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Aberystwyth ist eine der sichersten Städte Großbritanniens. Doch das ändert sich, als in der Vorweihnachtszeit der anerkannte Historiker Dr. Carter tot in seinem Büro aufgefunden wird - mit 37 Stichwunden im Rücken und einem eingeritzten Pentagramm im Nacken. Die Ermittler sind sich sicher, dass eine Gruppe Satanisten ein altes Ritual aufleben lässt und wollen den Tätern umgehend das Handwerk legen. Aber kann es wirklich sein, dass Carter ein Zufallsopfer ist? Warum vermutet der Profiler stattdessen eine persönlich motivierte und emotionale Tat und wieso gibt es keine weiteren Leichen? Gerade als die Ermittler denken, auf der richtigen Spur zu sein, wendet sich das Blatt und bringt eine schockierende Wahrheit ans Licht, die selbst den erfahrenen Detektive Inspector Clearford an seine psychischen Grenzen bringt. Basierend auf einer wahren Geschichte!
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Teufelsbann – Kalt wie Eis
Marilia Grayson
Das Buch
Weihnachten steht vor der Tür und das walisische Seebad Aberystwyth bereitet sich friedlich auf die besinnliche Zeit vor. Doch der Schein trügt. Nur wenige Tage vor Heilig Abend findet Professor Hale seinen Kollegen erstochen in dessen Büro auf – in seinen Nacken wurde das Pentagramm eingeritzt! Steckt eine berüchtigte Gruppe Satanisten hinter dem Anschlag, die ein uraltes Ritual wiederbeleben wollen? Unter großem Druck versuchen Detective Inspector Clearford und sein Kollege Smith die Wahrheit herauszufinden. Eine Wahrheit, die selbst den erfahrenen Ermittlern einen Schauer über den Rücken jagt!
Hinweis: Dieses Buch ist fiktional, jegliche Übereinstimmung mit realen Personen ist rein zufällig. Die Basis des Romans geht jedoch auf einen wahren Fall aus den frühen 2000er Jahren zurück.
Die Autorin
Marilia Grayson ist das Pseudonym einer Hannoveranerin Mitte 20. Sie ist studierte Historikerin und liebt Bücher seit ihrer Kindheit.
Marilia Grayson
Teufelsbann – Kalt wie Eis
Kriminalroman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2022 Marilia Grayson c/o autorenglück.de
Franz-Mehring-Str. 15
01237 Dresden
Deutschland
Lektorat: Sabine DammannCovergestaltung: Carmen Schneider von Covermanufaktur.Art – www.covermanufaktur.art. Bilder unter Verwendung erworbener Lizenzen seitens der Coverdesignerin.
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin über tolino media GmbH & Co.KG, München.
ISBN: 978-3-754-68491-7
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.
Für meine Eltern und meine Schwester. Danke, dass ihr immer an meiner Seite seid!
*15. Dezember 2022*
Das friedliche und gemütliche Seebad Aberystwyth schlummerte in der vorweihnachtlichen Dunkelheit vor sich hin. Die meisten Einwohner der walisischen Kleinstadt hatten es sich in ihren einladenden Häusern bequem gemacht und sangen Weihnachtslieder, buken Kekse oder brachten die letzte noch fehlende Dekoration an. Ein paar Studenten nutzten die Zeit bis zur Weihnachtspause und büffelten in der Bibliothek, um ihre Essays zeitnah fertig zu bekommen. Ahnungslos liefen einige Gruppen Studierender den Penglais Hill hinunter in die Innenstadt. Wozu sollten sie sich auch Sorgen machen? Galt Aberystwyth doch seit geraumer Zeit als eine der sichersten Städte Großbritanniens.
Doch eine Person wusste, dass sich diese trügerische, fröhliche Stimmung bis zum Morgengrauen wandeln würde. Der Teufel kannte kein Erbarmen, nur weil die idiotische Menschheit Jesus Geburtstag mit überteuerten Geschenken feiern und sich falscher Menschlichkeit und Barmherzigkeit hingeben wollte. Doch bis auf sein auserkorenes Opfer hatte in dieser Nacht niemand etwas zu befürchten. Der dunkle Herr hatte sein Opfer auserwählt und würde durch die Hand eines treuen Dieners erneut Gerechtigkeit über diese Stadt bringen und die versteckte Gefahr besiegen. Denn dieser Mann hatte sich dem Bösen hingegeben und seine Taten unter einer Fassade falscher Freundlichkeit versteckt. Dr. John Carter, anerkannter Historiker und Vorbild auf seinem Gebiet, verkörperte seit Jahren eine Gefahr, die den unwissenden Augen seiner Kollegen und Studenten bisher verborgen geblieben war.
