The Couple Next Door - Shari Lapena - E-Book
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The Couple Next Door E-Book

Shari Lapena

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Beschreibung

Jedes Paar hat seine Geheimnisse. Manche sind tödlich ...

Deine Nachbarin möchte nicht, dass du dein Baby zur Dinnerparty mitbringst. Dein Ehemann sagt, das sei schon in Ordnung. Ihr wohnt ja gleich nebenan. Außerdem habt ihr ein Babyfon und könnt abwechselnd nach der Kleinen sehen. Deine Tochter schläft, als du das letzte Mal nach ihr siehst. Doch jetzt herrscht Totenstille im Haus. Du rennst ins Kinderzimmer - und dein schlimmster Alptraum wird wahr: Die Wiege ist leer.

Es bleibt nur eins: die Polizei zu rufen - doch wer weiß, was sie finden wird ...

Shari Lapena hat mit ihrem Debüt "The Couple Next Door" einen hochspannenden Thriller geschrieben, der in den USA und England innerhalb kürzester Zeit zum Mega-Bestseller avancierte.

»The Couple Next Door ist 2016 der Thriller, über den am meisten gesprochen werden wird« Stylist


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Seitenzahl: 469

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Inhalt

CoverInhaltÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigKapitel siebenundzwanzigKapitel achtundzwanzigKapitel neunundzwanzigKapitel dreißigKapitel einunddreißigKapitel zweiunddreißigKapitel dreiunddreißigKapitel vierunddreißigKapitel fünfunddreißigKapitel sechsunddreißigKapitel siebenunddreißigDanksagungXXL-LeseprobeWidmungPrologKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechs

Über dieses Buch

Deine Nachbarin möchte nicht, dass du deine kleine Tochter zur Dinnerparty mitbringst. Du sollst das nicht persönlich nehmen, aber Babygeschrei würde sie beim Essen einfach stören. Dein Ehemann sagt, das sei schon in Ordnung. Ihr wohnt ja gleich nebenan. Außerdem habt ihr ein Babyfon und könnt abwechselnd nach der Kleinen sehen. Deine Tochter schläft, als du das letzte Mal nach ihr siehst. Doch jetzt herrscht Totenstille im Haus. Beunruhigt rennst du ins Kinderzimmer – und dein schlimmster Alptraum wird wahr: Die Wiege ist leer. Von deinem Baby keine Spur. In deinem ganzen bisherigen Leben hast du noch nie die Polizei rufen müssen. Jetzt ist sie da – doch wer weiß, was sie finden wird …

Über die Autorin

Shari Lapena arbeitete als Rechtsanwältin und Englischlehrerin, bevor sie sich dem Schreiben von Romanen widmete. The Couple Next Door ist ihr Thrillerdebüt, und schon vor seiner Veröffentlichung sorgte das Buch international für Furore. Der Roman stand wochenlang unter den Top Ten der Sunday-Times-Bestsellerliste und wurde hymnisch besprochen. Shari Lapena lebt in Toronto und arbeitet derzeit an ihrem zweiten Thriller.

Shari Lapena

THE COUPLE NEXT DOOR

Thriller

Übersetzung aus dem Englischen von Rainer Schumacher

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Couple Next Door«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2016 by 1742145 Ontario Limited 2016

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Umschlaggestaltung: Massimo Peter nach der Vorlage von Richard Ogle/TW

Umschlagmotive: vorne © Sean Ellis/Getty Images hinten © Patryce Bak/Getty Images

Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erscheinenden Werkes »A Stranger in the House« von Shari Lapena.

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven von © Zoe Norvell, New York und © Plainpicture/aurelia frey

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4029-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Helen Heller,die großartigste Agentin überhaupt

Kapitel eins

Anne spürt, wie die Säure in ihrem Magen brennt und sich einen Weg durch ihre Kehle nach oben sucht. In ihrem Kopf dreht sich alles. Sie hat eindeutig zu viel getrunken. Cynthia hat ihr den ganzen Abend über nachgeschenkt. Eigentlich wollte Anne sich zurückhalten, doch diesen Vorsatz hat sie rasch aufgegeben. Ohne Alkohol hätte sie diesen Abend nicht überlebt. Sie erinnert sich nicht mehr, wie viel sie während dieser nicht enden wollenden Dinnerparty getrunken hat. Auf jeden Fall wird sie morgen früh ihre Milch abpumpen und wegschütten müssen.

Anne welkt in der Hitze der Sommernacht dahin, während sie ihre Gastgeberin aus zusammengekniffenen Augen beobachtet. Cynthia flirtet offen mit Annes Mann Marco. Warum lässt Anne sich das gefallen? Warum lässt Graham, Cynthias Mann, das zu? Anne ist wütend, aber machtlos. Sie weiß nicht, wie sie dem ein Ende bereiten soll, ohne sich lächerlich zu machen. Sie haben alle getrunken. Also ignoriert sie es, obwohl sie innerlich kocht, und nippt an ihrem gekühlten Wein. Eine Szene zu machen widerspricht Annes Erziehung. Sie mag es nicht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.

Cynthia hingegen …

Alle drei – Anne, Marco und Graham, Cynthias sanftmütiger Ehemann – beobachten sie fasziniert. Besonders Marco scheint den Blick nicht von Cynthia abwenden zu können. Als sie sich vorbeugt, um sein Glas aufzufüllen, kommt sie ihm ein wenig näher als nötig. Ihr Ausschnitt ist so tief, dass Marcos Nase fast in ihrem Dekolleté verschwindet.

Anne weiß, dass Cynthia mit jedem flirtet. Sie sieht aber auch so unverschämt gut aus, dass sie vermutlich gar nicht anders kann.

Doch je länger Anne sich das ansieht, desto mehr fragt sie sich, ob da nicht doch etwas zwischen Marco und Cynthia läuft. Dieses Gefühl ist neu für sie. Vielleicht hat der Alkohol ja die Paranoia in ihr geweckt.

Nein, sagt sie sich. Sie würden nicht so offen flirten, wenn sie wirklich etwas zu verbergen hätten. Das Ganze scheint eher von Cynthia auszugehen, er fühlt sich vor allem geschmeichelt. Marco sieht ähnlich umwerfend aus wie Cynthia. Mit seinem zerzausten dunklen Haar, den haselnussbraunen Augen und dem charmanten Lächeln zieht er überall die Blicke auf sich. Cynthia und Marco geben ein fantastisches Paar ab. Hör auf damit, ermahnt Anne sich. Natürlich ist Marco dir treu. Sie weiß, dass seine Familie das Wichtigste für ihn ist. Sie und das Baby bedeuten ihm alles. Marco wird an ihrer Seite stehen, was auch immer passieren mag – sie trinkt einen Schluck Wein –, in guten wie in schlechten Zeiten.

Doch als sie mit ansehen muss, wie Cynthia sich förmlich über ihren Mann drapiert, wird Anne immer unruhiger und wütender. Sie hat immer noch zwanzig Pfund Übergewicht nach ihrer Schwangerschaft – und das sechs Monate nach der Geburt ihres Kindes. Dabei war sie davon ausgegangen, längst wieder ihr altes Gewicht zu haben, doch offensichtlich dauert das mindestens ein Jahr. Auf jeden Fall sollte sie beim Einkaufen nicht mehr in der Regenbogenpresse blättern und sich all diese Celebrity-Moms mit ihren Personal Trainern zum Vorbild nehmen, die schon nach wenigen Wochen wieder fantastisch aussehen.

Doch selbst in ihren besten Zeiten hat Anne es nie mit Frauen wie Cynthia aufnehmen können, ihrer größeren, wohlgeformteren Nachbarin: die langen Beine, die Wespentaille, der große Busen, die Porzellanhaut und das glänzend schwarze Haar … Und wie Cynthia sich immer aufdonnert: High Heels und sexy Klamotten … Selbst für ein Dinner mit nur zwei Gästen im eigenen Haus.

Anne kann sich nicht auf das Gespräch konzentrieren. Sie blendet es aus und starrt stattdessen auf den verzierten Marmorkamin, der genauso aussieht wie der Kamin in ihrem Wohnzimmer auf der anderen Seite der Wand, die Anne und Marco sich mit Cynthia und Graham teilen. Sie leben in einem der Reihenhäuser, die typisch für diesen Teil des New Yorker Hinterlandes sind. Massive Gebäude, erbaut gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Alle Häuser in einer Reihe gleichen sich: italienischer Stil, top restauriert und teuer. Anne und Marco wohnen am Ende der Reihe, in der jedes Haus kleine, geschmackliche Unterschiede im Dekor aufweist. Trotz aller Einheitlichkeit ist so jedes für sich ein kleines Meisterwerk.

