Teufelszeug - Katja Ivar - E-Book

Teufelszeug E-Book

Katja Ivar

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  • Herausgeber: btb Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Tote, die aus dem Nichts auftauchen, eine eigenwillige Kommissarin und eine Landschaft, die einem den Atem raubt...

Lappland, 1952: Es ist der Höhepunkt des Kalten Krieges und Finnland mit seiner Grenze zur Sowjetunion ein schneebedecktes Pulverfass. Die eigenwillige Hella Mauzer – erste weibliche Ermittlerin der Mordkommission Helsinki und in die klaustrophobische Einöde Lapplands zwangsversetzt – leitet den Fall eines Vermissten, der sie mitten in eine internationale Verschwörung zu führen scheint. Oder irrt sie sich? Schafft Hella es, die eigenen Dämonen zu besiegen und das Verbrechen aufzuklären?

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Seitenzahl: 378

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Zum Buch

Lappland, 1952: Es ist der Höhepunkt des Kalten Krieges und Finnland mit seiner Grenze zur Sowjetunion ein schneebedecktes Pulverfass. Die eigenwillige Helle Mauser – erste weibliche Ermittlerin der Mordkommission Helsinki und in die klaustrophobische Einöde Lapplands zwangsversetzt – leitet den Fall eines Vermissten, der sie mitten in eine internationale Verschwörung zu führen scheint. Oder irrt sie sich? Schafft Helle es, die eigenen Dämonen zu besiegen und das Verbrechen aufzuklären?

Zur Autorin

KATJAIVAR wurde in Moskau geboren und verbrachte ihre Teenagerjahre in Dallas, Texas. Sie studierte Linguistik und Zeitgeschichte an der Sorbonne-Universität. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Paris. »Teufelszeug« ist ihr erster Roman und der Beginn einer Serie um die Kommissarin Helle Mauser.

KATJA IVAR

TEUFELSZEUG

THRILLER

Aus dem Englischen von Cornelia Röser

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Evil Things« bei Bitter Lemon Press, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe August 2020

© btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright der Originalausgabe © 2019 Katja Ivar

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Jill Ferry/Trevillion Images; Shutterstock/mycteria; PawelG Photo

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mr · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-21843-0V001www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier.

WILLIAMSHAKESPEARE, Der Sturm, 1. Akt, 1. Szene.

Für Marguerite.

MONTAG, 13. OKTOBER 1952

1.

Sie musste die Augen zusammenkneifen, um das Dorf zu erkennen. Nur ein winziger grauer Fleck auf der Karte, tief verborgen in den zerklüfteten Felsspalten der uralten, gefrorenen Landschaft. Umgeben von Sümpfen und flachen, schief gewachsenen Sträuchern, wie sie typisch für den Permafrostboden waren. Die Einwohner, hauptsächlich Skoltsamen, lebten von Ackerbau, Jagd und Fischfang. Nicht unbedingt das Ziel für eine Urlaubsreise.

Sie musste verrückt geworden sein, auf die Fahrt dorthin zu bestehen, um dort … was zu tun? Ein Verbrechen aufzuklären, das ihr Chef nicht einmal für eines hielt?

»Für mich hört sich das nach einem Unfall an.« Hauptkommissar Järvi spitzte die vollen Lippen.

Er stand neben ihr vor der Landkarte an der Wand seines frisch renovierten, zwanghaft ordentlichen Büros, in dem es unerklärlicherweise nach Fischöl stank.

»Es könnte ein Verbrechen gewesen sein«, sagte Helle. Sie achtete darauf, nicht zu selbstsicher und energisch zu klingen. Järvi konnte ihre »bestimmende Art«, wie er es nannte, nicht leiden, und sie war nun mal auf ihn angewiesen, ob ihr das nun passte oder nicht.

»Da wird ein älterer Mann vermisst, der fast wie ein Einsiedler gelebt hat. Das ist kein Verbrechen. Wahrscheinlich hat er sich im Wald verlaufen oder ist in den Sümpfen ertrunken. Oder er ist über die Grenze zu den Russen, wie sie es alle machen, und hat sich drüben bis zur Besinnungslosigkeit mit Kremlevskaya volllaufen lassen. Mehr steckt nicht dahinter.«

»Der Mann ist in diesen Wäldern aufgewachsen. Er kann sich unmöglich verlaufen haben. Und dass er zum Saufen rüber zu den Russen ist, glaube ich auch nicht. Er hat einen kleinen Jungen allein zu Hause gelassen. Seinen Enkel.«

»Ach, das ist der Grund!« Vorwurfsvoll hob Järvi den Finger. »Er hat ein Kind zurückgelassen. Deshalb denken Sie sofort, er muss einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Ich kann Ihre Reaktion durchaus verstehen, wirklich. Aber deshalb muss noch keine Straftat vorliegen. Unfälle passieren ständig. Und wahrscheinlich war der alte Mann kein so treusorgender Großvater, wie Sie es sich vorstellen.«

Lennart Järvi trat hinter seinen Schreibtisch und ließ sich auf den nagelneuen Drehstuhl fallen, der unter seinem Gewicht ächzte. Für ihn war dieses Gespräch beendet. Aber nicht für Helle. Sie vergaß all ihre klugen Vorsätze und sprach laut und deutlich weiter:

»Da schreibt also diese Pfarrersfrau, Irja Waltari, einen Brief an die Polizei, sie mache sich Sorgen, weil ein alter Mann seit sechs Tagen vermisst wird und einen kleinen Jungen allein zurückgelassen hat, und Sie sagen, wir sollen nichts unternehmen? Wir legen den Brief einfach zu den Akten und vergessen das Ganze?«

Järvi sah sie irritiert an. »Bei der Polizeiarbeit geht es nicht um Emotionen«, antwortete er nach einer Weile. »Es geht nicht darum, ob sich jemand Sorgen macht, sondern darum, das zu tun, was gut, richtig und effizient ist. Wir haben darüber zu entscheiden, was das Beste für die Allgemeinheit ist – wann unser Einsatz gerechtfertigt ist und wann nicht.«

»Dann sollte ich ihn wohl lieber wegwerfen«, sagte Helle. »Den Brief, meine ich. Um das Beweismittel zu vernichten. Wenn es nämlich wirklich ein Verbrechen war und wir es nicht aufgeklärt haben, obwohl wir davon Kenntnis hatten, zerstört das unsere Rekordaufklärungsquote von einhundert Prozent.«

Järvi rutschte auf seinem Stuhl unbehaglich hin und her. Sie wusste, dass sie gewonnen hatte. An der Polizeiarbeit selbst hatte der Hauptkommissar wenig Interesse, aber er besaß einen ausgeprägten Sinn für Ordnung und Effizienz. Unter seiner Leitung konnte sich die Polizei von Ivalo mit der höchsten Aufklärungsquote des Landes brüsten. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich bei den gelösten Fällen nur um kleine Diebstähle oder hin und wieder einen vergifteten Hund handelte. Ihm ging es nur um die Zahlen.

Und jetzt zögerte Järvi, verbog eine Büroklammer zwischen den dicken Fingern, und seine hellblauen Augen fixierten einen Punkt knapp über Helles linker Schulter.