In einen unauffälligen schwarzen Mantel gekleidet, blieb Luzifers Diener stehen und sah sich um. Geduldig versteckte sich die Person im Schatten der Student's Union, den Blick starr und geduldig auf das International Politics and History Building gerichtet. Zur Verbreitung weihnachtlicher Stimmung hatten die Mitarbeiter Lichterketten an die Wände sowie am Geländer der Treppe angebracht und im Gegenzug dafür das Deckenlicht gedimmt. Einige Lichterketten zierten die Fassade und Fenster und spendeten warmes Licht. Voller Geduld lehnte sich der Krieger an die Wand und wartete ab, bis die letzte unerwünschte Gestalt die Treppen Richtung Mathematik- und Physikgebäude anpeilte. Breit lächelnd fühlte sie ihren Dolch unter ihrem Mantel, bevor sich die Person von der Wand abstieß. Schnell und gefährlich wie ein Gepard, glitt der Todesbringer über den verschneiten Boden in das warme und dumpf beleuchtete Gebäude. Aus dem Sekretariat waren leise Stimmen zu hören, ansonsten schien das Gebäude wie ausgestorben. Ein paar freundlich dreinblickende, lebensgroße Weihnachtsmänner und Rentiere schienen den unerwünschten Besucher vor seiner geplanten Tat warnen zu wollen, jedoch ohne Wirkung. Ein Krieger Satans lässt sich von solch lächerlichen Figuren nicht aufhalten! Ohne zu zögern, wandte sich die Person von der Tür ab, lief in die zweite Etage und öffnete unaufgefordert die Tür.
Dr. John Carter saß an seinem Schreibtisch über ein Buch gebeugt. Das Deckenlicht hatte er bewusst ausgeschaltet, schließlich blinkten unzählige Weihnachtslichter an seinem Fenster und spendeten ihm zusammen mit seiner Schreibtischlampe genügend Licht. Seit seine Frau vor zwei Jahren nur wenige Tage vor dem heiligen Fest verstorben war, hatte der Historiker sich von jeglicher Weihnachtsstimmung ferngehalten. Wem brachte das Fest der Liebe schon etwas, wenn die einzige große Liebe in seinen Armen verstorben war? Doch dieses Jahr war alles anders. Er würde Cathleens Lieblingsfest wieder aufleben lassen, denn genau das hatte er seinen Kindern versprochen. Es war nicht fair, dass sein Sohn und seine beiden Töchter den Tod überwunden und ihr Leben weitergelebt hatten, während er den leichten Weg wählte.
»Guten Abend, Dr. Carter.« Überrascht von der eisigen Stimme, die unerwartet die Stille durchschnitt, drehte sich der Historiker in seinem Stuhl um.
»Was machst du denn hier? Hatte ich dir nicht klar und deutlich gesagt, dass du dich von mir und meiner Familie fernhalten sollst?« Wütend erhob Carter sich von seinem Stuhl und schritt auf seinen Besucher zu. »Verschwinde von hier!«
Lachend hallte die kalte Stimme des Teufelsdieners von den Wänden wider, während er die Bürotür lässig mit dem Fuß schloss.
»Denkst du, alter Mann, dass sich irgendwer von dir rumkommandieren lässt? Nach allem, was du getan hast? Es wird Zeit, zu büßen. Deine Familie und Studenten haben es nicht verdient, länger unter deinen Machenschaften zu leiden. Grüß Luzifer von mir!« Genüsslich zog der Krieger in Schwarz seinen geliebten Dolch und schritt entschlossen auf sein Opfer zu. Noch ehe Dr. Carter verstand, was ihm blühte, trat der Eindringling ihn in den Bauch. Voller Schmerzen schrie Carter auf und krümmte sich auf dem Boden. Mit großen Augen starrte er seinem Mörder an, suchte verzweifelt nach einem letzten Rest Menschlichkeit. Doch in diesen Augen schimmerte nichts als Bosheit und Entschlossenheit. Mit letzter Kraft, begab sich Carter auf alle viere und stemmte sich auf seine wackeligen Beine. »Bitte! Lass uns reden!« Entschlossen, um sein Leben zu kämpfen, schloss der Historiker für einen Moment seine Augen. Er durfte nicht sterben! Nicht so kurz vor seinem Durchbruch und erstrecht nicht auf diese Art! Wie in einem Stummfilm zogen seine Ziele und alles, wofür es sich zu kämpfen lohnte, vor seinem inneren Auge vorbei. Sein Herz pochte wild und mit jedem Herzschlag pumpte sein Blut die Angst aus seinem Körper. Das Zittern seiner Beine erstarb und sein Überlebensinstinkt übernahm die Kontrolle. Trotz Schmerzen wankte er auf seinen Angreifer zu. »Wenn du mir sagst, worum es geht, finden wir sicher eine Lösung!« Während er beschwichtigend die Arme hob, sah er sich aus den Augenwinkeln in seinem Büro um. Sein Telefon war ihm beim Sturz aus der Hand gefallen und befand sich nun in gegnerischer Hand. Verdammt! Doch, wenn er es schaffte, ein paar kleine Schritte nach links zu machen, könnte er sich einen Gegenstand aus dem Regal nehmen und sich verteidigen. Wie ein Raubtier, beobachtete Luzifers Gesandter, wie sein Opfer um sein Leben kämpfte.
