The Evil of Salwood - Ann-Kristin Gelder - E-Book

The Evil of Salwood E-Book

Ann-Kristin Gelder

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Beschreibung

Ein abgelegenes Dorf, ein Bannkreis, Geister, die auf verlorene Seelen lauern, ein Pakt mit dem Teufel: Dieser packender Mysterythriller mit mitreißender Liebesgeschichte garantiert Lesegenuss pur!

Faye und Ezra wohnen in Salwood, abgeschottet von der Außenwelt. Ein Bannkreis aus Salz schützt die Dorfbewohner vor den Geistern, die im Nebel geduldig auf ihre Opfer warten. Als Mutprobe wagt sich eine Gruppe Jugendlicher in den Nebel. Ein Mädchen stirbt und Faye entdeckt bald, dass ein Geist von ihr Besitz ergriffen hat. Zusammen mit Ezra versucht sie herauszufinden, wie sie sich und das Dorf retten kann. Dabei kommen die beiden einem schrecklichen Verrat auf die Spur ...

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Das Buch

Verlasse niemals den Salzkreis, wenn du überleben willst!

Nur widerwillig lässt sich Faye zu einer Mutprobe überreden und betritt mit einer Gruppe anderer Jugendlicher den Wald außerhalb des Salzkreises. Dort im Nebelschleier lauern rachsüchtige Geister auf ihre nächsten Opfer. Was als harmloser Spaß beginnt, bringt schließlich ganz Salwood in Gefahr. Gemeinsam mit Ezra setzt Faye ihr Leben aufs Spiel, um das Dorf zu retten.

Die Autorin

© Bea Rietz

Ann-Kristin Gelder, Jahrgang 1981, ist Deutsch- und Musiklehrerin und lebt mit ihrem Mann, zwei Katern, drei Kindern und zwölf Musikinstrumenten an der Weinstraße. Wenn sie nicht gerade an einem neuen Roman schreibt, geht sie geocachen oder steht mit Band oder Chor auf der Bühne.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor*innen und Übersetzer*innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator*innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer*in erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autor*innen und Illustrator*innen:www.thienemann.de

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Mila – die Chai zu meinem Zimt.

Zweihundert Jahre zuvor

Zuerst war es nur ein kaum merklicher Hauch, eine würzig-herbe Note. Trotzdem hielten die Bergarbeiter in ihrem Tun inne, hoben die Köpfe und schnupperten beunruhigt. Obwohl sie einen langen Tag hinter sich hatten, gaben sie nicht der Verlockung nach, es als Einbildung abzutun. Ihnen allen war bewusst, dass ständige Aufmerksamkeit und frühzeitiges Erkennen von Gefahren bei ihrer Tätigkeit lebensnotwendig waren.

Der Geruch wurde stärker, beißender, bahnte sich einen Weg durch die engen Stollen der Mine, machte die ohnehin schon schwere Luft noch dicker. Ein Hitzestoß fegte jeden Zweifel beiseite. Funken glommen. Rußpartikel stoben durch den Tunnel wie dunkler Schnee.

»Feuer!«

Der gellende Schrei holte auch den Letzten von ihnen aus seiner Erschöpfung. Die Schicht war fast zu Ende, die Eisen sorgfältig in den dafür vorgesehenen Körben und Tonnen verstaut. Nur eine Stunde später und die Mine wäre menschenleer gewesen.

Der Vorarbeiter sprang auf und hastete durch den Hauptstollen, um den Brandherd zu finden und die Bedrohung einzuschätzen, die anderen blieben in mühevoller Geduld zurück, ihre Bergtaschen fest umschlossen. Finger strichen über das abgegriffene Leder, spielten mit den abgenutzten Schnallen.

Ruhig atmen, Sauerstoff sparen. Panik nutzte nichts, besonders nicht unter Tage. Sie befanden sich nicht zum ersten Mal in einer heiklen Lage.

Endlich kehrte der Vorarbeiter zurück in das drückende Schweigen. Er zögerte, als er die Hoffnung in den Gesichtern seiner Brüder sah, und er hasste es, sie zu zerstören. »Feuer im Minenschacht. Der Ausgang ist abgeschnitten.«

Ein kollektives Innehalten, als könnte die absolute Reglosigkeit das nahende Unglück abwenden. Ein Augenblick der Stille, der viel zu kurz und ewig andauerte. Sogar der Berg selbst schien zu verharren.

