THE AMATEURS - Wer anderen eine Grube gräbt - Sara Shepard - E-Book

THE AMATEURS - Wer anderen eine Grube gräbt E-Book

Sara Shepard

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Beschreibung

Nur sie kennen den Mörder. Und er spielt sein letztes tödliches Spiel mit ihnen ...

Der Killer, den Seneca, Maddox und Madison nur zu gut kennen, hat Aerin in seiner Gewalt. Als er sie daher beauftragt, einen 9-Jährigen vermissten Jungen namens Damien Dover zu finden, machen sie sich auf die Suche. Dabei kommen sie der dunklen Vergangenheit des Mörders immer mehr auf die Spur. Währenddessen tut Aerin alles, um zu überleben. Doch wird der Killer sie wirklich gehenlassen? Oder hat er nur eine weitere tödliche Überraschung in petto?

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Seitenzahl: 395

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DIE AUTORIN

Foto: © www.danphoto.com

Sara Shepard hat an der New York University studiert und am Brooklyn College ihren Magisterabschluss im Fach Kreatives Schreiben gemacht. Sie wuchs in einem Vorort von Philadelphia auf, wo sie auch heute lebt. Ihre Jugend dort hat die »Pretty Little Liars«-Serie inspiriert, die in 22 Länder verkauft wurde und die, ebenso wie ihre Reihe »Lying Game«, zum New-York-Times-Bestseller wurde. Inzwischen wird »Pretty Little Liars« mit großem Erfolg als TV-Serie bei ABC gesendet. In Deutschland wird »Pretty Little Liars« seit Mai 2014 auf Super RTL ausgestrahlt.

Mehr zur Autorin auch auf Instagram @saracshepard

Mehr zu cbt auch auf Instagram @hey_reader

Von der Autorin sind außerdem bei cbt erschienen:

Pretty Little Liars – Unschuldig (Band 1)

Pretty Little Liars – Makellos (Band 2)

Pretty Little Liars – Vollkommen (Band 3)

Pretty Little Liars – Unvergleichlich (Band 4)

Pretty Little Liars – Teuflisch (Band 5)

Pretty Little Liars – Mörderisch (Band 6)

Pretty Little Liars – Herzlos (Band 7)

Pretty Little Liars – Vogelfrei (Band 8)

Pretty Little Liars – Unerbittlich (Band 9)

Pretty Little Liars – Skrupellos (Band 10)

Lying Game – Und raus bist du (Band 1)

Lying Game – Weg bist du noch lange nicht (Band 2)

Lying Game – Mein Herz ist rein (Band 3)

Lying Game – Wo ist nur mein Schatz geblieben? (Band 4)

Lying Game – Sag mir erst, wie kalt du bist (Band 5)

Lying Game – Und du musst gehen (Band 6)

The Perfectionists – Lügen haben lange Beine (Band 1)

The Perfectionists – Gutes Mädchen, böses Mädchen (Band 2)

The Amateurs – Wer zuletzt stirbt (Band 1)

The Amateurs – Wenn drei sich streiten (Band 2)

Sara Shepard

THE AMATEURS

Wer anderen eine Grube gräbt

Aus dem Amerikanischen

von Ursula Held

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe Februar 2020

© 2017 by Alloy Entertainment, LLC and Sara Shepard

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

»Last Seen« bei Freeform Books, New York.

Published by arrangement with Rights People, London.

© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Ursula Held

Lektorat: Ulrike Hauswaldt

Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign,

Bad Oeynhausen, unter Verwendung eines Motivs

Adobe Stock (OLGA, sparkia)

he · Herstellung: LW

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-17889-5V001

www.cbj-verlag.de

Für Clyde

Davor

Es war stockfinster in dem Schuppen. Seine Unterwäsche war durchnässt, die Haut juckte. Es roch schrecklich – ein bisschen so wie die tote Maus, die mal zu Hause unter der Veranda gelegen hatte. Er hörte das Meer, konnte aber nicht sagen, aus welcher Richtung das Rauschen kam. Er hatte das Meer nicht ein Mal gesehen, seit er hier war. Es war kein Urlaub.

Er tapste nach rechts und links und stieß gegen Buddeleimer, verrostete Fahrräder und eine platte Schwimminsel. Dinge, mit denen er nicht spielen durfte. Er dachte an die Tiere, die womöglich an ihm hochkrabbelten. Tausendfüßer, Spinnen, vielleicht sogar eine Maus. Ihm wurde ganz eng in der Brust. Die Maus hatte immer schlimmer gestunken. Erst hatte es nach Erbrochenem gerochen, dann nach etwas noch Ekligerem. Als sein Vater sie irgendwann hervorgeholt hatte, hatten da nur noch Knochen auf der Schaufel gelegen. Er war schreiend davongerannt und sein Vater war ihm hinterhergelaufen und hatte ihn in den Arm genommen. Ich weiß, hatte er gesagt. So was ist nicht schön.

Würde er seinen Vater je wiedersehen? Würde er so sein wie diese Maus?

Ihm blieb das Herz stehen. Er hockte da und legte den Kopf auf die Knie. Wenn ihn die Angst so heftig packte, half ihm nur noch, in eines der Harry-Potter-Bücher abzutauchen. Er stellte sich vor, er wäre in Hogwarts und nicht hier eingesperrt, dann hätte er Zauberkräfte, so wie Harry und seine Freunde. Dann würde er die Frau, die ihm das angetan hatte, mit einem Zauberspruch unschädlich machen. Sie würde einfach so zusammenschrumpeln und verschwinden. Und dann? Dann würde er wegrennen. Schnell. Nur weg.

Da ging die Tür auf. Er rappelte sich hoch, bekam plötzlich keine Luft mehr. Das Licht brannte ihm in den Augen. Er hielt sich die gefesselten Hände vors Gesicht.

Sie sah ihn an. Sie trug das groß geblümte Kleid, das ihr früher mal gepasst hatte. Ihre Haare hingen ihr in orangeblonden Strähnen ums Gesicht. Als sie noch seine Lehrerin gewesen war, hatte sie ihn an die freundliche Vogelscheuche aus Der Zauberer von Oz erinnert. Jetzt sah sie eher aus wie ein Halloween-Skelett.

»Es … es tut mir leid«, stammelte er. »Ich tu’s nie wieder. Versprochen.«

Sie schnaubte nur und funkelte ihn böse an. Es gab eine Zeit, da er von alldem nichts geahnt hatte. Er hatte sie für einen ganz normalen, freundlichen Menschen gehalten. Eine nette Lehrerin, die Witze erzählte, ihm nach der Stunde ein Bonbon zusteckte und sich mit ihm über Harry Potter unterhielt. Sie meinte, ihr würden die Bücher auch gut gefallen.

Jetzt sprachen sie überhaupt nicht mehr über Harry.

»Kann ich … kann ich wieder rein?«, sagte er und deutete auf das Haus gegenüber. Er konnte es durch einen Ritz in der Tür erspähen. »Ich habe Durst.«

Sie rümpfte die Nase. »Ich habe Durst«, äffte sie ihn nach. »Daran bist du selber schuld.«

Seine Wangen glühten. Wie lange war er hier schon gefangen? Als sie ihn in den Schuppen gesperrt hatte, hatte er losbrüllen wollen, aber dann hatte er befürchtet, sie würde ihm etwas noch Schlimmeres antun. »Pass bloß auf«, sagte sie immer. »Ich kann auch anders. Du solltest dankbar sein, dass ich so nett zu dir bin.« Sie hatte ihm erzählt, dass seine Eltern froh wären, dass er verschwunden war; sie würden nicht nach ihm suchen. Niemand suchte nach ihm. Niemand machte sich Sorgen um ihn.

