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Ein Feuerteufel treibt sein Unwesen rund um das kleine Städtchen Betzdorf. Zuerst brennen nur Heuschober, einsam gelegene Scheunen, Lauben und Waldhütten. Personen kommen nicht zu Schaden. Als schließlich ein abseits gelegenes Wochenendhaus in Flammen aufgeht, machen die Männer der Freiwilligen Feuerwehr eine grausige Entdeckung: Im Schlafzimmer des brennenden Hauses finden sie den leblosen Körper einer jungen Frau. Der herbeigerufene Bestatter will in der Toten eine ehemalige "Kundin" wiedererkennen, die er bereits vor drei Jahren auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt hat. Doch kann das sein? Die Obduktion bestätigt den Verdacht: Die Tote ist das Werk eines äußerst geschickten Thanatologen. Doch wie kommt sie in das Haus und wer liegt an ihrer Stelle in dem Grab? Oberkommissarin Nina Moretti steht vor einem Rätsel.
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Titelseite
Impressum
Über den Autor
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Danksagung
Leseprobe
Prolog
Kapitel 1
Micha Krämer
Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher des Autors erschienen:
Tod im Lokschuppen
Krähenblut
Tod im Elefantenklo
Über deine Höhen
el toro
GEMA TOD
Romeo
TOD IN ROT
Sand im Schuh
NEANDER
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2016 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
www.niemeyer-buch.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller
Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com
eISBN 978-3-8271-9793-1
EPub Produktion durch ANSENSO Publishing
www.ansensopublishing.de
Der Roman spielt hauptsächlich in einer allseits bekannten Region im Westerwald, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Über den Autor:
Micha Krämer wurde 1970 in Kausen, einem kleinen 700-Seelen-Dorf im nördlichen Westerwald, geboren. Dort lebt er noch heute mit seiner Frau, zwei mittlerweile erwachsenen Söhnen und seinem Hund. Der regionale Erfolg der beiden Jugendbücher, die er 2009 eigentlich nur für seine eigenen Kinder schrieb, war überwältigend und kam für ihn selbst total überraschend. Einmal Blut geleckt, musste nun ein richtiges Buch her. Im Juni 2010 erschien „KELTENRING“, sein erster Roman für Erwachsene, und zum Ende desselben Jahres folgte sein erster Kriminalroman „Tod im Lokschuppen“, der die Geschichte der jungen Kommissarin Nina Moretti erzählt. Was als eine einmalige Geschichte für das Betzdorfer Krimifestival begann, hat es weit über die Region hinaus zum Kultstatus gebracht. Inzwischen findet man die im Westerwald angesiedelten Kriminalromane in fast jeder Buchhandlung im deutschsprachigen Raum.
Neben seiner Familie, dem Beruf und dem Schreiben gehört die Musik zu einer seiner großen Leidenschaften.
Mehr über Micha Krämer auf www.micha-kraemer.de
Wie die feurigen Hände des Leibhaftigen reckten sich die Flammen züngelnd zum Himmel. Funken stoben empor zu den Sternen. Der Geruch des Feuers, der Atem des Dämons, lag beißend in der Luft. Was hatten sie nur getan? Warum taten sie ihm das an? Hatte er das verdient? Zwei Jahre lang war sie der Mittelpunkt seines Lebens gewesen. Sein Sonnenschein und der Lichtblick seines ansonsten sinnlosen Daseins. Aufopfernd hatte er sich um sie gekümmert. Und diese dummen Menschenkinder nahmen sie ihm einfach weg. Brannten alles nieder, wofür er gelebt hatte. Dafür würden sie bezahlen. Sie würden diesen Tag und ihre Tat noch verfluchen. Niemand beraubte ihn ungestraft. Niemand!
Mit dem Finger wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel, führte den Finger dann an den Mund und kostete von ihr. Sie schmeckte salzig und genauso wie die Tränen der Trauer, deren Geschmack er nur zu gut kannte. Das war seltsam. Er hätte vermutet, dass die Tränen der Wut anders schmeckten als die der Trauer und der Angst. Wobei Trauer und Angst in seinen Augen das Gleiche war. Trauer war nichts weiter als die Angst, alleine zurückzubleiben. Weiter nichts.
Gebannt beobachtete er, wie der rote Hahn das Dach des Hauses in einem Meer aus Funken und Flammen zusammenkrachen ließ. Die Rufe der zurückweichenden Feuerwehrleute drangen durch das laute Prasseln und Krachen bis zu dem Platz, an dem er das Geschehen beobachtete.
Dann sah er sie. Im Arm eines der Feuerwehrleute. Wie eine Puppe trug der große Mann, dessen Gesicht er unter der Atemmaske nicht erkennen konnte, sie vor sich her. Ihr Kopf hing schlaff nach hinten und ihre langen, blonden Haare tanzten im Wind. Es versetzte ihm einen Stich ins Herz, sie so zu sehen. Er hatte sie für immer verloren. Sie war so nah und doch so unerreichbar weit weg für ihn. Da, wo sie sie hinbringen würden, käme er nicht mehr an sie heran. Wütend ballte er die Faust. Das alles war nicht gut. Sie hätten sie niemals finden dürfen. Sie war sein Eigentum und es wäre besser gewesen, wenn sie in den Flammen verbrannt wäre. Beim nächsten Mal würde er vorsichtiger sein müssen! Seine Taktik ändern. Doch zuvor würde er sich an denen rächen, die ihm das angetan hatten. Sie waren unvorsichtig gewesen. Es würde ein Leichtes sein, sie zu finden.
Sonntag, 10. Juli 2016, 05:49 Uhr
Betzdorf / Bruche – Karl-Stangier-Straße
Nina packte das feuchte Kopfkissen und presste es fest auf den Hinterkopf und ihre Ohren. Sie wollte jetzt weder etwas sehen noch etwas hören. Schon gar nicht das penetrante Klingeln ihres Telefons. Sie überlegte, wie lange sie wohl geschlafen hatte. Zehn Minuten oder vielleicht eine Stunde? Keine Ahnung. Sicher war, dass es nicht lange genug gewesen war. Sie spürte, wie sich seine Hand auf ihre verschwitzte Schulter legte und er sie sachte zu rütteln begann.