»Wir können Frau Waltari zurückschreiben, wir hätten ihre Sorge zur Kenntnis genommen, aber um diese Jahreszeit sei die Gefahr zu groß, dass unsere Polizisten im Schnee stecken blieben. Wir würden unsere Ermittlung – sofern es dazu kommt – im kommenden Mai wieder aufnehmen, wenn der Schnee schmilzt und wir wenigstens etwas … Handfestes haben …«

Er brach ab, doch sie wusste genau, worauf er hinauswollte.

»Und wenn es eine Leiche gibt, werden wir sie im Frühling schon finden?«, fuhr sie ihn an. »Ernsthaft? Außer natürlich, sie wurde von Wölfen oder Bären gefressen, dann können wir schön weiter so tun, als hätte es nie ein Verbrechen gegeben.« Und weil sie sich nicht zurückhalten konnte, setzte sie boshaft hinzu: »Sind das Ihre goldenen Maßstäbe für die Polizeiarbeit? Einen Fall einfach zu ignorieren, wenn er unbequem ist?«

Sie war zu weit gegangen. Das konnte sich selbst ein friedfertiger Mann wie Lennart Järvi nicht länger bieten lassen. Fast rechnete sie damit, dass er sie hinauswerfen oder ihr einen Vortrag über die Tugend des Gehorsams halten würde. Doch was er stattdessen sagte, war noch schlimmer und traf sie zutiefst.

»Warum drängen Sie so darauf, meine Liebe? Sie sind eine Frau. Sie können nicht allein dorthin fahren. Und sowohl Kommissar Ranta als auch ich sind im Moment sehr beschäftigt. Hören Sie auf meinen Rat, vergessen Sie die Sache. Das sage ich nicht als Ihr Vorgesetzter, sondern als ein älterer, weiserer Freund. Nächste Woche ist doch dieser Ball, von dem alle reden. Ziehen Sie sich ein Kleid an, falls Sie eins besitzen, und gehen Sie hin. Oder leihen Sie sich ein hübsches Tuch und ein bisschen Schminke von meiner Frau. Esmeraldas Kleider dürften Ihnen oben herum etwas zu groß sein, aber wir werden bestimmt etwas für Sie finden …« Er machte eine Pause und vermaß mit nachdenklichem Blick ihre Figur. »Kukoyakka aus dem Sägewerk scheint etwas für Sie übrigzuhaben. Vielleicht steht er ja auf …« Järvi suchte nach einem Wort, mit dem er sie am treffendsten beschreiben konnte, und sein Gesicht hellte sich auf, als er es gefunden hatte: »… auf hagere Frauen.«

Helle verzog das Gesicht. Hager. Zur Abwechslung hatte er voll ins Schwarze getroffen.

Und jetzt hob er seinen dicken Zeigefinger wie ein viktorianischer Vater, der seine unvernünftige Tochter zurechtwies. »Sie sollten sich diese Chance nicht entgehen lassen, womöglich bekommen Sie nie wieder eine.«

In blinder Wut starrte sie Järvi an, was dieser entweder nicht bemerkte oder sich nicht anmerken ließ.

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

Er sah sie verwirrt an.

»Seit dem Krieg sind Männer rar geworden, das wissen Sie so gut wie ich. Wenn eine Frau in Ihrem Alter mit Ihrer Vergangenheit – und, na ja, Ihrer Gegenwart – noch jemanden fände, das wäre ein Wunder. Ich meine, Polissyster ist ein sehr ehrbarer Beruf, und Sie können mit Recht stolz auf sich sein, aber das ist doch sicher nicht alles, was Sie vom Leben wollen.«

Helle atmete langsam ein und zählte bis zehn, um ihren Zorn unter Kontrolle zu bringen. Dieses Gespräch nahm eine unerwartete Wendung. Manipulierte Järvi sie absichtlich, indem er ihr Augenmerk auf ihre eigenen Unzulänglichkeiten lenkte, damit sie darüber den Fall vergaß? Oder war er nur ein überheblicher Trottel in den mittleren Jahren, der es für seine Pflicht als ihr Vorgesetzter hielt, sie auf ihre trostlosen Zukunftsaussichten hinzuweisen?

Es gab einiges, das sie hätte erwidern können. Zum einen, dass sie keine Polissyster war. Nun gut, ursprünglich schon, denn während ihrer Ausbildung hatte es für Frauen, die zur Polizei wollten, noch keine Alternativen gegeben. Doch nach ihrem Abschluss hatten sich neue Möglichkeiten eröffnet, und sie hatte einen Schnellkurs an der Polizeiakademie belegt, der sie mit ihren männlichen Kollegen auf eine Stufe stellte. In Helsinki war sie Kommissarin gewesen, um Himmels willen, aber ihr war auch bewusst, dass sie das nicht als Argument vorbringen sollte.

Oder sie könnte ihrerseits persönlich werden. Ihr sei aufgefallen, könnte sie sagen, dass sein rechter Manschettenknopf fehle und er einen alten Fettfleck auf der Krawatte habe, was nur zweierlei bedeuten könne: Entweder hatte seine Frau, die exotische Esmeralda, dem langweiligen Leben in Finnland den Rücken gekehrt und war wieder in Südeuropa unterwegs, oder aber sie vernachlässigte ihn sehr. Helle hätte ihm auch sagen können, dass sie lieber sterben würde, als Kukoyakka zu heiraten, der über fünfzig war, einen Holztransporter fuhr – einen Holztransporter! –, nur ein Auge hatte und faulig aus dem Mund stank. Doch sie entschied sich dafür, gar nichts zu sagen. Stattdessen drehte sie sich wieder zur Karte und fuhr mit dem Finger die gezackte Linie nach, die von Ivalo zur Ortschaft Käärmela führte. Im Oktober fuhren die Lastwagen des Sägewerks jeden Tag hinauf in den Norden, und die Fahrer machten Überstunden, um so viele Kiefernstämme wie möglich aus dem Wald zu schaffen, bevor die Straßen unpassierbar wurden. Vom Holzfällerlager aus war Käärmela in ein paar Stunden zu Fuß erreichbar. Es war zu schaffen. Vielleicht konnte sie sogar einen der Fahrer zu einem kleinen Umweg über Käärmela überreden. Wieder sah sie Kommissar Järvi an. Er saß zusammengesunken an seinem Tisch, verfolgte mit skeptischem Blick ihre Bewegungen und hatte die Lippen gespitzt, sodass sie wie eine Rosenknospe aussahen. Wie von allein blätterten seine Wurstfinger in einer hellblauen Mappe, auf der in Blockbuchstaben PERSONALKOSTEN stand.

»Wie wäre es, wenn ich mir ein paar Tage freinehme und dem Dorf einen Besuch abstatte?«, fragte Helle in munterem Ton. »Die Architektur da oben im Norden hat mich schon immer interessiert, vor allem die orthodoxen Kirchen. Die Leute dort sind doch orthodox, oder? Die meisten Skolt sind es. Wo ich herkomme, gibt es so etwas nicht.« Erwartungsvoll sah sie ihn an.