Knirschend brach ein Teil des Gangs ein, unfähig, der Gewalt der Felsmassen länger zu widerstehen. Eine Gerölllawine ging nieder, zerriss das bange Warten. Die Zeit lief weiter. Der Schein der Grubenlampen malte zuckende Bilder an die Wände des Stollens und tiefe Schatten auf die Züge der Bergleute. Blicke wurden ausgetauscht, jeder suchte in den Augen des anderen nach Beruhigung, Trost, einem Hoffnungsschimmer, irgendetwas, doch alles, was sie fanden, war Angst. Todesangst.

Ein Ruf wurde laut. Ein Schrei aus vielen Kehlen.

»Nach draußen! Wir müssen nach draußen!«

Die Minenarbeiter umfassten ihre Taschen, griffen nach Meißel, Hacken, Keilen, als könnten diese Schutz vor den Flammen bieten, die sich unaufhaltsam näherten, sich knisternd durch die Holzpfeiler fraßen. Der Brandgeruch wurde stärker, während giftige Gase die Atemluft durchdrangen.

Wie ein Mann schob sich die Gruppe voran, so gedrängt und so schnell wie es in der Enge des Ganges möglich war. Ihr Weg endete viel zu früh, denn aus dem Schacht quollen dichte Schwaden, hinter denen das bedrohliche Rot offener Flammen loderte. Die Ersten begannen zu husten, als zäher Qualm in ihre Lungen drang. Der Weg nach draußen war zu weit. Selbst wenn sie es durch die bösen Wetter und den Rauch schaffen würden, wären sie dem Feuer ausgeliefert. Gefangen. Eingeschlossen in der Hitze. Kein Ausweg.

Zitternd zogen sich die Männer in den winzigen Hauptraum zurück, der nur geringfügig breiter war als der Stollen. Schweiß stand ihnen auf der Stirn, durch Hitze und Angst gleichermaßen. Es wurde nicht mehr gesprochen, jeder konzentrierte sich auf sich selbst und den nächsten Atemzug.

Ein Grollen lief durch den Berg, und die Minenarbeiter rückten näher zusammen, als könne sie die Gegenwart der anderen schützen vor dem, was auf sie zukam. Dicht aneinandergedrängt starrten sie mit tränenden Augen in den tödlichen Rauch. Der Vorarbeiter richtete sich ein wenig auf und versuchte, sich auf seine Aufgaben zu besinnen. Hier unten war er verantwortlich für das Wohlergehen seiner Männer. Er sah sie mit verzweifeltem Optimismus an, jeden Einzelnen von ihnen, und er zählte. Einmal. Zweimal. Wieder wurde das Gestein ringsum in seinen Grundfesten erschüttert. Lose Brocken fielen herab, Kaskaden von Steinen lösten sich. Die Erde erbebte. Dreimal. Einer fehlte.

»Elijah.«

Der Name, zuerst von einem, dann von vielen ausgesprochen, setzte sich als tonloses Wispern über die Lippen der Bergleute fort. Elijah fehlte. Wo befand er sich in dieser Stunde der Not? In ihrer letzten Stunde?

Ein erneutes Krachen beendete die Gedanken an den treulosen Mann. Gebete wurden laut. Die Heilige Dreifaltigkeit, der Teufel, die Schutzheiligen wurden angerufen. Im Moment des nahenden Todes war man nicht wählerisch.

Die Welt zitterte. Es würde nicht der Rauch sein, der ihre Lungen vergiftete, und ebenso wenig würden sie vom Feuer aufgefressen. Der Berg selbst würde sie verschlingen. Ein einsames, schwarzes Grab.