Unbeholfen greift Anne nach ihrem Handy und schaut auf die Uhr. Es ist fast ein Uhr früh. Um Mitternacht hat sie zum letzten Mal nach dem Baby geschaut, und eine halbe Stunde später hat Marco noch einmal nach ihm gesehen. Dann ist er hinausgegangen, um mit Cynthia eine Zigarette auf der Terrasse zu rauchen, während Anne und Graham verlegen an dem überfüllten Esstisch saßen und verzweifelt versuchten, ein Gespräch in Gang zu halten. Anne hätte mit den beiden in den Hinterhof gehen sollen. Dort weht vermutlich eine kühle Brise. Doch sie hat es nicht getan, weil Graham nicht gerne im Zigarettenrauch steht, und es äußerst unhöflich gewesen wäre, ihn auf seiner eigenen Feier allein zu lassen. Also ist sie aus Anstand geblieben. Graham, ein WASP genau wie Anne, ist ein ausgesprochen höflicher Mensch. Warum so jemand ausgerechnet ein Flittchen wie Cynthia geheiratet hat, bleibt ihr ein Rätsel. Inzwischen sind Cynthia und Marco von draußen zurückgekommen, und Anne will jetzt einfach nur noch weg von hier, auch wenn alle anderen sich noch zu amüsieren scheinen.

Anne schaut zu dem Babyfon am anderen Ende des Tisches hinüber. Das kleine rote Licht glüht wie die Spitze einer brennenden Zigarette. Der Bildschirm für die Kameraüberwachung ist kaputt – Anne hat es vor ein paar Tagen fallen gelassen, und Marco hat es noch nicht ersetzt –, aber der Ton funktioniert. Plötzlich fühlt sich alles irgendwie falsch an. Wer geht zu einem Dinner mit den Nachbarn und lässt sein eigenes Baby allein zuhause? Was für eine Mutter tut sowas? Sofort überfällt Anne ein vertrautes, quälendes Gefühl. Ich bin keine gute Mutter.

Was macht es schon, dass die Babysitterin abgesagt hat? Sie hätten Cora mitbringen und in den Laufstall setzen sollen. Aber Cynthia hat gesagt: keine Kinder. Zu Grahams Geburtstag sollte es ein Erwachsenenabend werden. Das ist ein weiterer Grund, warum Anne Cynthia inzwischen nicht mehr mag, obwohl sie früher beste Freundinnen waren: Cynthia mag Babys nicht wirklich. Aber wer sagt eigentlich, dass man ein sechs Monate altes Baby nicht zu einer Dinnerparty mitnehmen kann? Wie hat Marco ihr nur einreden können, das wäre okay? Das ist es nämlich nicht. Es ist unverantwortlich. Was würden wohl die anderen aus der Müttergruppe dazu sagen, wenn Anne ihnen davon erzählen würde? Wir haben unser sechs Monate altes Baby zuhause allein gelassen und haben nebenan gefeiert. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie bereits, wie die Münder der Mütter vor Entsetzen aufklappen und sich ein peinliches Schweigen über den Raum senkt. Aber Anne wird ihnen nichts davon erzählen. Die anderen Mütter würden sie sofort als Aussätzige betrachten.

Sie und Marco haben sich gestritten, bevor sie losgegangen sind. Als die Babysitterin angerufen hat, um abzusagen, hat Anne angeboten, zuhause zu bleiben. Sie wollte ohnehin nicht gehen. Aber Marco hat nichts davon wissen wollen.

»Du kannst doch nicht einfach hierbleiben«, hat er erklärt, als sie in der Küche diskutierten.

»Ich würde aber gerne bleiben«, erwiderte Anne mit leiser Stimme. Cynthia auf der anderen Seite der gemeinsamen Wand sollte sie nicht hören.

»Es würde dir aber ganz guttun, mal rauszukommen«, konterte Marco und senkte ebenfalls die Stimme. Und dann fügte er hinzu: »Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat.«

Den ganzen Abend schon denkt Anne darüber nach, ob diese Bemerkung einfach nur gemein und selbstsüchtig war, oder ob Marco ihr vielleicht doch einfach nur helfen wollte. Jedenfalls hat sie nachgegeben. Marco hat sie davon überzeugt, dass sie mit dem Babyfon ja jederzeit erfährt, ob das Baby sich rührt oder aufwacht. Außerdem würden sie alle halbe Stunde nach ihm sehen. »Es passiert schon nichts«, hat er gesagt.

Es ist ein Uhr. Sollte Anne jetzt nach Cora sehen oder versuchen, Marco zum Gehen zu überreden? Sie will nach Hause und ins Bett. Sie will, dass dieser Abend endlich vorbei ist.

Anne zieht ihren Mann am Arm. »Marco«, drängt sie ihn, »wir sollten gehen. Es ist ein Uhr.«

»Oh, bleibt doch noch ein wenig«, sagt Cynthia. »So spät ist es doch noch gar nicht!« Offensichtlich will sie noch weiterfeiern. Sie will nicht, dass Marco geht. Allerdings würde es ihr wohl kaum etwas ausmachen, wenn Anne ginge. Da ist sich Anne sicher.

»Für dich vielleicht nicht«, entgegnet Anne mit überraschend fester Stimme, obwohl sie viel zu viel getrunken hat, »aber ich muss früh raus und das Baby füttern.«

»Du Arme«, sagt Cynthia, und aus irgendeinem Grund ärgert Anne das. Cynthia hat keine Kinder, und sie hat auch nie welche gewollt. Sie und Graham haben sich gemeinsam dagegen entschieden.

Marco dazu zu bewegen, nach Hause zu gehen, ist schwierig. Er scheint bleiben zu wollen. Er hat ziemlich viel Spaß, doch Anne wird immer nervöser.

»Nur noch einen«, sagt Marco zu Cynthia, hebt sein Glas und meidet den Blick seiner Frau.

Marco ist heute Abend ungewöhnlich ausgelassen. Fast wirkt es gezwungen. Und Anne fragt sich warum. Zuhause ist er in letzter Zeit eher ruhig, abwesend und manchmal sogar launisch. Aber heute steht er ganz im Mittelpunkt, dank Cynthia. Anne hat schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt. Marco erzählt ihr so gut wie gar nichts mehr. Er schließt sie aus. Oder vielleicht zieht er sich auch wegen ihrer Depressionen von ihr zurück, wegen des ›Baby Blues‹. Er ist enttäuscht von ihr. Aber wer ist das nicht? Auf jeden Fall zieht Marco heute Abend eindeutig die Gesellschaft der schönen, quirligen Cynthia vor.

Anne sieht auf die Uhr und verliert endgültig die Geduld. »Ich werde jetzt gehen. Ich muss um eins nach dem Baby sehen.« Sie schaut Marco an. »Bleib ruhig, so lange du willst«, fügt sie in gereiztem Ton hinzu. Marco sieht sie scharf an und seine Augen funkeln. Plötzlich hat sie den Eindruck, dass er ganz und gar nicht betrunken ist, während sich bei ihr alles dreht. Wollen sie sich jetzt ernsthaft streiten? Vor den Nachbarn? Wirklich? Anne schaut sich nach ihrer Handtasche um, schnappt sich das Babyfon und bemerkt, dass das Kabel noch in der Steckdose steckt. Sie bückt sich, um den Stecker rauszuziehen, und weiß, dass ihr dabei alle am Tisch auf den fetten Arsch starren. Sollen sie ruhig! Sie hat das Gefühl, als hätten sich alle gegen sie, die Spielverderberin, zusammengerottet. Anne brennen die Tränen in den Augen, und sie kämpft dagegen an. Sie will nicht vor den anderen weinen. Cynthia und Graham wissen nichts von ihrer postnatalen Depression. Sie würden das nicht verstehen. Anne und Marco haben niemandem davon erzählt, abgesehen von Annes Mutter, der sich Anne vor Kurzem anvertraut hat. Sie weiß, dass ihre Mutter niemandem davon erzählen wird, noch nicht einmal ihrem Vater. Anne will auch nicht, dass sonst irgendwer es erfährt, und sie nimmt an, dass auch Marco das nicht will, auch wenn er das nie ausgesprochen hat. Wie auch immer … anderen ständig etwas vorzuspielen ist anstrengend.

Während Anne ihm den Rücken zukehrt, hört sie Marcos Sinneswandel in seiner Stimme.

»Du hast recht. Es ist schon spät. Wir sollten gehen«, sagt er. Sie hört, wie er das Weinglas auf den Tisch stellt.

Anne dreht sich um und wischt sich mit dem Handrücken die Haare aus den Augen. Sie muss dringend zum Friseur. Mit einem falschen Lächeln sagt sie: »Beim nächsten Mal sind wir die Gastgeber.« Und stumm fügt sie hinzu: Ja, kommt ruhig in unser Haus, wo unser Kind lebt. Ich hoffe, es schreit die ganze Zeit und versaut euch den Abend. Ich werde auch ganz sicher mit der Einladung warten, bis unsere Tochter die ersten Zähnchen bekommt.