Der Hauptkommissar seufzte und zwang sich mit sichtlicher Mühe, ihren Blick zu erwidern. Sie konnte förmlich sehen, wie sich die kleinen Rädchen in seinem Kopf bewegten, während er Risiken gegen Nutzen abwog, ob er ihr in diesem Punkt um des lieben Bürofriedens willen nachgeben sollte. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob er Angst vor ihr hatte – oder vielleicht nicht vor ihr selbst, aber davor, dass sie schwierig werden könnte.

Schließlich sagte er widerstrebend: »Sie sind ein Quälgeist, Mauser. Wissen Sie das? Aber wenn Sie nichts Wichtigeres zu tun haben und so sehr darauf bestehen, machen Sie sich eben selbst ein Bild. Nehmen Sie Urlaub, und wenn Sie einen Mord aufdecken, rechnen wir es als Dienstzeit an. Falls es zutrifft – und ich versichere Ihnen, das wird es nicht –, erstatten Sie mir jeden Tag schriftlich Bericht über Ihre Ermittlungsfortschritte.« Er machte eine Pause und sah sie an, als wäre sie eine bisher unentdeckte Spezies. »Es ist ein hübsches Örtchen mit Holzhäusern und ornamentengeschmückten Fenstern, vielleicht mögen Sie so etwas ja. Wohnen können Sie bei Waltari und seiner Frau. Sie soll eine gute Köchin sein. Kommen Sie nur der sowjetischen Grenze nicht zu nahe – wir wollen auf keinen Fall schlafende russische Bären wecken, wenn Sie verstehen. Und seien Sie bis Montag zurück. Der Winter steht vor der Tür, es kann jeden Tag anfangen zu schneien. Danach ist der Weg in den Norden abgeschnitten, und ich kann es mir nicht leisten, eine meiner Kräfte zu verlieren. Ivalo braucht Sie.«

Er lächelte, was wohl väterlich und beruhigend aussehen sollte, und schenkte sich aus einer schlichten Karaffe ein Glas Wasser ein. Auf seiner jungenhaft glatten Stirn sah Helle winzige Schweißperlen.

Natürlich brauchst du mich, dachte sie. Schließlich hatte ihr Chef nicht viele Alternativen. Das Dezernat bestand nur aus ihr, Järvi und dem alten Kommissar Ranta, der den Großteil seiner Zeit in der Sauna verbrachte und seinen letzten Fall wohl noch vor dem Krieg gelöst hatte. Wenn sie den ganzen Winter in Käärmela festsäße, müsste Järvi seinen eigenen Hintern aus diesem behaglichen, ordentlichen, überheizten Büro bewegen und selbst ein bisschen schmutzige Detektivarbeit erledigen, weil seine Vorgesetzten in Helsinki das von ihm erwarten würden. Dann könnte er sich nicht mehr hinter Papierkram, Vorschriften und Beurteilungen verstecken. Ersatz für Helle zu finden war so gut wie unmöglich. Niemand, der noch ganz bei Trost war, würde freiwillig hier leben wollen. Ivalo war unangefochten die langweiligste Stadt der Welt und lag das halbe Jahr lang unter drei Meter hohem Schnee begraben.

Laut sagte sie nur: »Ich komme so schnell zurück, wie ich kann, Chef, darauf haben Sie mein Wort. Ich habe nicht vor, ein halbes Jahr bei einer Pfarrersfrau in der Küche zu sitzen, mich mit Pfannkuchen mästen zu lassen und mir ihre Geschichten anzuhören. In null Komma nichts bin ich wieder hier.«

Und dann, weil ihre Vorgesetzten in Helsinki einmal gesagt hatten, sie würde noch aus dem Polizeidienst fliegen, wenn sie ihr Temperament nicht zügelte, rang sie sich ein Lächeln für ihn ab.

2.

Wenn sie ehrlich zu sich war, musste sie Järvi recht geben. Im Nadelwald der Taiga kam es immer wieder vor, dass Menschen verschwanden. Zugegeben, normalerweise waren es kleine Kinder oder Greise, und der vermisste Bauer Erno Jokinen war keins von beidem. Trotzdem war es möglich. Warum hatte sie so darauf bestanden, ausgerechnet sein Verschwinden zu untersuchen? Wollte sie, dass es ein Mord war, damit sie einen Fall hatte, in den sie sich verbeißen konnte?

Sie schlurfte durch den Flur zu ihrem winzigen Büro. Aus einiger Distanz hörte sie Anita mit klarer Stimme einen Joik singen. Trällernd wie eine Lappland-Nachtigall. Anita war eine entfernte Cousine von Ranta, was ihr zu der Stelle am Empfang verholfen hatte, doch zum Glück hatten die beiden sonst nichts gemeinsam.

Als Helle mitsummend ihr Büro erreichte – H. Mauser, Polissyster stand dort fälschlicherweise zu lesen –, fiel ihr auf, dass die Tür nur angelehnt war, und sie lief weiter zum Empfangsbereich.

»Hallöchen, Frau Wachtmeisterin«, rief Anita fröhlich. »Na, wie finden Sie’s?« Die junge Frau drehte sich auf ihrem Stuhl im Kreis.

Wie fand sie was? Anitas rosa geblümtes Kleid, das sich so auffällig von der tristen Büroeinrichtung abhob? Das hatte sie letzte Woche schon angehabt, da war sich Helle fast sicher. Die Hirschlederstiefel? Alte Dinger. Vielleicht die neue Frisur? Sie trug die Haare zu einer Banane hochgesteckt, und eine blonde Locke fiel ihr in die Stirn.

Anita kam ihr zu Hilfe: »Meine Lippen! Hier! Das ist dieser neue Lippenstift, Cocktailkirsche heißt er. Ein …«, sie schlug die Augen nieder, »… ein Freund hat ihn mir aus Helsinki mitgebracht. Ist er nicht hübsch?«

»Doch, sehr«, sagte Helle. »Wenn Elvis Sie so sehen könnte, er würde sich sofort in Sie verlieben. Irgendwelche Nachrichten für mich?«

Seit zwei Jahren stellte sie diese Frage jeden Tag zweimal, und fast immer war die Antwort Nein. Und selbst wenn sie Ja lautete, war es nie die Nachricht, auf die sie hoffte. Sie kam nie aus Helsinki. Nie von Steve.

»Nein, tut mir leid.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück zu ihrem Büro. Vorhin auf dem Weg zu Järvi hatte sie es nicht offen gelassen, da war sie sicher. Wenn man die Tür nicht ganz zuzog, schloss sie nicht richtig, und die Klinke hing ein wenig schief. Helle war daran gewöhnt und kannte den Kniff, aber Ranta nicht. Jedes Mal, wenn er sich heimlich in ihr Büro geschlichen hatte, stand die Tür einen Spalt offen. Sie spähte hinein. Niemand da. Offenbar hatte der ranghöhere Kollege seine kleine Inspektion bereits beendet, und Helle fragte sich, ob er diesmal etwas mitgenommen hatte. Ranta nahm nie große, auffällige Dinge mit, aber er hatte eine Schwäche für Büroklammern, und gelegentlich entwendete er einen ihrer Kämme. Ein halbes Jahr lang hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, was er damit anstellte – ob er womöglich ein Haarfetischist war? –, doch am Ende war die Erklärung ganz simpel gewesen: Er hatte Anita die drei geklauten Kämme zu Weihnachten geschenkt. Das erfuhr Helle am ersten Arbeitstag im neuen Jahr, als die junge Frau sie ihr schamrot zurückgab und flüsterte: »Die sind wirklich hübsch. Halten Sie sie bitte unter Verschluss.«

Und das tat Helle. Sie gewöhnte sich an, ihre Schreibtischschublade, in der sie ihre Notizen, die nie abgeschickten Briefe an Steve und den gelben Spielzeugbus aufbewahrte, immer abzuschließen. Jedes Mal, wenn sie ihr Büro verließ, und sei es nur, um zur Toilette zu gehen, räumte sie ihren Schreibtisch leer und verstaute alles in der Schublade. Trotzdem schnüffelte Ranta herum.