Sie hob einen Finger. »Du hättest vorher darüber nachdenken sollen, was passiert, wenn du dich so verhältst. Aber das hast du nicht. Du hast mich enttäuscht. Nach allem, was ich für dich getan habe: ausgerechnet das. Du willst weg von mir. Du glaubst, du kannst mich an der Nase herumführen.«

»Ich … ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut.«

Er wusste, dass er nicht hätte weglaufen dürfen. Aber es hatte sich so gut angefühlt. Da draußen auf der Straße war er kein hilfloses Opfer mehr gewesen; er hatte sich in einen mutigen Helden verwandelt. In Harry Potter persönlich. Er hatte die klare, frische Luft eingesogen. Die Sommersonne hatte ihm Kraft gegeben. Als er zwei Häuser weiter an die Tür geklopft hatte, war er davon überzeugt gewesen, dass ihm die Menschen dort helfen würden.

Sie kam immer näher, fast berührten sich ihre Gesichter. Ihr Atem roch nach Kaffee, so wie bei seiner Mutter, wenn sie sich morgens über ihn beugte, um ihn für die Schule zu wecken. Er bekam furchtbares Heimweh davon, und doch wollte er diesen Geruch in sich aufnehmen – nur um sich erinnern zu können.

Als sie die Hand ausstreckte, zuckte er zusammen. Aber sie schlug ihn nicht, sondern strich ihm über die Wange. »Mein lieber Junge. Ich liebe dich. Das weißt du doch, oder?«

»Mm«, flüsterte er. Es fühlte sich widerlich an.

»Aber du warst schrecklich böse. Das muss bestraft werden.«

Die Tür schlug so heftig zu, dass der billige Plastikschuppen wackelte. »Warte!« Er hechtete nach vorn und stolperte über seine gefesselten Füße. »Nein! Bitte! Warte! Lass mich hier raus! Ich tu das nie wieder! Ich verspreche es!«

»Tut mir leid, mein Schatz.« Das Metallschloss klickte. »Aber es geht nicht anders.«

1

Seneca Frazier stand in der superkühlen, superexklusiven Lobby des Reeds Hotel in Avignon, New Jersey. Starr vor Schreck fixierte sie die Nachricht, die sie gerade eben empfangen hatte.

Versucht erst gar nicht, uns zu finden. Wir sind weg.

»Ich glaub das nicht «, flüsterte Maddox Wright. Er rieb sich über die sonnenverbrannte Nase und strich sich seine ausgewachsenen braunen Haare aus den Augen. »Meinst du wirklich, das kommt von Brett?«

Seneca malmte derart heftig mit den Kiefern, als wollte sie ihre Zähne zu Pulver zerstoßen. »Garantiert. Aber was hat das zu bedeuten?«

Seneca, Maddox, seine Stiefschwester Madison und ihre Freunde Aerin Kelly und Thomas Grove waren seit einer Woche in ein Katz-und-Maus-Spiel mit Brett Grady verwickelt. Wieder einmal. Krasserweise war Brett anfangs ihr Freund gewesen, er hatte sogar ihrem zusammengewürfelten Ermittlerteam angehört. Kennengelernt hatten sie sich auf einer Website namens Offene Fälle, die sich mit ungelösten Kriminalfällen beschäftigte. Bei ihrem ersten Fall hatten sie herausfinden wollen, was mit Aerins Schwester Helena Kelly geschehen war. Helenas sterbliche Überreste waren Jahre nach ihrem rätselhaften Verschwinden in einem Park gefunden worden. Brett hatte sich in die Ermittlungen eingebracht, sie hatten ihm vertraut. Er hatte Einblick. Er konnte zuhören. Und so mischte er mit bis zum Schluss – bis sie glaubten, sie hätten Helenas Mörderin gefunden: Marissa Ingram, deren Mann eine Affäre mit Helena gehabt hatte.

Damals hatten sie keine Ahnung, dass Brett die Ermittlungen gesteuert hatte. Dass er sie alle dahin gelockt hatte, wo er sie haben wollte. Denn er selbst hatte Helena umgebracht. Doch dann war er von der Bildfläche verschwunden, bevor Seneca die Zusammenhänge erkannt hatte. Brett hatte weitere Verbrechen begangen. Er hatte Andeutungen gemacht, die in Seneca die Überzeugung weckten, dass er auch ihre Mutter Collette ermordet haben musste. Er hatte sie alle getäuscht und sich dabei die ganze Zeit in ihrer unmittelbaren Umgebung aufgehalten. Bei dem Gedanken kochte Seneca das Blut in den Adern.

Sie wollte ihn kriegen. Sie musste ihn kriegen. Das sah sie inzwischen als ihre einzige Lebensaufgabe an. Aber Brett war ein Phantom: Er änderte sein Aussehen so leicht wie seinen Namen. Ihm auf die Schliche zu kommen, war unheimlich schwer. In der vergangenen Woche war er erneut aufgetaucht und hatte die Gruppe auf Chelsea Dawson angesetzt, die offenbar sein neuestes Opfer war. Und dann hatte er alles so aussehen lassen, als habe die Instagram-süchtige Chelsea ihre Entführung nur vorgetäuscht, um noch mehr Follower zu gewinnen. Seneca und ihre Freunde hatten dagestanden wie die Idioten, als sie der Polizei zu erklären versuchten, dass Brett alias Gabriel Wilton hinter alldem steckte. Noch dazu hatte Brett einen Autounfall inszeniert, bei dem »Gabriel« ums Leben kam. Wer auch immer dieser Gabriel Wilton wirklich gewesen war – jedenfalls nicht Brett, sondern ein Unschuldiger, der Bretts boshaftem Spiel geopfert wurde. Am Ende befand die Polizei, Chelseas Fall sei abgeschlossen, und Seneca und ihre Freunde galten als Lügner.

Jetzt war Brett wieder da und verhöhnte sie mit einer seiner seltsamen Nachrichten à la: Vergesst es, ihr Loser!Ihr habt wieder mal null Chance gegen mich! Seneca drückte die Fingernägel in die Handflächen und hätte am liebsten laut losgeschrien. Der Wunsch, Brett endlich zu kriegen, wurde mit jedem Tag dringlicher. Sie musste diesen Kerl zu fassen bekommen – das war sie ihrer Mutter, den anderen Opfern und sich selbst schuldig. Und wenn auch nur, um ihn nach dem Warum zu fragen. Warum ihre Mutter? Warum Helena? Warum überhaupt?

Sie schritt die Lobby ab und fragte sich, ob Brett wohl hier gewesen war. War er unbemerkt an ihnen vorbeigelaufen? Das Hotel hatte als ihre Zentrale fungiert, aber da Chelsea ja nun wieder aufgetaucht war, wollten Seneca und die anderen für ein paar Tage zurück nach Hause – Madison, Maddox, Thomas und Aerin nach Dexby in Connecticut und Seneca nach Annapolis in Maryland. Danach wollten sie die Suche nach Brett wieder aufnehmen. Die Hotellobby hatte einen fröhlichen Tiki-Style und steckte voller sonnenverbrannter Touristen. Ein paar Jungs im Collegealter saßen an einer Bar mit Strohdach und tranken Tequila. Draußen standen Einparker in Hawaiihemden bereit, um die Autos der Gäste zu übernehmen. Portiers schoben Gepäckwagen durch die Automatiktüren.