„Nina, ... Schatz ... Telefon. Willst du nicht mal rangehen?“, hörte sie seine Stimme sanft sagen.
Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie wollte jetzt nicht telefonieren. Sie wollte schlafen. Endlich wieder einmal in Ruhe schlafen. Soweit das bei dieser verdammten Hitze überhaupt möglich war. Seit Tagen brannte die Sonne auf den Westerwald. Nina mochte die Sonne. Sie genoss den Sommer ... zumindest bis zu einem gewissen Grad.
Als sie heute am späten Nachmittag nach Hause gekommen war, hatte das Thermometer neben der Hauswand achtunddreißig Grad im Schatten angezeigt. Das war eindeutig zu viel des Guten. In ihrer kleinen Wohnung unter dem Dach des Siebzigerjahre-Eigenheimes, das ihr Papa damals für sie und Mama gebaut hatte, waren es locker noch einmal fünf bis sechs Grad mehr, dazu eine Luftfeuchtigkeit wie im Tropenhaus eines zoologischen Gartens. Alles, was man anfasste, war warm und irgendwie klamm. Und jetzt, wo sie trotz der unangenehmen Temperaturen endlich eingeschlafen war, klingelte auch noch ihr Diensthandy Sturm. Sie nahm wahr, wie Klaus sich neben ihr erhob. Dann endlich hörte das Läuten auf.
„Ja ... hallo ... hier Klaus Schmitz, Apparat von Oberkommissarin Moretti“, hörte sie stattdessen seine Stimme gedämpft durch das Kopfkissen und hätte am liebsten laut geschrien. Genervt schob sie das Kissen beiseite, drehte sich um und blinzelte in Richtung Klaus, der nun auf der Bettkante hockte, das Telefon an sein Ohr presste und geduldig zuhörte.
„Okay ... alles klar, ich sag ihr Bescheid. Tschüss ... man sieht sich“, erklärte er, strich mit dem Daumen über das Gerät, legte es auf den Nachttisch und blickte dann zu ihr hinüber.
„Das war dein Kollege Horst Peters, du sollst zu einem Wohnhausbrand am Struthof kommen.“
Nina schloss die Augen für einen Moment und wischte sich dann mit der Hand einige verschwitze Haare aus dem Gesicht.
„Hat er auch gesagt, was ich mit diesem Brand zu tun haben soll?“, schnaufte sie ziemlich resigniert.
„Ähm ... ja, nee ... er hat nur gesagt, du sollst dringend vorbeikommen“, stammelte Klaus.
„Hat er wenigstens gesagt, wo genau am Struthof ich hin soll?“
„Ähm, nee ... hat er nicht ... aber er hat gemeint, du würdest schon sehen, wo du da hin musst.“
Sie schielte auf die Leuchtziffern des Radioweckers. Es war zehn vor sechs. Normalerweise würde sie in zehn Minuten aufstehen müssen und zur Arbeit fahren. Heute war aber nicht normal, sondern Sonntag, und sie hatte weder Dienst noch Bereitschaft. An solchen Sonntagen blieb man im Bett und schlief aus, außer natürlich die Kollegen von der Wache riefen an und klingelten einen aus den Federn. Horst Peters würde vermutlich seine Gründe haben, sie an ihrem freien Wochenende zu belästigen, und Nina war jetzt doch ein klein wenig neugierig.
Durch das offene Fenster schien bereits die Sonne und in der Ferne war das Quietschen und Rattern eines Zuges zu hören, der gerade durch die lang gezogene Schleife unterhalb des Hanges auf der anderen Straßenseite in Richtung des Betzdorfer Bahnhofs fuhr. Lokführer war auch so ein undankbarer Job, fand sie. Die mussten auch bei jedem Wetter, zu jeder Tageszeit an dreihundertfünfundsechzig Tagen raus. Sie reckte sich und musste gähnen.
Nur noch fünf Wochen, schoss es ihr durch den Kopf. Dann würden sie in den Urlaub fahren. Wieder nach Langeoog an die Nordsee, in das Haus an den Dünen, in dem sie bereits die letzten Ferien verbracht hatten. Sie versuchte sich den kühlen Wind vorzustellen, der sanft über die hügelige Dünenlandschaft wehte und den Strandhafer sachte hin und her bewegte. An der See war es jetzt bestimmt nicht so drückend.
„Ich mach uns mal ’nen Kaffee“, hörte sie Klaus sagen und beobachtete, wie er, nur mit einer Unterhose bekleidet, aus dem Bett sprang und flink durch die Tür hinaus in den Flur verschwand. Nina würde es nie verstehen, wie jemand am frühen Morgen so viel Energie versprühen konnte. Sie und der frühe Morgen würden nie Freunde werden.
Als sie in ihren kleinen blauen VW Käfer stieg und rückwärts aus der Einfahrt rollte, war es bereits kurz nach halb sieben. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick auf das Thermometer. Es waren immer noch, oder bereits wieder, achtundzwanzig Grad. Nicht eine einzige Wolke war am Himmel zu sehen, und das, obwohl der Wetterfrosch im Radio vorhin für heute unwetterartige Hitzegewitter vorhergesagt hatte. Nun gut, vielleicht brachten die ja die ersehnte Abkühlung.
Als sie in Höhe des Mercedes-Autohauses über die Siegbrücke fuhr, fiel ihr Blick auf den Fluss.
Man musste kein Fachmann sein, um zu bemerken, dass die Sieg verdammt wenig Wasser mit sich führte. Es wurde wahrlich Zeit, dass es einmal ordentlich regnete. Die Natur lechzte förmlich danach.