»Ja klar, bis du die Bullen rufst!« Schmunzelnd über diesen schwachen Versuch, ihn umzustimmen, verfolgte der Krieger jede von Carters Bewegungen. Plötzlich verstand Carter, dass kein Wort der Welt ihm mehr helfen würde. Wie von der Tarantel gestochen, sprintete Carter zu seinem Regal und schnappte sich einen mittelalterlichen Pokal. Als hielte er einen Baseballschläger in der Hand, holte er zu einer Bewegung aus und drehte sich um. Doch seine Entschlossenheit erstarb sofort. Wie eine Katze hatte sich der Angreifer lautlos an sein Opfer herangeschlichen und drückte einen spitzen Gegenstand auf Carters Brust, direkt in Höhe des Herzens. Erstarrt schielte er auf die Waffe, fieberhaft nach einer Lösung suchen. Bevor er seinen Fehler realisieren konnte, traf ihn ein Schlag an der Schläfe. Das spöttische Grinsen war das Letzte, das John Carter wahrnahm, bevor alles um ihn herum schwarz wurde.
»Was für ein Weichei!« Kopfschüttelnd drehte die Person im schwarzen Hoodie ihr Opfer auf den Bauch und hob ihren Dolch zum ersten von unzähligen Malen an. Ein Gefühl von Befriedigung machte sich in ihr breit, ihr Herz schlug voller Freude und der Adrenalinpegel schoss höher denn je. Angetrieben von diesem Gefühl und dem Rausch des Adrenalins, zog sie ihren Dolch aus seinem Rücken, grinste und stieß erneut zu. Unzählige Male wiederholte sie diese Tat, bevor sie ihren Dolch endgültig aus dem zerfetzten Fleisch ihres Opfers zog und ihn an ihrem Mantel abwischte.
Ohne sich ein letztes Mal umzudrehen, verließ Satans Diener das Gebäude und kämpfte sich seinen Weg durch die verschneiten Straßen zurück nach Hause.
1
*16. Dezember 2022, 10 Uhr*
Gut gelaunt verlässt Professor Hale sein Haus und läuft Richtung International und Politics Gebäude. Heute ist ein besonderer Tag, denn Hale und sein Kollege Dr. Carter arbeiten seit Monaten an einem wichtigen gemeinsamen Projekt und nun soll das letzte Kapitel der Chronologie entstehen. Wenn alles gut läuft, könnte diese Arbeit all seine Geldsorgen lösen und gleichzeitig die Vorstellungen von Millionen Historikern weltweit erschüttern.
Sein Lieblingssong We wish you a Merry Christmas dringt in sein Ohr. Gut gelaunt summt der Historiker mit, während er mit leuchtenden Augen die goldenen Sterne, Rentiere und Lichterketten an den Fenstern betrachtet. Obwohl sich die Menschheit in den letzten Jahren stark gewandelt hat, scheint in der Vorweihnachtszeit die Zeit stehen geblieben zu sein. Noch immer hängen Jahr für Jahr dieselben Weihnachtssterne an den Fenstern und an nahezu jedem Haus versucht ein Weihnachtsmann sich durch einen Kamin zu quetschen. Aus den offenen Fenstern strömt ein herrlich süßer Duft in seine Nase und vermischt sich mit seinen Erinnerungen. Hale liebt diese sorglose Jahreszeit, in der Familien und Nachbarn näher zusammenrücken und jegliche Streitigkeiten vergessen scheinen. Wie gerne wäre er mit einer Tasse heißem Kakao in seiner Küche geblieben und hätte Kekse gebacken. John würde staunen, wie gut er dieses Handwerk neuerdings beherrscht. Doch die Arbeit geht vor und mit seinen Plätzchen kann er noch am ersten Weihnachtsfeiertag beeindrucken.
Seufzend wendet sich Hale ab und biegt in die Straße ein, direkt auf den Weg zu seinem Arbeitsplatz. Ein paar ehrgeizige Studenten kommen ihm lachend entgegen und begrüßen ihn freundlich. Schmunzelnd wischt er sich eine geschmolzene Schneeflocke aus seinen Haaren und betritt das Gebäude. Während er die Treppe hinauf Richtung seines Büros eilt, befreit er sich von seinem dicken Schal.
»Bereit die Welt zu verändern, John?«, ruft Ethan Hale motiviert, während er seine Stiefel vom letzten Rest Schnee befreit. »Ich kann es jedenfalls kaum erwarten!« Mit Schwung öffnet Ethan seine Bürotür und hängt seinen Mantel auf, bevor er den Wasserkocher anschmeißt und einen Esslöffel Instant-Kakao in seine Lieblingstasse gibt. Als er sein Büro wieder verlässt und erneut vor Carters Tür steht, runzelt der Professor für mittelalterliche Geschichte die Stirn. Normalerweise öffnet sein Freund ihm mit einem strahlenden Lächeln die Tür und erzählt von seinen ausgiebigen nächtlichen Forschungen.