Seneca schaute sich noch einmal die Nachricht an und griff sich dabei gedankenverloren an den Hals. Sie hatte sich angewöhnt, mit dem Kettenanhänger ihrer Mutter zu spielen, aber vor einigen Tagen hatte Brett das »P« zerstört. Sie fühlte sich nackt, wie amputiert.

Warum hatte Brett ihr diese Nachricht geschickt? Nur um sie damit zu ärgern, dass er wieder einmal davongekommen war? Dass er von »uns« und »wir« sprach, kam ihr wie ein Hinweis vor. Wen hatte er bei sich? Seine »Schwester« Viola etwa? Vor Kurzem hatte sie nämlich herausgefunden, dass Brett jemanden Schwesterherz nannte. Den Hinweis hatte ihr Amanda Iverson gegeben – sie war die Chefin der Immobilienfirma, bei der Brett alias Gabriel eine Maklerausbildung gemacht hatte. Seneca musste diese Viola unbedingt finden. Sie hatte sich schon das Hirn zermartert, wie sie ihr auf die Spur kommen könnte. Aber warum sollte Brett seine Schwester meinen, wenn er gar nicht ahnen konnte, dass Seneca von ihr wusste? Zumindest ging sie davon aus, dass er nichts ahnte. Das passte alles nicht zusammen.

»Fertig zur Abfahrt? Madison ist jetzt auch da.« Maddox zeigte auf den glänzenden Haarschopf seiner Schwester, die eben bei den Aufzügen aufgetaucht war. Sie zog zwei riesige pinkfarbene Koffer hinter sich her. Außerdem trug sie ein grell geblümtes Minikleid und Sandaletten mit dicken Keilabsätzen aus Kork.

Seneca wollte Madison eben von Bretts rätselhafter Nachricht erzählen, doch Madison kam ihr zuvor und hielt ein iPad in einer Louis-Vuitton-Hülle in die Höhe. »Aerin hat das hier vergessen. Ist sie noch da?«

»Sie ist schon weg. Sie war mit Thomas verabredet.« Seneca sah zur großen Eingangstür. Thomas war Aerins neuer Freund, ein ehemaliger Polizist, der ihnen geholfen hatte, Chelsea und Brett zu finden. Er hatte an diesem Morgen erfahren, dass seine Großmutter im Krankenhaus lag, und wollte unbedingt zurück nach Dexby. Aerin hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten. Also hatte Thomas sie an der Hotelauffahrt abgeholt.

Seneca rief Aerin an, und das nicht nur wegen des vergessenen iPads. Sie wollte, dass alle von dieser Nachricht erfuhren – Bretts Worte wurden ihr mit jeder Sekunde unheimlicher. Vielleicht wurde ja Aerin oder auch Thomas mit seiner Polizeierfahrung daraus schlau.

Aber es meldete sich nur die Mailbox. Daraufhin versuchte es Seneca bei Thomas, der nach dem ersten Klingeln abnahm. »Thomas? Stell mal auf laut. Aerin soll mithören.«

»Oh.« Thomas klang überrascht. »Ich brauche noch fünf Minuten.«

»Halt mal! Wie bitte?« Seneca senkte verdutzt den Kopf.

»Ich habe Aerin noch gar nicht abgeholt. Ich bin im Stau stecken geblieben. Jetzt kann es aber nicht mehr lange dauern.«

»Ah.« Seneca reckte den Hals. Ihr Blick irrte über die Hoteleinfahrt, auf der Suche nach Aerins seidigen weißblonden Haaren, ihren langen gebräunten Beinen und der schwarzen Designertasche an ihrem Ellbogen. Sie war nicht da.

Seneca überfiel ein nervöses Kribbeln. Sie sah Maddox und Madison besorgt an. »Aerin ist gar nicht bei Thomas«, flüsterte sie. »Und draußen ist sie auch nicht.«

Maddox runzelte die Stirn. Madisons Blick hastete hin und her. »Vielleicht ist sie auf der Toilette?«

Seneca sah zu den Toilettentüren auf der anderen Seite der Lobby. Ihr wäre aufgefallen, wenn Aerin dort hinein- oder herausgegangen wäre. Sie nahm das Telefon wieder ans Ohr. »Thomas, können wir uns vor dem Hotel treffen? Wir finden Aerin, ganz sicher. Außerdem muss ich euch etwas zeigen.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, versuchte sie es nochmals bei Aerin. Wieder die Mailbox. Ihr wurde heiß und kalt, aber sie bemühte sich, ruhig zu atmen. Das hieß alles noch gar nichts. Es musste eine normale Erklärung geben.

Auf dem Weg nach draußen scannte sie noch einmal die Auffahrt. Immer noch keine Aerin. Sie bemerkte einen schlaksigen jungen Portier, der gelangweilt, mit halb geschlossenen Augen an der Hauswand lehnte. Auf seinem blinkenden Namensschild stand der Name Hunter. Er stand sofort stramm, als sie sich näherte.

»Haben Sie hier ein Mädchen vorbeigehen sehen?«, erkundigte sich Seneca. »Siebzehn, hübsch, blonde Haare. Müsste Ihnen aufgefallen sein.«

Madison zeigte Hunter ein Foto von Aerin auf ihrem Smartphone. Seine Lippen kräuselten sich zu einem anzüglichen Lächeln. »Oh ja. Die habe ich gesehen. Sie ist vor ein paar Minuten in ein Auto gestiegen.«

Seneca zuckte zusammen. »Was für ein Auto?«

Der Portier dachte nach. »Ich glaube, der war weiß. Vielleicht ein Sedan?«

Seneca stutzte. Thomas hatte einen weißen Ford Sedan. Aber Aerin war nicht bei Thomas. Könnte es ein Taxi gewesen sein? Aber die hatten hier alle das typische Taxigelb. »Haben Sie gesehen, in welche Richtung der Wagen gefahren ist?«

»Auf die Brücke zu, glaube ich.« Er nickte entschlossen. »Ja, bestimmt. Die haben noch jemanden geschnitten, der nach links wollte. Haben sich ganz schön durchgeschlängelt.«

Dann wandte sich Hunter einem frisch eingetroffenen SUV voller Gäste zu. Seneca ging zu Maddox und Madison zurück. In ihr schrillten sämtliche Alarmglocken. An Maddox’ Gesichtsausdruck konnte sie sehen, dass auch ihm panische, paranoide Gedanken durch den Kopf schossen. Das wunderte sie nicht. Maddox und sie hatten schon vor langer Zeit begonnen, private Nachrichten über die Offene-Fälle-Site auszutauschen, und so war eine enge Verbindung zwischen ihnen entstanden. Sie sagten sich einfach alles, wobei ihre Ideen und Vorstellungen erstaunlich oft übereinstimmten.

Seneca rief noch einmal Thomas an. Er meldete sich sofort. »Wer hat dir eigentlich Bescheid gegeben, dass deine Großmutter im Krankenhaus liegt und du nach Hause kommen musst?«

Nach einer kurzen Pause antwortete Thomas: »Der Arzt. Warum?«

»Hast du vorher schon mal mit diesem Arzt gesprochen? Kennst du seine Stimme?«

»Nein.«

»Seneca, worauf willst du hinaus?« Madison kniff die Augen zusammen.

Senecas erhobener Zeigefinger bat um etwas Geduld. »Thomas, ruf bitte den Arzt deiner Großmutter an. Frag nach, ob sie wirklich so krank ist.«

Madison wirkte verwirrt. »Glaubst du, der Arzt hat gelogen?«

Maddox fluchte leise vor sich hin. Seneca sah zu ihm hinüber und merkte allein an seinem fahlen Gesicht, dass er gerade dieselbe Theorie durchspielte wie sie. Bretts Nachricht tanzte ihr vor den Augen: Versucht erst gar nicht, uns zu finden. Wir sind weg. Stand das »uns« etwa für ihn und …?

