The Best Kind of Chaos - Kim Leopold - E-Book

The Best Kind of Chaos E-Book

Kim Leopold

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Beschreibung

Zwei Herzen, ein Deal und das beste Chaos, das ein Leben bieten kann … Sofia jongliert als leidenschaftliche Hochzeitstortenbäckerin und alleinerziehende Mutter täglich zwischen Auftragsarbeiten und ihrem Sohn Alessio. Für die Liebe bleibt da kein Platz – und so schwärmt sie nur aus der Ferne für den charmanten Florin, den Manager ihrer Freundin Gabriella. Doch als nicht nur ein Küchenbrand, sondern auch ein Tortendesaster ihre Existenz bedrohen, ist es ausgerechnet Florin, der sie dabei unterstützt, ihren Traum zu retten.  Zum Dank begleitet Sofia ihn als Fake Date zur Verlobungsfeier seiner Schwester – ein harmloser Deal, der ungeahnte Gefühle weckt. Mit jedem Tag wächst zwischen ihnen eine Anziehung, der sie sich kaum entziehen können – aber sie beide wissen, dass ihre Vorstellungen vom Leben weit auseinander gehen. Denn während Sofia nur einen Partner gebrauchen kann, der Verantwortung übernimmt, scheut Florin vor Abhängigkeit zurück. Doch was, wenn die Gefühle stärker werden als die Vernunft?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2025

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Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Playlist

Widmung

Katastrophen

1

Sofia

2

Florin

3

Florin

4

Sofia

5

Sofia

6

Sofia

7

Florin

Geheimnisse

8

Sofia

9

Florin

10

Sofia

11

Florin

12

Sofia

Maskenball

13

Florin

14

Sofia

15

Sofia

16

Florin

17

Sofia

Kartentricks

18

Florin

19

Sofia

20

Florin

21

Sofia

22

Sofia

23

Florin

24

Sofia

Schwerelos

25

Sofia

26

Florin

27

Sofia

28

Florin

29

Florin

30

Sofia

31

Sofia

32

Florin

Schokolinsen

33

Sofia

34

Sofia

35

Florin

36

Sofia

37

Florin

38

Sofia

Badewannen

39

Florin

40

Sofia

41

Florin

42

Sofia

43

Florin

44

Florin

45

Sofia

46

Florin

47

Sofia

Zuhause

48

Sofia

49

Florin

50

Florin

51

Sofia

Epilog

Florin

Vancouver, vierzehn Monate später

Rom, 24 Stunden später

Nachwort

Content-Warnung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Playlist

Taylor Swift – I Think He Knows

Ziv Zaifman, Hugh Jackman, Michelle Williams – A Million Dreams

Rachel Platten – Bad Thoughts

Chance Peña – The Mountain Is You

John Legend, David Guetta – Conversations in the Dark

Tori Kelly – All I Want

Vitamin String Quartet – In My Blood

Duomo – Wildest Dreams

Midnite String Quartet – Wrecking Ball

Good Neighbours – Home

Chance Peña – Bleeding Out

Gavn! – Love Me Til You Leave Me

Taylor Swift – Lover

Zac Efron, Zendaya – Rewrite The Stars

Shaya Zamora – Sinner

Chase Atlantic – Swim

Shaya Zamora – Never Knew

The Weeknd – Earned It

Arctic Monkeys – I Wanna Be Yours

Dermot Kennedy – Without Fear

Glass Animals – A Tear in Space (Airlock)

Labrinth – The Feels

Taylor Swift – Paper Rings

Widmung

Den Frauen gewidmet, die von einer Familie geträumt haben, aber bitter enttäuscht wurden. Denen, die sich in ihrem Alltag gefangen fühlen. Denen, die in einer Beziehung stecken, aber trotzdem allein kämpfen.

Du bist schön und stark und verdammt noch mal eine Heldin.

Außerdem:

Für Vera.

Weil die wöchentlichen Schreibdates mit dir zu den Highlights meiner Woche gehören und ich immer noch nicht fassen kann, wie viele Zufälle uns zueinander geführt haben.

Katastrophen

1

Sofia

Ich war seit sieben Jahren selbstständig und machte trotzdem immer wieder die gleichen Fehler. Diesen Auftrag zum Beispiel hätte ich ablehnen sollen, als beim Erstgespräch mit der Kundin meine Alarmglocken losschrillten wie eine verdammte Sirene. Doch Geldsorgen besiegten die Angst vor einer schlechten Google-Bewertung – wie immer.

Inzwischen ärgerte ich mich darüber, dass ich mein Bauchgefühl mal wieder ignoriert hatte. Signora Gentile hatte mich in den vergangenen Wochen geschlagene fünf Mal angerufen, um ein paar letzte »kleine« Änderungen an der Hochzeitstorte vorzunehmen.

»Mein Cousin Paolo mag keine Himbeeren. Könnten wir die Creme der oberen Etage vielleicht zu Haselnuss ändern?«

»Meine Schwiegermutter findet eine Torte nur mit Biskuitboden zu einfach. Könnten wir vielleicht die untere Etage mit einem anderen Boden machen? Welchen? Das weiß ich doch nicht. Sie sind doch die Konditorin.«

»Statt der Marzipandecke würden wir doch lieber einen Naked Cake nehmen. Ginge das noch?«

»Können wir die obere Etage doch zu Himbeercreme zurück ändern? Meine Nonna hat eine Nussallergie.«

Änderungswünsche waren normalerweise kein Problem – sie kamen sogar recht häufig vor, weswegen ich immer erst in der Woche der Hochzeit alle Zutaten einkaufte und in meinem Auftragsbuch genügend Platz für weitere Notizen ließ. Auch bei Signora Gentile hatte ich mir Mühe gegeben, ihre Änderungswünsche freundlich entgegenzunehmen. Aber nun – wenige Tage vor der Hochzeit – fiel ihr ein, dass sie eine Glutenunverträglichkeit hatte?

»Können Sie nicht einfach auf glutenfreies Mehl wechseln?«, fragte sie ungehalten. »Ich backe auch mit glutenfreien Mehlmischungen. Das können Sie einfach eins zu eins ersetzen.«

Ich ballte eine Hand zur Faust und atmete tief durch, um nicht auszuflippen. Wie stellte sie sich das eigentlich vor? »Signora, bei allem Respekt: Ihre Hochzeit ist in drei Tagen. Die Zutaten sind längst gekauft, die Böden habe ich gerade gebacken.«

»Wie? Jetzt schon?« Die Braut am anderen Ende des Telefons klang für einen Moment ehrlich verwundert, dann jedoch schien sie sich daran zu erinnern, dass sie eine Torte nicht schon drei Tage im Voraus backte. Ich ahnte, was jetzt kam … »Aber dann ist die Torte ja überhaupt nicht mehr frisch.«

Nur mit Mühe konnte ich ein frustriertes Stöhnen unterdrücken. Ich war sowieso schon spät dran mit allem, weil die Sommerferien gerade angefangen und Alessio und ich den Morgen mit dem Bau einer Burg aus Legosteinen verbracht hatten. Trotzdem darfst du deine Kundschaft nicht zurechtweisen, rief ich mir in Erinnerung. In dieser Sache ähnelten sich Kindererziehung und Kundenfreundlichkeit bedauerlicherweise sehr – einen geplatzten Kragen würde ich hinterher bereuen. So wie Signora Gentile drauf war, würde es mich nämlich nicht wundern, entschiede sie sich kurzfristig doch noch komplett gegen die Torte und forderte ihre Anzahlung zurück.