Sie gehen sofort. Sie müssen kein Baby für den Aufbruch fertigmachen, nur sich selbst. Anne steckt das Babyfon in die Handtasche. Cynthia scheint der rasche Aufbruch zu ärgern – Graham ist es offenbar gleichgültig –, und Anne und Marco drücken die beeindruckend schwere Haustür auf und gehen die Treppe hinunter. Anne hält sich an dem kunstvoll geschmiedeten Geländer fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Es sind nur ein paar Schritte über den Bürgersteig bis zu ihrer eigenen Treppe, die ein ähnliches Geländer ziert, und dahinter erwartet sie eine ebenso imposante Haustür. Anne geht ein kleines Stück vor Marco. Sie sagt kein Wort. Vielleicht wird sie diese Nacht gar nicht mehr mit ihm sprechen. Sie marschiert die Stufen hinauf und bleibt wie erstarrt stehen.

»Was ist?«, fragt Marco mit angespannter Stimme, als er hinter sie tritt.

Anne starrt auf die Haustür. Sie steht ein gutes Stück offen.

»Ich weiß, dass ich sie abgeschlossen habe!«, erklärt Anne mit schriller Stimme.

»Vielleicht hast du es ja vergessen«, murrt Marco. »Du hast viel getrunken.«

Doch Anne hört ihm nicht zu. Sie stürmt ins Haus und rennt die Treppe zum Kinderzimmer hinauf. Marco ist direkt hinter ihr.

Als sie das leere Gitterbett sieht, schreit sie.

Kapitel zwei

Anne fühlt den Schrei in ihrem Kopf und wie er von den Wänden widerhallt. Ihr Schrei ist überall. Dann verstummt sie und steht wie erstarrt vor dem leeren Bettchen. Die Hand hält sie vor den Mund. Marco fummelt am Lichtschalter herum. Dann starren sie beide in das leere Gitterbett, in dem eigentlich ihre Tochter liegen sollte. Sie kann doch nicht verschwunden sein. Das ist unmöglich. Cora kann noch nicht herausklettern. Sie ist erst knapp sechs Monate alt.

»Ruf die Polizei«, flüstert Anne. Dann übergibt sie sich, und als sie sich vornüberbeugt, fließt Erbrochenes zwischen ihren Fingern hindurch und tropft auf den Parkettboden. Das Kinderzimmer mit den pastellgelben Wänden, auf denen kleine Lämmchen herumtollen, füllt sich sofort mit dem Gestank von Galle und Panik.

Marco rührt sich nicht. Anne schaut ihn an. Er steht unter Schock, ist wie gelähmt. Er starrt in das leere Bettchen, als wolle er es nicht glauben. Anne sieht die Angst und das schlechte Gewissen in seinen Augen, dann schreit sie. Es ist ein furchtbares, durchdringendes Geräusch wie von einem gequälten Tier.

Marco rührt sich noch immer nicht. Anne rennt durch den Flur in ihr Schlafzimmer, reißt das Telefon vom Nachttisch und wählt die Notrufnummer. Ihre Hände zittern, und Erbrochenes verteilt sich auf dem Hörer. Schließlich kommt Marco wieder zu sich. Anne hört ihn herumlaufen, während sie über den Flur hinweg auf das leere Bettchen starrt. Marco schaut im Badezimmer nach. Dann läuft er an seiner Frau vorbei zum letzten Raum auf dieser Etage, den sie in ein Arbeitszimmer umgewandelt haben. Noch während er das tut, fragt Anne sich wie abwesend, welchen Sinn das haben sollte. Schließlich kann ihre Tochter das Bettchen nicht verlassen. Sie ist nicht im Bad, nicht im Gästezimmer und auch nicht im Büro.

Sie ist entführt worden.

Als der diensthabende Beamte sich meldet, schreit Anne: »Jemand hat unser Baby entführt!«, und sie ist kaum in der Lage, die Fragen des Beamten zu beantworten. »Ich verstehe, Ma’am. Bitte, versuchen Sie, ruhig zu bleiben. Die Polizei ist auf dem Weg«, versichert der Mann ihr.

Anne legt auf. Sie zittert am ganzen Leib. Sie hat das Gefühl, als würde ihr wieder schlecht. Dann kommt ihr plötzlich ein Gedanke: Was wird passieren, wenn die Beamten kommen? Schließlich haben sie ihr Kind allein gelassen. Ist das verboten? Wie sollen sie das erklären?

Marco erscheint in der Schlafzimmertür. Er ist kreidebleich.

»Das ist alles deine Schuld!«, schreit Anne. Rasend vor Zorn blickt sie ihn an und drängt sich an ihm vorbei. Sie stürmt ins Badezimmer und übergibt sich wieder, diesmal ins Waschbecken. Dann wäscht sie sich das Erbrochene von den zitternden Händen und spült den Mund aus. Sie sieht sich im Spiegel an. Marco steht hinter ihr. Ihre Blicke treffen sich.

»Tut mir leid«, flüstert er. »Es tut mir ja so leid. Es ist alles meine Schuld.«

Es tut ihm wirklich leid. Das sieht Anne. Sie hebt die Hand und schlägt auf sein Spiegelbild über dem Waschbecken. Der Spiegel zerbirst, und Anne bricht schluchzend zusammen. Marco versucht, sie in die Arme zu nehmen, doch sie stößt ihn zurück und rennt nach unten. Sie hat sich an der Hand geschnitten und hinterlässt eine Blutspur auf dem Geländer.

*

Eine Aura der Unwirklichkeit umgibt alles, was in der Folge geschieht. Anne und Marcos gemütliches Heim wird zu einem Tatort.

Anne sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer. Irgendjemand hat ihr eine Decke um die Schultern gelegt, doch sie zittert noch immer. Sie steht unter Schock. Streifenwagen parken draußen auf der Straße. Ihre pulsierenden roten Lichter sind durch das Fenster zu sehen, sie flackern auf den blassen Wänden. Anne sitzt vollkommen reglos auf dem Sofa und starrt wie hypnotisiert auf das Flackern.

Mit brechender Stimme hat Marco der Polizei das Baby rasch beschrieben: sechs Monate alt, blond, blaue Augen, Gewicht knapp sechzehn Pfund. Bei seinem Verschwinden hat es eine Einwegwindel getragen und einen schlichten rosa Strampler. Außerdem fehlt eine leichte weiße Sommerbabydecke aus dem Bett.

Im Haus wimmelt es nur so von Uniformierten. Systematisch durchsuchen sie das Haus. Einige von ihnen tragen Latexhandschuhe und haben Spurensicherungskoffer dabei. In den wenigen Minuten vor Eintreffen der Polizei sind Anne und Marco wie wild durch das Haus gerannt, haben aber nichts gefunden. Die Kriminaltechniker bewegen sich langsam vorwärts. Sie suchen nicht nach Cora. Sie suchen nach Spuren. Das Baby ist längst nicht mehr da.

Marco setzt sich neben Anne aufs Sofa, legt den Arm um sie und drückt sie an sich. Sie will sich von ihm lösen, tut es aber nicht. Sie lässt seinen Arm, wo er ist. Wie würde das auch aussehen, wenn sie ihn jetzt wegschieben würde? Sie riecht den Alkohol in seinem Atem.

Inzwischen gibt Anne sich selbst die Schuld an allem. Gerne würde sie Marco die Verantwortung zuschieben, doch sie hat schließlich zugestimmt, das Baby allein zu lassen. Sie hätte zuhause bleiben sollen. Nein … Sie hätte Cora nach nebenan mitnehmen sollen. Zum Teufel mit Cynthia. Sie bezweifelt, dass Cynthia sie deswegen rausgeworfen hätte. Schließlich wäre dann die Feier für Graham ausgefallen. Doch diese Erkenntnis kommt zu spät.

Alle werden sie verurteilen, nicht nur die Polizei. Das geschieht ihnen nur recht, werden sie sagen. Warum lassen sie ihr Baby auch allein. Tatsächlich würde Anne genauso denken, wäre das jemand anderem passiert. Sie weiß, wie voreingenommen Mütter sein können und wie gut es sich anfühlt, über jemand anderen den Stab zu brechen. Anne denkt an ihre Mutter-Kind-Gruppe, die sich einmal in der Woche zu Kaffee und Kuchen bei einer von ihnen trifft. Was werden sie wohl sagen?