In ihrem Kopf spulte sich ein unheimliches Szenario ab: Brett hatte sich als der Arzt der Großmutter ausgegeben und Thomas über ihren Zustand belogen. Dann war er in einem Auto, das genauso aussah wie das von Thomas, vor dem Hotel vorgefahren und hatte Aerin mitgenommen … während alle anderen ein paar Meter weiter nichts ahnend in der Hotellobby standen.

Sie hielt das Telefon dicht ans Ohr. »Ruf ihn an, Thomas. Bitte.«

»Ist gut«, antwortete Thomas. »Ich melde mich dann. Das heißt, eigentlich bin ich gleich da. Ich biege gerade Richtung Sea Breeze ab.«

Das Gespräch wurde beendet. Seneca trat von einem Bein aufs andere. »Wetten, dass der Arzt ihn niemals angerufen hat«, murmelte sie. »Wetten, dass es Brett war, mit verstellter Stimme.«

»Wie?«, meinte Madison verdutzt. »Warum das denn?«

Wortlos zeigte Seneca ihr die Nachricht auf ihrem Telefon. Madison beugte sich übers Display und sofort wich sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht. »Ist das von …?« Sie brach angewidert ab.

Seneca nickte.

»Und du glaubst, er hat Aerin?«

Allmählich fügten sich die Teile zusammen. Während der Suche nach Chelsea hatte Seneca jeden Schritt von Brett hinterfragt. Warum hatte er ausgerechnet das eitle Instagram-Sternchen entführt? Wollte er sich wirklich an allen Mädchen rächen, die ihn abwiesen, oder ging es hier um etwas anderes? Und warum hatte er ihnen Hinweise gegeben, wo sie Chelsea finden könnten? Warum hatte er Chelsea am Ende davonkommen lassen? Brett war nicht die Sorte Krimineller, die Zeugen zurückließen. Ihm war nicht daran gelegen, dass seine Opfer etwas über ihn verrieten. Und Gnade kannte er auch nicht.

»Vielleicht war Chelsea gar nicht das eigentliche Opfer«, sagte Seneca mit erstickter Stimme. »Vielleicht geht es um Aerin.«

Madison zitterte. »Wir müssen die Polizei rufen. Sofort.«

Seneca sah in die Hotellobby. Vielleicht sollten sie auch die Hotelleitung informieren. Vielleicht gab es ja eine Überwachungskamera an der Auffahrt, die aufgezeichnet hatte, wie Aerin in Bretts Auto gestiegen war. Sie konnte aber niemanden vom Personal entdecken. Sie checkte erneut ihr Handy, weil sie Thomas’ Rückruf kaum erwarten konnte. Als sie wieder aufsah, entdeckte sie den weißen Ford an der Ecke zum Sea Breeze Drive. Selbst aus der Ferne konnte sie Thomas’ ängstlichen, verwirrten Gesichtsausdruck erkennen. Er hatte also da angerufen. Seine Großmutter lag nicht im Krankenhaus. Der Arzt hatte ihn nicht gebeten, nach Hause zu kommen.

Das war Brett gewesen.

Aber irgendwas stimmte nicht mit dem Auto. Dicker schwarzer Rauch quoll aus dem Auspuffrohr und verdunkelte alles dahinter. Seneca hatte keine Ahnung von Automechanik, aber das sah nicht gut aus. Die Ampel sprang auf Grün und Thomas trat aufs Gas. Rauchwolken stiegen auf. Dann gab es ein seltsames Klacken. Und auf einmal stand der ganze Wagen in Flammen.

»Oh mein Gott!« Seneca hastete durch die großen Schiebetüren.

Draußen roch es nach verbranntem Benzin. Flammen schlugen aus dem Autodach. Die meisten Leute rannten weg, ein paar Mutige aber eilten zur Unglücksstelle hin. Seneca schlug sich die Hand vor den Mund, als sie den Bordstein erreichte. Die Fahrertür hatte sich geöffnet, Thomas war herausgerollt und lag zusammengekauert am Boden.

»Thomas!«, schrie Seneca, aber er rührte sich nicht. Die Angst durchfuhr sie wie ein Schwerthieb. Wie konnte das passieren? Wie konnte ein Auto einfach so explodieren?

Zwei Feuerwehrleute sprinteten auf Thomas’ leblosen Körper zu. »Zurück! Zurück!«, schrien sie Seneca, Maddox und Madison an – die beiden waren ihr inzwischen gefolgt. Seneca biss sich in die Faust.

Ein Polizist leitete den Verkehr bereits auf eine Nebenstraße um. Die Feuerwehr löschte den Wagen mit Schaum. Krankenwagen-Sirenen heulten. Links von Seneca murmelten die Gaffer. »Hat irgendjemand gesehen, wie das passiert ist?«, fragte eine Frau.

»Der ist einfach so in die Luft geflogen«, erzählte jemand. »Ich bin halb gestorben vor Schreck!«

»Ich hab mal gehört, diese Baureihe macht nur Probleme«, raunte ein Dritter. Seneca wurde langsam schwindelig von dem Rauch. Lag der Fehler etwa bei Thomas’ Auto? Aber Thomas war doch ein so gewissenhafter Typ, er würde bestimmt keine wichtige Inspektion vergessen und einfach weiterfahren, bis sein Wagen explodierte. Sie packte blankes Entsetzen. Sie fasste Maddox am Arm: »Ich glaube nicht, dass das ein Unfall war.«

Maddox und Madison nickten stumm. Da waren es nur noch drei, dachte Seneca entsetzt. Natürlich hatte es Brett auf Thomas abgesehen, denn der hatte als Ex-Polizist mehr Möglichkeiten, ihm auf die Schliche zu kommen. Außerdem war Thomas mit Aerin zusammen. Seneca hatte nicht vergessen, wie Brett Aerin damals in Dexby angehimmelt hatte. Er mochte sie. Wahrscheinlich sogar sehr.

Also wollte er Thomas aus dem Weg schaffen, um Aerin für sich allein zu haben. Und er wollte, dass die beiden niemals gefunden würden.

»Jetzt ist es ganz sicher ein Fall für die Polizei.« Madison entdeckte einen weiteren Polizisten, breitschultrig und mit Silberblick, der den Verkehr lenken sollte. Sie machte zwei wackelige Schritte auf ihn zu, aber dann surrte Senecas Telefon. Als Seneca auf die Nummer sah, stockte ihr der Atem. Unfassbar. Es war dieselbe Nummer wie der Absender der Nachricht. Er rief an.

»Halt mal, Madison.« Sie packte ihre Freundin am Arm. »Bleib hier.«

Madison sah sie verdutzt an. Maddox wollte protestieren, aber dann zeigte Seneca ihnen das Display. »Genau diese Nummer hat mir die Nachricht geschickt.«

Madison blinzelte. Maddox’ Lippen öffneten sich einen Spalt. Das Telefon surrte weiter.

»Nimm ab«, drängte Maddox endlich.

Ihr Herz klopfte wie wild, als sie das grüne Symbol antippte und den Anruf laut stellte. »Lange nichts voneinander gehört, liebe Freunde«, säuselte eine wohlbekannte, schauerliche Stimme in den Lärm der Sirenen.

Brett.