»Dieses Prozedere ist in den meisten Konditoreien gängig, Signora. Eine Hochzeitstorte erfordert viel Zeit, die lässt sich nicht am Morgen der Veranstaltung backen. Je nach Größe und Dekorationen arbeite ich mehrere Tage daran. Den Unterschied werden Sie nicht schmecken, das verspreche ich Ihnen.« Merda. Das hätte ich nicht sagen sollen. In der Hoffnung, dass sie mich später nicht darauf festnageln würde, redete ich weiter. »So gerne ich Ihnen einen glutenfreien Boden backen würde, kann ich Ihnen diesen Wunsch leider nicht erfüllen. In meiner Backstube kann ich keine Kontaminationsfreiheit garantieren, deshalb backe ich grundsätzlich nicht mit glutenfreiem Mehl. Dementsprechend habe ich damit auch leider nicht genug Übung und könnte Ihnen nicht die Qualität versprechen, für die ich mit Dolce Nozze stehe.«

»Hm. Dann kann ich wohl nichts von meiner eigenen Torte essen.«

Wie tragisch, dachte ich, aber ich sagte natürlich etwas anderes: »Das tut mir schrecklich leid. Vielleicht fällt uns eine andere Lösung ein, lassen Sie mich kurz überlegen …«

Mein Blick glitt zur Uhr über der Treppe. Kurz nach drei. Wo war nur die Zeit geblieben? Noemi und Alessio würden etwa um fünf zurück sein. Wenn ich vorher noch in die Buchhandlung wollte, um meine Auszahlung für den Mai abzuholen, musste ich mich allmählich sputen … Buchhandlung! Buchhandlung mit Cafeteria … Andere Cafeteria! Sì, naturalmente!

»Ich kenne da eine kleine Bäckerei, die sich auf glutenfreie Produkte spezialisiert hat. Da kann ich gerne mal nachfragen, ob sie aushelfen können«, schlug ich vor. »Wäre das nicht eine Idee?«

Dio mio, zum Glück erklärte Signora Gentile sich damit einverstanden. Ich verabschiedete mich und steckte das Handy zurück in die Tasche meiner Schürze. Mein Blick glitt über die Tortenböden, die gerade auf diversen Gittern vor mir abkühlten, etwa drei Stunden später als geplant.

Normalerweise befolgte ich einen strikten Zeitplan, der mir dabei half, nicht die Kontrolle über meine Arbeit zu verlieren. Drei Tage vor der Hochzeit backte ich die Böden. Zwei Tage vorher stellte ich die Füllungen und Dekorationen her, und am Tag der Hochzeit selbst verzierte ich die Torte und verpackte sie, damit Domenico sie später ausliefern konnte. Zusammengesetzt wurde sie inzwischen vom Cateringservice auf den Hochzeiten.

Das war ein noch ungewohnter Prozess. Hatte ich mich letztes Jahr immer selbst um die Auslieferung gekümmert, war ich nun Kundin eines Zustellservices, den mehrere selbstständige Frauen aus der näheren Umgebung für ihre Produkte nutzten. So hatte ich meinen Lieferwagen verkaufen können, und der Transport war versichert, sodass ich nicht länger dafür geradestehen musste, wenn auf dem Weg zur Veranstaltung etwas in die Hose ging.

Meine Montage waren für Gespräche mit Brautpaaren, Buchhaltung und Marketing reserviert, Dienstage für den Einkauf im Großhandel und die Instandhaltung meiner Küche. Mittwochs bis samstags arbeitete ich an meinen Aufträgen – in den Sommerferien mit tatkräftiger Unterstützung meines Sohns Alessio, wenn dieser nicht gerade von seinem Vater, anderen Familienmitgliedern oder im Freundeskreis betreut wurde. Und mit tatkräftiger Unterstützung meinte ich einen Sohn, der es in Sekundenschnelle schaffte, mein kleines Chaos in eines von gigantischem Ausmaß zu verwandeln.

Früher hatte ich noch versucht, ihn in der Backstube zu beschäftigen, während ich an meinen Aufträgen arbeitete. Aber das war so oft mit einem Nervenzusammenbruch meinerseits geendet, dass ich nun lieber dafür sorgte, dass er nicht da war oder erst dann arbeitete, wenn er schlief.

Was mir bloß wieder einmal meinen Zeitdruck in Erinnerung rief. Die Böden waren noch nicht ganz abgekühlt, aber ich wickelte sie trotzdem in Frischhaltefolie ein und stapelte sie im Kühlschrank, bevor ich die wichtigsten Dinge in meine Handtasche warf, ungeduldig darauf wartete, dass mein Drucker die Rechnung für den Mai ausdruckte, und aus der Backstube eilte.

Noemi wäre sicher nicht böse, wenn sie ein paar Minuten auf mich warten musste, aber ich hasste es, zu spät zu kommen. Schlimm genug, dass ich mich ständig auf andere verlassen musste, damit mein Kind betreut war. Es ihnen mit Zuspätkommen zu danken, stand nicht auf meinem Plan.

Ich wich einer Gruppe Reisender aus, die sich ein paar Häuser weiter für ein Foto versammelten, und bog auf den Weg zur Piazza di Spagna ab. Normalerweise fuhr ich den Weg mit dem Rad, aber daran war in der Hochsaison nicht zu denken – zu viele Menschen, die nicht darauf achteten, wo sie hinliefen.

Leider war die Metro nicht gerade besser. Hier stank es nach Schweiß und Urin, und selbst als Italienerin musste ich auf meine Wertsachen achten. Ich liebte die Stadt, nur nicht im Sommer. Dann verwandelte sie sich in eine Hochburg all der Dinge, die ich hasste.

Ein paar Minuten und einen Umstieg später stieg ich am Colosseo wieder aus. Die Buchhandlung, die ich von Oktober bis Mitte Mai mit Gebäck und Kuchen belieferte, lag eingekeilt zwischen zwei Restaurants in der Via Celimontana und diente gleichzeitig als Cafeteria. In diesem Gebäude hatte ich einen Großteil meiner Kindheit und Jugend verbracht, immer mit der Nase zwischen den Seiten, auf der Suche nach dem nächsten großen Abenteuer. Die Besitzerin Rosa war mit meiner Nonna befreundet gewesen, und die vielen Stunden, die ich zusammen mit ihnen hier verbracht hatte, gehörten zu den Schönsten meiner Erinnerungen.

Nach Nonnas Tod war Rosa diejenige gewesen, die ihr Andenken aufrechterhalten hatte. In meiner Familie wurde nicht gerne über Nonna geredet, nicht nachdem sie sich von meinem Nonno getrennt und mir einen Großteil ihres Vermögens vermacht hatte, damit ich davon das Haus in der Via Margutta kaufen und die Backstube aufbauen konnte. Inzwischen hatten sich zwar alle an den Gedanken gewöhnt, dass die Gelateria meiner Eltern in die Hände meines Cugino Paolo übergehen würde – doch auf Nonna waren sie immer noch sauer.

Rosa hingegen erzählte mir immer wieder neue Geschichten über meine Nonna – und manche davon waren so haarsträubend, dass ich sie inzwischen nicht mehr länger mit großen Augen und staunendem Gefühl für bare Münze nehmen konnte, sondern mich fragen musste, ob an Rosa nicht eine großartige Autorin verloren gegangen war.

Mein Herz füllte sich mit Vorfreude auf die kostbaren Minuten mit ihr. Ich wünschte, ich hätte Zeit für eine weitere ihrer Geschichten.

Aber vielleicht hatte sie sowieso zu viel zu tun. Gerade in den Sommermonaten verirrten sich nicht nur die Einheimischen in den kleinen Buchhandel, sondern auch Reisende, die auf der Suche nach einem Mitbringsel waren. Auch denen erzählte sie Geschichten, selbst dann, wenn diese kein Wort Italienisch verstanden.

Doch als das Geschäftsgebäude in Sichtweite kam, blieb ich wie angewurzelt stehen. Hinter den Glasscheiben war alles dunkel, die beiden Tische, die sonst am Straßenrand standen, nicht in Sicht. Verwirrt warf ich einen Blick auf die Uhr. Ihre Mittagspause müsste doch lange vorbei sein …

Sorge fraß sich in meinen Bauch. Ich setzte mich wieder in Bewegung und eilte zur Tür, um einen Blick hineinzuwerfen. Doch dann erstarrte ich.

Dort hing ein Schild mit der Aufschrift Chiuso. Keine Spur von Rosa oder einer der beiden Mitarbeiterinnen.