Mit einem schweren Seufzer suchte sie in ihrer Tasche nach dem Schubladenschüssel.

»Ach, übrigens …« Wieder Anita, etwas außer Atem. »Fast hätte ich es vergessen. Da ist ein Paket für Sie gekommen. Aus Helsinki. Ganz schön schwer.«

Sie schleppte eine robuste Holzkiste heran und ließ sich übertrieben deutlich anmerken, wie schwer sie war.

»Wo soll ich es abstellen? Brauchen Sie den Latthammer?«

Und wenn ich es gar nicht aufmachen will?, dachte Helle, sagte jedoch nichts. Anita meinte es nur gut. Sie deutete auf ihren Schreibtisch, und gemeinsam stemmten sie den Deckel auf.

»Oh«, flüsterte Anita enttäuscht. »Saure Gurken. Ist das ein Geschenk von Ihrer Großmutter?«

»So ähnlich.«

Helle reihte die Gläser auf der Fensterbank auf und hoffte, Anita würde wieder gehen. Doch die junge Frau blieb.

»Soll ich die Pflanze für Sie gießen?«

Sie deutete auf Helles Schusterpalme, die neben der Heizung verwelkte. Ein Einstandsgeschenk der Kollegen.

»Ich bin ab morgen in einem neuen Fall außer Haus unterwegs«, sagte Helle, um Anita abzuwimmeln. »Könnten Sie die Palme gießen, solange ich weg bin?«

Natürlich konnte Anita das, es wäre ihr sogar eine Freude, gar keine Frage. Einige Minuten später begleitete Helle die junge Frau unter gemurmelten Dankesbekundungen zur Tür, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihre allerbeste Freundin, die Palme, die nächsten Tage überleben würde. Dann schloss sie die Tür und machte sich an die Arbeit.

Sie musste alles ordentlich hinterlassen. Ordnung und Methode, wie Järvi sagen würde, für den diese Worte einer Religion gleichkamen. Ordnung und Methode. Sie nahm einen Stapel Akten aus der Schublade und breitete sie auf ihrem Schreibtisch aus. Rot stand für dringende Fälle. Zum Beispiel den Bettler Lahti, der Dr. Gummerus vor die Haustür gepinkelt hatte. Helles Ansicht nach war Dr. Gummerus ein aufgeblasenes Arschloch und hatte Lahtis Urin verdient. Aber das durfte sie natürlich nicht laut sagen. Dr. Gummerus war ein geachtetes Mitglied der Gemeinde, und als solches musste er mit Respekt behandelt werden. Aus diesem Grund wurde von Helle erwartet, dass sie (a) ermittelte, (b) Lahti bestrafte und (c) weitere Vorkommnisse dieser Art verhinderte. Nur wie sie dieses Problem lösen sollte, blieb unklar. Das Revier verfügte zwar über ein Untersuchungsgefängnis – ein einziger Raum mit Klappbett und Riegelschloss, der sich im Hinterhof neben dem Hühnerstall der Nachbarn befand –, aber das war nicht beheizt, weshalb sie den Bettler dort nicht unterbringen konnte, nicht einmal für ein paar Stunden. Das wusste der Doktor natürlich. Er hatte sogar die Theorie aufgestellt, dass Lahti absichtlich nur im Winter vor seine Tür pinkelte, weil er dann nicht bestraft werden konnte. Vielleicht hatte der Doktor recht, und sie sollte Lahti mit einem zeitversetzten Arrest bestrafen, falls es so etwas gab. Helle beschloss, vor ihrer Abreise mit Järvi über diese Idee zu sprechen.

Sie schob die rote Akte beiseite und nahm eine grüne zur Hand. Richtlinien, Vorschriften und Statistik. Järvis Lieblingsgebiet. Sein Steckenpferd. Das war eine dicke Akte. Manchmal hatte sie das Gefühl, an nichts anderem zu arbeiten als an Richtlinien und Vorschriften. Die Entwicklung der Verbrechensquote zu erfassen, aufgeschlüsselt nach Art des Delikts – Ordnungswidrigkeiten, Bagatelldiebstähle, schwere Vergehen –, nach geografischer Lage – Ivalo, Nellim, restliches Lappland – und der jeweiligen Entwicklung pro Quartal. Vergleiche mit den Landesstatistiken und denen der angrenzenden Bezirke. Wunderhübsch getippte Berichte, die nie irgendjemand las. Bis Ende nächster Woche sollte sie den neuesten Quartalsvergleich fertiggestellt haben, um ihn dem ernst dreinblickenden Järvi und dem höhnisch grinsenden Ranta vorzulegen. Sie seufzte. Schon seit zwei Jahren ging das so, und falls ihr nicht ein edler Ritter aus Helsinki zur Rettung eilte, würde sie noch bis zur Rente an den grünen Akten sitzen. Leider gab es in Helsinki auch nicht mehr edle Ritter als Verbrecher in Ivalo, also sollte sie nicht länger darüber nachdenken, sondern sich auf dringlichere Dinge konzentrieren.

Zum Beispiel auf die Fahrt nach Käärmela. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, darauf zu bestehen. Aber wenn sie es schon tat, konnte sie es auch richtig machen. Sie blätterte die grüne Akte durch. Auch für diese Angelegenheit hatte Järvi Richtlinien. Da standen sie schwarz auf weiß: Bevor Ausgaben anfallen, holen Sie sich eine Generalgenehmigung Ihres Vorgesetzten ein. Das war leicht. Sie hatte nicht vor, irgendwelche Kosten zu verursachen. Nächster Punkt. Lassen Sie alle Beteiligten von der Suojelupoliisi überprüfen. Noch so eine Manie von Järvi: dafür zu sorgen, dass Kommunisten und andere gefährliche Vertreter der Menschheit ordnungsgemäß kenntlich gemacht wurden.

Sie fragte sich, ob das in ihrem Fall wirklich nötig war. Schließlich fuhr sie in den Urlaub. Aber wenn sie im Dorf doch auf Schwierigkeiten stieß? Besser, sie erledigte das.

Pflichtschuldig spannte sie einen Bogen Papier in ihre nagelneue Schreibmaschine und schrieb dem örtlichen Ansprechpartner der Suojelupoliisi einen kurzen Brief mit den Namen Erno Jokinen, Timo Waltari (orthodoxer Pfarrer) und Irja Waltari (seine Frau). Den Brief brachte sie zur Rezeption und übergab ihn Anita, die mit schiefgelegtem Kopf Radio hörte.