Während sie vorhin ihren Kaffee trank, hatte sie Horst Peters, den Kollegen der Schutzpolizei, zurückgerufen. Es hatte, wie so oft in den letzten Wochen, wieder einmal gebrannt in Betzdorf. Dieses Mal in einem Haus am Struthof, wie der kleine Vorort siegaufwärts hieß. Horst äußerte die Vermutung, dass es sich eventuell, wie auch bereits bei den Bränden in den letzten Wochen, um Brandstiftung handeln könnte. Eine sehr leidige Sache, die ihnen derzeit eine Menge Arbeit bereitete. Neu bei diesem Brand war, dass es diesmal ein Todesopfer gab. Die Feuerwehr hatte in den schwelenden Resten des Hauses eine Leiche gefunden. Mehr wusste der Kollege nicht zu berichten. Es war weder klar, wer der oder die Tote war, noch woran er oder sie gestorben war. Dies zu klären, würde Ninas Aufgabe sein. Kriminalkommissar Thomas Kübler, der eigentlich Bereitschaft hatte, konnte er nicht erreichen und hatte deshalb kurzerhand Nina angerufen.
Sie hatte während seines Berichts sofort nachgehakt, wie Horst darauf kam, dass es sich wieder um Brandstiftung handelte. Der Kollege hatte augenblicklich begonnen zurückzurudern. Doch Nina verstand Horst nur zu gut. Auch ihr erster Gedanke war gewesen, dass der Feuerteufel, der seit einiger Zeit sein Unwesen in der Region trieb, wieder zugeschlagen hatte. Ob dem schlussendlich auch so war, würden die polizeilichen Ermittlungen zeigen. Als ob sie nicht schon genug zu tun hätten!
Während sie mit leicht überhöhter Geschwindigkeit durch die Stadt brauste, kurbelte sie die Fenster ihres alten VW Käfer herunter und öffnete die beiden kleinen dreieckigen Ausstellfenster davor. Eine Klimaanlage besaß Maggiolino, wie sie den kleinen blauen Wagen aus den frühen Siebzigern nannte, noch nicht.
So ein Kaltmacher wurde auch vollkommen überbewertet, weil erstens es ja Fenster zum Öffnen gab und zweitens der übermäßige Gebrauch der Klimatisierung die Leute krank machte. Dies war eine erwiesene Tatsache. Außerdem traf einen, wenn man nach der Fahrt aus seinem eisgekühlten Fahrzeug ausstieg, die Hitze nur noch härter. Nein, Maggiolino brauchte so etwas nicht. Zumindest redete Nina sich dies hartnäckig ein. Wenn sie gelegentlich dann einmal mit einem der Dienstwagen oder dem Auto von Klaus fuhr, ertappte sie sich jedoch immer wieder dabei, wie sie den Regler der Klimaanlage auf die niedrigste Temperaturstufe stellte. Doch deshalb würde sie ihren geliebten Volkswagen nicht hergeben. Das Wägelchen war vermutlich eines der letzten Vehikel, bei denen der Wolfsburger Autobauer die Abgaswerte nicht geschönt hatte, weil es damals nämlich noch keinen Menschen interessierte, was da aus dem Auspuff kam. Sie drückte die Kassette in das Radiogerät und sofort schepperte Billy Idols Dancing with Myself blechern aus den Boxen.
Ihre Gedanken glitten wieder zu den Bränden. Das erste Mal hatte der Feuerteufel in der Nacht zum ersten Mai gezündelt. Eine frei stehende Scheune war bis auf die Grundmauern abgebrannt. Zu Schaden war dabei niemand gekommen, da das Gebäude, wenn man den alten windschiefen Schuppen denn überhaupt als solches bezeichnen wollte, auf einer großen Weide, weit weg von jeglicher Zivilisation, gestanden hatte. Die paar Kühe, die dort weideten und den Schuppen als Unterstand nutzten, waren mit dem Schrecken davongekommen. Die Brandermittler waren zuerst von einem Dummejungenstreich ausgegangen. So etwas gab es immer wieder mal, dass Heranwachsende unter Gruppenzwang, und wenn vielleicht noch Alkohol im Spiel war, auf solch blöde Gedanken kamen.
Nur eine Woche später brannte es erneut. Diesmal ein Schutzwagen in einem Wald bei Scheuerfeld, der in der Woche von Holzfällern genutzt wurde und in dem sich mehrere Kanister mit Benzin und Öl für die Kettensägen befanden. Wie bereits beim ersten Brand, schlugen die Täter auch diesmal wieder in der Nacht von Samstag auf Sonntag zu. Die Detonation, als der gelagerte Treibstoff explodierte, war gewaltig gewesen und hatte auch noch große Teile des Waldstückes rund um den Schutzwagen in Brand gesetzt. Kein Wunder bei dieser Dürre, die zurzeit herrschte. Die Jungs von der Feuerwehr hatten beinahe bis Sonntagmittag gebraucht, um den Waldbrand endlich unter Kontrolle zu bekommen. Seitdem war kein Wochenende vergangen, an dem die Flammen nicht gelodert hätten. Man konnte beinahe die Uhr nach dem Feuer stellen. Immer in der Nacht von samstags auf sonntags zwischen null und ein Uhr morgens schlugen der oder die Feuerteufel zu. Wobei Nina nicht glaubte, dass es sich um mehrere Täter handelte. Solche krankhaften Taten gingen meist auf das Konto eines Einzeltäters.
Schon von Weitem entdeckte sie die weißgraue Rauchwolke, die vom Struthof aus in den klaren Morgenhimmel stieg, und ihr, genau wie Horst eben am Telefon gemeint hatte, den Weg zeigte. Der Qualm, der aus der Asche des einstigen Hauses stieg, stammte vermutlich vom Löschwasser, das nun verdunstete. Nina parkte ihren VW Käfer etwas abseits an der Hauptstraße. Die letzten Meter den Berg hinauf, vorbei an den zahlreichen Einsatzwagen, ging sie zu Fuß. Sofort begann sie wieder zu schwitzen. Diese verfluchte Schwüle war wirklich kaum noch zu ertragen. Bei einem Notarztwagen entdeckte sie die uniformierten Beamten Horst Peters und Jürgen Wacker. Sie standen direkt vor der Einfahrt zum Haus von Torsten Liebig und Heike Friedrich, zwei Kollegen aus Ninas Kommissariat, die sich zurzeit im Urlaub in Südtirol befanden. Die Fensterläden des Hauses waren, wie nicht anders zu erwarten, noch geschlossen.