Laut klopfte ich an die Tür, ehe ich angespannt wartete. Rosa war inzwischen fast achtzig. Sie machte keine spontanen Ausflüge mehr, fuhr nicht ohne Ankündigung in den Urlaub, und überhaupt liebte sie diesen Laden so sehr, dass sie ihn nicht aufgeben wollte, solange sie noch fit genug war, um andere Menschen zu umsorgen.

»Rosa?«, rief ich und klopfte noch einmal an die Tür. Da ging im hinteren Bereich die Tür zum Büro und Lager auf. Licht durchbrach die Dunkelheit. Ein Mann mittleren Alters kam auf mich zu und schloss die Eingangstür auf. Seine Haut war von der Sonne gebräunt, das dunkle, kurze Haar stand in alle Richtungen ab, als hätte er sich ein paarmal zu oft die Haare gerauft. Der Bart schien wenig gepflegt, die Kleidung zerknittert. Aber die blauen Augen … Das waren die gleichen, die mir auch sonst entgegenblickten, wenn ich herkam.

Das musste Rosas Sohn Lorenzo sein.

»Scusi, wir haben bis auf Weiteres geschlossen«, verkündete er, kaum dass die Tür geöffnet war. Er wollte sie direkt wieder schließen, aber ich war schneller und drückte meine Hand dagegen.

»Warten Sie«, bat ich ihn. »Sie sind Lorenzo, oder?«

Verwundert runzelte er die Stirn. »Sì …«

»Sofia Ventura«, erklärte ich eilig. »Ich arbeite mit Rosa.«

Mit einem leisen Seufzen trat er beiseite und öffnete die Tür so weit, dass ich eintreten konnte. In der Buchhandlung war es kühl, doch die Luft roch, anders als sonst, nicht nach süßem Gebäck und knisternden Seiten, sondern irgendwie abgestanden. Es war, als fehlte plötzlich die Magie.

Ich drehte mich zu Lorenzo, den ich zuletzt gesehen hatte, als ich selbst noch ein Kind gewesen war, und wappnete mich für das Schlimmste. Er lebte auf Sizilien und kam nicht einfach nach Rom. Nicht, wenn alles in Ordnung war. »Was ist passiert?«

»Ein Schlaganfall.« Er deutete auf einen der kleinen Tische in der Nähe der Theke.

Seine Worte trafen mich mitten ins Herz. Mein ganzer Körper reagierte auf den Schock. Das Blut schien eine Etage tiefer zu sacken, meine Knie wurden weich und instabil. Mit einer Hand auf meinem Herzen – als wäre es tatsächlich verwundet – ließ ich mich auf einen Stuhl sinken. »Ist sie … ist sie …?«

Er schüttelte den Kopf und nahm mir gegenüber Platz. »Sie ist wach, aber … es sieht nicht gut aus.« Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. »Ihr Sprachzentrum ist betroffen und … vermutlich wird sie nie wieder so reden können wie früher.«

Cielo.

Keine Geschichten mehr.

Nie wieder.

Heiße Tränen schossen mir in die Augen, mein Hals zog sich verräterisch zu. Ich wollte nicht weinen, nicht vor Lorenzo, der von einer Sekunde auf die andere so viel mehr verloren hatte als ich, doch ich konnte nicht anders. Rosa war wie eine Großmutter für mich. Der Gedanke daran, sie würde nie wieder gesund werden, zerbrach etwas in mir.

Hektisch wischte ich die Tränen weg. »Es tut mir so leid.«

Lorenzo reichte mir mit mitfühlendem Blick ein Taschentuch. »Mir tut es leid, dich damit so zu überfallen. Sie hat viel von dir erzählt. Ihr steht euch sehr nahe, oder?«

Ich nickte bloß, weil mehr Worte mehr Tränen bedeuteten.

»Wenn du möchtest, kannst du dich in den nächsten Tagen noch von ihr verabschieden.«

»Ver-verabschieden?«

»Wir lassen sie nach Palermo verlegen. Wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wird, nehmen wir sie zu uns. So können wir am besten für sie sorgen.«

Seine Worte klangen logisch, und doch schrie alles in mir auf. Rom und Rosa gehörten zusammen wie der Caffè ins Tiramisu. In meiner Welt konnte das eine nicht ohne das andere existieren.

»Allora … Wenn du möchtest, schau dich ruhig in Ruhe um. Ich weiß, der Laden hat dir viel bedeutet. Wenn dir etwas am Herzen liegt, nimm es ruhig mit. Alles andere wird in den nächsten Tagen hoffentlich von jemandem aufgekauft.«

»Du willst den Laden schließen?«

Hilflos zuckte er mit den Schultern. »Etwas anderes bleibt mir kaum übrig. Weiterführen kann ich ihn aus Palermo leider nicht – und das Geld können wir wirklich gut für die Pflege gebrauchen.«

Komplett überfordert, sank ich gegen die Rückenlehne.

Noch mal entschuldigte er sich. »Lass dir ruhig Zeit. Ich bin noch eine Weile hier und versuche, mir einen Überblick über die Buchhaltung zu verschaffen …«

Das erinnerte mich daran, wieso ich überhaupt hergekommen war. Es fühlte sich furchtbar an, ihn in dieser Situation auch noch mit einer weiteren Rechnung zu belasten, aber auf die Einnahmen konnte ich leider nicht verzichten.

Er schien mir das Unbehagen anzusehen und runzelte die Stirn. »Bist du einfach nur so vorbeigekommen, oder …«

Zögernd zog ich den Ausdruck aus meiner Handtasche und schob ihn über den Tisch. »Rosa und ich hatten eine Abmachung: Ich habe sie von Oktober bis Mitte Mai mit Kuchen und Gebäck beliefert und ihr einmal im Monat eine Rechnung dafür gestellt. Das ist die letzte – für April und Mai zusammen.«

Lorenzo nahm das Blatt entgegen und wurde bleich. »Tausendvierhundert Euro?«

Mit zusammengepressten Lippen nickte ich.

»Ich weiß gerade nicht, wo ich das hernehmen soll«, stammelte er überfordert. »So wie es aussieht, hat sie diesen Laden schon seit Monaten aus eigener Tasche finanziert. Ich muss erst mal herausfinden, ob überhaupt noch etwas da ist …«

»Aber …« Das konnte doch nicht sein. Wenn es so schlecht laufen würde, hätte sie doch sicher längst etwas gesagt. Dann hätte ich ihr dabei geholfen, eine Lösung zu finden.

»Ich melde mich bei dir, in Ordnung?«, bot Lorenzo an, der mein »Aber« wohl als Protest verstand, weil mir das Geld rechtmäßig zustand. »Es könnte nur ein bisschen dauern, bis ich dein Geld zusammengekratzt habe.«

»Okay«, wisperte ich, obwohl ich gerade nicht mal ansatzweise über die Rechnung nachdenken konnte. Zu groß war das Mitgefühl um das, was Rosa zugestoßen war. Zu groß die Angst, sie nie wieder zu sehen, wenn sie erst in Palermo war. Zu groß die Trauer um das Stück Heimat, das mir verloren ging.

Erst viele Stunden später fiel mir auf, dass ich nicht nur einen der wichtigsten Menschen in meinem Leben verlor, sondern auch einen großen Teil meines jährlichen Einkommens.

Und das stürzte mich in eine noch viel größere Krise.

2

Florin

Bei den Worten »Wir haben ein Problem« bekam ich nur noch selten Bauchschmerzen, aber an diesem Montag wurde selbst mir übel.

Shitstorms gehörten zum Agenturalltag. In der Regel versuchten wir, sie zu vermeiden, indem wir unsere Schützlinge entsprechend berieten und ihnen gelegentliche Medientrainings anboten. Aber selbst dann gelang es nicht immer, dem empörten Aufschrei der medialen Öffentlichkeit zu entkommen, und das oft genug zu Unrecht. Eine unserer bekanntesten Kundinnen – BRIELLA – war das perfekte Beispiel dafür. Als mehrgewichtige Fashion-Influencerin musste sich Gabriella automatisch mehr Bullshit anhören als ihre normalgewichtigen Kolleginnen. Dass sie noch dazu mit einem Profisportler verheiratet war, sorgte an normalen Tagen schon für jede Menge Hate unter ihren Videos – aber machte einer von beiden auch nur einen winzigen Fehler, brach die Hölle auf Erden los.