»Ich warte auf die Lokalnachrichten«, erklärte sie Helle. »Vielleicht sagen sie etwas über den Ball.«

Helle nickte. Für Anita war dieser Ball das größte Ereignis des Jahres. Ihr Kleid, ein hauchzartes Gebilde aus hellgrünem Tüll, war schon seit Monaten fertig, und obwohl Helle es noch nie gesehen hatte – Anita hütete sich, es jemandem zu zeigen –, hatte sie trotzdem das Gefühl, jeden noch so kleinen Knopf und jede einzelne Naht haargenau beschreiben zu können.

»Ich habe noch mal über meine Frisur nachgedacht«, wisperte Anita. »Sollte ich die Haare vielleicht …«

Helle hörte ihr nicht zu. Die überhebliche Stimme des Nachrichtensprechers zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.

… wachsende Spannungen mit der Sowjetunion, die sich über angebliche Spionagevorfälle und zahlreiche Verletzungen der sowjetisch-finnischen Grenze empören. Wenngleich keine konkreten Vorwürfe erhoben wurden, ist der Unterton eindeutig …

»… oder vielleicht sogar einen Pferdeschwanz«, sagte Anita. »Was denken Sie?«

»Ein Pferdeschwanz ist eine tolle Idee«, antwortete Helle in einem Ton, der jede weitere Diskussion unterband. »Damit werden Sie sehr vornehm aussehen. Pferde sind edle Tiere.« Mit diesem Ratschlag ließ sie Anita allein und lief eilig in ihr Büro zurück.

Die letzten beiden Empfehlungen in der Akte betrafen die ordnungsgemäße Ausrüstung, die bei einer Ermittlung mitzuführen war, sowie das korrekte Ausfüllen von Spesenabrechnungen. Helle klappte die Akte zu und betrachtete ihre Schusterpalme. Die Pflanze verlor Blätter. Vielleicht hatte Anita recht, und sie brauchte dringend Wasser. Aus dem plötzlichen, dringenden Bedürfnis heraus, wenigstens irgendetwas richtig zu machen, nahm sie die Karaffe von ihrem Schreibtisch und goss den gesamten Inhalt in den Blumentopf. Fasziniert sah sie zu, wie die rissige Erde das Wasser bis auf den letzten Tropfen aufsog.

Sie hatte nie bereut, was sie an jenem Tag in Helsinki getan hatte, und sie würde auch jetzt nicht damit anfangen. Damals hatte sie die richtige Entscheidung getroffen, und die Gurkengläser, die im blassen Oktoberlicht auf ihrer Fensterbank standen, waren der Beweis dafür.

3.

Zum wiederholten Mal erklärte Irja dem kleinen Jungen, der regungslos neben dem Ofen kauerte, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche und sein Großvater jetzt wirklich jeden Augenblick zurückkommen müsse. In den vergangenen vier Tagen hatte sie das wie ein Mantra wiederholt: Keine Sorge, Kalle, er ist in die Stadt gegangen. Du weißt doch, wie das ist, es dauert seine Zeit. Vielleicht hat er unterwegs etwas gejagt oder bringt dir etwas anderes Schönes mit. Kalle lächelte geistesabwesend und nickte, aber es war offensichtlich, dass er ihr nicht glaubte – und sie konnte es ihm nicht verdenken. Es war gelogen. Der Junge wusste es, sie wusste es, und die neugierigen Dorfbewohner, die zu Besuch kamen, um sich nach dem Jungen zu erkundigen, wussten es auch. Der alte Erno würde nicht mehr zurückkommen.

Stirnrunzelnd sah Irja den Jungen an. Er hatte kein Wort gesprochen, seit ihn die säuerlich dreinblickende alte Frau aus dem windschiefen Blockhaus am Dorfrand Anfang der Woche zu ihr gebracht hatte. Irja kannte die Frau kaum, trotzdem war sie, ohne anzuklopfen, ins Haus gekommen und hatte sich nicht einmal die Schuhe ausgezogen. Unerbittlich hatte sie den Jungen an den Küchentisch geschleift und sich auf die Bank gesetzt. Der Junge hatte sich ebenfalls gesetzt, doch er hatte den Blick gesenkt gehalten und auch ihren Gruß nicht erwidert.

Martta, diese grässliche Frau, hatte Irja herausfordernd angesehen. »Sie sind die Pfarrersfrau«, sagte sie. »Sie sollten es wissen.«

»Entschuldigung«, murmelte Irja. »Was sollte ich wissen?«

»Was mit ihm zu tun ist. Der Junge ist stur wie ein Esel. War nicht aus dem Haus zu kriegen. Musste ihm erst den Hintern versohlen. Und jetzt kriegt er den Mund nicht mal zum Essen auf. Weint nur die ganze Zeit, schreit im Schlaf und macht ins Bett.«

»Warum ist er bei Ihnen?« Irja war neben dem Jungen in die Hocke gegangen. »Kalle? Wo ist dein Großvater?«

»Weg«, antwortete die Frau kühl. »Verschwunden. Wahrscheinlich tot. Und wenn ich ihn …«, sie zeigte auf den Jungen, »… nicht gefunden hätte, wäre er jetzt auch tot.«

Irja ignorierte die Frau. »Was ist mit deinem Großvater passiert, Kalle? Weißt du, wo er hingegangen ist?«

Der Junge hatte den Kopf geschüttelt, ohne sie anzusehen.

»Aber es ist etwas passiert, oder? Ist er …?«

Sie wagte nicht, Martta direkt zu fragen, ob Erno tot war.

»Er spricht kein Wort«, hatte die Frau geschnaubt. »Wahrscheinlich ist er dumm im Kopf. Genau wie sein lieber Opa. Ich musste ihn aus dem Haus schleifen, er hat geheult und geschrien und sich an den Möbeln festgekrallt. Hätte ihn einfach dalassen sollen, ganz allein, aber es ist eiskalt im Haus, und zu essen gibt es auch nichts.«

Irja hatte die Frau erschrocken angestarrt. Was war sie bloß für ein Mensch? Allerdings hatte sie dem Jungen wohl das Leben gerettet. Kalle und sein Großvater lebten sehr zurückgezogen und kamen so gut wie nie ins Dorf. Außer Timo bekam sie kaum jemand zu Gesicht und selbst der nicht sehr oft. Es hätten Wochen vergehen können, bis jemandem das Verschwinden des alten Mannes aufgefallen wäre.

»Wissen Sie, wo Erno hinwollte?« Irja fragte die Frau. Sie rief sich in Erinnerung, was sie über die Frau gehört hatte. Martta war mit dem alten Mann verwandt, aber die beiden standen sich nicht nahe, und es gab Gerüchte über einen Streit, einen alten Zwist, der außer Kontrolle geraten war und sich schon über Jahrzehnte hinzog.