2

Brett Grady – ein Name, an den er sich inzwischen gewöhnt hatte – hielt das Lenkrad mit beiden Händen, ganz vorbildlich auf zehn vor zwei. Das Handy hatte er zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Als er sich vor Jahren das Fahren beigebracht hatte, war ihm genau dieser Spruch in den Sinn gekommen: »zehn vor zwei«, ohne dass er zu sagen wusste, wer ihm die korrekte Lenkradhaltung beigebracht hätte. Sein Vater vielleicht, auf der Gokart-Bahn? Oder hatte er das aus dem Fernsehen? Er war jedenfalls stolz darauf, die Verkehrsregeln stets hypergenau zu befolgen. Nie fuhr er zu schnell, nie wechselte er unüberlegt die Spur, immer blieb er unterm Radar der Polizei. Er war heute schon an drei Streifenwagen vorbeigekommen, aber keiner hatte ihn angehalten. Warum auch? Er benahm sich vorbildlich. Jeder, der Aerins schlaffen Körper auf dem Rücksitz liegen sah, würde glauben, dass sie seine Freundin war und sich ausruhte.

Die Vorstellung amüsierte ihn, also beschloss er, ihr noch ein paar Augenblicke nachzuhängen, bis Seneca Frazier endlich durchblickte. Ja, wenn ihn die Polizei anhielt, würde man die beiden für ein Paar auf einer langen Autofahrt halten. Sie ist mein größter Schatz, würde Brett dem Polizisten sagen und mit einem süßen Lächeln auf die bewusstlose Gestalt hinter sich deuten. Wir wissen immer, was der andere sagen will. Im Restaurant bestellen wir füreinander. Wir haben uns ein bisschen gezofft, über die Musik im Radio. Aber nur aus Spaß, und jetzt ist sie erschöpft. Und es war tatsächlich so, dass er alles über Aerin wusste. Zum Beispiel konnte sie »Call Me Maybe« nicht hören, weil sie das an ihre ermordete Schwester erinnerte. Und wenn sie anhalten würden, um Pizza zu essen, würde sie eine Margherita mit wenig Käse wollen.

Er müsste also nicht einmal so tun, als ob.

»Bist du noch dran?«, fragte er Seneca. Er hörte nämlich nichts. Aber das überraschte ihn nicht. Es verschlug Seneca wohl die Sprache, dass er sie einfach anrief.

Es knisterte, dann war Seneca wieder am Apparat. »Ja-a. Wo … wo bist du? Geht es Aerin gut? Thomas’ Auto ist explodiert. Das warst du, oder?«

»So viele Fragen auf einmal.« Brett sah Seneca förmlich vor sich, mit ihren Locken und dem entschlossenen Blick. Sie bildete sich wohl ein, sie könnte ihn in eine Falle locken, ihn aufs Glatteis führen. Lächerlich! Sie kannten sich inzwischen so gut – sie sollte eigentlich wissen, dass er nie einen Fehler machte.

Er wusste schon von Thomas’ Autounfall. Mit einer App auf seinem Handy konnte er den Polizeifunk verfolgen und hatte die Meldung gehört. Offenbar hatte Thomas überlebt und war in ein Krankenhaus gebracht worden. Das war nicht das, was er erhofft hatte, aber vielleicht würde es die anderen trotzdem abschrecken. Er rümpfte die Nase, als er an den muskulösen, hirnlosen Eindringling dachte, der Aerin anlächelte, der sie berührte und küsste … und dessen Zärtlichkeiten Aerin auch noch erwiderte. Außerdem war Brett die Nummer fünf in ihrem kleinen Detektivteam. Thomas Grove war als Ermittler überhaupt nicht zu gebrauchen.

»Aerin geht es super«, meinte er gut gelaunt und warf einen Blick auf die Rückbank.

Sie war zusammengesunken, mit unnatürlich abgeknicktem Kopf, und im Mundwinkel klebte Speichel. Der Rock war schön weit nach oben gerutscht. »Wir haben viel Spaß zusammen.«

»Dann gib sie uns mal«, verlangte eine andere Stimme.

Brett grinste. Das war Maddox. Er sah den Typen förmlich vor sich, wie er neben Seneca stand, ganz der muskelzuckende Sportler, auf eine unauffällige Art gut aussehend. Der harsche Ton verletzte ihn ein wenig – schließlich war Maddox mal sein Kumpel gewesen, mit dem er Resident Evil 7 spielen und extrem gut chillen konnte. Er dachte mit einer Mischung aus Zuneigung und Bedauern, wie Maddox über seine Witze gelacht hatte. »Aerin ist im Moment etwas unpässlich«, erklärte er. »Aber es geht ihr gut. Pfadfinderehrenwort.«

»Wohin bringst du sie?«, wollte Seneca wissen.

»Das ist mein Geheimnis.« Er wechselte sachte auf die Überholspur und bemerkte einen weiteren Polizeiwagen, der hinter einer Überführung lauerte. Nur ein smarter Typ auf einem Ausflug. Ein Pärchen, das mal rausfährt. Dum-di-dum. »Aber wenn ihr mir helft, helfe ich euch.«

»Warum sollten wir irgendetwas für dich tun?«, meldete sich eine dritte Stimme. Das war Madison, die süße, lustige Schwester von Maddox. Interessant. Dann waren sie also alle beisammen. Bis auf den einen, den er loswerden musste.

»Weil wir alte Freunde sind«, säuselte er. »Stimmt das nicht?«

Schweigen. Brett hielt das Lenkrad gepackt, dann löste er den Griff etwas. Er hatte das halb im Spaß und halb im Ernst gemeint. Er vermisste seine Leute. Es tat ihm weh, dass sie alle zusammen waren und als Team ermittelten, von dem er ausgeschlossen war.

»Schau mal bei OF rein, Seneca«, sagte er. »Ich habe euch einen Fall geschickt, der mich beschäftigt. Ich bin aber nicht weit gekommen. Jetzt seid ihr dran.«

Er dachte an den Link, den er ihr vor ein paar Minuten bei einem Tankstopp geschickt hatte. Neunjähriger aus Catskill vermisst. Das war erst zwei Monate her, trotzdem gab es zu dem Jungen schon einen Thread auf Offene Fälle. Es war abscheulich, wie antriebslos und faul die Polizei war. Wenn es mal ein bisschen schwieriger wurde, gaben sie gleich auf. Schalteten die denn nie ihren Kopf ein? Zählte denn Gerechtigkeit gar nichts mehr?

Sein Telefon brummte. Brett warf einen Blick aufs Display und zuckte zusammen. Er fuhr rechts ran – mit dem Telefon am Steuer würde er nicht erwischt werden! Die von ihm hochgeladene Software meldete blinkend eine Nachricht. Benutzer ist bereit zum Verbinden. Jetzt verbinden?

Brett klickte »Ja« an und eine Karte von Avignon, New Jersey öffnete sich. Er hatte das Programm aus dem Darknet hochgeladen und auf Senecas Handy übertragen, als er in ihre Pension in Avignon eingebrochen war. Da Senecas und sein Smartphone nun länger als drei Minuten verbunden gewesen waren, hatte sich die Software aktiviert. Sie berechnete Senecas GPS-Koordinaten und ließ ihn jeden ihrer Schritte verfolgen. Das war Bretts doppelter Boden: Er wollte sichergehen, dass seine Marionetten auch immer genau das taten, was er wollte.