Die Erleichterung darüber, dass es diese Woche nicht die beiden getroffen hatte, die inzwischen zu absoluten Herzensmenschen für mich geworden waren, war allerdings nur von kurzer Dauer.

Giuliano war mir bereits im Foyer der Agentur entgegengekommen, hellwach wohlgemerkt, was mir schon Hinweis genug auf das bevorstehende Drama hätte sein sollen. Er war vor sieben Monaten Vater geworden, und das Baby hatte aus meinem besten Freund und Geschäftspartner in Windeseile eine weichgespülte, übermüdete, von Koffein abhängige Glucke gemacht. Nun aber war es nicht das Koffein, das ihn auf den Beinen hielt, sondern das Adrenalin einer neuen Herausforderung.

»Was ist passiert?«, fragte ich auf dem Weg in mein Büro, um meine Tasche abzustellen.

Giuliano eilte neben mir her. »Shitstorm bei Fabio«, verkündete er mit düsterer Miene.

»Schlimm?«

»Schlimmer als schlimm.« Er präsentierte mir sein Diensthandy, auf dem ein TikTok-Video geöffnet war. »Aber sieh selbst.«

Ich tippte aufs Display, um das Video zu starten, und runzelte verwirrt die Stirn. Das Setting kannte ich. Fabio hatte vor einigen Wochen ein Interview mit einem lokalen YouTuber gehabt, in dem er über sich und seinen Alltag als einer von Italiens bekanntesten Fitness-Content-Creators gesprochen hatte … Doch die Ausschnitte, die in diesem Video aneinandergereiht waren, hatten es nicht in das fertige Video geschafft.

»Ganz ehrlich: Ich halte nicht viel von dieser ganzen Body-Positivity-Sache. Diese Leute sind zu faul, um etwas an ihren Körpern zu verändern, und jemanden, der nicht mal dafür genug Disziplin aufbringen kann, kann ich einfach nicht respektieren.«

Cut.

»Solche Frauen sollten keine Unternehmen führen. Frauen generell nicht. Wo bleibt da die Rationalität? Wollen wir die Verantwortung wirklich jemandem überlassen, der alle vier Wochen eine hormonelle Vollkrise kriegt?«

Cut.

»Diese ganzen Fitness-Influencerinnen? Die haben es doch nur so weit gebracht, weil sie ihre Körper halb nackt in die Kamera halten. Ich gucke mir die auch nur an, um mir dazu einen abzusaften.«

Cut.

Das Video begann von vorne. Giuliano deaktivierte sein Display, doch mir war sowieso schon kotzübel. So hatte ich Fabio noch nie reden gehört – denn hätte er mir jemals solche Äußerungen entgegengebracht, hätte ich ihn hochkant aus der Agentur geworfen. Als wir damals mit The Social Butterfly gestartet hatten, legten wir im gleichen Zug auch unsere Werte fest – und an die hielten nicht nur wir uns, sondern auch sämtliche Menschen, mit denen wir zusammenarbeiteten. Taten sie das nicht, waren sie schneller raus, als sie Schmetterling sagen konnten.

Aber Fabio … Maledetto, das fühlte sich an wie Verrat. Ich hatte wirklich gedacht, wir würden auf der gleichen Wellenlänge schwimmen.

»Er ist auf dem Weg hierher.«

»Bene.« Wenn er direkt herkam, musste ich meine Wut wenigstens nicht in mich hineinfressen. »Dann kann ich ihm gleich die Kündigung um die Ohren hauen.«

Überrascht zog Giuliano die Brauen hoch. »Wie jetzt? Willst du dir nicht erst mal seine Seite der Geschichte anhören?«

Wozu? Das Video war doch eindeutig – und jemanden, der solche Dinge von sich gab, wollte ich nicht vertreten. Die Worte mochten aus dem Zusammenhang gerissen worden sein, doch die Bedeutung blieb.

Fabio war ein sexistischer Arsch.

Er hatte es bisher nur gut vor uns versteckt.

Wie war mir das entgangen?

In meinem Büro holte ich mein eigenes Diensthandy aus der Tasche und schaltete es ein. Sofort trudelten die Benachrichtigungen ein. Google Alerts, und zwar eine ganze Menge davon, denn das Video hatte über Nacht nicht nur über eine Million Aufrufe generiert, sondern eine Menge Menschen reagierten unter dem Hashtag #CancelFabio darauf.

Aber ich hatte auch verpasste Anrufe – vornehmlich von Fabio persönlich. Anscheinend war er bis spät in die Nacht wach gewesen und hatte immer wieder versucht, mich zu erreichen. Ich öffnete unseren Chat.

Fabio: Wir haben ein Problem.

Fabio hat Ihnen einen Link geschickt.

Fabio: Kannst du mich zurückrufen, sobald du das siehst?

Fabio: Amico, komm schon. Mach dein Handy an. Mein Leben geht hier gerade den Bach runter. Ich brauche dich.

Fabio: Dieses Video ist ein Fake. Das bin nicht ich. Bitte, Florin, das musst du mir glauben.

Unter all der brodelnden Hitze in mir regten sich erste Zweifel.

»Er schreibt, das Video wäre ein Fake …«

Giuliano ließ sich in den Ledersessel vor meinem Schreibtisch sinken und griff nach einem Kugelschreiber mit unserem Logo, um damit herumzuspielen. Das tat er immer, wenn er tief in Gedanken war. »Das hat er am Telefon wohl auch gesagt.«

»Du hast mit ihm gesprochen?«

Er schüttelte den Kopf. »Vito hatte Bereitschaft.«

»Ist er schon da?« Mit den Jahren war unsere Agentur gewachsen, und mit dem Wachstum waren häufiger Probleme aufgetreten. Manche unserer Schmetterlinge, wie wir unser Klientel nannten, lebten im Ausland, andere arbeiteten vorwiegend nachts, weil sie sich tagsüber um ihre Familie kümmern mussten. So hatten wir uns angewöhnt, einen Bereitschaftsdienst anzubieten, damit wir rund um die Uhr verfügbar waren. Wir waren fünfzehn Mitarbeitende, das machte eine Zuständigkeit von etwa zweimal im Monat – ein geringer Preis dafür, dass unsere Kundschaft besser schlafen konnte.

»Noch nicht, aber er meinte, Fabio hörte sich aufrichtig an«, gab Giuliano zurück. »Allora … Wieso nicht? Was, wenn das Video wirklich ein Fake ist? Vielleicht ein Doppelgänger? Jemand, der ihm schaden will?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das Setting ist das gleiche wie bei dem Interview mit Climbing the Ladder. Haben die sich schon dazu geäußert?«

»Ich glaube nicht. Celia sucht uns die Infos zusammen«, erwiderte er. »Florentina ist im Urlaub, aber Matteo sitzt schon an einer Stellungnahme für die Agentur.«

»Perfetto.« Ich ließ mich in meinen Schreibtischstuhl fallen und rieb mir übers Kinn, während ich mich fragte, welche Version dieser Geschichte ich glauben sollte. Je nachdem, wie wir handelten, würde das auch unweigerlich auf unsere Agentur zurückfallen.

Eine solche Situation hatten wir bisher genau einmal erlebt. Vor neun Jahren hatte Giuliano einen faschistischen Dreckskerl unter Vertrag genommen, der The Social Butterfly mit seinen Online-Aussagen beinahe in den Abgrund gezogen hatte – meinetwegen. Weil er herausgefunden hatte, dass ich nicht nur mit Frauen, sondern auch mit Männern vögelte. Seiner Meinung nach hätte ich nicht nur kein Unternehmen zu führen, sondern es nicht einmal verdient, zu leben. Seitdem unterzogen wir unsere Schützlinge einer ausführlichen Prüfung, bevor wir sie unter Vertrag nahmen. Dass ich mich so sehr in Fabio getäuscht haben sollte, ließ mich entsprechend nicht los. Aber ein Fake? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Nicht, wenn die Kulisse die gleiche war. Nicht, wenn der Mann in dem Video eins zu eins wie Fabio aussah.