Sie spürten das Ende, bevor sie es sahen. Ein weiteres Krachen. Knirschen. Bersten. Ohrenbetäubender Lärm. Der tonnenschwere Fels brach. Sie hielten sich an den Händen und schlossen die Augen. Sie dachten an das Gefühl des Frühlingswinds auf ihrer Haut, während um sie her die Hölle ihre Pforten öffnete. Sie dachten an den Geruch feuchter Blätter im Herbst, während der letzte Pfeiler brach. Sie dachten an den Geschmack frisch gebackenen Sonntagskuchens, während der Himmel einstürzte. Sie dachten an die Farbenpracht eines Sonnenuntergangs, während sie von Gesteinsmassen begraben wurden. Sie dachten an ihre Familien, von denen sie sich am Morgen verabschiedet hatten, ohne zu wissen, dass sie nie zurückkehren würden.

Und dann dachten sie nicht mehr.

1 – FAYE

Die Präsenz der Geister

Es war stockfinster. Die Sonne war längst untergegangen, und das Licht des Mondes kämpfte aussichtslos gegen die dichte Nebeldecke an, die Salwood von allen Seiten umgab. Ich schlang das grob gewebte Tuch enger um meine Schultern, doch es nutzte wenig gegen die klamme Kälte, die sich allmählich einen Weg in mein Inneres bahnte. Die düstere Vorahnung beim Gedanken an unser Vorhaben begleitete mich schon die ganze Woche und wurde mit jedem Tag stärker. Jetzt, da die Mutprobe unmittelbar bevorstand, hatte auch meine Unruhe ihren Höhepunkt erreicht. Ich wusste, dass es klüger wäre, im Bett zu bleiben, das kleine Häuschen, in dem ich mit meinen Eltern wohnte, nicht zu verlassen. Trotzdem hatte ich es getan, war still und leise über den Flur die hölzerne Stiege hinabgeschlichen, vorbei an der offenen Feuerstelle, wo einige Holzscheite vor sich hin glommen – ein roter Schein, der in wenigen Stunden komplett vergangen sein würde. Um Rohstoffe zu sparen, waren die Kerzen schon vor Stunden gelöscht worden, sodass tiefste Dunkelheit über dem gesamten Dorf lag. Obwohl Salwood nur rund zweihundert Einwohner hatte, fehlte es uns an nichts. Der Boden war fruchtbar, die wenigen Felder ertragreich, und der Wiesenbach, der irgendwo in den nordöstlichen Bergen entsprang, versorgte uns mit Wasser. Was jedoch bei Tag freundlich und einladend wirkte, erschien nun fast feindselig. Der Wind hatte aufgefrischt und sorgte dafür, dass der feine Nieselregen in jede Pore drang und die Luft feucht und schwer machte. Es war die passende Nacht für ein derartiges Vorhaben.

Ich bewegte mich im Schutz der Mauern, verschmolz mit den Schatten. Um ein Zusammentreffen mit etwaigen nächtlichen Spaziergängern zu vermeiden, verzichtete ich auf die Abkürzung über den Dorfplatz, der durch einen hüfthohen Steinwall von den umliegenden Häusern abgetrennt war. Ganz sicher wollte ich es nicht riskieren, mich für mein Tun vor meinem Vater rechtfertigen zu müssen. Aus Gewohnheit warf ich über die Schulter einen Blick zurück. Der Umriss der Kapelle, das höchste Gebäude Salwoods, war kaum auszumachen, doch in der Spitze des Turms flackerte das ewige Licht, ein spärlicher Glanz in einem Meer aus Schwärze. Mein Vater war als Reverend dafür zuständig, dass es nie erlosch, und zumindest heute Nacht war ich froh darüber, es zur Orientierung zu haben.

Als ich das Dorf hinter mir gelassen hatte und auf die angrenzende Weide hinaustrat, atmete ich auf. Zwar war ich davon ausgegangen, unbehelligt zu bleiben, nichtsdestotrotz war ich angespannt. Nächtliche Ausflüge waren absolut untersagt, wobei die von uns geplante Unternehmung auch tagsüber für heftigen Ärger sorgen würde. Ohne den Schutz der Häuser stach der Wind noch mehr und riss an meinem Leinenkleid, das zwar lange Ärmel hatte und mir bis zu den Knöcheln reichte, jedoch Regen und Nässe wenig entgegensetzen konnte. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel. Hinter dem allgegenwärtigen Nebelschleier konnte ich verschwommen einige Sterne erkennen. Der Umriss des Mondes verlieh der Welt einen unheimlichen, fast kränklichen Schein, der mir jedoch lieber war als die komplette Finsternis einer Neumondnacht.