»Hey, Schlafmütze! Wach auf, wir müssen arbeiten!« Mit einem Augenverdrehen hämmert Hale gegen die Tür, doch nichts passiert. »John, komm schon! Das ist nicht mehr witzig!« Besorgt drückt Ethan die Klinke herunter und hält einen Moment inne. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht! John Carter lässt seine Tür niemals geöffnet, selbst dann nicht, wenn er einen Studenten oder Kollegen erwartet. Skeptisch schiebt Professor Hale die Tür ein Stück auf. »John, bist du da?«
Nachdem er ein letztes Mal tief Luft holt, stößt Hale die Tür ganz auf und bleibt wie vom Donner gerührt stehen. Als wäre er ferngesteuert, betritt Hale das Büro seines Freundes und rennt auf ihn zu. Carter liegt auf dem Fußboden auf seinem Bauch, als würde er friedlich schlafen. Panik durchströmt Hale, lässt sein Herz schneller schlagen. Die Gedanken drehen sich wie ein wildes Karussell. Was ist passiert? Hat John etwa einen Herzinfarkt? Wie oft hatte er seinem Freund gesagt, dass die nächtlichen Schichten schädlich sind? »John! John, kannst du mich hören? Bitte, mach die Augen auf!« Mit Tränen in den Augen hockt er sich neben Carter. Er muss ihn auf den Rücken drehen! Oder war es doch die stabile Seitenlage? Verzweifelt dreht Hale seinen Kopf zur offenen Tür: »HILFE! SCHNELL, HELFT MIR!«, doch niemand hört ihn. Am ganzen Körper zitternd, dreht er sich wieder zu Carter um. Gerade als er seinen Kumpel an der Schulter rütteln will, trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Irgendjemand hat John Carter ein Pentagramm - das Zeichen des Satans höchstpersönlich - in den Nacken geritzt! Mit wackeligen Knien hockt sich der Historiker neben seinen Freund und dreht ihn vorsichtig auf den Rücken. Das muss ein Alptraum sein! Er wacht bestimmt gleich Schweiß gebadet in seinem Bett auf. Doch warum fühlt es sich so realistisch an? Ein eisiger Schauer läuft ihm über den Rücken, ihm wird klar, dass die leeren Augen seines Freundes kein Gruselbild seiner Fantasie sind. Wie in Zeitlupe sickert die Wahrheit in Hales Gehirn durch. John Carter, der allseits beliebte und immer freundliche Historiker, ist tot!
»NEIN!« Verzweifelt geht Hale in die Knie und sinkt neben seinem Freund zusammen. »Du darfst nicht tot sein, hörst du? Atme gefälligst, John! Tu das deinen Kindern nicht an!« Panisch nimmt Hale die Hand seines Freundes und fühlt mit Zeige- und Mittelfinger dessen Puls. »Komm schon. Gott, lass ihn nicht tot sein!« Doch all sein Flehen ist umsonst. Carters starrer Körper bleibt regungslos liegen und in diesem Moment spürt Ethan Hale die Kälte des Leichnams, die sich mit seiner eigener Kälte vermischt. Plötzlich dringt ein Gestank wie durch einen Schleier in Hales Nase und löscht jeglichen Zweifel aus. Der Gestank des Leichnams brennt sich in seinen Kopf. Der Historiker für mittelalterliche Geschichte ist zu spät, sein Freund ist nicht mehr da. Einen Moment lang schließt Ethan seine Augen, lehnt sich an die Wand und gibt sich seiner Hilflosigkeit hin. Erschöpft lässt er sich auf den Fußboden sinken. Ein Schleier aus Tränen bahnt sich haltlos seinen Weg, aber Hale nimmt den salzigen Geschmack nicht wahr, ebenso wenig die eisige Winterluft, die zusammen mit leisem Gelächter und fröhlicher Weihnachtsmusik durch das geöffnete Fenster dringt. Von der Kälte und dem Schmerz betäubt, blendet Hale alles aus, vergisst Raum und Zeit.
Er weiß nicht, wie lange er da gegessen hat, doch irgendwann erwacht Ethan aus seiner Starre. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stemmt er sich hoch und stolpert aus der Tür, zwingt sich in sein eigenes Büro. Wer immer seinem Freund das angetan hat, wird dafür büßen! Koste es, was es wolle, aber John Carter wird auf keinen Fall einen unwürdigen und ungeklärten Tod ertragen müssen, dafür wird er sorgen. Ausgelaugt, als wäre er einen zehn Kilometer langen Weg gejoggt, schließt Hale die Tür seines Kollegen und setzt sich auf seinen eigenen Stuhl. Der Schock sitzt zu tief, um Wut zu verspüren, doch Ethan weiß, dass dieses Gefühl der Ohnmacht, der absoluten Hilflosigkeit und Verzweiflung, nicht ewig anhalten wird. Dass jeder schmerzhafte Moment vorbeigehen und Trauer und Schmerz sich irgendwann in Wut und Hass verwandeln werden. Und wenn dieser Augenblick gekommen ist, wird er dieses Gefühl auskosten. Er wird es genießen, den Täter zu hassen, und er wird ihm nicht die Genugtuung geben, John Carter und dessen Ruf zu ruinieren. Nein, er wird die Polizei rufen und dann die Chronologie in Johns Namen und Andenken herausbringen. Er wird dafür sorgen, dass die Welt seinen Freund als hervorragenden und unersetzlichen Historiker in Erinnerung behält! Und er wird dafür sorgen, dass der Mörder keine ruhige Minute mehr hat. Mit neuer Entschlossenheit zieht Ethan Hale sein Handy aus der Tasche und wählt die Nummer der Polizei.