Doch je länger ich darüber nachdachte, umso unpassender erschien mir alles. Fabio war nicht so. Er arbeitete mit Frauen, er führte eine Beziehung auf Augenhöhe, er verstand sich bestens mit meinen anderen drei Schmetterlingen – eine davon Gabriella, die genau das war, worüber er in diesen Clips herzog. Mehrgewichtig. Weiblich. Unternehmerin. Das passte doch nicht zusammen.

Celia klopfte an die Tür und kam rein. »Buongiorno.« Sie schenkte mir ein knappes Lächeln, für mehr reichte ihre Laune heute wohl auch nicht mehr aus. Als Werkstudentin nahmen wir sie regelmäßig zu unseren Terminen mit unseren Schützlingen mit – und Fabio und sie hatten sich von vornherein so gut verstanden, dass ich schon in Erwägung gezogen hatte, Celia nach ihrem Studium zu übernehmen und die Verantwortung für ihn an sie abzutreten. Sie erinnerte mich ein bisschen an meine Schwester: zielstrebig, loyal und eine echte Kämpferin. Wenn sie nicht die perfekte Kandidatin für die freie Stelle in der Agentur war, wusste ich es auch nicht mehr. »Ich habe mit Kai von Climbing the Ladder telefoniert. Er hat bestätigt, dass die Aussagen nicht bei ihnen im Studio entstanden sind, und schickt uns das Rohmaterial des Interviews.«

Ihre Worte ließen den Stein auf meinem Herzen deutlich leichter werden. Noch war das zwar kein Freispruch für Fabio, aber vielleicht gab es doch eine Erklärung, die nicht mit einem zerrissenen Vertrag endete.

»Grazie, Celia.«

Sie griff nach der Türklinke, kurz davor, den Raum wieder zu verlassen, da drehte sie sich noch mal um. »Ich hab da letztens ein Video gesehen …« Unsicher verzog sie das Gesicht. »Ich weiß, es sieht schlecht für Fabio aus, aber mich lässt der Gedanke einfach nicht los: Was, wenn das Video ein Deepfake ist?«

Deepfake.

Ein mit künstlicher Intelligenz generiertes gefälschtes Video, das Menschen bei Dingen zeigte, die sie in Wirklichkeit nie gesagt oder getan hatten.

Der Gedanke drehte mir den Magen um. Künstliche Intelligenz war ein Thema, mit dem wir uns auch in der Agentur immer häufiger auseinandersetzen mussten. Content Creator nutzten gerne diese Unterstützung, um den Output aufrechterhalten zu können, den Social-Media-Plattformen wie TikTok oder Instagram von ihnen forderten. Wer jeden Tag mehrere Videos und Bilder posten wollte, um im Gespräch zu bleiben, drohte unweigerlich auf einen Burn-out zuzusteuern. Die meisten erfolgreichen Social-Media-Stars bauten Teams auf, die ihnen bei der Erstellung des Contents halfen. Trotzdem war es inzwischen nicht unüblich, ein KI-Tool zurate zu ziehen, um Ideen oder Skripte zu generieren. Zeit war kostbar – und wieso sie auf Arbeit verwenden, die auch von einer Maschine erledigt werden konnte?

Ich verstand beide Seiten der Medaille. Der Druck war immens (auch wenn es nach außen nicht immer so aussah). Wer nicht lieferte, war schnell raus. Pausen machen zu wollen, bedeutete, Content vorzuproduzieren oder Reichweite einzubüßen. Fehlende Reichweite führte zu einem Verlust von Kooperationen. Fehlende Kooperationen gefährdeten das Einkommen. Und ohne das gewohnte Einkommen ließ sich der Status quo des eigenen Lebens nicht lange aufrechterhalten.

Gleichzeitig schadete diese ganze Struktur den Menschen, die versuchten, ohne Hilfe von künstlicher Intelligenz Reichweite zu generieren. Die originelle Gedanken vertraten oder Kunst herstellten. Die sich jeden Tag fragen mussten, was sie verkehrt machten, weil sie einfach nicht den Erfolg hatten, den sie sich wünschten.

Die Antwort war lächerlich einfach und doch so traurig: Sie waren zu einzigartig, um in das mittels Machine Learning und Algorithmen genau festgelegte Schema zu passen, das in regelmäßigen Abständen viral ging. Ein Schema, das sich mithilfe von künstlicher Intelligenz wieder und wieder rekreieren ließ – und das auf eine oberflächliche Weise so gut war, dass es genug Views einspielte. Dass dabei auf langfristige Sicht die Menschlichkeit verloren ging und eine echte Bindung zwischen Zuschauenden und Kreierenden nicht mehr stattfinden konnte, interessierte längst nicht mehr jeden.

Deepfake-Videos waren allerdings ein viel größeres Problem. Gab es von einer Person genügend Video- und Audiomaterial im Internet, war es ein Leichtes, Fälschungen zu generieren, die nicht mehr von den Originalen zu unterscheiden waren – und wie schnell damit ganze Leben zerstört werden konnten, ließ sich in Fabios Fall erahnen – vorausgesetzt, es handelte sich dabei wirklich um einen Deepfake. Das hier war nur eine persönliche Karriere, im schlimmsten Fall auch unsere. An die Folgen für das politische Weltgeschehen durch Deepfakes wollte ich gar nicht erst denken.

Gefolgt von unserer Office-Managerin Oriana, betrat Fabio ein paar Minuten später mein Büro, die Kapuze seines dunkelgrauen Hoodies tief ins Gesicht gezogen. Als er sie abnahm, verpuffte der Rest meiner Wut; tiefe Schatten lagen unter seinen Augen, die Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst, seine kurzen Haare standen in alle Richtungen ab. Es sah nicht aus, als hätte er in der letzten Nacht geschlafen.

Am liebsten hätte ich ihn tröstend umarmt, aber für Vergebung und Verbrüderung war es noch zu früh. Erst mal mussten wir die offenen Fragen klären.

»Setz dich doch.« Ich deutete auf die Sitzgruppe in der anderen Hälfte meines Büros.

»Caffè?«, bot Oriana an.

»Gerne.« Fabios Stimme kratzte. Er räusperte sich und nahm auf dem Sofa Platz, bevor er sich mit einer Hand über das Gesicht fuhr. So niedergeschlagen hatte ich ihn noch nie gesehen – und ich war meist zur Stelle, wenn es brannte.

Der Sinn meines Seins. Mich um andere zu kümmern, war die eine Sache, in der ich wirklich gut war. Ich wusste nicht, wie vielen Krisen ich schon eine überraschende Wende verpasst hatte, aber es waren einige. Angefangen hatte es mit meiner jüngeren Schwester Tavi. Ich hatte nicht zugelassen, dass unsere komplizierte Familiengeschichte ihre Zukunft trübte. Bei anderen fiel es mir schon immer deutlich leichter, zu sehen, was sie brauchten, als bei mir selbst – und so war es zwar anstrengend gewesen, mich seit der Schulzeit bis zum Aufbau der Agentur auch noch um Tavi zu kümmern, doch es hatte sich bezahlt gemacht. Inzwischen studierte sie Jura und war zu einer inspirierenden jungen Frau herangewachsen. Ich könnte nicht stolzer auf sie sein.

Giuliano warf mir einen besorgten Blick zu, bevor wir uns zu Fabio gesellten und uns setzten.

»Ich muss dich das fragen«, begann ich das Gespräch ohne große Umschweife. »Hast du diese Dinge gesagt oder nicht?«

Fabio sah mich aus geröteten Augen an. »Für wen hältst du mich, Florin? Natürlich nicht. Kai von Climbing the Ladder wird euch das bestätigen können.«

»Wir stehen bereits im Kontakt«, erwiderte ich, auf meine Wortwahl bedacht. Ich wollte unsere Gedanken nicht preisgeben, bevor ich Fabio nicht sicher einschätzen konnte. »Celia sichtet gerade das Rohmaterial eures Interviews.«

Seine Reaktion verriet mir zum Glück alles, was ich wissen musste. Er zuckte nicht zusammen, er stieß keinen Fluch aus – er sank einfach nur erleichtert in sich zusammen und begann zu weinen.