Entfernt hörte ich das gleichmäßige Murmeln des Wiesenbaches. Obwohl ich das Dorf regelmäßig zum Kräuter- oder Beerensammeln verließ, hatte ich Mühe, mich zu orientieren, und prüfte immer wieder anhand des ewigen Lichts meine Richtung.

Nachdem ich das Feld überquert hatte, trat ich zwischen die Bäume des Westwalds, durch den die Grenze verlief, hielt mich jedoch abseits des Trampelpfades, der von den Salzträgern benutzt wurde. Zögerlich ging ich weiter, tastete mich vorsichtig Schritt für Schritt voran. Zwischen den Stämmen war die Dunkelheit noch erdrückender, weshalb ich mir vorsichtshalber einen Arm vor das Gesicht hielt, um nicht von tief hängenden Ästen erwischt zu werden. Alte Zweige knackten unter meinen Füßen, und es roch nach feuchtem Laub und Moos. Als ich die ersten fahl glühenden Schwaden entdeckte, die zwischen den Bäumen umherwaberten, blieb ich abrupt stehen. Obwohl der Nebel Salwood komplett umschloss, war im Innern des Kreises wenig davon zu bemerken. Nur bei starkem Wind wehten zerrissene Fetzen über die umliegenden Weiden. Dass sich nun die ausgefransten Finger nach mir ausstreckten, zeigte deutlich, dass ich kurz davor war, die sichere Zone zu verlassen.

Nach einem etwa zehnminütigen Marsch veränderte sich der Waldboden, wurde steiniger und weniger weich. Das musste die kleine Lichtung sein, von der Vince gesprochen hatte. Im Gegensatz zu mir war er den Weg tagsüber abgelaufen, weshalb er sicherlich nicht so verloren durch die Gegend stolperte, wie es bei mir der Fall war.

Erst jetzt fiel mir auf, dass nach und nach alle Geräusche verstummt waren. Keine nachtaktiven Vögel. Kein Rascheln kleiner Tiere im Gebüsch. Keine Äste, die im Wind leise knarzten. Nicht einmal das Plätschern des Wassers war noch zu hören. Es war still, als würde der Dunst jeden Laut ersticken. Ich befand mich zu nah an der Grenze. Viel zu nah.

Das unangenehme Prickeln in meinem Nacken wurde zu ausgewachsener Beklommenheit, und ich widerstand dem Impuls, mich umzudrehen und loszurennen, bis ich mich wieder in der Sicherheit des Dorfes befand.

»Faye!«

Obwohl ich an unserem verabredeten Treffpunkt war, erschreckte mich die plötzliche Ansprache. Vier Gestalten lösten sich aus der Dunkelheit, zwei von ihnen mit jeweils einer Öllaterne, deren schwächliches Licht sie mit der Handfläche abschirmten.

»Schön, dass du gekommen bist«, begrüßte mich Amber, und ihrer Stimme war die Überraschung deutlich anzuhören. Sie hatte mich zwar zu der nächtlichen Unternehmung eingeladen, schien aber nicht erwartet zu haben, mich tatsächlich anzutreffen. Ich unterdrückte ein Seufzen. Manchmal war es schwierig, nicht dazuzugehören.

»Du bist allein, oder?«, vergewisserte sich Vince und reckte sich, um über meine Schulter zu spähen, als würde er damit rechnen, dass sich die Umrisse meines Vaters plötzlich aus dem Schatten schälen würden.

»Natürlich.«

»Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du dich traust.« Vince stieß mich leicht mit dem Ellbogen an, und ich verzog die Lippen zu einem pflichtschuldigen Lächeln. Natürlich hatte er nicht damit gerechnet, schließlich war das gesamte Vorhaben der heutigen Nacht sinnlos und extrem gefährlich. Aber das schien die anderen lediglich anzustacheln.

Vince wirkte voller fiebriger Energie, die sogar im gelblichen Schein der Öllampe deutlich erkennbar war, und auch in Rowans dunklen Augen lag ein aufgeregtes Glitzern. Seine Freundin Hana stand neben ihm, und ihre schlecht verborgene Nervosität ließ mich vermuten, dass sie nur mitgekommen war, um ihn zu beeindrucken.