Ein weiterer Mann ist gekommen. Er strahlt Ruhe aus in seinem dunklen, eleganten Anzug. Die uniformierten Beamten behandeln ihn mit Ehrfurcht. Anne hebt den Blick, schaut ihm in die durchdringenden blauen Augen und fragt sich, wer er wohl ist.

Der Mann geht auf sie zu und setzt sich Anne und Marco gegenüber in einen Sessel. Er stellt sich als Detective Rasbach vor und beugt sich nach vorne: »So … Jetzt erzählen Sie mir erst einmal, was passiert ist.«

Anne vergisst den Namen des Detectives sofort, sie hat ihn gar nicht erst registriert. ›Detective‹ ist alles, was sie gehört hat. Sie schaut ihn an. Die Offenheit und Intelligenz in seinen Augen ermutigt sie. Er wird ihnen helfen. Er wird ihnen Cora zurückbringen. Sie versucht nachzudenken, doch es gelingt ihr nicht. Sie ist vollkommen außer sich und zugleich wie betäubt. Sie starrt dem Detective einfach nur in die klugen Augen und überlässt Marco das Reden.

»Wir waren nebenan«, beginnt Marco. Er ist sichtlich aufgeregt. »Bei den Nachbarn …« Dann hält er inne.

»Ja?«, hakt der Detective nach.

Marco zögert.

»Und wo war das Baby?«, fragt der Detective.

Marco antwortet nicht darauf. Er will es nicht sagen.

Anne reißt sich zusammen und antwortet für ihn. Die Tränen laufen ihr übers Gesicht. »Wir haben sie hiergelassen, in ihrem Bettchen. Das Babyfon war eingeschaltet.« Sie schaut den Detective an und wartet auf eine Reaktion – was für schreckliche Eltern –, doch er bleibt vollkommen ruhig. »Wir hatten das Babyfon drüben an, und wir haben ständig nach ihr gesehen. Jede halbe Stunde.« Sie schaut zu Marco. »Wir hätten nie gedacht …« Anne kann den Satz nicht beenden. Sie hält sich die Hand vor den Mund.

»Wann haben Sie zum letzten Mal nach ihr gesehen?«, fragt der Detective und holt ein kleines Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts.

»Ich habe um Mitternacht nach ihr gesehen«, antwortet Anne. »Ich erinnere mich noch genau daran. Wie gesagt, wir haben alle halbe Stunde nach ihr gesehen, und um zwölf war ich dran. Da war alles vollkommen in Ordnung. Sie hat geschlafen.«

»Und ich habe um halb eins nach ihr gesehen«, fügt Marco hinzu.

»Sind Sie sich absolut sicher, was die Zeit betrifft?«, fragt der Detective. Marco nickt und starrt dabei auf seine Füße. »Und das war das letzte Mal, dass Sie nach ihr gesehen haben, bevor Sie nach Hause gekommen sind?«

»Ja«, sagt Marco und schaut den Detective wieder an. Nervös fährt er sich mit der Hand durch das dunkle Haar. »Ich habe um halb eins nach ihr gesehen. Ich war an der Reihe. Wir haben uns ganz genau an den Zeitplan gehalten.«

Anne nickt.

»Wie viel haben Sie heute Abend getrunken?«, fragt der Detective Marco.

Marco wird rot. »Unsere Nachbarn haben uns zu einer kleinen Feier eingeladen. Da hatte ich schon ein paar«, gibt er zu.

Der Detective dreht sich zu Anne um. »Haben Sie heute Abend auch etwas getrunken, Mrs. Conti?«

Ihr Gesicht brennt. Stillende Mütter sollten eigentlich nichts trinken. Am liebsten hätte Anne gelogen. »Ich habe zum Essen ein wenig Wein getrunken. Ich weiß allerdings nicht genau, wie viel«, sagt sie. »Wir haben gefeiert.« Sie fragt sich, wie betrunken sie wohl aussieht und was dieser Detective von ihr denkt. Sie hat das Gefühl, als könne er direkt in sie hineinblicken. Sie denkt an das Erbrochene im Kinderzimmer. Riecht der Detective den Alkohol, so wie sie ihn bei Marco riecht? Dann fällt ihr der zerbrochene Spiegel wieder ein und ihre blutende Hand, um die sie inzwischen ein sauberes Geschirrtuch gewickelt hat. Anne schämt sich. Ein betrunkenes Elternpaar, das seine sechs Monate alte Tochter im Stich gelassen hat. Ob man sie dafür wohl belangen wird?

»Ist das wichtig?«, fragt Marco den Detective.

»Es könnte Ihre Beobachtungen beeinflusst haben«, erklärt der Detective in sachlichem Ton. Er verurteilt sie nicht. Offenbar interessieren ihn nur die Fakten. »Um wie viel Uhr haben Sie die Feier verlassen?«, fragt er.

»Kurz vor halb zwei«, antwortet Anne. »Ich habe auf mein Handy geschaut. Ich wollte gehen. Ich … Ich hätte eigentlich um ein Uhr nach ihr sehen sollen – ich war dran –, aber ich dachte mir, wir würden ohnehin gleich gehen, und ich habe versucht, Marco zu drängen.« Sie fühlt sich furchtbar schuldig. Hätte sie um ein Uhr nach ihrer Tochter gesehen, wäre sie dann noch da? Es hat so viele Möglichkeiten gegeben, all das zu verhindern.

»Sie haben um ein Uhr siebenundzwanzig bei der Polizei angerufen«, sagt der Detective.

»Die Haustür stand offen«, erinnert sich Anne.

»Die Haustür stand offen?«, wiederholt der Detective.

»Nur eine gute Handbreit. Ich bin jedoch sicher, dass ich abgeschlossen habe, nachdem ich um Mitternacht nach Cora gesehen habe«, sagt Anne.

»Wie sicher?«

Anne denkt darüber nach. Ist sie sich wirklich sicher? Als sie die offene Haustür gesehen hat, war das zumindest so. Doch jetzt, nach allem, was geschehen ist, wie kann sie sich da noch sicher sein? Sie wendet sich an ihren Mann. »Bist du sicher, dass du die Haustür nicht aufgelassen hast?«

»Absolut«, antwortet Marco gereizt. »Ich gehe nie durch die Haustür. Ich bin immer hintenrum gegangen, um nach ihr zu sehen, wie du weißt.«

»Sie haben also die Hintertür benutzt«, wiederholt der Detective.

»Ja … Und vielleicht habe ich sie nicht jedes Mal abgeschlossen«, gibt Marco zu und schlägt die Hände vors Gesicht.

*

Detective Rasbach beobachtet das Paar genau. Ein Baby wird vermisst. Einer oder mehrere Unbekannte haben es aus seinem Bettchen genommen – und zwar irgendwann zwischen ungefähr halb eins und ein Uhr siebenundzwanzig, wenn man den Eltern glauben darf, die zu der Zeit nebenan gefeiert haben. Bei ihrer Rückkehr stand die Haustür ein Stück offen, und der Vater hat vielleicht die Hintertür nicht abgeschlossen. Als die Polizei eintraf, war sie jedoch verschlossen und musste geöffnet werden. Die Angst und Not der Mutter ist nicht zu übersehen, und auch der Vater wirkt erschüttert. Trotzdem fühlt die ganze Situation sich irgendwie falsch an. Rasbach fragt sich, was hier wirklich vorgefallen ist.

Detective Jennings winkt ihn zu sich. »Bitte, entschuldigen Sie mich«, sagt Detective Rasbach und lässt die verstörten Eltern kurz allein.

»Was ist?«, fragt Rasbach leise.

Jennings hält ein kleines Röhrchen mit Tabletten hoch. »Die haben wir im Badezimmer gefunden«, sagt er.

Rasbach nimmt Jennings den durchsichtigen Plastikbehälter ab und liest das Etikett: ANNECONTI, SERTRALIN, 20mg. Rasbach weiß, dass Sertralin ein starkes Antidepressivum ist.

»Und der Badezimmerspiegel oben wurde zerschlagen«, erzählt Jennings.

Rasbach nickt. Er ist noch nicht oben gewesen. »Sonst noch was?«

Jennings schüttelt den Kopf. »Bis jetzt nicht. Das Haus sieht sauber aus. Es scheint nichts weiter zu fehlen. Genaueres werden wir allerdings erst in ein paar Stunden erfahren, wenn die Spurensicherung fertig ist.«

»Okay«, sagt Rasbach und gibt Jennings die Tabletten wieder.