»Nein, weiß ich nicht. Ist mir auch egal. Soll ihn der Teufel holen, wenn der ihn will. Und den Jungen können Sie behalten. Tut Ihnen vielleicht ganz gut.«

Die alte Frau war aufgestanden, hatte sich den grauen Wollrock glattgestrichen und die Ärmel zurechtgezupft. Den Jungen hatte sie keines Blickes gewürdigt. Er saß mit kerzengeradem Rücken und brav gefalteten Händen da wie eine kleine Holzstatue, nur seine feuchte Nase zuckte wie die eines Kaninchens. Irja wurde schwer ums Herz. Konnte sie für den Jungen sorgen, bis das Verschwinden des alten Erno aufgeklärt war? Und was würde danach mit ihm geschehen? Kalles Mutter war vor einigen Monaten gestorben, und einen Vater hatte er nicht. Würde ihn das Jugendamt abholen? Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fing der Junge an, nervös auf der Bank hin und her zu rutschen, und eine einzelne Träne lief ihm über die schmutzige Wange.

»Kalle?«, flüsterte Irja. »Ich kümmere mich um dich, versprochen. Und ich werde alles tun, um deinen Opa zu finden. Ich weiß nämlich, wie sehr du ihn liebst und wie sehr er dich liebt.«

Sie hatte den Jungen umarmt, ihn fest an sich gedrückt und ihm tröstende Worte ins Ohr geflüstert. Ihr alter grauer Kater Seamus war auf Kalle zustolziert und schnupperte an seiner Hand. Offenbar gefiel ihm, was er gerochen hatte, denn er sprang auf die Bank und ließ sich neben dem Kind nieder. Ein gutes Zeichen. Seamus suchte nicht oft den Kontakt zu Fremden. Wenn er den kleinen Kalle mochte, konnte das dem Jungen vielleicht helfen, sich zu erholen. Tiere waren gut in so etwas. Sie linderten die Schmerzen von Verletzten und Traurigen, sie trösteten Menschen, die ihre Lieben verloren hatten.

Nach einiger Zeit ging der Atem des Jungen ruhiger, er war eingeschlafen. Irja hatte ihn in ihr Bett getragen und mit einer bunten Steppdecke zugedeckt. Seamus kuschelte sich daneben.

Dann hatte sie ein Blatt Papier aus der Schreibtischschublade genommen und einen Brief an die Polizei begonnen, den sie noch am selben Tag abgeschickt hatte. Es war fast wie eine Flaschenpost, die ein Gestrandeter von einer einsamen Insel ins Meer warf, aber sie bemühte sich, nicht zu viel darüber nachzudenken. Anderswo, in anderen Ländern, könnten sich normale Bürger darauf verlassen, dass ihnen die Polizei half. Vielleicht. Doch ob das auch für das gottverlassene Stück gefrorenes Land galt, das sie ihr Zuhause nannten, da war sie sich nicht so sicher.

DIENSTAG, 14. OKTOBER

4.

Während Helles Kindheit in Helsinki waren ihre Lehrer bemüht gewesen, sie zur Dankbarkeit zu erziehen. Sie sprachen davon mit klingenden Stimmen, als wäre es das Wichtigste auf der Welt. Nicht Mitgefühl, Ehrlichkeit oder Neugier, sondern Dankbarkeit.

»Du musst für das dankbar sein, was du hast, Helle! Wenn du ›danke‹ sagst, sollte es von Herzen kommen. Du hast großes Glück im Leben, Mädchen. Du solltest dir vor Augen führen, was dir Gutes widerfahren ist, und unserem Herrgott mit einem kleinen Gebet für alles danken, was Er für dich tut.«

Und dann, weil sie offenbar merkten, dass Helle ihnen den Gefallen nicht tun würde, begannen sie selbst, ihr das Gute vor Augen zu führen. Dabei vermischten die Lehrer einige sehr wichtige Dinge: Das neue Spielzeug, das sie zu Weihnachten bekommen hatte, wurde genauso in die Waagschale gelegt wie die Tatsache, dass sie eine Großmutter hatte – eine alte, nach Mottenkugeln riechende Frau mit Damenbart, vor der Helle Angst hatte und die sie nie besuchen wollte. Auffälligerweise wurde zwar oft der Umstand erwähnt, dass die kleine Helle im Gegensatz zu vielen anderen Kindern, deren Väter im Krieg gegen die Sowjetunion gefallen waren, noch beide Elternteile hatte, doch vom Beruf ihrer Eltern war nie die Rede. Darüber staunte Helle immer wieder. Eltern zu haben, einfach ganz normale Eltern, das war eine Sache. Aber ihre Familie war etwas völlig anderes. Etwas, worauf man stolz sein konnte, auch wenn sie es selbst meistens als selbstverständlich ansah.

Vielleicht hätte ich auf sie hören sollen, dachte Helle grimmig, als sie aus ihrem Zimmerfenster auf die trostlose Landschaft, die verwachsenen gelblichen Sträucher und vereinzelten Steine blickte. Wäre sie wirklich dankbar gewesen, dann wäre womöglich alles anders gekommen. Aber natürlich war es sinnlos, jetzt die Vergangenheit zurechtrücken zu wollen und darüber zu grübeln, was sie hätte anders machen können. Es war sinnlos, und es führte zu nichts. Sie sollte lieber anfangen zu packen.

Ihr großer, sperriger Koffer aus Schweinsleder blieb unter dem Bett. Ihn könnte sie unmöglich transportieren, wenn sie einen Teil der Strecke zu Fuß zurücklegen musste. Also wollte sie alles, was sie brauchte, in einen Rucksack packen, was die Anzahl der Dinge, die sie mitnehmen konnte, drastisch reduzierte. Aus dem Kiefernholzschrank in der Ecke ihres Zimmers nahm sie einige Pullover und eine Hose. Dazu kam ein Paar anständige Wanderschuhe, in dem sie gut laufen konnte, und ein warmer Flanellschlafanzug. Außerdem eine Kaffeedose, verziert mit einem Schwarzweißfoto der lächelnden Paula – dem Werbegesicht der Firma Paulig – in ihrer Tracht. Sie wusste nicht, ob es in Käärmela Kaffee gab. Selbst in Ivalo bekam man ihn nur gegen Lebensmittelmarken und auch das nur am Monatsanfang.

Sie überlegte, wo sie im Pfarrhaus schlafen würde. Würde sie ein eigenes Zimmer bekommen, oder musste sie die Nächte im Wohnzimmer verbringen? Möglich war beides. Sie hatte vergessen zu fragen, ob der Pfarrer und seine Frau eine große Familie hatten. Angeblich hatten die orthodoxen Geistlichen oft viele Kinder, wohl um ihrer Gemeinde ein gutes Vorbild zu sein. Helle versuchte, sich vorzustellen, wie sie in dem überheizten Raum mit niedriger Decke versuchte, einen Verdächtigen zu befragen, während kleine Kinder auf ihr herumkrabbelten, ihr den Stift wegnahmen und Seiten aus ihrem Notizbuch rissen. Sie seufzte. Was für ein Unterschied zu ihrer früheren Position in Helsinki, wo sie die allererste Frau in der Mordkommission gewesen war. Interessante, komplexe Fälle, neidische Blicke ihrer männlichen Untergebenen, eine Wohnung mit Blick aufs Wasser, mitten in der Stadt … echte Macht … Aber sie hatte beschlossen, sich nicht länger mit ihrer Vergangenheit aufzuhalten. Wanderschuhe also. Und Socken. Und ein Notizbuch. Ein kleiner, handbestickter Beutel, in dem sie ihre Zahnbürste und einen kleinen Tiegel Gesichtscreme verstaute, ihr letztes Zugeständnis an die Weiblichkeit. Weil die Haarbürste nicht mehr in den Beutel passte, packte Helle sie direkt zur Kleidung. Sie war fertig. Ihre Waffe würde sie im Holster unter dem Parka direkt am Körper tragen. Inzwischen war es auf dem Land seit über sechs Jahren friedlich, aber man konnte nie wissen, wem man in den Wäldern begegnete. Außerdem, das kam noch dazu, musste sie mit Seppo Kukoyakka zu dem Dorf fahren. Lieber wäre Helle bei einem der anderen Holzfahrer mitgefahren, die manchmal schon vor sechs Uhr früh aufbrachen, doch von denen hatte sie niemand mitnehmen wollen, und das hatten sie ihr auch ins Gesicht gesagt. Sie musste sich mit Kukoyakka begnügen. Weil er nur ein Auge hatte, verließ er das Sägewerk deutlich später als die anderen, wenn die Sonne aufgegangen war und er die Straße gut sehen konnte.