»Du hast keine Lampe. Nicht einmal einen Feuerstein.« Vince schaffte es, seine Aussage wie einen Vorwurf klingen zu lassen. »Oder?«

»Kein Problem«, mischte sich Rowan ein, »wir bleiben sowieso eng beieinander.«

»Es war zu riskant«, verteidigte ich mich trotzdem. Anders als die Häuser der anderen, lag unseres direkt neben der Kapelle und somit im Zentrum des Dorfes. »Ganz davon abgesehen bewahrt Vater die Feuersteine in seinem Nachttisch auf.«

»Tja«, sagte Vince lässig und strich über seine leicht ausgebeulte Hosentasche, in der sich offensichtlich ein Feuerstein befand. Obwohl mich seine herablassende Art störte, war ich froh, dass er daran gedacht hatte. Es war unwahrscheinlich, dass beide Lampen zugleich erloschen, aber nicht unmöglich. Wer wusste schon, was im Nebel lauerte? Keiner von uns hatte jemals den Salzkreis verlassen, und es war vollkommen verrückt, es ausgerechnet mitten in der Nacht zu tun.

»Wir sind komplett«, unterbrach Vince meine Gedanken, hob seine Öllampe ein wenig höher und leuchtete jedem Einzelnen von uns ins Gesicht. »Lasst uns den Plan noch mal durchsprechen. Wir gehen bis zur Salzlinie und stellen uns in einer Reihe auf. Wenn ich die Laterne hebe, ist es das Zeichen dafür, die Grenze zu übertreten. Wir gehen genau fünfzig Schritte, wobei jeder auf den Boden vor sich achtet. Der Talisman muss dort irgendwo sein, denn unser Startpunkt liegt genau an der Stelle, an der Isaac aus der verbotenen Zone gekommen ist. Dann zählen wir langsam bis zwanzig, drehen uns um und kehren zur Grenze zurück. Zur Sicherheit sehen wir nicht in den Nebel und versuchen, möglichst lautlos zu sein.«

Ich unterdrückte ein hysterisches Auflachen. Das war der Plan, um sich in ein Gebiet zu wagen, vor dem uns die Erwachsenen seit unserer Geburt warnten? Den Talisman suchen, schweigen und auf den Boden starren?

»Vielleicht sollten wir das Ganze noch mal überdenken«, meldete sich zum ersten Mal Hana zu Wort. In ihren Augen glänzte die Panik, und sie klammerte sich an Rowans Arm.

»Das fällt dir jetzt ein?« Amber schnaubte abschätzig. »Gott, Hana, es ist so unwahrscheinlich, dass sich ausgerechnet an dem Punkt, an dem wir den Nebel betreten, Geister befinden. Das Areal ist riesig. Sie werden gar nicht bemerken, dass wir da sind. Außerdem hat dich niemand gezwungen, mitzukommen.«

Hanas Blick zuckte für den Bruchteil einer Sekunde zu Rowan und verriet, dass ihre Anwesenheit nur bedingt freiwillig war. Himmel, alles an dieser Aktion war so vollkommen falsch. Bloß weil sich der Nebel scheinbar ins Unendliche fortsetzte, gab es keine Gewähr, dass uns die Geister nicht finden würden. Es war gefährlich. Mehr als gefährlich.

Kurz zog ich in Erwägung, meine Zweifel zu formulieren und einen Versuch zu starten, die anderen von dieser wahnwitzigen Unternehmung abzuhalten, bevor es zu spät war. Dann wäre ich der Feigling, an dem alles scheiterte – wenn man überhaupt auf mich hören würde. Sollte ich jetzt einen Rückzieher machen, würde man mir es ewig vorwerfen. Die heutige Nacht war meine Chance zu beweisen, dass ich mehr war als nur die Tochter des Reverends, die scheinbar keinen eigenen Willen hatte und alles tat, was ihre Eltern ihr auftrugen. Mühsam zwang ich einen entschlossenen Ausdruck auf mein Gesicht und hoffte, dass man mir meine Skepsis nicht ansehen würde.