»Ich kapier das nicht«, sagte Seneca, nachdem sie den Offene-Fälle-Eintrag offenbar zu Ende gelesen hatte. Es ging darin um den neunjährigen Damien Dover, einen zurückhaltenden, musikalischen Jungen, der vor zwei Monaten aus seiner Heimatstadt in New York verschwunden war. »Hast du dieses Kind etwa auch entführt?«

Brett verzog missmutig das Gesicht und fuhr wieder auf die Straße. »Du weißt, dass ich so etwas nie tun würde.«

»Warum willst du, dass wir der Sache nachgehen? Das ist doch Zeitverschwendung.«

»Da wird ein Kind vermisst, Seneca. So was ist schrecklich. Willst du nicht helfen?«

»Warum machst du das nicht?«, erwiderte Seneca. »Du bist doch der Experte.«

»Danke fürs Kompliment«, meinte Brett lächelnd. »Wie gesagt, ich habe mir das angeschaut. Aber dann hatte ich was anderes zu tun. Und jetzt gebe ich den Fall an euch weiter.«

»Woher sollen wir wissen, dass der Junge noch lebt?«, fragte Maddox.

Brett fuhr an einem Schild für einen Hofverkauf vorbei, auf dem eine grinsende Aubergine zu sehen war. »Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe es. Ihr werdet ihn für mich finden.«

»Nein. Werden wir nicht.« Seneca klang wütend.

»So lautet der Deal. Ihr löst diesen Fall und dafür bekommt ihr Aerin zurück. Aber keine Polizei. Wenn ich rauskriege, dass ihr die Polizei einschaltet, seht ihr Aerin nie wieder. Und ich verlange ein tägliches Update. Wenn ich nichts von euch höre oder den Eindruck habe, dass ihr euch nicht genug bemüht …« Er brach ab. Sollten sie sich die Konsequenzen selber ausmalen.

»Wer sagt uns denn, dass du Aerin noch nichts getan hast?«, warf Madison ein.

»Genau«, pflichtete Seneca ihr bei. »Wir wollen mit Aerin sprechen. Wir wollen wissen, ob es ihr gut geht.«

Brett wurde rot bis an die Haarwurzeln. He, Leute, ich bin’s doch. Euer alter Kumpel. Ich habe dich aus einem brennenden Haus gerettet, Seneca! Glaubst du, ich könnte meinem Schatz etwas antun?

Natürlich war es vollkommen abwegig, dass sie so dachten. Schließlich hatte er eben Thomas’ Auto in die Luft gejagt. Trotzdem hatte er gehofft, sie würden ihn besser kennen und ihn nicht behandeln wie einen unzurechnungsfähigen Irren aus der Verbrecherkartei.

Er sah zu Aerin, auf ihren reglosen, schlafenden Körper. Sie wirkte ganz friedlich, die Angst war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie war böse gewesen, sie hatte ihn furchtbar geärgert und enttäuscht – genau wie viele andere Frauen, die er kennengelernt hatte. Aber er liebte sie und die Liebe wog stärker als der Hass.

»Ich habe sie gerade genau im Blick«, sprach er ins Telefon. »Es geht ihr gut.«

»Beweise es«, forderte Seneca. »Schick uns ein Foto.«

»Keine Chance. Ihr müsst mir schon vertrauen. Macht euch auf die Suche. Die Zeit läuft.«

»Was soll das heißen?«, hakte Seneca nach. »Gibst du uns ein Zeitlimit?«

»Mal sehen. Heute ist Freitag.« Ein Sattelzug rauschte an ihm vorbei. »Ich gebe euch drei Tage, um diese Sache zu knacken. Also bis Montag.«

»Drei Tage?« Seneca klang entsetzt. »Du willst, dass wir einen ungelösten Fall in drei Tagen klären?«

»Hey, ihr seid doch Experten. Ich glaube an euch. Und jetzt hopp! Kommt in die Gänge!«

Er beendete das Gespräch und warf das Telefon auf den Beifahrersitz. Aerin seufzte. Er sah über den Rückspiegel nach hinten. Sie schlief immer noch. Sie ahnte nichts. Er versuchte sich vorzustellen, was sie sagen würde, wenn sie aufwachte. Wahrscheinlich nicht: Oh, wie schön. Wir machen einen Ausflug, nur wir beide! Sondern eher: Seneca wird mich finden. Und dann wirst du das hier bitter bereuen.

Und was würde Brett darauf erwidern? Seine Freundlichkeit wäre mit einem Mal dahin. Er würde wieder das Mädchen in ihr sehen, das sich für einen anderen entschieden hatte. Tut mir leid, aber da liegst du falsch, würde er ihr sagen. Seneca und die anderen suchen nicht einmal nach dir. Ich habe sie mit einem anderen Fall beauftragt.

3

»Unfassbar.« Maddox Wright sah zu, wie Seneca dieses Wort endlos wiederholte und dabei einen riesigen Blumenstrauß umrundete. »Unfassbar. Einfach unfassbar.«

Sie standen in einem Blumenladen im Krankenhaus von Avignon – ein helles sandfarbenes Gebäude mit lauter Plakaten von lächelnden gesunden Menschen und mit einem Klavierspieler, der in der Eingangshalle leichte Klassik herunterklimperte. Thomas war mit dem Krankenwagen hergebracht worden. Als sie am Empfang nach ihm gefragt hatten, hieß es, er werde noch behandelt und sie könnten ihn nicht sehen. Da das Wartezimmer vollkommen überfüllt war, hatten sie sich in diesen kühlen Raum voller Blumen zurückgezogen, in dem es roch wie in einer Bestattungshalle. Sie blickten einander hilflos an und versuchten zu verarbeiten, was da eben geschehen war.

In Maddox’ Kopf spulte sich die Explosion von Thomas’ Auto ab wie in einer Endlosschleife. Er sah, wie das Auto sich näherte, wie immer mehr Rauch aus dem Auspuff quoll und am Ende Flammen emporschlugen.

Die Unterhaltung mit Brett saß Maddox immer noch in den Knochen. Das Ganze war so persönlich geworden. Aber persönlich war die Sache ohnehin, denn die Kellys waren Bekannte seiner Eltern. Es entsetzte ihn, dass ein und dasselbe Monster Aerins Schwester und Senecas Mutter ermordet hatte und sie alle auch noch dazu gebracht hatte, sich mit ihm anzufreunden.

Und jetzt hatte Brett also Aerin. Sie war Maddox ans Herz gewachsen, seit sie sich in diesem Jahr erneut begegnet waren. Er versuchte sich vorzustellen, was sie wohl gerade durchmachte, empfand aber nur panische, lähmende Leere. Es tat zu sehr weh, darüber nachzudenken. Außerdem fühlte er sich schuldig. Vielleicht hätte er etwas tun können, um das zu verhindern. Warum hatte niemand draußen bei ihr gestanden, um dafür zu sorgen, dass ihr nichts passierte? Eine Sekunde hatten sie nicht aufgepasst und schon war die Katastrophe eingetreten. Ab jetzt würde er Madison und Seneca niemals aus den Augen lassen.

In einem Brief, den Brett der Gruppe vor ein paar Tagen geschickt hatte, schrieb er, er habe sich mit Aerins Schwester in New York auf einen Drink verabredet. Vielleicht hatte sie seine Annäherungsversuche abgeblockt, und ihre Ablehnung hatte ihn dazu gebracht, sie zu töten. Hatte er deshalb auch Aerin entführt? Es war offensichtlich, dass er sich heillos in sie verknallt hatte, so wie er sich in Dexby benommen hatte. Aber da hatte Maddox ihn noch für einen ganz harmlosen Typen gehalten. Ja, er hatte Brett sogar bemitleidet für sein mangelndes Glück bei Frauen! Und jetzt hatte Brett sie offenbar während der vergangenen Woche durch Avignon verfolgt und Aerin zusammen mit Thomas gesehen. Und dann war wohl dieselbe irre Alarmglocke losgegangen wie bei der Sache mit Helena. Vielleicht bestrafte er Aerin dafür, dass sie ihn nicht wollte.