»Merda«, murmelte Giuliano mitfühlend.

Ich presste die Lippen aufeinander, wusste nicht recht, was ich sagen konnte, um Fabio zu trösten. Ein einfaches »Das kriegen wir schon wieder hin« mochte vielleicht in anderen Situationen funktionieren, aber dieses Mal? Selbst wenn wir den Originalmitschnitt des Interviews hochladen würden, konnten uns die Menschen vorwerfen, wir hätten die entsprechenden Stellen einfach rausgeschnitten – oder dass die viral gegangenen Clips vor dem eigentlichen Interview oder hinterher entstanden waren. Dass sich Fabio und Kai darauf geeinigt hätten, noch einmal von vorne anzufangen, um das Format nicht mit frauenfeindlicher Scheiße zu besudeln. Im Internet gab es kein »Im Zweifel für den Angeklagten« mehr – hier brauchte es eine ausgeklügelte Gegendarstellung, vielleicht sogar ein Geständnis des Täters … und selbst das war manchmal nicht genug, damit die Anschuldigungen in Vergessenheit gerieten.

3

Florin

Eine Verabredung zum Mittagessen mit meiner Schwester war der erste Lichtblick in dieser Woche. Die letzten beiden Tage waren so voll mit Schadensbegrenzung gewesen, dass ich schon nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Doch egal, wie viel zu tun war, das Essen hatte ich nicht abgesagt. Die Pause konnte ich gut gebrauchen, bevor das Chaos erneut über mich hereinbrach.

Zusammen mit zwei anderen Studentinnen bewohnte Tavi eine Wohnung in der Nähe der Universität. Ihr gehörte das kleinste der drei Schlafzimmer, denn anders als die Universitätsgebühren bezahlte sie ihr Zimmer von ihrem Gehalt als Kellnerin selbst. Heute waren ihre beiden Mitbewohnerinnen allerdings unterwegs, stattdessen öffnete mir ausgerechnet Marino die Tür.

»Oh, du …« Schnell korrigierte ich meinen Gesichtsausdruck, um nicht genervt über seine Anwesenheit zu wirken. »… bist ja auch hier. Wie schön!«

Schnaubend lachte er auf, glaubte mir offenbar kein Wort. »Ciao, Florin.«

»Marino.« Ich schlug mit ihm ein und zwang mich zu Freundlichkeit. Sie würde ihn schon noch früh genug abservieren – hoffentlich. Ich war mir sicher, dass meine Schwester da draußen jemand Besseren als ihn finden würde. Jemanden, der mir nicht bei unserer ersten Begegnung aufs Hemd kotzte und damit eine eher … säuerliche Note hinterließ. »Wie geht’s?«

»Bestens.« Er trat zur Seite, um mich in die Wohnung zu lassen. Der Geruch von geschmolzenem Käse vermischte sich mit seinem herben Aftershave, das mir – zugegebenermaßen – gut gefiel. Aber ich hatte ja auch nie behauptet, dass ich nicht verstehen konnte, was Tavi an ihm fand. Mit seinem ordentlich gestylten, kurzen Haar, dem akkurat gestutzten Bart und den breiten Schultern wäre er mehr als attraktiv gewesen, hätte er seinen Alkoholkonsum besser unter Kontrolle. »Und dir?«

»Bestens.« Als ich meine Schuhe auszog, um sie zu den anderen im Flur zu stellen, blieb mein Blick an einem schicken braunen Paar hängen, in das ich mich augenblicklich verliebte. Das polierte Leder glänzte verlockend, an den Seiten glatt, obendrauf geschuppt. Das Inlay leuchtete in einem kräftigen Blau und verriet den Hersteller.

Belvedere.

Fünfhundert Euro? Sechshundert? Waren das Marinos Schuhe? Wessen sollten es sonst sein?

Bevor er mich dabei erwischen konnte, wie ich seine Schuhe anhimmelte, richtete ich mich auf und folgte ihm durch den kurzen Flur in die Wohnung. Sie war alt, aber nicht so alt, dass jemand dafür freiwillig mehr Geld zahlte. Neben drei Schlafzimmern gab es ein Bad, eine Küche, die schon zu klein für zwei Personen war, und ein größeres Wohn- und Esszimmer, in dem Ottavia – Tavi – gerade den Tisch deckte. Als sie mich erblickte, leuchtete alles an ihr freudig auf.

»Florin!«

»Pulcino!« Ich schloss sie in den Arm. Sie roch nach Vanille, und als ich mich zurücklehnte, um ihr Gesicht in Augenschein zu nehmen, stieg ein warmes Gefühl in mir auf. Anders als noch vor ein paar Jahren hatte sie inzwischen ein gesundes Gewicht erreicht. Ihre Wangen glühten rosig, die blaugrauen Augen blitzten gut gelaunt. Selbst ihre dunkelbraunen Haare glänzten wie nach einem Friseurbesuch. Sie sah richtig glücklich aus – und das wiederum ließ meine Laune direkt steigen. »Gut siehst du aus.«

»Grazie.« Sie drückte in schneller Abfolge ein paar Küsse auf meine Wangen, bevor sie sich von mir löste. »Ich muss kurz nach dem Essen sehen. Es gibt Lasagne.«

Die gab es zwar fast immer, wenn Tavi zum Essen einlud, aber dafür war das Gericht auch mit Nostalgie versehen. Es war eines der ersten, das ich gelernt hatte zu kochen, und als sie alt genug dafür gewesen war, hatte ich es auch ihr beigebracht.

»Kann ich dir etwas zum Trinken anbieten?«, sprang Marino ein, sobald sie den Raum verlassen hatte. »Einen Wein vielleicht?«

Kurz zögerte ich.

»Keine Sorge, den habe ich ausgesucht.« Marino griff nach der Flasche auf dem Tisch und hielt sie mir hin, damit ich das Etikett lesen konnte. »Wenn Tavi Wein aussucht, ist der selten trinkbar.«

Ungewollt lachte ich auf. »Sie hat wirklich ein Talent dafür, ungenießbaren Alkohol aufzustöbern.«

»Oder?«

Wir grinsten uns an, bis mir wieder einfiel, dass ich ihn eigentlich nicht ausstehen konnte. Marino räusperte sich, ehe er auf meine Zustimmung hin zwei Gläser eingoss. Ich nutzte den Moment, um ihn einer unauffälligen Musterung zu unterziehen. Genau wie seine Schuhe wirkte auch seine Kleidung alles andere als billig. Er trug dunkelblaue Slacks und ein hellblaues Hemd, dazu einen Ledergürtel in der gleichen Farbe wie die Schuhe. An seinem Handgelenk blitzte eine graue Uhr auf. Keine Rolex, aber sie war mit Sicherheit nicht günstig gewesen.

War er nicht auch noch Student? Als ich ihn vor knapp anderthalb Jahren kennengelernt hatte, waren Tavi und er auf einer Studierendenparty gewesen. Sie hatte mich angerufen und gebeten, sie abzuholen – und er war dabei gewesen, weil er darauf bestanden hatte, sie zum Auto zu bringen. Was eigentlich nett wäre – wäre er nicht so sturzbetrunken gewesen, dass er seinen gesamten Mageninhalt auf mein schweineteures Burberry-Hemd entladen und es damit unwiederbringlich zerstört hatte.

Und das war nur die erste in einer Reihe von unglücklichen Begegnungen gewesen. Doch heute erinnerte er mehr an einen Geschäftsmann als an den verantwortungslosen Studenten, als den ich ihn in Erinnerung hatte.

»Wie läuft es sonst so?«, fragte ich in dem Versuch, mehr darüber herauszufinden, was sich in den Monaten seit unserer letzten Begegnung geändert hatte. Vielleicht arbeitete er inzwischen? Was hatte er noch gleich studiert? Betriebswirtschaft?