»Wir ziehen das gemeinsam durch. Und wenn wir mit Isaacs Talisman zurückkehren, wird man uns feiern und darüber hinwegsehen, wie gefährlich die Aktion war«, sagte Rowan schließlich in die drückende Stille und legte seinen Arm um Hana, die sich eng an ihn schmiegte und nickte. Gerade erschien sie mir deutlich stärker als ich selbst, denn im Gegensatz zu mir hatte sie sich immerhin getraut, ihre Bedenken vorzubringen.

»Wie machen wir das mit dem Licht?«, fragte Amber. »Zwei Lampen für fünf Personen …«

»Wir können alle Laternen löschen«, schlug Rowan vor, »umso schneller gewöhnen sich unsere Augen an die Dämmerung. Komplett dunkel ist es im Nebel sowieso nicht.«

Hana gab ein ersticktes Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einem Ächzen und einem Schluchzen lag.

»Nein«, widersprach Vince. »Warum sollten wir auf etwas Nützliches verzichten, nur weil ihr euch nicht entsprechend vorbereitet habt?«

»Nicht jeder kann sich einfach so bedienen«, murmelte ich fast unhörbar.

»Wir Laternenträger können jeweils außen laufen«, überlegte Amber. »Dann wissen wir, wie weit wir auseinander sind.«

»Gute Idee.«

Ich konnte Vince’ Zuversicht nicht teilen. Mit jeder Minute, die verging, wurde ich mir des Risikos bewusster.

Irgendwo in der Nähe brach ein Ast, und alle fuhren zusammen. Ausnahmslos alle. Anscheinend waren weder Vince noch Amber so gelassen, wie sie es vorgaben.

»Dann los«, sagte Vince locker, als wolle er beweisen, wie unbeeindruckt er von der bedrohlichen Atmosphäre war.

Gemeinsam setzten wir uns in Bewegung, eng zusammen, obwohl sich die Grenze noch einige Meter entfernt befand – zumindest nahm ich das an. Es war enorm schwierig, sich in der Finsternis zu orientieren, und ich konnte nur hoffen, dass es Vince leichter fiel.

»Nicht mehr weit«, verkündete er kurz darauf. »Der Nebel wird dichter.«

Ich hob die Hand und bewegte sie durch einen der Tentakel. Sie glitt widerstandslos hindurch, und die feuchte Kälte legte sich wie ein Film auf meine Haut. Die Vorstellung, in Kürze vollständig davon eingeschlossen zu sein, ließ unterschwellige Übelkeit in mir aufsteigen.

»Weshalb glüht der Nebel?« Hanas Flüstern verlor sich fast in der Nacht.

»Weil er vollständig von der Präsenz der Geister erfüllt ist, auch wenn diese nicht in der Nähe sind«, antwortete eine tiefe Stimme, die dafür sorgte, dass ich heftig zusammenzuckte. »Und deshalb ist es eine Scheißidee, sich hineinzuwagen.«

Ruckartig drehten wir uns alle in die Richtung des Sprechers, der in den Radius der Öllampen trat. Rowan stieß einen unterdrückten Fluch aus, während ich die Lippen zusammenpresste und mich um eine ruhige Atmung bemühte. Mein Herz klopfte plötzlich so laut, dass ich Sorge hatte, die anderen könnten es in der Stille des Waldes hören.

»Ezra.« Vince spuckte den Namen aus, als wolle er einen widerwärtigen Geschmack loswerden. »Was willst du hier?«

»Euch bewahren vor der größten Dummheit eures Lebens, das übrigens nicht mehr lange andauern wird, wenn ihr diesen Mist tatsächlich durchzieht.«

Ezra klang beeindruckend gelassen dafür, dass er gerade allein und ohne Licht – soweit ich das erkennen konnte – durch die Nacht marschiert war. Obwohl ich wenig von ihm sehen konnte, wusste ich genau, was die Schatten vor mir verbargen. Durchdringende schiefergraue Augen wie der Wiesensee an einem stürmischen Tag. Dunkelbraunes Haar, das einige helle Strähnen aufwies und das wirkte, als sei es noch nie mit einer Bürste in Berührung gekommen. Volle, geschwungene Lippen und eine gerade Nase. Ein spöttischer Zug um die Mundwinkel, als wüsste er etwas, das allen anderen verborgen blieb. Zumindest im Moment schien das zuzutreffen. Noch dazu war er groß, deutlich größer als ich, und ziemlich muskulös dafür, dass er Tag für Tag mit seinem Großvater die Chroniken übertrug.