Bei den Uniformierten befanden sich zwei Sanitäter, eine Notärztin und Henning Himmrich, einer der ortsansässigen Bestatter. Nina kannte Henning seit Jahren. Sie mochte ihn. Doch wenn man ihn und sein Himmelstaxi, wie er den großen Leichenwagen gelegentlich nannte, schon am frühen Morgen bei einem Tatort traf, bedeutete das nichts Gutes. Die Blicke der Männer und der Ärztin waren steinern und auf den Zinksarg gerichtet, der geöffnet zwischen der Gruppe auf dem Boden stand und in dem ein gefüllter Leichensack lag.
„Ach, hallo, Nina, da bist du ja“, begrüßte Polizeihauptmeister Jürgen Wacker sie, kam einige Schritte auf sie zu und gab ihr die Hand. Nacheinander begrüßte sie die anderen und reichte jedem die Hand. Nur die Notärztin, die Nina ebenfalls vom Sehen her kannte, begrüßte sie, bei Anblick der Gummihandschuhe an ihren Händen, lediglich mit einem kurzen Kopfnicken.
„Und, was haben wir?“, erkundigte sie sich und deutete auf den Leichensack. Die Ärztin ging wortlos in die Hocke und zog den Reißverschluss des Sackes zurück. Nina war auf das Schlimmste gefasst. Sie hatte schon öfters in ihrer Laufbahn bei der Kriminalpolizei die Opfer von Bränden gesehen. Auch Wasserleichen oder verstümmelte Körper waren ihr nicht neu. Doch das, was da zum Vorschein kam, war ihr so bisher noch nie untergekommen. Die Tote, es war mehr als eindeutig eine Frau, sah aus, als würde sie lediglich schlafen. Ihr blondes Haar war ordentlich frisiert, ihr Gesicht dezent geschminkt. Ein Lächeln umspielte ihren Mund. Ihre Haut wirkte im Schein der Morgensonne rosig und überhaupt nicht tot. Für einen Moment überlegte Nina, sich zu bücken, um den Puls am Hals der recht hübschen und vermutlich noch sehr jungen Frau zu fühlen, da sie wirklich den Eindruck hatte, dass da noch Leben in ihr war.
Sie trug, soweit das ersichtlich war, ein weißes Kleid mit hübschen bunten Sommerblumen darauf. Nina musste schlucken. Sie würde sie auf Anfang bis Mitte zwanzig schätzen. Viel zu jung, um zu sterben. Wieder einmal kam ihr der Gedanke, wie grausam der Gevatter in seiner Wahl doch war. Anstatt alte und schwer kranke Menschen zu erlösen, die oft schon sehnsüchtig auf ihn warteten, holte er sich immer wieder die, die noch ein ganzes Leben vor sich gehabt hätten.
„Wissen wir schon, wer sie ist?“, fragte sie leise, an Horst gewandt. Der Beamte schluckte und sah in die Runde der betroffenen Gesichter. Überdeutlich konnte Nina erkennen, dass er etwas sagen wollte, sich aber aus irgendeinem Grund zurückhielt. Sie schaute ebenfalls zu den anderen und hakte noch einmal nach.
„Was ist los? Wissen wir, wer sie ist, oder nicht?“
Ihr Blick blieb an Henning Himmrich hängen, der gerade nach Worten zu suchen schien. Sie nickte ihm aufmunternd zu.
„Ich glaub, ich kenn sie“, sagte der Bestatter schließlich sehr leise.
„Schön, Henning. Und? Wer ist sie?“
Henning wiegte den Kopf hin und her.
„Ähm, ja ... das klingt jetzt irgendwie ziemlich seltsam, Nina ... aber ich glaube ... also ich meine, ... dass das da Sonja Ludovic ist“, stammelte er.
Nina kniff die Augen zusammen. Irgendetwas war hier faul. Henning war ein ziemlich direkter Typ, dem selten die Worte fehlten.
„Aber du bist dir nicht sicher?“, hakte sie daher nach.
Henning ging neben der Leiche in die Hocke und kniff die Augen zusammen.
„Doch, Nina, eigentlich schon. Ich könnte schwören, dass das die Sonja ist. Ich kannte ihren Vater gut. Der war damals Fahrer im Betrieb meiner Eltern. Aber ...“, sinnierte er.
„Was, aber?“
„Sie kann es nicht sein, Nina. Ich selbst habe Sonja vor zwei Jahren hier in Betzdorf auf dem Friedhof bestattet.“
Nina brauchte einen kleinen Moment, bis sie begriff, was Henning da sagte.
„Ach so. Du meinst, sie sieht nur aus wie die junge Frau, die du vor zwei Jahren bereits beerdigt hast“, hakte sie nach und war sich in diesem Moment im Klaren darüber, dass diese Erkenntnis sie keinen Schritt weiterbrachte. Sie musste nicht wissen, wem die Tote ähnelte, sondern, wer sie war.
„Nein, nein, Nina, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es tatsächlich ist“, erklärte er ziemlich entschlossen und sah dann Hilfe suchend zu der Notärztin, die ihm immer noch gegenüberhockte und die Nina nun einen knappen Wink gab, näher zu kommen. Nina trat einen Schritt nach vorne, beugte sich vor und beobachtete,wie die Ärztin versuchte, den Mund der Leiche zu öffnen. Doch es war nicht möglich. Lediglich eine Reihe dünner heller Fäden kam auf der Innenseite der feurig roten Lippen zum Vorschein.
„Sehen Sie, Frau Moretti, der Mund der Leiche wurde vernäht. Ebenso die Augen“, erklärte sie knapp, ließ von dem Mund ab und deutete auf ein kaum sichtbares Stück Faden am Lid des geschlossenen Auges. Nina zuckte unwillkürlich zurück.
„Meine Güte, wer macht denn so etwas?“, flüsterte sie beinahe unhörbar.
Die Ärztin blickte zu Henning und Nina folgte ihrem Blick. Als Henning dies bemerkte, schüttelte er empört den Kopf.
„Was guckt ihr mich jetzt so vorwurfsvoll an. Das war ich nicht ... klar, wird so was schon mal vor Aufbahrungen gemacht. Aber doch nicht hier. Wir sind hier schließlich im Westerwald und nicht im Wilden Westen. Das ist ein kleiner Unterschied“, stieß er hervor und erhob sich wieder.