Dann kehrt er zu den Eltern auf dem Sofa zurück und setzt seine Befragung fort. Er wendet sich an den Mann. »Marco … Ist es okay, wenn ich Sie Marco nenne? … Was haben Sie getan, nachdem Sie um halb eins nach dem Baby gesehen haben?«

»Ich bin wieder zurückgegangen«, antwortet Marco, »und habe im Hinterhof der Nachbarn eine Zigarette geraucht.«

»Waren Sie allein, als Sie die Zigarette geraucht haben?«

»Nein. Cynthia war bei mir.« Marco wird rot. Das entgeht Rasbach nicht. »Das ist die Nachbarin, die uns zum Dinner eingeladen hat.«

Rasbach richtet seine Aufmerksamkeit auf die Frau. Sie ist attraktiv, hat feine Gesichtszüge und glänzend braunes Haar. Im Moment ist sie allerdings entsetzlich blass. »Und Sie rauchen nicht, Mrs. Conti?«

»Nein. Cynthia aber schon«, antwortet Anne. »Ich habe mit Graham am Esszimmertisch gesessen, ihrem Mann. Er hasst Zigarettenrauch, und es war sein Geburtstag. Da hielt ich es nicht für angebracht, ihn drinnen allein zu lassen.« Und dann fügt sie unwillkürlich hinzu: »Cynthia hat den ganzen Abend über mit Marco geflirtet, und Graham tat mir leid.«

»Ich verstehe«, sagt Rasbach. Aufmerksam mustert er Marco. Er scheint völlig fertig zu sein und hat offenbar ein schlechtes Gewissen. »Kurz nach zwölf Uhr dreißig waren Sie also nebenan im Hinterhof. Haben Sie irgendeine Ahnung, wie lange Sie dort gewesen sind?«

Marco schüttelt den Kopf. »Vielleicht fünfzehn Minuten?«

»Und haben Sie da irgendetwas gehört oder gesehen?«

»Was meinen Sie?« Der Mann scheint unter Schock zu stehen. Er lallt ein wenig. Rasbach fragt sich, wie viel Alkohol er wirklich getrunken hat.

Rasbach erklärt es ihm. »Offenbar hat irgendjemand Ihr Baby zwischen zwölf Uhr dreißig und ein Uhr siebenundzwanzig entführt. Und kurz nach halb eins waren Sie für ein paar Minuten nebenan im Hinterhof.« Er beobachtet den Mann und wartet darauf, dass er eins und eins zusammenzählt. »Ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, dass irgendjemand mitten in der Nacht mit Ihrem Baby auf dem Arm einfach so zur Haustür rausspaziert ist.«

»Aber die Haustür stand doch auf«, wirft Anne ein.

»Ich habe nichts gesehen«, erklärt Marco.

»Auf dieser Straßenseite führt eine kleine Gasse hinter den Häusern entlang«, sagt Detective Rasbach. Marco nickt. »Ist Ihnen um diese Zeit vielleicht irgendjemand in dieser Gasse aufgefallen? Oder haben Sie ein Auto gehört?«

»Ich … Ich glaube nicht«, antwortet Marco. »Es tut mir leid. Ich habe weder etwas gesehen noch gehört.« Erneut hält er sich die Hände vors Gesicht. »Ich habe nicht darauf geachtet.«

Detective Rasbach hat sich die Gegend angesehen, bevor er hereingekommen ist, um die Eltern zu befragen. Er hält es für äußerst unwahrscheinlich – aber nicht für unmöglich –, dass ein Fremder in einer Straße wie dieser ein schlafendes Kind einfach so zum Vordereingang hinausträgt. Das wäre viel zu riskant. Die Reihenhäuser hier stehen dicht am Bürgersteig, und die Straße ist gut beleuchtet. Selbst spät in der Nacht sind hier noch Fußgänger und Fahrzeuge unterwegs. Da ist es wirklich seltsam, dass die Haustür offen gewesen sein soll … Oder spielen die beiden ihm etwas vor? Die Kriminaltechniker suchen im Augenblick zwar nach Fingerabdrücken an der Tür, aber Rasbach bezweifelt, dass sie etwas finden werden.

Die Rückseite erscheint ihm da aussichtsreicher. Die meisten Häuser hier, das der Contis eingeschlossen, verfügen über eine separat stehende Einzelgarage, die man über die Gasse hinter dem Haus erreicht. Die Hinterhöfe sind lang und schmal und durch Zäune voneinander getrennt, und in den meisten gibt es wie bei den Contis kleine Gärten mit Bäumen und Sträuchern darin. Überdies ist es dort hinten relativ dunkel. Es gibt keine Straßenlaternen wie an der Vorderseite. Und die Nacht ist dunkel. Wäre der Entführer zur Hintertür der Contis hinausgegangen, er hätte nur durch den Hof zur Garage gehen müssen und von da in die Gasse. Das wäre weit weniger riskant gewesen, als es zur Vordertür hinauszutragen.

Das Haus, der Hof und die Garage werden von Rasbachs Team sorgfältig untersucht. Bis jetzt haben sie jedoch nicht die geringste Spur von dem vermissten Baby gefunden. Die Garage der Contis ist leer, und das Garagentor ist zur Gasse hin weit geöffnet. Es ist durchaus möglich, dass man nichts bemerkt hat, wenn man nebenan auf der Terrasse gesessen hat, aber wahrscheinlich ist es nicht. Und das wiederum verkleinert das Zeitfenster für die Tat auf den Zeitraum zwischen ungefähr zwölf Uhr fünfundvierzig und ein Uhr siebenundzwanzig.

»Wissen Sie eigentlich, dass Ihr Bewegungsmelder nicht funktioniert?«, fragt Rasbach.

»Was?«, erwidert der Ehemann verwirrt.

»Sie haben einen Bewegungsmelder an Ihrer Hintertür, ein Licht, das eigentlich angehen sollte, wenn sich jemand nähert. Wissen Sie, dass der nicht funktioniert?«

»Nein«, flüstert die Frau.

Der Mann schüttelt heftig den Kopf. »Nein, ich … Als ich nach ihr gesehen habe, hat er noch funktioniert. Was stimmt denn damit nicht?«

»Die Birne ist rausgedreht.« Aufmerksam beobachtet Detective Rasbach die Eltern. Er hält kurz inne. »Das bedeutet, dass das Kind hinten hinausgetragen worden ist, durch die Garage, und anschließend zu einem Wagen, der in der Gasse geparkt hat.« Er wartet, doch weder die Frau noch der Mann sagen ein Wort. Ihm fällt auf, dass die Frau zittert.

»Wo ist Ihr Wagen?«, fragt Rasbach und beugt sich vor.

»Unser Wagen?« wiederholt Anne.

Kapitel drei

Rasbach wartet auf eine Antwort.

Die Frau spricht als Erste: »Der steht auf der Straße.«

»Sie parken auf der Straße, obwohl Sie eine Garage haben?«, hakt Rasbach nach.

»Das tut jeder hier«, erklärt Anne. »Das ist leichter, als durch die Gasse zu fahren, besonders im Winter. Die meisten Leute hier haben einen Anwohnerparkausweis.«

»Ich verstehe«, sagt Rasbach.

»Warum?«, fragt die Frau. »Hat das irgendwas zu bedeuten?«

Rasbach erklärt: »Das hat es dem Entführer vermutlich leichter gemacht. Wenn die Garage leer war und das Tor offenstand, dann wäre es ein Leichtes gewesen, einfach reinzufahren und das Baby in den Wagen zu bringen, ohne dass jemand etwas sieht. Hätte dort bereits ein Auto gestanden, wäre das nicht möglich gewesen und das Ganze mit Sicherheit wesentlich gewagter. Dann hätte der Entführer riskiert, dass man ihn in der Gasse sieht.«

Rasbach fällt auf, dass der Mann noch bleicher wird als zuvor. Eine wirklich außergewöhnliche Blässe.

»Jetzt hoffen wir, in der Garage ein paar Fuß- oder Reifenspuren zu finden«, fügt Rasbach hinzu.

»Das hört sich so an, als wäre das geplant gewesen«, bemerkt die Mutter.

»Glauben Sie das nicht?«, fragt Rasbach.

»Ich … Ich weiß nicht. Ich dachte, Cora sei entführt worden, weil wir sie allein im Haus gelassen haben, dass sie ein Zufallsopfer ist. Sie wissen schon … So, als hätte jemand im Park sie mitgenommen, weil ich mal kurz nicht hingesehen habe.«

Rasbach nickt, er versucht, das von ihrem Standpunkt aus zu sehen. »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagt er. »Wie eine Mutter, die ihr Kind kurz unbeaufsichtigt lässt, um ihm ein Eis zu holen. Ja, so etwas kommt vor.« Er hält kurz inne. »Aber Ihnen ist doch auch aufgefallen, dass es hier einen wichtigen Unterschied gibt.«

Die Frau starrt ihn mit leeren Augen an. Rasbach darf nicht vergessen, dass sie unter Schock steht, doch er sieht so etwas ständig. Das ist sein Job. Er ist stets analytisch und nie emotional. Wenn er Erfolg haben will, muss das so sein. Er wird dieses Kind finden, tot oder lebendig, und auch den Entführer.