»Ihr seid entweder dämlich oder lebensmüde. Wahrscheinlich beides.«

Leider war er nicht besonders nett. Alles andere als nett, wenn man es genau nahm.

»Misch dich nicht ein.« Vince gab sich größte Mühe, einen schroffen Ton anzuschlagen, doch es klang eher flehend. Obwohl Ezra nur wenig älter war als er selbst, hatte er innerhalb von Sekunden die Führung übernommen.

»Vergesst den Mist. Niemand wird davon beeindruckt sein, wenn ihr euch in Besitz nehmen oder sogar umbringen lasst.« Er warf Amber einen kurzen Blick zu. »Auch Graham Hunt nicht.«

Sie reagierte mit einem erstickten Ächzen auf den unverhofften Angriff. »Graham hat damit nichts zu tun.«

Ich war mir sicher, dass ihr Gesicht um einige Nuancen dunkler geworden war, doch Ezra lachte nur. Es schien, als würde ihm nichts von dem entgehen, was im Dorf geschah – inklusive Ambers Schwärmerei für Graham Hunt.

»Im Ernst, Leute.« Er trat einen Schritt vor und musterte jeden Einzelnen von uns. »Tut das nicht. Wenn ihr eure Tapferkeit unter Beweis stellen wollt, dann klaut ein paar Laibe Brot vom alten Jefferson oder klettert zur Geisterstunde auf den Turm der Kapelle. Aber bleibt weg von der Grenze. Es hat einen Grund, dass nur die ausgebildeten Salzträger nach draußen gehen, und selbst für diese bleibt ein großes Restrisiko. Fragt Isaac, sofern er irgendwann wieder sprechen kann. Es ist gefährlich.«

»Das ist uns klar«, erwiderte Rowan, der sich allmählich von Ezras überraschendem Auftauchen zu erholen schien. »Wir kennen die Risiken.«

»Tatsächlich«, versetzte Ezra kühl, und ich trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Es wäre besser, die Aktion abzublasen.

»Kannst du jetzt endlich abhauen und aufhören, den Moralapostel zu geben?« Vince schien nicht bereit zu sein, Ezra kampflos das Feld zu überlassen. »Wir entscheiden, ob wir das Risiko eingehen. Es ist unsere Sache. Nicht deine. Du wirst uns nicht aufhalten können. Renn zu deinem Großvater zurück und beschmutz dir weiter die Finger mit Graphit. Sonst interessierst du dich auch nicht dafür, was wir tun.«

Seinen Worten folgte Schweigen. Ezra wandte sich ab, und kurzzeitig war ich sicher, dass er Vince’ Vorschlagnachkommen würde. Dann hörte ich, wie er einmal tief durchatmete.

»Wie wollt ihr vorgehen?«

Mit wenigen Sätzen fasste Rowan unseren Plan zusammen, der mir mit jeder Sekunde lächerlicher erschien.

»Das kann nicht euer Ernst sein.« Ezra klang so fassungslos, dass mein Unbehagen von beißender Verlegenheit durchzogen wurde. »Ihr wollt einfach so in den Nebel hineinrennen? Die Präsenzen werden euch früher oder später entdecken und sofort umhüllen. Sie sind überall, durchdringen alles. Ihr werdet die Orientierung verlieren, blind im Nebel herumirren, bis sie einen Weg in euch gefunden haben und euch aushöhlen. Einen nach dem anderen.«

Ich zog beklommen die Schultern hoch. Wir alle kannten die Geschichten, und dass Ezra so ernsthaft darüber sprach, verstärkte die davon ausgehende Bedrohung um ein Vielfaches.

Ein leises Rascheln war zu hören, dann hielt er uns ein Garnknäuel entgegen. »Das knotet ihr um einen Baum in Grenznähe«, erklärte er. »Damit ist sichergestellt, dass ihr den Rückweg findet.«

»Gute Idee«, warf Amber ein, die sich wieder gefangen hatte. »Du hilfst uns?«

»Anscheinend ist es unmöglich, euch davon abzubringen, also versuche ich, euren Hals zu retten. Salz habt ihr dabei?«

Verlegene Stille trat ein.