Allein der Gedanke an Kukoyakka und seinen riesigen Sisu-Lastwagen ließ sie erschaudern. Würde er die Situation ausnutzen und Annäherungsversuche machen? Wie sollte sie in diesem Fall reagieren? Sie konnte ihn wohl kaum erschießen. Nicht nach der Sache in Helsinki. Aber was dann? Sie hatte einmal ein Buch des französischen Autors Stendhal gelesen, in dem die Hauptfigur, ein schönes, junges Mädchen namens Lemiel, in Begleitung lüsterner Männer reisen musste. Um nicht belästigt zu werden, hatte Lemiel sich absichtlich hässlich gemacht; sie hatte sich irgendeine Paste oder einen Pflanzenbrei ins Gesicht geschmiert, was ihre Haut wund und pustelig aussehen ließ.

Helle ließ sich schwer aufs Bett sinken und starrte in den ovalen Spiegel neben dem Kleiderschrank. Sollte sie etwas in dieser Art versuchen? Wahrscheinlich war das gar nicht nötig. Schließlich war sie nicht gerade eine unwiderstehliche Schönheit. Eine Frau in den Dreißigern mit Zahnlücken und mehr Knochen als Kurven – hager eben. Nichts als Mumm und Ellbogen, wie Steve immer gesagt hatte. Sommersprossen hatte sie auch, was wirklich ungerecht war, weil sie schwarze Augen und dunkle Haare hatte. Wie konnte man den Teint einer Rothaarigen haben, ohne rothaarig zu sein? Wenn Kukoyakka trotz allem in Versuchung geriet, tja, dann war das sein Pech. Sie würde nicht zögern, ihre Waffe zu ziehen. Selbst wenn der Mann dann schnurstracks zu Järvi laufen würde, um sich über sie zu beschweren.

Bei dieser Vorstellung musste sie lächeln. Wenn ihre Vergangenheit nicht gewesen wäre, käme ihr ein solcher Vorfall nur gelegen. In Gedanken hörte sie schon die Gerüchteküche: Sie, die unscheinbare Polizistin aus Helsinki, musste sich mit Waffengewalt einen Mann vom Hals halten. Damit wäre ein für alle Mal bewiesen, dass auch sie eine attraktive Frau war und Männer sich in sie verliebten, auch wenn der einäugige Kukoyakka mit seinem großen Hintern und dem ausladenden Bauch nicht gerade ein Prachtkerl war. Trotzdem war er ein Mann, und die waren, wie Järvi sagte, dieser Tage rar gesät. Also war es nicht zu verachten, wenn er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. Das würde die Leute endgültig zum Schweigen bringen. Die Leute, das waren ihre Vermieterin, Frau Tiramaki, die in letzter Zeit jedes Mal missbilligend mit der Zunge schnalzte, wenn sie Helle begegnete, und Järvi, der sie ständig mit seiner Frau verglich. Frau Järvi hier und Frau Järvi dort, als wäre sie der Maßstab für alles. Doch Helle hatte erkennen müssen, dass die exotische Frau Järvi mit ihren pechschwarzen Haaren – deren Farbe Helles Vermutung nach direkt aus der Tube kam – in diesem kleinen Örtchen die Schönheitskönigin und das modische Vorbild war. Als der Inhaber der Drogerie im vergangenen Frühjahr an einen Vorrat karmesinroten Chiffon mit kleinen schwarzen Punkten gekommen war, hatte die gesamte weibliche Bevölkerung von Ivalo, von der pickeligen Teenagerin bis zur zahnlosen Matrone, den Laden gestürmt. Sie hätten jeden Preis bezahlt und notfalls sogar ihre Seele verkauft, um ein Flamencokleid zu tragen, wie es Esmeraldas Markenzeichen war. Wohlmeinend hatte Helles Chef ihr den Nachmittag freigegeben, und sie hatte sich nicht getraut, ihm zu sagen, wozu sie die Zeit wirklich genutzt hatte. Etwas, wozu sie sonst nie Gelegenheit hatte, weil ihre Vermieterin immer anwesend war: Sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und Steves Music Hour im Radio voll aufgedreht, dazu getanzt und sich die Augen ausgeheult. Das verquollene Gesicht erwies sich am nächsten Tag als nützlich, als sie auf dem Polizeirevier kläglich berichtete, die Frau direkt vor ihr in der Schlange habe das letzte Stück Stoff ergattert. Dass Helle lieber sterben würde, als so auszusehen wie Esmeralda Järvi, überstieg Kommissar Järvis Vorstellungskraft, und das war auch gut so. Für sie war es sehr viel wichtiger als für ihn, dass sie miteinander auskamen.

In Gedanken kehrte sie zu ihrem letzten Gespräch zurück, und wieder einmal wunderte sie sich, warum Järvi eines Tages den Entschluss gefasst hatte, zur Polizei zu gehen. Bei seiner Liebe zu Sauberkeit und Ordnung und seiner Leidenschaft für Vorschriften hätte er einen guten Buchhalter abgegeben. Vielleicht sogar einen Anwalt für Gesellschaftsrecht. Aber Polizist? Hatte er keine andere Wahl gehabt? Oder war der junge Lennart Järvi ein anderer Mensch gewesen, das genaue Gegenteil von dem Mann, der aus ihm geworden war? Sie nahm sich vor, ihn eines Tages danach zu fragen. Nicht direkt natürlich, aber sie würde einen Weg finden. Auch wenn es durchaus möglich war, dass er die Antwort selbst längst vergessen hatte – so vertieft, wie er in seine Verwaltungsarbeit war, die für ihn eine tröstliche Illusion von Realität schuf.

5.