2
*16. Dezember 2022, 10.30 Uhr*
Ausgelassen sitzt Detective Inspector Clearford am Schreibtisch und hebt seine Tasse Kaffee an. Mit einem Grinsen prostet er seinem Kollegen Smith zu und genehmigt sich einen großen Schluck des verboten guten Karamell-Cappuccinos. Seit er vor einigen Tagen den letzten abgeschlossenen Fall im benachbarten Dorf zu den Akten gelegt hatte, sind keine neuen Anrufe für das Morddezernat eingegangen. Entweder legen die Mörder in Aberystwyth und Umgebung ebenfalls eine Weihnachtspause ein oder sie verstecken ihre Opfer besser denn je.
»Scheint, als meine der Weihnachtsmann es dieses Jahr gut mit uns«, ruft Smith aus und schmunzelt dabei als er das Prost erwidert. Seit nunmehr vier Jahren arbeiten der Detective und sein Boss als Team und das vergangene Jahr war das schlimmste von allen. Womöglich lag es daran, dass die Bürger der Stadt in zwei Jahren Corona Pandemie eine Menge Wut angestaut hatten. Emotionen, denen sie endlich Luft machen konnten. Der Beginn der Pandemie war eine Art Wohltat für Smith und seinen Kollegen gewesen. Die meisten Menschen hatten Sorge davor, sich in große Mengen zu wagen und sich dabei anzustecken, zudem hielt sich der Großteil an die Beschränkungen der Regierung. Doch seit Beginn des Jahres hatte sich das Blatt gewendet.
»Sei dir da mal nicht so sicher!«, murmelt Clearford vor sich hin. »Wäre nicht das erste Mal, dass uns jemand vor den Feiertagen ein besonderes Geschenk vor die Füße legt. Apropos, was machst du eigentlich an Weihnachten? Du und deine Frau könnt gerne zu unserer Feier am ersten Weihnachtstag kommen.« Beim Gedanken an das anstehende Fest fangen die Augen des 45-jährigen Ermittlers an zu leuchten. Detective Inspector Derek Clearford ist im Morddezernat als eiskalter Hund bekannt, der durch seine langjährige Arbeit als Großstadt-Polizist so oft das Grauen gesehen hat, dass ihn angeblich nichts mehr schocken kann. Doch wenn es um die wichtigsten Tage im Jahr geht, die einzige Zeit, die er mit seiner Frau und seinem Sohn genüsslich verbringen kann, kommt seine weiche Seite zum Vorschein. Eine Seite, die nur sein engstes Umfeld kennt.
»Haben du und Colleen etwa wieder ein Spektakel für die ganze Nachbarschaft geplant?« Mit hochgezogenen Augenbrauen mustert Brian Smith seinen leicht ergrauten Kollegen. Clearfords Gesicht ist durch Narben und tiefe Furchen gezeichnet, die ihn fünf Jahre älter aussehen lassen, seiner Attraktivität jedoch keinerlei Schaden zufügen. Im Gegenteil, sein Vorgesetzter ist bekannt dafür, fünfmal die Woche im dezernatseigenen Fitnessstudio zu trainieren und nur Proteine, Gemüse, Obst und ab und zu etwas Brot zu sich zu nehmen. Außer an Weihnachten. Da feiert Clearford drei Tage mit wenig Schlaf und viel fettigem Essen durch, bevor er seine Disziplin zurückgewinnt. Das sind die Tage, in denen er abschalten und die ganzen Gräueltaten ausblenden kann. In diesen Momenten erlaubt sein Freund es sich, einfach mal Mensch zu sein.
Amüsiert erhebt sich Clearford, um die Weihnachts-CD auszuwechseln. Sofort dröhnt ihm Mariah Carey's "All I want for Christmas is you" ins Ohr. Sein Lieblingslied, denn bei diesem Song hat er bei einer Weihnachtsfeier der Polizeiakademie vor 22 Jahren seine Ehefrau kennengelernt. »Du kennst doch meine Frau«, erwidert der Ermittler lachend, als wäre das die logischste Erklärung.
»Ja schon, aber warum genau muss sie es immer übertreiben? Ich meine, ich habe nichts gegen ein ausgiebiges Weihnachtsfest mit Freunden und Familie. Was gibt es Schöneres, als bei euch im Wohnzimmer zusammenzukommen und beim knisternden Kaminfeuer zu schlemmen und zu singen? Am besten, wenn dabei draußen der Schnee fällt und unsere Kinder sich zur Abwechslung von Smartphone und Konsole abwenden und sich daran erinnern, wie man offline kommuniziert. Aber wir sind nicht in den USA. Ihr müsst nicht hunderte von Pfund in eure Deko investieren und alle auf euch aufmerksam machen. Und die Kekse sind ja ganz lecker, aber es reicht, diese ab Anfang Dezember zu verteilen. Zwei Monate lang sich vollstopfen, Kakao zu trinken und Weihnachtslieder zu hören, ist einfach zu viel.« Obwohl Smith sich in Gedanken schon im Fitnessstudio einnistet, greift er beherzt in die Schale mit den weihnachtlichen Leckereien und schiebt sich einen weiteren Tannenbaum in den Mund. Abgesehen davon, dass sie nach Karamell, Schokolade und einem Hauch Vanille schmecken, strömen die Plätzchen zusätzlich einen leichten Zimtduft aus.