Nina wusste, dass die Augen der Toten, wenn diese aufgebahrt werden sollten, gelegentlich künstlich verschlossen wurden. Der Grund war simpel. Man stelle sich nur einmal vor, die Angehörigen ständen bei der Trauerfeier um den Sarg und der Verstorbene öffnete, bedingt durch den Prozess der Verwesung, die Augen wieder. Die lieben Leute bekämen vermutlich einen Schock fürs Leben. Nein, so etwas ging gar nicht.
„Was würden Sie denn sagen, wie lange sie bereits tot ist?“, erkundigte Nina sich bei der Ärztin. Diese erhob sich nun und zuckte mit den Schultern.
„Ich habe keine Ahnung, Frau Moretti, so etwas ist mir bisher noch nicht untergekommen. Aber ich würde sagen, dass sie bereits seit mehreren Tagen, wenn nicht gar Wochen tot ist. Wie es aussieht, hat sich da jemand richtig Arbeit gemacht, um den Leichnam zu erhalten.“
Nina sah in die Runde der Anwesenden und wandte sich dann an Henning. Wenn sich einer auskannte, dann er. Als Bestatter war der Tod ihm nicht fremd.
„Sag mal, Henning ... angenommen ... das ist wirklich diese ...“ „Sonja Ludovic“, half er ihr auf die Sprünge.
„Genau ... also angenommen, das wäre tatsächlich Sonja Ludovic, wäre es dann überhaupt möglich, sie so lange aufzubahren? Würde die nach zwei Jahren nicht längst verwest oder ausgetrocknet sein?“
Henning zwirbelte gedankenversunken an seinem Schnurrbart, dessen Enden sich kunstvoll nach oben rollten, und begann dann den Kopf zu schütteln.
„Also eher nicht“, deutete Nina sein Verhalten.
Er hob die Schultern und stieß die Luft aus.
„Keine Ahnung, Nina, es hat schon solche Fälle gegeben. Einfach ist das aber nicht. Überleg doch mal, welchen Aufwand die Russen mit ihrem Lenin betreiben. Der sieht auch aus, als wäre er erst kürzlich verstorben, ist aber schon seit ungefähr 90 Jahren tot. Also, wenn jemand das hinbekommt, dann muss er oder sie schon eine sehr gute thanatologische Ausbildung besitzen.“
„Du meinst, man bräuchte da spezielle Apparaturen für?“
„Natürlich auch das. Gerade bei diesen Temperaturen. Du musst die Leiche, auch wenn sie zuvor chemisch konserviert wurde, zumindest kühlen und die Luftfeuchtigkeit annähernd auf dem gleichen Niveau halten.“
Nina blickte zu den Feuerwehrleuten, die damit beschäftigt waren, ihre Schläuche und Gerätschaften zusammenzuräumen, und wandte sich dann an Horst.
„Sag mal, wer von den Jungs hat sie eigentlich aus dem Haus geborgen?“
Horst zuckte mit den Schultern und deutete dann zu einem der Feuerwehrleute, der an den nagelneuen Einsatzleitwagen gelehnt stand und telefonierte.
„Keine Ahnung, Nina, am besten, du fragst mal Oli.“
Nina versuchte ein Lächeln, nickte knapp und ging dann hinüber zu Oliver Pfeifer, dem Wehrführer der Betzdorfer Feuerwehr.
Betzdorf mit seinen rund zehntausend Einwohnern war, wie es der Name schon sagt, irgendwie immer noch ein Dorf. Hier kannte man sich noch. Die Chance, als Einheimischer durch das Städtchen zu bummeln, ohne jemanden zu treffen, den man kannte, lag bei annähernd null. Nina genoss diesen Umstand, den sie in den zehn Jahren, die sie nach ihrer Ausbildung in Köln wohnte und arbeitete, sehr vermisst hatte.
„Guten Morgen, Nina“, begrüßte Oli sie, als sie bis auf wenige Meter herangekommen war. Er ließ sein Handy in der Brusttasche seiner schweren Einsatzjacke verschwinden und streckte ihr eine seiner riesigen Pranken entgegen. Oli war ein wahrer Hüne, ein Kerl wie ein Baum mit dem Herz am rechten Fleck. Er wohnte, wie Nina, in dem kleinen Vorort Bruche.
„Boah, Oli, sag mal, ist euch Jungs nicht zu warm in den Klamotten?“, befand sie und reichte ihm ihre Hand.
„Doch, klar, Nina, aber was sollen wir machen. Wir können ja schlecht in Badehose löschen, oder?“
Sie musste trotz des verkorksten Morgens lachen und verzog dann gespielt angewidert das Gesicht.
„Och neeeee, Oli ... jetzt werde ich Tage brauchen, um das Bild von euch Jungs in Badehose wieder aus dem Kopf zu bekommen“, flachste sie und wurde dann aber wieder ernst.
„Du, sag mal, wer von euch hat die Frau eigentlich gefunden und da rausgeholt?“
„Das waren ich ... und Reiner Schmidt ... weshalb?“, antwortete er, nun ebenfalls mit ernster Miene.
„Die Notärztin und Henning meinen, dass die Frau schon länger tot sein könnte. Kannst du mir mal beschreiben, wie und wo genau ihr sie gefunden habt?“
Oliver überlegte kurz, öffnete dann die Tür des Feuerwehrautos, griff zwei große Taschenlampen aus dem Fußraum und zwei elfenbeinfarbene Feuerwehrhelme, die nebeneinander hinter der Frontscheibe auf dem Armaturenbrett lagen. Fragend sah sie ihn an, als er ihr einen der Helme und eine Lampe hinhielt.
„Komm mit, ich zeig ’s dir“, meinte er knapp und stapfte dann zu der Hausruine.
„Ähm, Moment ... du willst da doch wohl nicht noch mal rein?“, rief sie ihm entsetzt nach.
*
Diese Trottel hatten doch alle keine Ahnung. Wie gerne wäre er jetzt einfach vorgetreten und hätte sich zu erkennen gegeben. Doch das ging nicht. Er würde sich in Zurückhaltung üben müssen und seinen Triumph in aller Stille auskosten.