»Kann mich nicht beklagen.« Er reichte mir mein Glas, wir stießen an – »Cin cin!« – und setzten uns gegenüber voneinander an den Tisch. »Und bei dir? Was macht die Agentur?«

Maledetto. Er hatte sich wohl tatsächlich Sachen über mich gemerkt, während ich darauf gewartet hatte, dass Tavi sich endlich von ihm trennte. In den anderthalb Jahren, die die beiden sich nun dateten, hatte ich sie schon zweimal weinend abholen müssen. Sie hatte mir zwar nie verraten, was passiert war, aber irgendwie hatte ich daraus geschlossen, dass eine Trennung nur eine Frage der Zeit war. Letzten Endes ging es mich nichts an, mit wem sie ausging – und Streitigkeiten gehörten dazu. Ich würde mich nicht in ihr Liebesleben einmischen und einen auf großen Bruder machen, solange sie nicht offensichtlich verletzt war oder mich darum bat – egal, ob ich den Kerl mochte oder nicht.

Bloß hatte ich mir auch nicht die Mühe gemacht, mir Dinge über Marino zu merken.

»Dramatisch wie eh und je«, erwiderte ich. »Diese Woche haben wir es mit unserem ersten Deepfake-Skandal zu tun.«

Marino verzog mitfühlend das Gesicht.

»Wenigstens wird es nie langweilig. Wobei das manchmal auch ganz nett wäre.« Ich war nur nicht sicher, ob ich mit Langeweile umgehen konnte. Inzwischen hatte ich mich nämlich längst an den Hormoncocktail gewöhnt, den meine Arbeit in regelmäßigen Abständen ausschüttete.

»Das klingt jedenfalls deutlich aufregender als bei mir.« Marino lehnte sich zurück und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. »Wir verhandeln schon seit Anfang der Woche mit einem SIM-Karten-Anbieter. Ich muss auch gleich wieder zurück. Hoffentlich schaffen wir es heute noch bis zur Vertragsunterzeichnung.«

»Für Handys?« Was machte er noch gleich? Hilflos tappte ich in meinen Erinnerungen herum, auf der Suche nach dem Licht im Dunkeln. Ich fand es nicht. Alles, was ich über Marino wusste, war, dass er zu viel Alkohol trank, anderer Leute Kleidung vollkotzte und meine Schwester nicht immer wie die Prinzessin behandelte, die sie war. Und dass er Belvedere-Schuhe trug. Aber das musste ja nichts heißen, die konnte er genauso gut secondhand gekauft haben – das machte ich schließlich auch.

»Für die nächste Generation smarter E-Roller.«

»Diese Dinger, die überall in der Stadt herumstehen?«

»Genau die.« Er lächelte. »Wir arbeiten gerade an einem verbesserten Modell mit KI-basierter Steuerung und planen, Ende des Jahres in die Herstellung zu gehen.«

»Ah, cool.« Dann saß er wohl als Werkstudent in der Vertragsabteilung des Unternehmens. »Hört sich spannend an.«

»Langweilst du Florin etwa schon wieder mit Technikgequatsche?«, unterbrach meine Schwester uns. Sie trug die dampfende Auflaufform zum Tisch und stellte sie auf dem Holzbrett in der Mitte ab, bevor sie selbst Platz nahm.

»Würde mir im Traum nicht einfallen, amore.« Marino zwinkerte mir zu, ehe er ihr einen Kuss auf die Wange gab. »Das sieht fantastisch aus.«

»Bedank dich bei Florin. Ohne ihn hätte ich womöglich niemals kochen gelernt.« Sie verteilte das Essen auf unseren Tellern. »Buon appetito!«

Der Auflauf verbrannte mir zwar direkt den Gaumen, aber das war es allemal wert. Genüsslich seufzte ich auf, während sich das köstliche Aroma auf meiner Zunge ausbreitete. Wie gut es tat, nach zwei Tagen Fast Food etwas mit so viel Liebe Gekochtes zu essen. Dem Himmel sei Dank hatte ich die Verabredung nicht abgesagt, als ich meine Termine wegen Fabio hin- und herschieben musste.

Aber dann holte Tavi etwas aus ihrer Hosentasche – etwas Kleines, Funkelndes – und steckte es an ihren Ringfinger.

Vor lauter Schreck verschluckte ich mich.

Hustend holte ich Luft. »Ist das ein …«

»Verlobungsring?« Tavi strahlte über beide Wangen und hielt mir ihre Hand entgegen, als könnte mir der riesige Diamant – war das etwa ein echter? – ansonsten entgehen. »Sì!«

Santo cielo!

»Marino hat mir einen Antrag gemacht. Wir werden heiraten.«

Die Bedeutung ihrer Worte schlug ein wie eine Bombe: Von wegen Trennung. Stattdessen ein ganzes, langes Leben mit Marino. Dio mio. Das konnte sie unmöglich ernst meinen. Doch Tavi sah nicht aus, als würde sie Späße machen, genauso wenig wie Marino, der ebenso gespannt auf meine Reaktion wartete.

Während ich nach den richtigen Worten suchte, spülte ich mein Essen mit einem großzügigen Schluck Wein hinunter.

»Seid ihr nicht noch ein bisschen jung, um schon übers Heiraten nachzudenken?«, fragte ich schließlich vorsichtig. Nicht, dass ich meiner Schwester vorschreiben wollte, wie sie ihr Leben verbrachte, aber … heiraten? Wirklich? Mit dreiundzwanzig? »Das hat doch sicher noch ein paar Jahre Zeit.«

»Nicht wirklich.« Tavi biss sich auf die Unterlippe, ehe sie ihr Tischset anhob und ein dünnes Blatt Papier hervorholte. »Wir haben nämlich noch eine andere tolle Neuigkeit für dich: Du wirst Onkel, Florin!«

Sie reichte mir das Blatt. Wie betäubt blickte ich auf das Ultraschallbild. Sah schwarze, graue und weiße Flecken und Linien, die sich zu einem Etwas zusammenfügten, nicht größer als eine Bohne, aber doch gigantisch in seiner Bedeutung.

Theoretisch wusste ich, dass eine Schwangerschaft kein Weltuntergang war, doch gerade fühlte es sich verdammt noch mal an, als wäre mit einem Mal alles zusammengebrochen, was wir uns in den letzten Jahren so mühsam aufgebaut hatten. Was war mit Tavis Träumen? Mit ihrem Studium? Mit ihrer Unabhängigkeit? Wollte sie das wirklich alles hinwerfen?

»Das ist … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Ich blickte auf und entdeckte die Tränen in ihren Augen. Die Enttäuschung in ihrem Blick. Sie hatte auf Freude gehofft, doch die konnte ich ihr nicht geben. Nicht hier, nicht jetzt, nicht, wenn sie mich so überrumpelte. »Ich muss … Ich glaube, das muss ich erst mal verdauen.«

Wie betäubt rappelte ich mich auf. Tavi redete auf mich ein, aber ich hörte sie nicht mehr. Das Blut in meinen Ohren rauschte zu laut. Mein Herz pochte hart gegen meinen immer enger werdenden Brustkorb. Ich musste hier raus, bevor ich keine Luft mehr bekam.

»Florin, jetzt warte doch.«

Ich schlüpfte in meine Schuhe und stolperte über meine eigenen Worte. Eine hastige Entschuldigung, ein »Ich meld mich morgen«, und dann war ich draußen. Meine Füße flogen über den Asphalt – und obwohl es in meinen Ohren rauschte, hatten die Ecken und Kanten der Welt plötzlich an Schärfe gewonnen. Erst als Menschen und Häuserfronten den weiten Wiesen von Villa Borghese wichen, wurde ich langsamer und sog japsend die Luft ein.

Mir war kotzübel. Die Lasagne lag mir schwer im Magen, aber noch viel erdrückender waren die Ängste um Tavis Zukunft, die auf einen Schlag zurückgekehrt waren. Ich dachte, wir wären durch. Ich dachte, jetzt, wo sie erwachsen war, müsste ich mir keine Sorgen mehr machen. Ich dachte, ich hätte nun endlich mein eigenes Leben zurück, weil sie sich größtenteils um sich selbst kümmern konnte.

Doch da hatte ich mich wohl gewaltig geirrt.

