euch ein«, meinte Nick und reichte seinem Vater ein paar Scheine aus dem Werkzeugkasten. »Bringt mir einfach was mit, dann kann ich solange das Chaos hier aufräumen.«

Als Dad und Danny abgedampft waren, schleppte Nick zuerst den Bühnenscheinwerfer ins Haus, ehe er mit einem großen Müllbeutel bewaffnet wieder rausging. Doch als er gerade den restlichen Schrott in den Beutel stopfen wollte, bog ein Auto in die lange Einfahrt ein – ein schimmernd weißer Geländewagen, der trotz Regen absolut trocken wirkte. Musste wohl eine optische Täuschung sein.

Ein Blitz zerfetzte den Himmel, als sich die vier Türen gleichzeitig öffneten und vier Männer ausstiegen, alle vier hochgewachsen und in Pastelltöne gekleidet: der eine cremefarben, ein anderer blassgrün, der dritte türkis und der letzte lavendelfarben, wie ein Trupp Spaziergänger bei einem bunten Osterumzug. In einer einzigen flüssigen Bewegung, als hätten sie das Manöver extra einstudiert, klappten alle vier einen Regenschirm auf.

Dann schritten sie auf den Campingtisch zu und bauten sich vor Nick auf, während Nick sich bemühte, zumindest nach außen hin cool zu bleiben.

»Bitte entschuldige, dass wir so spät dran sind«, meinte der größte der vier großen Männer. »Wir haben erst in letzter Minute von deinem Flohmarkt erfahren.«

Ein anderer hielt ein Exemplar von Nicks selbst gebasteltem Flyer hoch. »Antiquitäten, altes Spielzeug, Möbel. Tonnenweise cooles Zeug.«

Der größte Typ steckte in einem Dreiteiler, dessen Farbe an Vanille erinnerte, die übrigen drei trugen Hosen mit Bügelfalten und gestärkte Hemden. Vielleicht lag es am Licht oder an dem Kontrast zwischen den hellen Pastelltönen und dem düsteren Wetter, aber ihre Kleidung schien beinahe zu leuchten.

»Tonnenweise cooles Zeug«, wiederholte der Mann im Vanilleanzug und ließ seine Lippen zu einem freundlichen, aber leblosen Lächeln erstarren. Nick erschauderte. »Aber bei dem Regen ist sicher niemand gekommen, was? Ein Jammer.«

Die anderen drei Männer lachten, als hätte ihr Boss einen hervorragenden Witz gerissen, den bloß Nick nicht kapierte.