Sein Blick heftete sich an die feuerroten Lippen seiner Schöpfung. Wie schön sie doch war und auch so still. Er liebte es, wenn sie friedlich da lag, die Ruhe und die Momente, in denen er nichts hörte außer seinem eigenen Herzschlag und seinen Atemzügen. Wenn er mit ihr allein gewesen war und dennoch ganz bei sich selbst, dann verspürte er ein Gefühl, als würde die Erde sich langsamer drehen. Nur sie und er. Sie war sein Eigen gewesen, genau wie früher die Puppen, die ihn als Kind schon fasziniert hatten. Gefasst sah er zu, wie der Bestatter den Reißverschluss zuzog und den Deckel des Zinksarges verschloss. Ein Moment des Abschiedes. Es war nicht das erste Mal, dass man ihm eines seiner Spielzeuge nahm. Deutlich fühlte er, wie erneut eine Wutträne über seine Wange rollte, und ballte unbemerkt seine Faust. Beim nächsten Mal würde er es noch besser machen. Sie würden sehen, was sie davon hatten, ihn zu bestehlen.
*
Nina war erleichtert gewesen, als Oliver sie nicht geradewegs in die Ruine des alten Fachwerkhauses führte, sondern in eine Art Anbau, der vom Feuer weitestgehend verschont geblieben war. Trotz der hier nicht unmittelbar zu erkennenden Gefahr bestand er darauf, dass sie diesen albernen und viel zu großen Schutzhelm trug. Der Raum war niedrig, stockdunkel und schien früher einmal ein Kuhstall oder etwas in dieser Art gewesen zu sein. Nina ließ den Kegel der Taschenlampe über die weiß gekalkten Wände flitzen. In regelmäßigen Abständen waren da, wo sich wohl die Fenster befanden, Stahlplatten angeschraubt worden. Obwohl der Raum vom Feuer unbehelligt geblieben war, roch es beißend nach Rauch. Dennoch war es hier kühl und irgendwie feucht. So und nicht anders stellte sie sich die Luft in einer Gruft vor.
„Da hat sie gesessen“, meinte Oli und deutete auf einen von zwei Sesseln in der hinteren Ecke des Raumes.
Nina trat näher und beleuchtete die Szenerie. Zwischen den beiden Sesseln stand ein Tisch, auf dem sich ein Schachbrett befand. Daneben auf dem Boden eine Stehlampe. Das Ganze erinnerte irgendwie an ein Bühnenbild.
„Zuerst hab ich geglaubt, da sitzt eine Schaufensterpuppe“, hörte sie Oli sagen.
„War der Raum eigentlich verschlossen?“, wollte Nina wissen.
„Ja, wir haben die Tür aufbrechen müssen“, erklärte er. Langsam umrundete Nina die Sitzgruppe und ging zu einem Gerät, das in Kopfhöhe direkt hinter einem der Sessel an der Wand befestigt war.
„Sag mal, Oli, hast du ’ne Ahnung, was das sein könnte?“, fragte sie den Feuerwehrmann.
Oliver Pfeifer trat neben sie, betrachtete das Gerät kurz und deutete auf mehrere Leitungen, die aus dem komischen Kasten herauslugten und in der Wand verschwanden.
„Sieht aus wie eine ganz normale Klimaanlage“, meinte er schließlich.
Nina deutete mit dem Kegel der Taschenlampe auf die Leitungen.
„Und wozu braucht das Ding diese Rohre und Kabel?“, fragte sie, da sie eigentlich gar keine Ahnung hatte, wie so eine Klimaanlage funktionierte.
„Na, die werden wohl nach draußen zum Kompressor führen“, meinte Oli lapidar.
„Ach, du meinst diese Kisten mit den großen Propellern drin, die man schon mal an den Hauswänden sieht?“, glaubte sie zu wissen.
„Ja, genau die Dinger meine ich“, bestätigte er.
Ninas Blick fiel auf einen Werbeaufkleber, der seitlich an dem Gerät angebracht war. KÄLTE KLIMA KIPPING stand da. Darunter die Adresse der Firma in der Gontermannstraße hier in Betzdorf und eine Telefonnummer. Spontan zog sie ihr Handy aus der Tasche und speicherte die Nummer. Wie gesagt, Betzdorf war klein und deshalb nicht verwunderlich, dass Nina auch Andreas Kipping, den Chef der Firma, zumindest vom Sehen her kannte. Sie würde ihn später einmal anrufen. Nicht nur dienstlich. Die Sache mit der Klimaanlage erschien ihr gar nicht mal so schlecht. Wenn man mit dem Ding einen Kuhstall auf Leichenkellertemperatur bringen könnte, würde das doch sicherlich auch bei ihrem Schlafzimmer zu Hause funktionieren.
Sonntag, 10. Juli 2016, 08:26 Uhr
Alsdorf bei Betzdorf – Industriestraße
Nina saß in dem sehr geschmackvoll eingerichteten Besprechungsraum des Beerdigungsinstituts Himmrich und starrte auf den großen Bildschirm an der Wand. Es gab frischen Kaffee, Kekse und einen total verschlafenen und zudem noch erkälteten Kriminalkommissar Thomas Kübler.
„Sorry, Nina, tut mir leid, dass sie dich aus dem Bett geklingelt haben, aber ich hatte versehentlich mein Handy auf lautlos“, entschuldigte er sich nun zum zigsten Mal und schniefte dabei. Nina verdrehte die Augen.
„Ist ja schon gut, Thomas. Dafür lädst du mich und Klaus gleich einfach bei euch zu Hause zum Frühstück ein“, meinte sie und beobachtete dann wohlwollend, wie er nickte und begann, auf seinem neuen Tablet-Computer herumzuwischen und zu tippen. Das Ding war in den letzten Wochen zu seinem ständigen Begleiter geworden. Kurz hatte Nina überlegt, sich ebenfalls so etwas zuzulegen, den Gedanken aber wieder verworfen, da sie genau wusste, dass sie sich eh nicht damit auseinandersetzen und beschäftigen würde. Bei Thomas sah das anders aus, der war ein Technikfreak durch und durch. Er war ein lieber Kerl und mehr als nur einfach ein Kollege bei der Kripo. Ein Kumpel, einer, mit dem man Pferde stehlen konnte, und außerdem der Ehemann von Ninas bester Freundin Alexandra. Der Gedanke, gleich mit Klaus zu den beiden hinauf in den Westerwald zu fahren, gefiel ihr.