In sachlichem Ton erklärt er der Mutter: »Der Unterschied besteht darin, dass der Entführer in diesem Fall vermutlich gewusst hat, dass das Kind allein im Haus gewesen ist.«

Die Eltern schauen einander an.

»Aber das wusste doch niemand«, flüstert die Mutter.

»Selbstverständlich«, fügt Rasbach hinzu, »man hätte Ihre Tochter auch entführen können, während Sie nebenan tief und fest schliefen. Das wissen wir natürlich nicht.«

Die verzweifelten Blicke der Eltern verraten ihm, wie sehr sie glauben möchten, dass es nicht passiert ist, weil sie ihr Kind allein gelassen haben, dass es nicht ihre Schuld ist, und es auch so hätte passieren können.

»Lassen Sie die Garage immer offenstehen?«, will Rasbach wissen.

»Manchmal«, antwortet der Mann.

»Schließen Sie das Tor nicht wenigstens nachts? Zum Schutz vor Dieben?«

»Es gibt nichts Wertvolles in der Garage«, erklärt der Mann. »Wenn der Wagen drinsteht, schließen wir meistens ab, aber sonst ist da nichts zu holen. Mein Werkzeug hab ich im Keller. Das hier ist zwar eine ordentliche Gegend, aber in die Garagen hier wird ohnehin ständig eingebrochen. Abschließen hilft da nichts.«

»Manche Leute lassen das Tor auch auf, um Sprayer davon abzuhalten, es mit irgendwelchen Graffiti zu verschandeln«, fügt die Frau hinzu.

Rasbach nickt. Dann fragt er: »Was für ein Auto haben Sie eigentlich?«

»Einen Audi«, antwortet Marco. »Warum?«

»Den würde ich mir gern mal ansehen. Darf ich die Schlüssel haben?«, fragt Rasbach.

Marco und Anne schauen sich verwirrt an. Dann steht Marco auf, geht zu dem kleinen Tisch neben der Haustür und nimmt einen Schlüsselbund aus der Schüssel, die dort steht. Den gibt er dem Detective und setzt sich wieder.

»Danke«, sagt Rasbach. Dann beugt er sich vor und erklärt mit fester Stimme: »Wer auch immer das getan hat, wir werden ihn finden.«

Die beiden starren ihm in die Augen. Das Gesicht der Frau ist vom Weinen geschwollen, die Augen des Vaters sind gerötet von Alkohol und Stress, sein Gesicht ist bleich.

Rasbach nickt Jennings zu, und gemeinsam verlassen sie das Haus, um sich den Wagen anzusehen. Die Eltern sitzen stumm auf dem Sofa und schauen ihnen hinterher.

*

Anne weiß nicht, was sie von dem Detective halten soll. All dieses Gerede über ihren Wagen … Der Mann scheint ihnen irgendetwas unterstellen zu wollen. Anne weiß, wenn eine Frau verschwindet, ist der Mann für gewöhnlich der Hauptverdächtige, und vermutlich gilt das auch andersherum. Aber wenn ein Kind verschwindet, sind dann zwangsläufig auch die Eltern die Hauptverdächtigen? Sicher nicht. Wer würde schon seinem eigenen Kind etwas antun? Außerdem haben sie beide ein Alibi. Sie waren bei Cynthia und Graham. Natürlich haben sie nicht ihre eigene Tochter entführt und irgendwo versteckt. Warum sollten sie auch?

Anne weiß, dass inzwischen die gesamte Umgebung abgesucht wird. Polizeibeamte ziehen von Tür zu Tür und befragen die Nachbarn, nachdem sie sie aus den Betten geklingelt haben. Marco hat den Beamten ein Foto von Cora gegeben, das erst vor wenigen Tagen aufgenommen wurde. Das Bild zeigt ein glückliches blondes Baby mit großen blauen Augen, das in die Kamera lächelt.

Anne ist wütend auf Marco – am liebsten würde sie ihn anschreien und mit den Fäusten auf ihn eindreschen –, doch im Haus wimmelt es nur so von Polizisten. Und wenn sie in Marcos blasses, leeres Gesicht schaut, dann sieht sie, dass er sich ohnehin schon die Schuld an allem gibt. Sie weiß, dass sie diese Situation nicht alleine durchstehen kann. Sie dreht sich zu ihm um und bricht schluchzend an seiner Brust zusammen. Er schlingt die Arme um sie und drückt sie fest an sich. Anne spürt sein Zittern und das Klopfen seines Herzens. Sie sagt sich selbst, dass sie das zusammen schon durchstehen werden. Die Polizei wird Cora finden. Sie werden ihnen ihre Tochter zurückbringen.

Denn wenn ihnen das nicht gelingt, wird sie Marco niemals verzeihen.

*

Detective Rasbach in seinem leichten Anzug verlässt das Haus der Contis und geht die Stufen hinunter in die heiße Sommernacht hinaus. Detective Jennings folgt ihm auf dem Fuß. Sie haben auch früher schon zusammengearbeitet und dabei Dinge gesehen, die sie am liebsten vergessen würden.

Gemeinsam gehen sie auf die andere Straßenseite, wo die Fahrzeuge Stoßstange an Stoßstange parken. Rasbach drückt den Knopf am Schlüssel, und kurz blitzen die Scheinwerfer des Audi auf. Die Nachbarn stehen in Pyjamas und Bademänteln bereits auf den Eingangsstufen ihrer Häuser und beobachten, wie Rasbach und Jennings zum Auto der Contis gehen.

Rasbach hofft, dass irgendjemand in der Straße etwas bemerkt oder vielleicht sogar gesehen hat und sich melden wird.

Mit leiser Stimme fragt Jennings: »Und? Was denken Sie?«

Rasbach antwortet ebenso leise: »Ich bin nicht gerade optimistisch.«

Rasbach zieht die Latexhandschuhe an, die Jennings ihm gibt, und öffnet die Fahrertür. Kurz wirft er einen Blick hinein, dann geht er schweigend um den Wagen herum. Jennings folgt ihm.

Rasbach öffnet den Kofferraum. Die beiden Detectives schauen hinein. Er ist leer. Und sehr sauber. Der Wagen ist erst knapp ein Jahr alt. Er sieht noch neu aus.

»Ich liebe den Geruch von neuen Autos«, bemerkt Jennings.

Das Kind ist offenbar nicht hier. Das heißt jedoch nicht, dass es nie hier gewesen ist, vielleicht nur kurz. Möglicherweise fördert eine kriminaltechnische Untersuchung ja Fasern eines rosafarbenen Stramplers zutage oder DNA-Material des Babys: ein Haar, Speicheltropfen oder vielleicht auch Blut. Doch selbst wenn, ohne Leiche hätten sie nichts gegen die Eltern in der Hand – auch wenn es mehr als unwahrscheinlich wäre, dass sie ihr Kind in guter Absicht in den Kofferraum gesteckt haben. Sollten sich also tatsächlich Spuren des vermissten Kindes im Kofferraum finden, dann würde Rasbach dafür sorgen, dass die Eltern auf ewig in der Hölle schmoren. Und so unwahrscheinlich ist das nicht. Denn eins weiß Rasbach nach all den Jahren als Polizist ganz genau: dass die Menschen zu allem fähig sind.

Rasbach weiß natürlich, dass das Baby auch schon verschwunden sein kann, bevor die Eltern zu den Nachbarn gingen. Er muss die Eltern noch zu den Einzelheiten des gestrigen Tages befragen und herausbekommen, ob außer ihnen sonst noch jemand das Kind lebend gesehen hat. Das dürfte nicht allzu schwierig werden. Vielleicht haben die Eltern ja eine Tagesmutter oder eine Putzfrau. Oder vielleicht hat ein Nachbar das Baby am Vortag gesehen, gesund und munter. Jedenfalls wird Rasbach den Zeitpunkt bestimmen, zu dem das Kind mit Sicherheit noch gelebt hat, und sich von da aus vorarbeiten. Das Babyfon war eingeschaltet, alle halbe Stunde haben die Eltern nach dem Baby gesehen, während sie nebenan feierten, der Bewegungsmelder war ausgeschaltet und die Haustür offen … All das könnte natürlich auch erfunden sein, eine kunstvoll konstruierte Lüge der Eltern, durch die sie sich ein Alibi verschaffen und die Behörden auf die falsche Fährte führen wollen. Sie könnten das Kind auch schon lange vor der Feier mit den Nachbarn getötet haben, absichtlich oder fahrlässig. Und dann haben sie es in den Kofferraum gelegt und den Leichnam rasch beseitigt, bevor sie zurück zu den Nachbarn gegangen sind. Oder sie haben das Kind – wenn sie denn noch klar denken konnten –, nicht in den Kofferraum gelegt, sondern in den Kindersitz gesetzt. Ein totes Baby sieht nicht viel anders aus als ein schlafendes, je nachdem, wie es umgekommen ist.