***

Die Sonne brannte mir in den Nacken, das trockene Gras kitzelte unter meinen nackten Fußsohlen. Die Luft roch harzig und erdig, mit einer intensiven Unternote von Jasmin. Im Schatten einer riesigen Magnolie saß ein kuschelndes Paar im Gras, weiter hinten lag der See mit dem Tempel des Asklepios, ein von Reisenden viel besuchter Ort.

Während ich langsam mit meinen Schuhen in der Hand über die Wiese ging, lauschte ich den Stimmen um mich herum – Italienisch vermischte sich mit Englisch und anderen europäischen Sprachen. Irgendwo weinte ein Kind. Ein Vater und sein Sohn spielten laut lachend Fangen.

Ich hob den Blick zum Himmel, nahm ein Flugzeug vor unendlichem Blau wahr und spürte, wie Ruhe und Kontrolle in meinen Körper zurückkehrten. Zwar kreisten meine Gedanken immer noch ununterbrochen vor sich hin, doch wenigstens die Panik ließ allmählich nach.

Nach einer guten halben Stunde fühlte ich mich wieder wie ich selbst und holte mein Handy raus, um Tavi eine Nachricht zu schreiben. Sie hatte in der Zwischenzeit mehrfach versucht, mich zu erreichen.

Ich: Es tut mir leid, pulcino. Meine Reaktion war echt beschissen. Ich freu mich für euch. Wirklich. Ich muss nur erst mal darauf klarkommen. Kann ich dich morgen früh anrufen? XX

 

Sie antwortete beinahe sofort.

Tavi: Klar, kein Problem.

 

Kein Problem. Mehr nicht. Da hatte ich ordentlich etwas gutzumachen, aber vorher musste ich meine Gedanken sortieren – und bevor ich das machen konnte, sollte ich erst mal den Rest meiner Arbeit erledigen.

Ich zog also eine mentale Schublade auf und stopfte all den neuen Ballast hinein, sie ging nicht ganz zu und quietschte obendrein protestierend auf, aber das ignorierte ich. Eins nach dem anderen. Erst mal Fabio. Dann hoffentlich ein früher Feierabend, den ich nutzen konnte, um mir Gedanken um Tavis neue Situation zu machen.

Das war doch eine gute Idee.

Mit neuer Klarheit schlüpfte ich zurück in meine Schuhe.

Doch dann fiel mir auf, wo ich war. Gabriella und Lio wohnten ganz in der Nähe. Gegen eine Umarmung von ein paar Herzensmenschen hätte ich jedenfalls nichts einzuwenden – und obendrein konnte ich dann auch direkt mit Gabriella über den Fabio-Shitstorm sprechen. Nach Absprache mit Fabio hatten wir uns nämlich vorgenommen, all unsere Schmetterlinge über die Situation aufzuklären. Außerdem hatte Gabriella immer einen guten Gedankenanstoß für mich, also würden mir die Arbeit und das Nachdenken vielleicht etwas leichter fallen.

Die Via Margutta lag gleich neben der Villa Borghese, getrennt durch eine Hauptverkehrsstraße und eine Häuserzeile, zu der auch der Gebäudekomplex der drei Frauen gehörte, die vor ein paar Jahren in mein Leben getreten waren. Während ich mit fast all meinen Schmetterlingen ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, war das zu Gabriella in den letzten Jahren besonders eng geworden. Nach allem, was sie und ihr Mann Lio durchgemacht hatten, war es schwer, nicht auf jedem Schritt ihres Weges mitzufiebern, als würden sie zur Familie gehören. Gabriellas beste Freundinnen Noemi und Sofia wohnten in den beiden Häusern nebenan und zählten inzwischen zu meinem lieb gewonnenen Bekanntenkreis.

Nach fünfzehn Minuten Gehweg durchquerte ich bereits das gusseiserne Tor und betrat den Innenhof, an den ich mich kaum noch erinnern konnte, wie er früher einmal ausgesehen hatte. Inzwischen hatten die Menschen, die hier lebten, ihn zu einer wahren Wohlfühloase umfunktioniert.

Im Zentrum des Hofes wuchs ein riesiger Walnussbaum, an dessen einem Ast eine Schaukel für Sofias Sohn Alessio hing. Verborgen hinter einer Wand aus Pflanzen in verschiedenen Höhen befand sich ein Loungebereich, in dem wir schon oft Meetings abgehalten hatten. Es gab einen selbst gebauten Pizzaofen, eine Ecke mit einem Turnerreck, einen Parkplatz für Fahrräder und einen anderen für ein Auto, den jedoch niemand benutzte.

Mein absoluter Favorit an diesem Ort war jedoch der Duft nach frischem Gebäck, der auch heute wieder in der Luft hing. Grund dafür war Sofias Backstube, in der die schönsten und leckersten Hochzeitstorten von ganz Rom entstanden. Dolce Nozze lag etwas versteckt hinter dem großen Walnussbaum und verströmte einen so süßen Duft, dass sich in regelmäßigen Abständen Reisende in den Innenhof verirrten, um Gebäck zu kaufen. Die Enttäuschung darüber, dass es hier nur Hochzeitstorten gab, war meist groß.

Ich hingegen hatte Glück. Wann immer ich an einem BRIELLA-Meeting vor Ort teilnahm, verwöhnte Sofia uns mit dem himmlisch leckeren Verschnitt ihrer Torten. Die Reste mochten vielleicht nicht so hübsch aussehen wie die finalen Produkte, doch sie versetzten mich trotzdem oft genug in Ekstase. Für ihre großzügigen Spenden bedankte ich mich, indem ich ihre Torten weiterempfahl – was sie vermutlich nicht einmal wusste – oder sie für Veranstaltungen unserer Agentur buchte – worauf sie immer neckisch sagte: »Ich mache Hochzeitstorten, Florin. Sag mir noch mal Bescheid, wenn du heiratest«, den Termin dann aber trotzdem in ihren Kalender eintrug und uns mit thematisch passenden Torten oder hübsch verzierten Muffins belieferte.

Auch heute duftete es wieder herrlich nach geschmolzenem Karamell, doch es war nicht der Duft, der mich in die Backstube zog (nachdem ich erfolglos an Gabriellas Tür geklopft hatte, natürlich), sondern Sofias Stimme, die durch die weit geöffneten, gläsernen Flügeltüren drang.

Mit jedem Schritt durch den Innenhof wurde der Geruch intensiver, und ihre Stimme fügte sich zu einem schrillen Songtext zusammen, der mir bekannt vorkam.

Zwar traf sie nicht jeden Ton, und die Melodie im Hintergrund fehlte auch, doch ich erkannte das Lied trotzdem sofort. The Greatest Showman war schließlich einer meiner absoluten Lieblingsfilme. Mochte Sofia ihn etwa auch so gerne?

Als ich die Flügeltüren erreicht hatte, die vor einigen Jahren ein altes Holztor ersetzt hatten, erhaschte ich einen ersten Blick auf Gabriellas beste Freundin. Veilchenblaues T-Shirt, Momjeans, eine rosa Schürze mit dem Dolce Nozze-Logo und große Over-Ear-Kopfhörer, die dafür sorgten, dass sie mich nicht kommen hörte. Die dunklen Haare hatte sie wie immer zu einem riesigen Dutt aufgetürmt, der (ebenfalls wie immer) die Frage aufwarf, wie sie wohl mit offenem Haar aussah. Darüber dachte ich eindeutig zu häufig nach.

Ich lehnte mich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen und lauschte ihrer Stimme, während sie mit dem Rücken zu mir Zutaten für eine neue Torte abmaß – zumindest dann, wenn sie ihre Hände nicht nutzte, um dem Text noch mehr Ausdruck zu verleihen.

Mit voller Inbrunst schmetterte sie die nächste Liedzeile mit, während sie mit ihrem Körper eine schwungvolle Drehung vollführte. Dabei sah sie mich in der Tür stehen. Sie japste erschrocken auf. Der Teigschaber fiel ihr aus der Hand.

Verschlagen grinste ich sie an.

Mit spitzen Fingern schob sie die Kopfhörer von ihren Ohren. »Florin! Musst du dich so anschleichen?«

»Wenn das die einzige Möglichkeit ist, deine versteckten Talente zu entdecken, muss ich das wohl. Lass dich nicht aufhalten.«