„Ah, da hab ich es ja“, meinte Henning plötzlich, und Nina wandte sich wieder dem Monitor zu, auf dem nun eine Sterbeanzeige zu sehen war.
„Sonja Ludovic, geboren am 20. Juli 1992, gestorben am 5. April 2014“, las sie laut und betrachtete dann das Bild neben dem Namen, das ein lachendes blondes Mädchen zeigte.
„Hmmm. Könnte schon sein“, meinte sie und kniff die Augen zusammen. Sicher war sie sich nicht.
„Das könnte nicht nur sein. Das ist sie auch“, war Henning allerdings total überzeugt.
„Aber du sagst doch selbst, du hast sie beerdigt“, warf Nina ein.
„Natürlich hab ich das“, empörte sich der Bestatter.
„Ja, und wie zum Kuckuck kommt sie dann in das Haus am Struthof?“
Henning zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung ... ja, was weiß ich, Nina. Ich hab sie bestimmt nicht dahingesetzt“, zischte er gereizt.
Sie hob beschwichtigend die Hände.
„Sorry, Henning, niemand behauptet, dass du etwas damit zu tun hast. Lass uns einfach nur mal in Ruhe überlegen, was passiert sein könnte.“
Henning nickte und lächelte wieder.
„Also, nehmen wir mal an, bei der Toten, die die Feuerwehrleute heute Morgen geborgen haben, handelt es sich wirklich um Sonja Ludovic. Wie könnte sie also dorthingekommen sein?“
Sie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr. „Lasst uns einfach mal ganz vorne anfangen, und zwar an dem Punkt, an dem sie verstorben ist. Was ist damals passiert, Henning?“
Der Bestatter senkte den Blick und schloss für einen Moment die Augen.
„Sonja war ... zumindest glaube ich das ... abends mit einer Freundin im Auto unterwegs. Die beiden Mädchen kamen wohl von einem Konzert oder irgendetwas in der Art. Soweit ich mich erinnere, ist dieses andere Mädchen gefahren. Sonja saß auf dem Beifahrersitz. Auf jeden Fall ist – warum auch immer – der Wagen von der Fahrbahn abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Sonja verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus, während ihre Freundin mit schweren Verletzungen überlebt hat“, berichtete er.
„Und dann? Dann hast du sie dort abgeholt, oder ...?“, hakte Nina nach.
Henning nickte. „Genau. Ich und meine Auszubildende oder eine der Aushilfen, so genau weiß ich es nicht mehr, haben sie da abgeholt, eingesargt und zur Friedhofshalle gebracht. Drei Tage später wurde sie dann von dort aus zum Grab getragen und bestattet“, erklärte er und deutete auf die Traueranzeige auf dem Monitor, auf der schwarz auf weiß das Datum und der Ort der Bestattung abgedruckt standen.
„War der Sarg, als sie da in der Totenhalle lag, verschlossen oder offen aufgebahrt?“, fragte Nina.
„Der war schon zu. War ja auch kein so hübscher Anblick nach dem Unfall. Ihr Vater hat sich im Krankenhaus von ihr verabschiedet und mich gebeten, den Sarg endgültig zu verschließen.“
„Der Sarg stand also demnach zwei bis drei Tage lang verschlossen in der Kapelle auf dem Friedhof“, vergewisserte sich Nina.
„Genauso war es“, bestätigte er.
„Wer hat denn da alles einen Schlüssel von der Halle?“, wollte sie wissen.
Henning überlegte erneut einen Moment.
„Wir haben einen, wenn wir ihn brauchen, und ansonsten die von der Stadtverwaltung.“
„Die Angehörigen haben in solchen Fällen keinen?“
Der Bestatter wiegte den Kopf hin und her.
„Manchmal schon. Aber in diesem Fall nicht. Paulus, Sonjas Papa, wollte keinen Schlüssel. Da kann ich mich noch ziemlich genau dran erinnern.“
„Ist das üblich, dass ihr die Verstorbenen sofort zum Friedhof fahrt? Soweit ich weiß, hast du hier doch auch zwei Abschiedsräume und die Möglichkeit der Kühlung“, fragte Nina interessiert.
„Das ist total unterschiedlich, Nina. Immer so, wie die Angehörigen es wünschen. Paulus wollte damals, dass ich sie sofort zum Friedhof bringe. Also haben wir das auch so gemacht.“
„Der Vater wollte das also so?“, überlegte Nina laut.
Ein Hüsteln von Thomas Kübler lenkte sie ab. Sie blickte zu ihm auf. Thomas starrte gedankenversunken auf den flachen Computer. Falten standen auf seiner Stirn. Nina konnte förmlich sehen, wie die kleinen Rädchen in seinem Kopf rotierten.
„Ist was?“, erkundigte sie sich.
Thomas blickte auf und drehte dann den Computer so, dass Nina und Henning darauf sehen konnten.
Nina hielt die Luft an. Auf dem Monitor war groß das Bild einer jungen blonden Frau zu sehen. Sie trug ein hübsches weißes Sommerkleid und saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Sessel.
„Sonja Ludovic hat gemodelt. Das Bild wurde im Winter 2014 für ein Modemagazin geschossen. Ich hab sie einfach mal im Netz gegoogelt“, erklärte er und hustete dann.
Sie beugte sich vor, um besser sehen zu können.
„Das gibt es doch nicht. Laut den Aussagen der Feuerwehrleute hat sie genauso in dem Sessel gesessen, als die sie gefunden haben. Sogar das Kleid stimmt mit dem überein, das sie heute Morgen trug“, staunte Nina nicht schlecht.
„Kannst du herausfinden, wer das Bild gemacht hat oder wer es ins Netz gestellt hat?“, fiel ihr ein.