Würde er sie töten?

In dem Blumenladen war es so kalt, dass Maddox auf der Stelle joggte, um seinen Kreislauf in Bewegung zu bringen. Kaum zu glauben, dass er noch vor ein paar Stunden gedacht hatte, dass dieser Irrsinn vorbei wäre … oder zumindest eine Weile aussetzte. Ein paar Minuten hatte er angenommen, dass er nach Dexby zurückkehren würde, um sich auf sein erstes Jahr an der University of Oregon vorzubereiten. Er sollte dort als Läufer an den Ausscheidungswettkämpfen für die Olympischen Spiele teilnehmen. Im Kopf war er schon alles durchgegangen: Er wollte sich bei Abercrombie neue »College«-Boxershorts besorgen und ein Fahrtspiel-Training rund um Dexby absolvieren. Er hatte halb damit gerechnet, dass sie nach Avignon zurückkommen würden, um die Suche wieder aufzunehmen. Aber Brett hatte alles bis ins kleinste Detail geplant, er hatte die Fäden in der Hand – wie sollten sie ihn je aufspüren?

Er war ein solcher Idiot. Solange Brett da draußen herumlief, würde es nie vorbei sein. Jetzt, da Aerin verschwunden war, musste er natürlich hierbleiben. Alle drei hatten sie die Heimreise verschoben, nach dem Telefongespräch mit Brett. Seneca hatte Knall auf Fall ihren Helikopter-Dad angerufen und ins Handy geschnaubt: »Ich bin neunzehn, ich kann tun und lassen, was ich will. Ich komme noch nicht nach Hause. Ich melde mich bald.« Ende.

»Und, was herausgefunden?«, fragte Seneca und deutete auf Aerins iPad, das Madison tippend und wischend bearbeitete.

»Ich bin immer noch nicht drin«, murmelte Madison zwischen zwei zittrigen Atemzügen. Sie lehnte an einer Kiste mit gekühlten Rosen. Die Dame an der Theke glotzte sie ausdruckslos an, als wäre es ganz normal, dass verängstigte Menschen ohne Kaufabsicht ihren Laden in Beschlag nahmen.

Seneca, Maddox und Madison hatten hin und her überlegt, wie sie an einen Hinweis gelangen könnten, wohin die beiden wohl gefahren waren. Aerin einfach anzurufen oder ihr eine Nachricht zu schicken, war ausgeschlossen – sicher hatte Brett ihr Telefon inzwischen an sich genommen. Aber vielleicht hatte Aerin in den ersten Sekunden nach dem Einsteigen einen Notruf abgegeben?

Aerin hatte ein iPhone, also waren ihre Nachrichten und Fotos wahrscheinlich an das vergessene iPad gekoppelt, das nun auf Madisons Schoß lag. Als Madison endlich Aerins Passwort einfiel – sie hatte ein oder zwei Mal Aerins Handy benutzt, und Aerin hatte ihr den Code verraten –, fand sie aber keine Fotos, die innerhalb der vergangenen Stunde aus der Cloud geladen worden wären. Und Aerin hatte nicht autorisiert, dass ihre Nachrichten auf dem iPad erschienen. Nur wenn Madison auch noch ihr iTunes-Passwort herausbekäme, würden die Nachrichten auf das Gerät geladen.

»Ich versuche es mal bei dieser Viola. Die angebliche Schwester von Brett.« Seneca tippte etwas in ihr Handy. »Vielleicht hat sie eine Ahnung, wohin Brett verschwunden sein kann.« Maddox sah zu, wie sie eine Mail verfasste, mit der Adresse, die ihnen die Maklerin gegeben hatte. »Wenn wir nur eine Telefonnummer von ihr hätten.« Sie gab Violas Mailadresse in die Google-Suche ein, was aber keine Ergebnisse lieferte.

»Vielleicht könnten wir uns in Avignon erkundigen, ob jemand diesen Typen namens Gabriel kannte«, schlug Maddox vor. »Könnte ja sein, dass er irgendwo noch ein Strandhaus hat.«

»Aber die Leute glauben doch, dass Gabriel bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.« Madison sah nicht von ihrem Telefon auf.

»Das ist ja wohl eine Lüge.« Seneca schob das Handy zurück in ihre Tasche, nachdem sie die Nachricht an Viola abgeschickt hatte. »Es sei denn, Brett hat uns aus dem Grab kontaktiert.«

Sie seufzte, und Maddox merkte, wie sich ihr Gesicht vor Schmerz verzerrte. Wie musste es sich anfühlen, Bretts Stimme zu hören? Er war der Mörder ihrer Mutter! Er konnte es sich nicht im Ansatz vorstellen. Er öffnete den Mund, wollte irgendetwas sagen, um sie zu trösten. Aber er fand keine Worte.

Da juchzte Madison auf. »Ich hab’s. Aerins Passwort heißt CapnCrunch.«

»Wie bist du denn darauf gekommen?«, fragte Seneca.

»Sie hat dasselbe Passwort für diesen Secondhand-Fashion-Store verwendet, den wir vor ein paar Tagen entdeckt haben.« Das iPad klingelte: Aerins Nachrichten waren angekommen.

»Und?«, erkundigte sich Seneca ungeduldig. »Ist was dabei?«

Madison blies die Backen auf, dann ließ sie die Luft ausströmen. »Nein. Nicht mal ein Entwurf.«

»Mist.« Maddox fasste nach seinem Fuß und dehnte erst den linken und dann den rechten Oberschenkel. Er tat gut, sich ein bisschen zu bewegen, deshalb beugte er sich gleich noch vornüber, um seine Zehen zu berühren. Seine Rückenmuskeln entspannten sich.

»Was machst du da?« Seneca starrte ihn entgeistert an.

»Ich war seit Tagen nicht laufen«, entschuldigte sich Maddox, immer noch in Dehnhaltung. »Ich kriege langsam einen Koller.«

»Aber hier, vor fünfundvierzig Minuten hat sie ihrer Mutter geschrieben«, unterbrach Madison. Sie stand inzwischen in einer Ecke des Ladens, an dem lauter Luftballons mit Besserungswünschen an der Decke hingen. »Wir haben vor etwa einer Stunde bemerkt, dass sie verschwunden ist, richtig?«

Maddox richtete sich verstört auf. Kaum zu glauben, dass in sechzig Minuten so viel geschehen konnte.