»Du bettelst doch darum, gemästet zu werden.« Mit skeptischem Blick beobachtet Clearford die jährliche Futterattacke seines Kumpels und schüttelt den Kopf. »Aber wenn du dich nicht traust, kann ich dich gerne bei meiner Frau entschuldigen. Sie wird verstehen, dass du von meiner Präsenz schon oft genug eingeschüchtert bist.«
Beleidigt schüttelt Smith den Kopf und verschränkt die Arme vor der Brust. »Du bist nicht King Kong, auch wenn deine Muskeln das manchmal vermuten lassen. Und solange du deine Waffe nicht auf mich richtest, bin ich sowieso in Sicherheit. Außerdem schulde ich dir für letztes Jahr noch eine Revanche, außer du hast Angst, wieder bei Pantomime zu versagen. Ich kann natürlich ...«
Was genau sein Kollege kann, bekommt Clearford nicht mehr mit, da in dem Moment sein Telefon klingelt. Mit entschuldigender Geste Richtung Smith, nimmt er den Hörer ab und betet, dass der Anrufer ihm lediglich frohe Weihnachten wünschen möchte.
»Sie sprechen mit Detective Inspector Clearford von der Mordkommission. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« Noch während er die Standardfrage stellt, spürt er instinktiv, dass die entspannten Tage im Büro ein jähes Ende haben.
»Verdammter Mist! Können wir nicht einmal eine blutfreie Vorweihnachtszeit genießen? Sollte Weihnachten nicht die Zeit der Besinnlichkeit, der Liebe und des Friedens sein? … Ja, ich weiß, dass nicht jeder das so sieht! Na schön, wir kommen zum Campus. Dem Professor geht es soweit gut? Also dem Lebenden meine ich?« Mit versteinerter Miene dreht sich Clearford zu Smith um und schnappt sich seinen Mantel.
»Wer versaut uns dieses Mal den Jahreswechsel?«, will Smith wissen, als er theatralisch seine Kaffeetasse auf dem Schreibtisch abstellt und seinem Kollegen nach draußen folgt. Im nächsten Leben wird er Immobilienmakler! Oder Autoverkäufer! Jedenfalls nie wieder Ermittler!
»Irgendein gewissenloses Arschloch mit Abneigung gegen Geschichtswissenschaften. Oder gegen Historiker, denn genau das ist unser Opfer, soweit ich weiß. Also komm jetzt, wir müssen da sein, bevor die ganzen sensationsgeilen Studenten aufkreuzen und uns mit Smartphone in der Hand dreiste Fragen stellen.« Ohne sich nach Smith umzudrehen, kämpft sich der Ermittler durch den gnadenlosen Schneesturm. Der Wind heult in seinen Ohren und schleudert mit Schneeflocken um sich. Murrend steuert Clearford seinen Wagen an und startet, als beide sitzen, Sirene und Blaulicht.
3
*Am Campus der Aberystwyth Universität, 10. 40 Uhr*
Schnellen Schrittes kämpfen sich Clearford und Smith über den verschneiten Campus Richtung History and International Politics Gebäude. Die Schneeflocken tanzen im eisigen Wind, als wollen sie ein anstehendes Unheil verkünden. Schnaubend senkt Clearford den Kopf und verflucht sein Verantwortungsbewusstsein. Er hätte sich krankmelden und mit Kaffee und Plätzchen zu Hause bleiben sollen. Schön gemütlich mit Colleen vor dem Kamin kuscheln, während sein Sohn in der Schule ist und am Abend Brettspiele spielen. Für einen kurzen Moment nach dem Aufstehen klang dieser Gedanke verführerisch für ihn, doch dann hatte er sich eines Besseren belehrt. Es gab noch Arbeit auf dem Schreibtisch und in fünf Tagen beginnt sowieso sein Urlaub. Was wenn seine Kollegen ihn dringend brauchen? Das hatte er nun davon, immer so korrekt sein zu müssen, wie seine deutsche Mutter es ihm eingebläut hatte. Nächstes Jahr um diese Zeit ist er krank. Oder vielleicht sollte er das Angebot der Uni, Studenten der Kriminologie zu unterrichten, annehmen?
»Clearford! Wie schön, dass du und Smith es hierhergeschafft habt. Bei dem Unwetter habe ich fast schon nicht mehr damit gerechnet«, begrüßt ihn Sarah O'Winter, eine dreißigjährige Kollegin der örtlichen Polizeidienststelle, vor dem History and International Politics Building. Die Kälte bahnt sich gnadenlos ihren Weg durch O’Winters Kleidung. Bibbernd zieht sie die Tür auf und führt die Mordermittler zum Büro des Opfers.