Thomas nickte, tippte kurz auf dem Gerät herum und meinte dann: „Das Bild wurde in einem Studio in Siegen-Eiserfeld gemacht. Blickfang Studio, der Fotograf heißt Olaf Pitzer. Er ist auch, wie es scheint, Betreiber der Homepage.“
„Notier dir das mal. Vielleicht ist es nachher noch wichtig“, wies sie ihn an, obwohl das sicher nicht nötig gewesen wäre. Thomas war, was diese Angelegenheiten betraf, sehr professionell und gewissenhaft. Anders als sie selbst. Nina verschusselte auch gerne schon mal etwas und könnte sich dafür so manches Mal am liebsten selbst in den Hintern treten. Zugeben würde sie es aber nicht.
„Siehst du, Nina, hab ich doch gesagt, das ist der Beweis, dass es sich bei der Toten um Sonja Ludovic handelt“, ereiferte Henning sich.
„Ist es nicht, Henning. Dieses Bild ist maximal ein Beweis dafür, dass jemand die Leiche so drapiert hat, damit sie aussieht wie das tote Model“, versuchte sie ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Henning schnaufte.
„Quatsch, Nina. Ich hab die Sonja schon gekannt, als die noch so klein war. Sie ist es hundertpro“, konterte er und deutete mit der Hand auf Höhe der Tischkante, wie groß beziehungsweise klein die Sonja mal gewesen war.
„Ist ja alles schön und gut, Henning. Aber das sind alles keine handfesten Beweise. Sonja Ludovic ist offiziell beerdigt worden, zumindest, bis wir das Gegenteil beweisen können.“
Einen Moment sahen sie sich schweigend an.
„Wir könnten sie exhumieren ... oder vielmehr nachsehen, ob sie wirklich da auf dem Friedhof liegt“, überlegte Thomas laut.
„Spinnst du? Wir können doch nicht einfach jemanden ausbuddeln ... nur weil ...“, sie sah zu Henning, der sie auffordernd ansah, und schluckte dann den Rest des Satzes hinunter.
„Okay, war eine blöde Idee. Aber vielleicht wäre es hilfreich, wenn wir die DNA eines nahen Verwandten als Vergleichsprobe hätten. Eventuell von den Eltern oder Geschwistern“, schlug Thomas nun vor.
Nina musste zugeben, dass dieser Gedanke gar nicht so schlecht war. Nur, wie sollten sie an die DNA der Verwandten herankommen? Einfach bei den Eltern klingeln und denen den Fall schildern, schied aus. Was sollten die dann denken? Der Schock für die armen Leute wäre sicher gewaltig. Und wenn sich dann nachher doch herausstellte, dass es sich nicht um Sonja, sondern um eine andere junge Frau handelte ... Das Ergebnis wäre sicherlich genauso fatal wie eine sinnlose Exhumierung.
„Sonjas Vater ist vor zwei Monaten an Krebs gestorben“, unterbrach Henning ihre Gedankengänge.
Sie sah ihn an.
„Und was ist mit der Mutter?“
„Die ist auch schon lange tot. Sonja war da noch ein Baby. An die kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern. Paulus Ludovic hat das Mädchen allein großgezogen, deshalb hat er sie ja auch öfter mal mit in die Firma gebracht. In den Ferien ist Sonja oft bei ihm im Lastwagen mitgefahren“, wusste der Bestatter.
„Hatte sie Geschwister?“, hakte Nina nach.
„Nee, Fehlanzeige. Das wüsste ich.“
Nina lehnte sich zurück und fuhr sich mit den Fingern durch ihre langen, lockigen Haare. In ihrem Magen rumorte es. Sie musste jetzt erst einmal etwas essen.
„Okay. Ich würde sagen, wir vertagen das Ganze auf morgen und warten erst einmal ab, was die Gerichtsmediziner bei der Obduktion herausfinden. Es bringt nichts, hier weiter zu spekulieren“, entschied sie.
*
Wenige Meter hinter dem Ortsschild von Ritterhude blitzte es am Straßenrand rot auf. Hans Peter Thiels Blick schweifte zum Tacho, während er gleichzeitig auf die Bremse trat. Die Nadel zeigte knapp unter sechzig Stundenkilometer. Schnell überschlug er die Ungenauigkeit des Tachometers und die Toleranz der mobilen Geschwindigkeitsmessanlage. Er schätzte, dass er maximal fünf oder sechs Kilometer pro Stunde über den erlaubten fünfzig gefahren war. Nicht viel, aber dennoch ärgerlich. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt einmal geblitzt worden war, da er ansonsten immer peinlich darauf achtete, die Geschwindigkeitsvorschriften akkurat einzuhalten. Dafür waren diese schließlich da. Wo käme man bloß hin, wenn jeder Verkehrsteilnehmer auf das Gas trat, wie er wollte? Nein, es war gut so, wie es war. Dennoch hoffte er, dass ihn dieser Verstoß nicht mehr als zwanzig Euro kosten würde.
Vorschriftsmäßig fuhr er weiter und entdeckte bereits einige hundert Meter weiter in einer Parkbucht einen Streifenwagen und zwei uniformierte Beamte. Der eine der beiden, ein noch junger Mann, winkte ihn mit der Kelle heraus, während sein älterer Kollege etwas zurückversetzt bei dem Streifenwagen stand und ganz vorschriftsmäßig mit der Hand an der Waffe seinen Kollegen absicherte. Hans Peter kannte das nur zu gut. Man wusste als Polizist schließlich nie, wen man da gerade anhielt. Hans Peter stoppte den Wagen und ließ die Seitenscheibe heruntergleiten.
„Sie wissen, warum wir Sie anhalten?“, fragte ihn der Streifenbeamte mit der Kelle, ein Bürschlein von maximal Anfang zwanzig. Thiel hasste diese immer gleichen und recht dämlichen Fragen der ehemaligen Kollegen. Natürlich wusste er, warum sie ihn anhielten, und nuschelte deshalb ein wenig genervt:
„Ja, ja. Vermutlich haltet ihr zwei hier rechtschaffene Bürger an, weil ihr zu dumm für die Kripo oder den gehobenen Dienst wart.“
Er hörte, wie Inge auf dem Beifahrersitz die Luft einsog.