Madison tippte auf das Display. »Hier steht: Ich auch, bis bald. Und ihre Mutter antwortet: Viel Spaß in LA!« Madison runzelte die Stirn. »Wollte Aerin nicht zurück nach Dexby?«

Seneca wirkte ähnlich verwirrt. »Ja, das ergibt keinen Sinn.«

»Aerin erwidert ihrer Mutter darauf nichts mehr«, fuhr Madison fort. Sie scrollte durch die vorangegangenen Nachrichten. »Und LA haben die beiden vorher nie erwähnt.« Sie spielte mit ihrem Armband. »Hat Aerin eine Reise geplant, von der wir nichts wussten?«

Seneca schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Aerin nach LA wollte. Vielleicht hat Brett Aerins Mail-Account gehackt und von einem Trip nach LA erzählt. Er war es, der Aerins Mutter darauf gebracht hat.«

Madison riss die Augen auf. »Er wollte nicht, dass Aerins Mutter ausflippt und sich Sorgen macht, wo sie steckt, und deshalb hat er diese Geschichte erfunden. Dann war ihre Entführung also geplant?«

»Auf jeden Fall.« Seneca tippte geistesabwesend an einen Micky-Maus-Luftballon, dann atmete sie hörbar aus. »Könnte es nicht sein, dass uns Brett deshalb bis Mittwoch Zeit gegeben hat? Er hat ihrer Mutter über Aerins Account geschrieben, dass sie dann wieder zurück sein wird.«

»Wenn wir den Fall bis Mittwoch lösen, bekommen wir Aerin zurück, und alles ist gut.« Madison versuchte, die Dinge im Reden zu ordnen. »Aber wenn sie nicht wieder auftaucht, wird ihre Mutter sich Sorgen machen und die Polizei informieren. Bis dahin sind Brett und Aerin aber schon über alle Berge, und wir müssen gestehen, dass wir die ganze Zeit wussten, dass Aerin verschwunden war, und nichts unternommen haben …«

Maddox blickte niedergeschlagen in die Eingangshalle des Krankenhauses. Ein Elternpaar mit ihrem neugeborenen Kind war auf dem Weg nach draußen. Der Pianist spielte jetzt die Star Wars-Melodie. Ärzte in OP-Kleidung liefen mit Kaffeebechern vorbei. Das Leben ging einfach weiter, während Aerin irgendwo gefangen war. Das Leben war unberechenbar und grausam.

Diese Sache stieg ihm über den Kopf. Brett war irre. Das letzte Mal hatten sie die Polizei auch nicht sofort informiert, und dann hatte Brett alles so gedreht, wie es ihm passte, und war am Ende entkommen. Wenn sie nur einfach die Profis einschalten könnten! Schließlich hatten sie einen Beweis: das Überwachungsfoto aus dem Hotel. Die Forensiker der Polizei verfügten über ausgefeilte Techniken, die weit über ihre kümmerlichen Mittel hinausgingen. Und Thomas konnte ihnen auch nicht mehr helfen. Die Polizei würde vielleicht Fingerabdrücke oder DNA-Spuren finden. Außerdem könnten sie den Autounfall von »Gabriel« noch einmal untersuchen. Maddox mochte die Detektivarbeit – sie verschaffte ihm immer wieder Adrenalinkicks, und er war immer begeistert, wenn sich die Puzzleteile zusammenfügten. Aber das hier war gefährlich, es war sogar gesetzwidrig. Immerhin waren sie minderjährig. Dieser Fall überstieg ihre Möglichkeiten.

Es gab noch einen Grund, warum Maddox die Polizei einschalten wollte. Und dieser Grund stand zitternd zwischen lauter Blumensträußen, in einem luftigen Kleid und ausgelatschten Vans, mit diesem supersüßen, supernachdenklichen Gesicht. Seneca Frazier war das Mädchen seiner Träume. Und zwar buchstäblich: Sobald er einschlief, schwebte Seneca herbei. Ein Traum war heißer als der andere. Er hatte den Eindruck, das sie ihn in- und auswendig kannte. Er war Teil ihres kleinen Ermittlerteams, aber darüber hinaus wusste sie auch von seinen verschrobenen und schüchternen Seiten. In der Schule kannten ihn alle nur als fanatischen Sportler. Mit allem anderen hielt er sorgsam hinterm Berg. Und er wiederum kannte Seneca sehr gut. Er wollte sie unbedingt noch besser kennenlernen.

Vor gut einer Stunde hatte er endlich den Mut aufgebracht, sie zu küssen. Es war der Hammer, absolut unglaublich, aber es reichte ihm nicht. Ein Kuss von mickrigen elf Sekunden (ja, er hatte im Geiste die Zeit gestoppt …), das war ungefähr so, wie wenn er nach einem ewig langen Lauf ein kleines Tütchen Energy Gel schluckte. Jetzt war es also passiert, und deshalb scheute er davor zurück, sich wieder in Gefahr zu begeben. Wenn Brett Aerin entführte und Thomas beinahe tötete, dann könnte einer von ihnen das nächste Opfer sein. Und wenn er Seneca etwas antat? Oder seiner Schwester? Oder ihm? Nein, da wollte er lieber die Cops rufen, sich irgendwo verstecken und den ganzen Irrsinn anderen überlassen.

Aber das ging natürlich nicht. Sie hatten keine Wahl. Wieder einmal mussten sie es selbst in die Hand nehmen.

»Dann kümmern wir uns jetzt um den anderen Fall? Den Jungen, diesen Damien?«

Seneca kniff sich ins Nasenbein. »Dieser Junge tut mir unendlich leid. Wirklich. Aber ich glaube nicht, dass wir dafür Zeit haben.«

Maddox geriet in Panik. »Aber müssen wir uns nicht darum kümmern?«

»Genau das will Brett doch. Wir sollen herumrennen wie die aufgescheuchten Hühner, während er etwas Schreckliches ausheckt, von dem wir nichts ahnen.« Seneca sah von Maddox zu Madison. »Denkt mal drüber nach. Aerins Entführung war sorgfältig geplant, so viel steht fest. Und wann hat Brett das alles vorbereitet? Wie hat er es geschafft, dass wir nichts gemerkt haben? Das ist alles geschehen, während wir auf der Suche nach Chelsea waren. Wir waren ganz auf diesen Fall konzentriert, und Brett hat sich währenddessen einen Ort gesucht, an den er Aerin bringen will, und er hat sich ein Auto besorgt, das genauso aussieht wie das von Thomas. Er hat sich eine Inszenierung für seinen eigenen Tod ausgedacht und Aerin die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Wenn wir uns jetzt mit diesem Damien beschäftigen, tappen wir noch mal in dieselbe Falle. Wer weiß, was Brett als Nächstes vorhat.«

Maddox trat von einem Bein aufs andere. Er wurde den Gedanken nicht los, dass Brett sich einen nach dem anderen aus ihrer Runde vornehmen würde. Vielleicht hatte Seneca recht. Aber es schien ihm gefährlich, Bretts Anweisungen einfach so zu ignorieren. »Er hat gesagt, wenn wir Damien nicht finden, wird er Aerin etwas antun. Können wir nicht nach dem Jungen und nach Aerin suchen?«

Seneca verzog das Gesicht. »Ich halte nichts davon, unsere Kräfte aufzuteilen.«

»Aber Brett hat uns doch eine Möglichkeit geboten, Aerin zurückzubekommen. Sollten wir nicht wenigstens versuchen, den Jungen ausfindig zu machen?«

Seneca schnaubte. »Seit wann hält Brett ein Versprechen?«

Maddox schaute in sein Handy. Auf dem Display hatte er den OF-Thread zu dem verschwundenen Jungen. Damien Dover, ein stiller, introvertierter Neunjähriger und Harry-Potter-Fan, war an einem Donnerstagnachmittag vor zwei Monaten nicht von der Schule nach Hause gekommen. Im Laufe der Befragungen hatten Bewohner der Stadt ausgesagt, dass auch Damiens Klavierlehrerin, eine Miss Sadie Sage, verschwunden sei. Die Polizei hatte Bilder von einer Überwachungskamera am Busbahnhof, auf denen Sadie und Damien in der Nacht nach seinem Verschwinden zu sehen waren. Die beiden waren also zusammen … und wer weiß wohin unterwegs.

Es wurde eine Vermisstenmeldung herausgegeben, auf die aber keinerlei Hinweise eintrafen. Nach nur einem Monat hielten die Ermittler eine Pressekonferenz ab und erklärten, sie kämen in dem Fall nicht weiter. »Seltsam«, kommentierte Maddox laut. Warum gab die Polizei so früh auf?