»Das Opfer wird es kaum interessieren, wie das Wetter ist. Ich glaube, der hat ganz andere Probleme und fände es nicht besonders witzig, wenn sein Fall auf Eis gelegt wird. Wo finde ich denn Professor Carter?«
»Dr. Carter, nicht Professor. Und der liegt so, wie der Zeuge ihn gefunden hat: erstochen in seinem Büro. Wenn du mehr wissen willst, musst du schon zu mir kommen«, ruft eine bekannte Stimme Clearford zu. Als der Inspector den Tatort betritt, beugt sich der Rechtsmediziner gerade über die Leiche des Opfers. »Ach was, Dr. Aaron Morris ist also aus seinem Urlaub zurück.« Amüsiert vom nasalen Unterton des Rechtsmediziners, nickt er Smith zu und sieht sich um. Entgegen seiner Erwartung liegen keine Bücher verschiedener Epochen kreuz und quer im Raum verteilt, sondern ordentlich sortiert im riesigen Regal. Auf dem Schreibtisch befinden sich eine Teetasse sowie ein Laptop und ein Notizbuch mit der Aufschrift »Top Secret«. Ihm wurde schon am Telefon mitgeteilt, dass es sich bei dem Opfer um einen hoch anerkannten Historiker handelt. Könnte das der Grund für den Mord gewesen sein? Da das Notizbuch einen guten Anhaltspunkt bieten könnte, lässt Clearford es in einem Beweisbeutel verschwinden. Nachdem Clearford den Tatort erfolglos nach weiteren Hinweisen abgescannt hat, wendet er sich kopfschüttelnd erneut dem Rechtsmediziner zu.
»Schön, dass du wieder da bist. Sag mir, dass du deinem Ruf mal wieder voraus bist und Infos für mich hast!« Verlegen fährt sich Morris durch seine schwarzen Haare und sieht zu Clearford auf. Auch wenn er es dem Ermittler nie sagen wird, ist Clearford für ihn so etwas wie ein Held und Vorbild und er wird alles tun, um bei den Ermittlungen schnell voranzukommen!
»Einer von uns muss seinen Job ja vor allen anderen beginnen, oder? Das Opfer heißt John Carter. Er war 50 Jahre alt und wurde irgendwann letzte Nacht erstochen. Den genauen Tatzeitpunkt kann ich erst nach der Obduktion bestimmen, jedoch grenze ich die Tatzeit zwischen 20 Uhr und 22 Uhr ein, vielleicht auch etwas später. Darauf lassen zumindest die noch nicht vollständig ausgeprägten Leichenflecke schließen. Je nach Raumtemperatur brauchen sie zirka 16 Stunden für ihre volle Ausprägung. «
»Und wie ist Carter gestorben? Erstochen, schon klar. Aber womit und wie oft? Gibt es Besonderheiten? Komm schon Morris, gib mir etwas mehr! Ich weiß, Weihnachten rückt näher und wir wollen alle nach Hause. Aber das geht erst, wenn die Arbeit erledigt ist. Also, was hast du?«, hakt Clearford ungeduldig nach. Ihm ist bewusst, dass die Rechtsmedizin über keinerlei Zauberformeln verfügt, mit denen alle medizinischen Aspekte der Mordermittlung am Tatort sofort geklärt werden können. Aber die Angehörigen haben es verdient, noch vor den Feiertagen Klarheit zu bekommen. Und, koste es, was es wolle, diesen Wunsch wird er ihnen um jeden Preis erfüllen.
»Etwas Geduld, bitte. Carter wurde geschubst und getreten, doch keine dieser Verletzungen waren tödlich. Der Mörder hat ihn auf den Bauch gedreht und ganze 37 Male mit einem Messer oder Dolch zugestochen. 36 Stiche, wie jener zwischen den Rippen, waren schmerzhaft, aber nicht tödlich. Jedoch der Stich, der bis zur linken Herzkammer durchdrang, hat ihn das Leben gekostet. Aber noch kurioser ist das Zeichen in seinem Nacken. Der Mörder hat ihm ein Pentagramm eingeritzt.«
»Das ist ein Scherz, oder?« Ungläubig tritt Clearford näher, um sich das angebliche Zeichen anzusehen. Und tatsächlich, irgendwer hat seinem Opfer das Mal des Teufels eingeritzt! Entnervt stöhnt er auf und verdreht die Augen. »Ernsthaft jetzt? Ein Dolch und das Pentagramm! Wo sind wir hier, in einem Fantasyfilm? Stellt sich nur die Frage, ob wir es tatsächlich mit einem Satanisten mit Abneigung gegen Historiker zu tun haben oder ob der Täter seinen wahren Hintergrund nur verschleiern möchte.« Frustriert darüber, dass der Fall schon zu Beginn mehr Fragen als Antworten liefert, läuft der Ermittler im Raum auf- und ab. Für diese Tat muss es doch eine logische Erklärung geben! Einen Anhaltspunkt, an dem die Ermittlungen zumindest starten können.
Entschuldigend zuckt Morris mit den Schultern und erhebt sich. In seiner jungen Laufbahn hat der Rechtsmediziner schon einige kuriose Fälle erlebt, doch bisher hatte niemand es für nötig gehalten, in der Vorweihnachtszeit Satans Botschaft zu verbreiten. Zumindest nicht in seinem Zuständigkeitsbereich und dafür ist er sehr dankbar. Doch es ist nicht Teil seiner Arbeit das Warum einer Tat zu erläutern. Sein Job ist es, das Wie und Wann zu klären. »Das kann ich dir nicht sagen, Clearford. Du bist der Ermittler. Es ist deine Aufgabe herauszufinden, wer so eine schreckliche Tat begehen kann und warum. Und damit solltest du zeitnah anfangen. Soweit ich weiß, ist Geschichte ein sehr beliebtes Fach an der Aberystwyth University und somit habt ihr einige Verdächtige, die es zu verhören gilt. Ich fahre in der Zwischenzeit in die Rechtsmedizin und finde heraus, wann Carter gestorben ist. Vielleicht kann ich anhand der Einstichwunden ein Profil bezüglich des Kraftaufwands erstellen. und wie viel Muskelkraft tatsächlich im Spiel ist, bringt euch das sicherlich einen großen Schritt weiter. Sobald ich mehr weiß, melde ich mich bei dir.« Mit dieser Antwort packt Morris seine Sachen zusammen und verlässt den Tatort.