Rasbach weiß, dass er zynisch ist, doch so war er nicht immer gewesen.

Er dreht sich zu Jennings um. »Holen Sie die Leichenspürhunde.«

Kapitel vier

Rasbach kehrt ins Haus zurück, während Jennings sich von den Beamten auf der Straße einen Zwischenbericht geben lässt. Rasbach sieht Anne auf dem Sofa, sie schluchzt. Eine Beamtin sitzt neben ihr und hat ihr den Arm um die Schultern gelegt. Marco ist nicht bei ihr.

Angezogen vom Duft frischen Kaffees macht Rasbach sich auf den Weg in die Küche am Ende des langen, schmalen Hauses. Die Küche ist offensichtlich neu eingerichtet worden und das vor noch gar nicht allzu langer Zeit. Alles High End, von den weißen Schränken bis hin zu den teuren Geräten und der Arbeitsplatte aus Granit. Marco ist in der Küche. Er steht mit gesenktem Kopf neben der Kaffeemaschine und wartet darauf, dass der Kaffee fertig ist. Als Rasbach den Raum betritt, hebt er den Blick. Dann wendet er sich wieder ab. Vielleicht ist ihm dieser allzu offensichtliche Versuch, wieder nüchtern zu werden, ja peinlich.

Ein unbehagliches Schweigen senkt sich über den Raum. Dann fragt Marco leise und ohne den Blick von der Kaffeemaschine abzuwenden: »Was, glauben Sie, ist mit ihr passiert?«

»Ich weiß es noch nicht«, antwortet Rasbach. »Aber ich werde es herausfinden.«

Marco nimmt die Kaffeekanne und gießt Kaffee in drei Porzellanbecher, die auf der makellosen Arbeitsplatte stehen. Rasbach bemerkt, dass Marcos Hand zittert. Marco hält dem Detective einen der Becher hin, und Rasbach nimmt ihn dankend an.

Dann verlässt Marco die Küche und geht mit den beiden anderen Bechern ins Wohnzimmer.

Rasbach schaut ihm hinterher und stählt sich innerlich für das, was jetzt kommen wird. Fälle von Kindesentführung sind immer schwierig. Sie ziehen die Medien magisch an und nehmen so gut wie nie ein glückliches Ende.

Rasbach weiß, dass er die Eltern unter Druck setzen muss. Das ist Teil seines Jobs.

Wenn Rasbach zu einem Fall gerufen wird, dann weiß er nie, was ihn erwartet. Doch der Ausgang überrascht ihn meist ebenso wenig. Tatsächlich scheint ihn inzwischen gar nichts mehr wirklich zu überraschen. Trotzdem ist er noch immer neugierig. Er will es immer noch wissen.

*

Rasbach nimmt sich selbst Milch und Zucker, die Marco für ihn hat stehen lassen. Mit dem Becher in der Hand hält er kurz in der Küchentür inne. Von hier aus kann er den Esstisch und das Sideboard sehen. Bei beidem handelt es sich offenbar um Antiquitäten. Rechts davon befindet sich ein Kamin aus Marmor, über dem ein großes Ölgemälde hängt. Rasbach weiß nicht so recht, was das Bild darstellen soll. Vom Sofa aus, vor dem ein Kaffeetisch mit zwei tiefen, bequemen Sesseln steht, blickt man zum vorderen Fenster hinaus.

Rasbach geht ins Wohnzimmer und setzt sich den Contis gegenüber in den Sessel, der dem Kamin am nächsten steht. Ihm fällt auf, dass Marcos Hände noch immer zittern, als er den Becher an die Lippen hebt. Anne hält den Becher in ihren Händen auf dem Schoß, als wisse sie gar nicht, dass er da ist. Inzwischen hat sie aufgehört zu weinen.

Die grellen Lichter der Streifenwagen vor dem Haus flackern an den Wänden. Die Spurensicherung geht systematisch ihrer Arbeit nach. In dem Haus herrscht rege Geschäftigkeit, doch die Atmosphäre ist gedämpft und düster.

Rasbach steht eine schwierige Aufgabe bevor. Er muss diesem Paar vermitteln, dass er für sie arbeitet und alles in seiner Macht Stehende tut, um ihr vermisstes Baby zu finden. Dabei ist ihm durchaus bewusst, dass in den meisten Fällen dieser Art die Eltern für das Verschwinden des Kindes verantwortlich sind. Und es gibt noch andere Faktoren, die ihn misstrauisch machen. Trotzdem wird er für alles offenbleiben.

»Es tut mir wirklich sehr leid«, beginnt Rasbach. »Ich kann mir kaum vorstellen, wie hart das alles für Sie sein muss.«

Anne schaut ihn an. Sein Mitleid treibt ihr sofort wieder die Tränen in die Augen. »Wer tut so etwas?«, fragt sie traurig.

»Genau das müssen wir herausfinden«, antwortet Rasbach. Er stellt seinen Becher auf den Tisch und holt sein Notizbuch heraus. »Haben Sie irgendeine Idee, wer Ihre Tochter entführt haben könnte?«

Die beiden Eltern starren ihn an. Die Frage ist wohl zu abwegig.

»Haben Sie in letzter Zeit vielleicht irgendjemanden bemerkt, der hier herumgelungert und Interesse an Ihrem Baby gezeigt hat?«

Die beiden schütteln die Köpfe.

»Gibt es vielleicht jemanden, der Ihnen schaden möchte?« Rasbach schaut von Anne zu Marco.

Erneut schütteln die Contis die Köpfe. Sie haben nicht die geringste Ahnung, was sie dazu sagen sollen.

»Bitte, denken Sie noch einmal darüber nach«, fordert Rasbach sie auf. »Und lassen Sie sich Zeit. Es muss einen Grund für das Verschwinden Ihres Kindes geben. Es gibt immer einen Grund. Wir müssen ihn nur finden.«

Marco scheint etwas sagen zu wollen, hält sich dann jedoch zurück.

»Was ist?«, fragt Rasbach. »Es ist nicht die Zeit zu schweigen.«

»Deine Eltern«, sagt Marco schließlich und dreht sich zu seiner Frau um.

»Meine Eltern?« Sie ist offensichtlich überrascht.

»Sie haben Geld.«

»Ja, und?« Die Frau scheint nicht zu verstehen, worauf er hinauswill.

»Sie haben viel Geld«, erklärt Marco.

Und los geht’s, denkt Rasbach.

Anne schaut ihren Mann entgeistert an. Aber möglicherweise ist sie einfach nur eine hervorragende Schauspielerin. »Was meinst du damit?«, fragt sie. »Du glaubst doch nicht, dass irgendjemand sie entführt hat, um …« Rasbach beobachtet die beiden aufmerksam. Der Gesichtsausdruck der Frau verändert sich. »Das wäre doch gut, oder?« Sie schaut zu Rasbach. »Wenn die Entführer nur Geld wollen, dann stehen die Chancen doch gut, dass ich mein Baby wieder zurückbekomme, nicht wahr? Dann tun sie ihr doch nichts … oder?«

Die Hoffnung in ihrer Stimme ist herzzerreißend. Rasbach ist ziemlich fest davon überzeugt, dass die Frau nichts mit dem Verschwinden ihres Kindes zu tun hat.

»Sie hat sicher schreckliche Angst«, sagt sie. Dann bricht sie endgültig zusammen und schluchzt nur noch.

Rasbach würde sie gerne nach ihren Eltern fragen. In Entführungsfällen ist Zeit von allergrößter Bedeutung. Stattdessen wendet er sich jedoch an den Mann. »Wer sind denn die Eltern Ihrer Frau?«, fragt Rasbach.

»Alice und Richard Dries«, antwortet Marco. »Richard ist ihr Stiefvater.«

Rasbach schreibt sich das auf.

Anne beherrscht sich und wiederholt: »Meine Eltern haben eine Menge Geld.«

»Wie viel genau?«, will Rasbach wissen.

»Genau weiß ich das nicht«, sagt Anne. »Millionen.«

»Geht es nicht vielleicht doch ein wenig präziser?«, bittet Rasbach sie.

»Ich glaube, sie sind so ungefähr fünfzehn Millionen schwer«, sagt Anne. »Aber das ist nicht bekannt.«

Rasbach schaut zu Marco. Der Blick des Mannes ist vollkommen leer.

»Ich will meine Mutter anrufen«, sagt Anne. Sie schaut zu der Uhr über dem Kamin, und Rasbach folgt ihrem Blick. Es ist Viertel nach zwei am Morgen.