Jeremias Karppinen war der kleinste Mann, den Irja je gesehen hatte. Was ihr nur recht war, denn er war außerdem auch der wütendste. Nur einen Meter fünfzig groß, drahtig und leichenblass, verkörperte er den blanken Hass. Anfangs hatte sie geglaubt, sie selbst würde diese Reaktion in ihm hervorrufen, und sich gefragt, ob er vielleicht etwas gegen die Kirche und Religion hatte. Oder ob er aus irgendeinem Grund Frauen hasste. Dann erkannte sie, dass es weder etwas mit ihr zu tun hatte noch mit Frauen oder der Kirche. Er war einfach so. Das hatte sie an jenem Tag begriffen, als sie sah, wie er die Welpen seiner Hündin im Sumpf ertränkte. So etwas machten viele Leute hier auf dem Land – weil es notwendig war. Aber Jeremias Karppinen hatte richtig Freude daran. Er war dabeigeblieben, bis der Sack schließlich mit einem leisen Plätschern untergegangen und das gedämpfte Jaulen der Welpen nicht mehr zu hören gewesen war. Dann war er langsam, mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht, davongegangen.

Jetzt saß er ihr am Küchentisch gegenüber, die Finger wie Klauen um ein Glas geschlossen, das er sich genommen hatte, ohne zu fragen. Seine Nägel waren schwarz und eingerissen.

»Haben Sie Grog da?«, fragte er beiläufig und hielt ihr das Glas hin.

»Nein, tut mir leid.« Irja wandte den Blick ab, damit er ihre Gedanken nicht lesen konnte. Nicht für Sie, hätte sie gern gesagt, ich habe keinen Grog für Sie. Er war schon aggressiv genug, betrunken würde er gewalttätig werden. Ihr war aufgefallen, dass Kalle beim Klang von Karppinens tiefer Stimme, die partout nicht zu einem Mann seiner Größe passen wollte, sofort verschwunden war. Irja nahm an, dass Kalle auf den russischen Ofen geklettert war, doch in den geblümten Vorhängen, hinter denen sich das provisorische Bett über dem Ofen verbarg, zeigte sich keine Regung. Falls Kalle sich wirklich dort versteckt hatte, musste er absolut stillliegen.

»Oder Teigtaschen?« Karppinen sah auffällig zum Ofen hinüber, in dem gut sichtbar ein Kochtopf stand.

»Ich fürchte, fürs Abendessen ist es noch zu früh«, antwortete Irja kühl. Für ihre Begriffe hatte die christliche Tradition der Gastfreundschaft auch Grenzen, und Jeremias Karppinen befand sich eindeutig außerhalb davon. »Sind Sie hier, um sich nach Kalle zu erkundigen?«

Das war eine höfliche Art zu fragen, ob er zum Herumschnüffeln hergekommen war wie die meisten Leute aus dem Dorf. Sie kamen unter dem Vorwand, sich nach dem Wohlergehen des Jungen zu erkundigen, doch in Wahrheit wollten sie nur Klatsch und Tratsch hören. War es denn wirklich möglich, dass niemand etwas über das Verschwinden des alten Erno wusste? Wann würde die Polizei kommen? Und warum hatte ihr Mann Timo, der nach dem alten Mann suchte, immer noch nichts gefunden?

Manche, die Minderheit, kamen mit guten Absichten. Sie brachten Piroggen, Gläser mit hausgemachter Preiselbeermarmelade und warme Kleidung für Kalle. Die Männer begleiteten Timo auf seiner Suche. Die Frauen setzten sich zu Kalle, strichen ihm übers Haar und sagten ihm, alles würde wieder gut werden. Ja, es gab gute Menschen hier im Dorf. Aber Jeremias Karppinen war keiner davon, und Irja bezweifelte stark, dass er gekommen war, um seine Hilfe anzubieten.

»Ich bin gekommen, um meine Hilfe anzubieten«, verkündete der kleine Mann salbungsvoll. Doch als Irja schon überlegte, ob sie sich in ihm getäuscht hatte, sprach er weiter und machte ihre Illusionen zunichte: »Ich habe beschlossen, das Haus zu kaufen.«

Während er auf eine Antwort wartete, lächelte er und entblößte seine scharfen Vorderzähne, die dreieckig waren wie die einer Katze. Aus dem Bett über dem Ofen drang ein gedämpftes Geräusch.

»Verzeihung?« Irja glaubte, sich verhört zu haben. »Welches Haus?«

»Das von dem Jungen«, erklärte Jeremias Karppinen mit gierigem, aufgeregtem Blick. Allmählich wurde er ungeduldig. »Er selbst braucht es nicht, er kann bei Ihnen wohnen. Deshalb biete ich Ihnen an, das Haus zu kaufen.« Er kramte in der Brusttasche seines grünen Armeehemds und zog einige zerknitterte Geldscheine hervor. Sechshundert Finnmark. Dafür bekam man auf dem Markt von Ivalo zwei Kilo Fisch.

Karppinen schob ihr das Geld hin und stand gleich darauf wieder auf.

»Dann ist unser Geschäft besiegelt«, sagte er. »Ihr Mann ist doch gebildet«, aus seinem Wort klang das Wort wie eine Beleidigung, »der kann den Papierkram erledigen und mir die Dokumente später vorbeibringen. Ich vertraue Ihnen.«

»Moment mal!« Irja stand auf, sie keuchte beinahe. »Es gibt kein Geschäft. Ich weiß nicht mal, wovon Sie eigentlich reden. Nehmen Sie bitte Ihr Geld zurück und … gehen Sie!«

Sie war viel größer als er, insofern war sie im Vorteil. Da er keine Anstalten machte, das Geld zurückzunehmen, knüllte sie es zu einem Klumpen zusammen und hielt es ihm hin.

»Gehen Sie jetzt bitte. Es ist kein guter Zeitpunkt, um über so etwas zu reden.«

Karppinen starrte sie ungläubig an.

»Sie blöde Ziege! Ich hatte Sie für eine Dame gehalten …« Der kleine Mann war außer sich vor Zorn. »Das werden Sie bereuen! Sie werden noch zu mir gekrochen kommen, mir die Stiefel küssen und mich anflehen, Ihnen das Haus abzunehmen. Jetzt, wo der alte Erno tot ist …«

»Er ist nicht tot«, rief Irja entrüstet. Sie dachte an den kleinen Jungen, der über dem Ofen hockte und das Gespräch mitanhörte. »Erno ist nicht tot«, wiederholte sie noch einmal leise. Ihr stiegen die Tränen in die Augen. Zum Teufel mit ihrer guten Erziehung. Sie versuchte, sich den Tonfall ins Gedächtnis zu rufen, in dem die Frauen aus dem Dorf miteinander zankten, doch was sie herausbrachte, klang trotzdem lammfromm: »Sie reden Unsinn. Raus hier!«

Wieder bleckte Karppinen die Zähne, und Irja wich instinktiv zurück. Aus den Augenwinkeln sah sie den vertrauten Glanz des Samowars. Den könnte sie als Waffe benutzen, sollte Karppinen gewalttätig werden. Doch der kleine Mann musste ihren Blick bemerkt und die richtigen Schlüsse gezogen haben. Er wandte sich zur Tür.

»Das werden Sie noch bereuen«, sagte er leise und sah sie von oben herab an, was für einen Mann seiner Größe eine beachtliche Leistung war. »Wenn Sie erst wissen, was ich weiß, werden Sie zu mir kommen und mich anflehen, aber dann wird es zu spät sein. Ich habe Ihnen gutes Geld geboten.« Er stieß die Tür auf, und ein Schwall eisiger Luft drang herein.

»Zu spät«, sagte er noch einmal, und dann war er fort.

6.