»Nun gut, ihr habt es gehört. Sarah, sag den Kollegen von der Spurensicherung Bescheid, dass das Büro nun ihnen gehört. Sie sollen alles auf Links drehen und jeden verdammten Millimeter auf DNA, Schuhabdrücke, Fingerabdrücke und Textilien absuchen. Ruf deine Kollegen an, wir brauchen vor Ort alle Helfer, die wir kriegen können. Ich befrage den Zeugen und der Rest von euch knüpft sich die Studenten und Kollegen des Opfers vor.«
Schnaubend presst O'Winter ihre Lippen aufeinander. Klar, sie ist nicht beim Morddezernat, demnach fällt die Aufklärung des Falles nicht in ihren Zuständigkeitsbereich und dass sie aushelfen darf, ist ein Privileg. Aber muss Clearford das immer mit solch einer Arroganz deutlich machen? Kann er sich nicht einmal höflich dafür bedanken, dass seine Kollegen die Vorarbeit für ihn erledigen oder wenigstens höflich bleiben? Ist ihm sein Ruf als eiskalter Hund wirklich so wichtig, dass er sich immer wieder als Held aufspielen muss? Aber gut, das kennt sie ja nicht anders und es gibt tatsächlich keinen Ermittler, dessen Aufklärungsrate so hoch ist.
»Wie du meinst, Chef«, erwidert die Polizistin schnippisch und wendet sich schwungvoll um. Sie wird sich ihre gute Laune bestimmt nicht von zu viel Testosteron versauen lassen.
4
*History and International Building, 11 Uhr*
Entschlossen macht sich Clearford auf den Weg in das Büro von Professor Hale, in der Hoffnung, vom Zeugen etwas mehr Klarheit zu erfahren. Vielleicht hat dieser eine Erklärung dafür, weshalb sein Kollege Opfer eines Satanismus Rituals geworden ist. Steckt da möglicherweise eine geheime Leidenschaft des Historikers dahinter, die ihm letzten Endes zum Verhängnis wurde? Gehörte Carter dem Teufelskult an und wollte aussteigen? Oder hat er sich möglicherweise selbst geopfert? Seine Kollegen in den USA hatten erst zwei Jahre zuvor einen Fall gehabt, bei dem ein Wissenschaftler sich dem Extremismus hingab. In dem Glauben, mehr Macht zu erlangen, hatte er sich letzten Endes selbst geopfert. Ob das auch bei Carter zutraf? Reichte es ihm nicht mehr aus, ein erfolgreicher Historiker zu sein? Wollte er mehr aus seinem Leben machen? Oder war er tatsächlich das Opfer?
Seufzend klopft Clearford an die Tür und wartet ungeduldig auf die Aufforderung, eintreten zu dürfen. Der Flur ist, wie das restliche Gebäude, weihnachtlich geschmückt und verbreitet eine fröhlich zuversichtliche Stimmung, als wäre der Mord der letzten Nacht nicht geschehen. Nur die gespenstische Leere, die fehlenden Gruppen gesprächiger Studenten, macht deutlich, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sicherlich hat die Absperrung durch seine Kollegen dazu geführt, dass jeder aus dem History Department Bescheid darüber Bescheid weiß, was letzte Nacht passiert ist.
»Ja? Wer ist da?«, ertönt eine zögerliche Antwort aus dem Büro. In seinem Tonfall schwingen Angst und Skepsis mit. Nachvollziehbar, wenn nur wenige Meter nebenan die Leiche des Kollegen liegt und man selbst das Glückslos gezogen hat, den grausamen Fund zu machen.
»Professor, bitte lassen Sie mich rein. Mein Name ist Detective Inspector Clearford von der Mordkommission. Ich weiß, dass Sie schon mit meinen Kollegen gesprochen haben, aber ich würde mich dennoch gerne mit Ihnen unterhalten. Es wird nicht lange dauern, das verspreche ich Ihnen.«
Einen Moment lang wird der Ermittler von einer Wand aus Schweigen aufgehalten. Verdammt ist Hale etwa so schockiert, dass er nicht darüber reden möchte? Für Sentimentalität ist nun wirklich keine Zeit! Zwar ist es nicht einfach, einen Freund und Kollegen so zugerichtet aufzufinden, und Clearford kann den Schock gut nachvollziehen. Aber er braucht die Aussage des Zeugen, und zwar so schnell wie möglich! Danach kann sich der Historiker gerne für unbestimmte Zeit zurückziehen und den Todesfall für sich verarbeiten.