*

Anne hat eine komplizierte Beziehung zu ihren Eltern. Wenn Marco und Anne ein Problem mit ihnen haben, was häufig der Fall ist, dann sagt Marco immer, ihre Beziehung sei zerrüttet. Und vielleicht stimmt das ja auch, doch es sind die einzigen Eltern, die sie hat. Sie braucht sie. Anne gibt sich Mühe, aber leicht ist es nicht.

Marco hat einen vollkommen anderen Hintergrund. Seine Familie ist groß und zankt sich ständig. Sie brüllen sich gut gelaunt an, wenn sie sich sehen, was aber nur selten der Fall ist. Seine Eltern sind noch vor Marcos Geburt von Italien nach New York ausgewandert. Sie betreiben eine Reinigung und eine Schreinerei. Viel Geld haben sie zwar nicht, aber sie kommen gut zurecht. Und sie mischen sich nicht so sehr in Marcos Leben ein wie Annes wohlhabende Eltern in ihres. Marco und seine vier Geschwister wurden schon in jungen Jahren aus dem elterlichen Nest vertrieben und waren früh auf sich selbst gestellt. Seit seinem achtzehnten Lebensjahr lebt Marco nach seinen eigenen Regeln. Die Schule hat er ohne ihre Hilfe geschafft. Seine Eltern sieht er zwar gelegentlich, aber sie spielen keine große Rolle in seinem Leben. Er kommt zwar nicht wirklich aus ärmlichen Verhältnissen, doch Annes Eltern und ihre gutbetuchten Freunde aus dem Grandview Golf and Country Club sehen das so. In Wahrheit stammt Marco aus einer gesetzestreuen Familie hart arbeitender Menschen, die ganz gut in ihrem Leben zurechtkommen, aber auch nicht mehr. Zum Glück sehen das Annes Collegefreunde und die Kollegen aus der Kunstgalerie, in der sie arbeitet, auch so.

Nur der alte Geldadel betrachtet ihn als Proletarier, und Annes Mutter stammt aus dem Geldadel. Ihr Vater, Richard Dries, der eigentlich ihr Stiefvater ist – ihr echter Vater starb auf tragische Weise, als sie vier Jahre alt war –, ist zwar ein erfolgreicher Geschäftsmann, doch ihre Mutter, Alice, ist die mit den Millionen.

Annes Eltern genießen ihr Geld und die Gesellschaft ihrer wohlhabenden Freunde. Ihr Haus steht in einem der besten Viertel der Stadt, sie sind Mitglied im Grandview Golf and Country Club, sie fahren Luxuswagen und machen Ferien in Fünf-Sterne-Hotels. Anne haben sie zunächst auf eine private Mädchenschule geschickt und dann auf eine gute Universität. Je älter ihr Vater wird, desto mehr tut er so, als habe er all das Geld selbst verdient, doch das stimmt nicht. Es ist ihm einfach nur zu Kopf gestiegen.

Als Anne mit Marco ›angebandelt‹ hat, reagierten ihre Eltern, als sei das das Ende der Welt. Und Marco sah in der Tat wie der Prototyp eines Bad Boys aus. Er war geradezu gefährlich attraktiv – und hellhäutig für einen Italiener – mit dunklem Haar, grüblerischem Blick und leicht rebellischem Äußeren, besonders, wenn er sich nicht rasiert hatte. Doch seine Augen leuchteten jedes Mal auf, wenn er Anne sah, und er hatte dieses Eine-Million-Dollar-Lächeln. Und dann die Art, wie er sie immer ›Baby‹ nannte … Anne konnte ihm einfach nicht widerstehen. Als er das erste Mal zum Haus ihrer Eltern kam, um sie für ein Date abzuholen, war das einer der wichtigsten Augenblicke in Annes Leben als junge Erwachsene. Sie war zweiundzwanzig, und ihre Mutter hatte ihr von diesem netten, jungen Mann erzählt, einem Rechtsanwalt und Sohn eines Freundes, der sehr daran interessiert sei, sie kennenzulernen. Anne erklärte ihr daraufhin ungeduldig, dass sie bereits mit Marco zusammen sei.

»Ja, aber …«, sagte ihre Mutter.

»Aber was?«, fiel Anne ihr ins Wort und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das ist doch nichts Ernstes«, sagte ihre Mutter.

Anne erinnert sich noch immer an den Gesichtsausdruck ihrer Mutter, diese Mischung aus Verzweiflung und Scham. Ganz offensichtlich dachte sie darüber nach, wie sie ihren Freunden erklären sollte, dass ihre Tochter mit jemandem ausging, der aus dem Nichts kam und der im italienischen Viertel der Stadt als Barkeeper arbeitete und Motorrad fuhr. Dass Marco einen Abschluss in Betriebswirtschaft von derselben Universität hatte, die auch gut genug für ihre Tochter gewesen war, das ignorierten Annes Eltern geflissentlich. Und sie fanden es auch nicht bewundernswert, dass er nur nachts hatte lernen können, weil er tagsüber hatte arbeiten müssen. Aber vielleicht wäre ohnehin nie jemand gut genug für ihr kleines Mädchen gewesen.

Und dann – es war einfach perfekt – rauschte Marco auf seiner Ducati heran, und Anne flog aus dem Haus ihrer Eltern direkt in seine Arme, während ihre Mutter sie hinter den Vorhängen beobachtete. Marco küsste Anne leidenschaftlich, ohne von seinem Motorrad abzusteigen, und gab ihr dann seinen zweiten Helm. Anne stieg auf den Sozius, und dann rasten sie davon und wirbelten den gepflegten Kies in der Einfahrt auf. Das war der Augenblick, da sie zu der Überzeugung kam, dass sie sich verliebt hatte.

Aber man ist nicht ewig zweiundzwanzig. Man wird älter. Die Dinge ändern sich.

»Ich will meine Mutter anrufen«, wiederholt Anne. Es ist so viel passiert … Ist es wirklich noch nicht einmal eine Stunde her, seit sie nach Hause gekommen sind und vor dem leeren Bettchen standen?

Marco greift nach dem Telefon und gibt es Anne. Dann setzt er sich wieder aufs Sofa und verschränkt die Arme vor der Brust. Er wirkt angespannt.

Anne wählt die Nummer ihrer Eltern. Noch bevor sie fertig ist, bricht sie wieder in Tränen aus. Das Telefon klingelt, und ihre Mutter nimmt ab.

»Mom …«, sagt Anne und beginnt, heftig zu schluchzen.

»Was ist? Ist etwas passiert?«

»Je… Jemand hat Cora entführt.«

»Was? Es ist doch mitten in der Nacht«, sagt ihre Mutter.

»Die Polizei ist hier«, erzählt Anne. »Kannst du kommen?«

»Wir sind gleich da, Anne«, antwortet ihre Mutter. »Dein Vater und ich sind schon unterwegs.«

Anne legt auf und weint. Ihre Eltern werden kommen. Sie haben ihr immer geholfen, selbst wenn sie wütend auf sie waren. Und sie werden auch jetzt wütend auf sie und Marco sein … besonders auf Marco. Sie lieben Cora, ihre einzige Enkelin. Was werden sie wohl sagen, wenn sie erfahren, was Anne und Marco getan haben?

»Sie sind auf dem Weg«, sagt Anne zu Marco und dem Detective. Sie schaut Marco in die Augen und wendet sich dann ab.

Kapitel fünf

Marco fühlt sich wie ein Statist in einem Theaterstück. Wie so oft, wenn Annes Eltern sich im Raum befinden. Selbst jetzt, in seiner Rolle als Vater des entführten Babys, hat er das Gefühl, an den Rand der Bühne gedrängt zu werden, während die drei – seine verzweifelte Frau, ihre stets beherrschte Mutter und ihr überheblicher Vater – ihre vertraute Dreierallianz eingehen. Manchmal schließen sie ihn ganz subtil aus, manchmal offen. Doch Marco hat von Anfang an gewusst, worauf er sich eingelassen hat, als er Anne heiratete. Nur hat er früher geglaubt, dass er damit würde leben können.

Marco steht am Rande des Wohnzimmers, zu nichts nutze, und beobachtet Anne. Sie sitzt in der Mitte des Sofas, ihre Mutter neben ihr, die sie tröstend an sich drückt. Ihr Vater ist reservierter. Er sitzt aufrecht da und klopft seiner Tochter auf die Schulter. Niemand beachtet Marco. Ihn tröstet niemand. Marco fühlt sich in seinem eigenen Heim vollkommen fehl am Platze.

Schlimmer noch: Er steht unter Schock. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als dass seine kleine Cora wieder in ihrem Bettchen liegt. Er wünscht sich, das alles wäre nie geschehen.