Ezra stieß ein frustriertes Stöhnen aus. »Sagt mal, seid ihr eigentlich total bescheuert? Hat auch nur einer von euch einen Blick in die Chroniken geworfen? Könnt ihr überhaupt lesen?«

Gut, die Frage war berechtigt, denn tatsächlich konnte nur ein Bruchteil der Bewohner Salwoods flüssig lesen und schreiben. Weshalb auch? Ein Buch befriedigte lediglich den Geist, nicht den Magen, und anders als ich hatten die anderen keinen Vater, der Wert auf das geschriebene Wort legte und von ihnen dasselbe erwartete.

Da wir ihm erneut eine Antwort schuldig blieben, sprach er weiter. »Die Laternen könnt ihr zurücklassen; sie nutzen sowieso nichts. Der Nebel frisst sowohl Licht als auch Geräusche. Besser, wir haben die Hände frei.«

»Wir?«, wiederholte Rowan, während Amber verärgert den Kopf schüttelte.

»Ich stelle meine Lampe sicher nicht ab, nur weil der Spinner es sagt.«

»Wir gehen paarweise hintereinander«, fuhr Ezra fort, als hätte er die beiden gar nicht gehört, »und fassen uns an den Händen. Wenn jeder mit einem anderen verbunden ist, schmälert das die Gefahr, jemanden zu verlieren. Außerdem bieten wir so weniger Angriffsfläche.«

»Wäre es einzeln nicht besser? Ein Pulk zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich.«

»Nicht bei eurer mangelnden Vorbereitung«, widersprach Ezra. »Ein Salztalisman für jeden Einzelnen wäre das Mindeste. Mein eigener wird uns nicht ausreichend schützen. Verschiebt den Blödsinn. Macht es von mir aus nach der Salzwende am Wochenende. Dann habt ihr wenigstens eine ordentliche Menge Salz im Körper. Oder ihr versucht euch irgendwoher einen Talisman zu beschaffen, damit ihr zumindest eine Chance habt. Wobei ich nicht glaube, dass man ausgerechnet euch einen anvertraut.«

»Du willst es nur aufschieben, damit du uns in der Zwischenzeit verraten kannst.« Vince lachte höhnisch. »Ganz bestimmt nicht. Außerdem hat dann sicher schon ein anderer Isaacs Talisman gefunden.«

»Isaacs Talisman.« Ezra seufzte resigniert, machte aber keine Anstalten, zu verschwinden. Anscheinend würde er uns tatsächlich begleiten. »Darum geht es also.«

»Gut erkannt, du Fuchs. Und jetzt los. Wir gehen zu der Stelle, an der Isaac den Nebel verlassen hat.« Der zackige Tonfall, den Vince anschlug, täuschte nicht über seine offensichtliche Unsicherheit hinweg. Ezras unmissverständliche Warnungen hatten ihn beunruhigt, selbst wenn er es niemals zugeben würde.

Er setzte sich in Bewegung, und wir folgten ihm zögerlich. Auch bei den anderen schienen Ezras Worte nicht auf taube Ohren gestoßen zu sein, trotzdem wollte sich keiner die Blöße geben, die Unternehmung infrage zu stellen.

Zögerlich tasteten wir uns durch die Dunkelheit, gegen die der klägliche Schein unserer Laternen vergeblich ankämpfte und die sich mit jedem Schritt zu verdichten schien.

Je weiter wir uns der Grenze näherten, desto stärker wurde der Nebel und damit auch das fluoreszierende Leuchten um uns herum.

»Die Linie befindet sich wenige Meter vor uns«, durchbrach Ezra die bleierne Stille. Obwohl ich keine Ahnung hatte, woher er das wusste, glaubte ich ihm. Stumm warteten wir ab, während er gemeinsam mit Vince einen Baum auswählte, um dessen Stamm er das Garn wand.

»Paarweise an den Händen fassen«, instruierte uns Ezra, und sofort fanden sich Rowan und Hana. Amber zögerte nicht lange, reichte Rowan ihre Laterne und griff nach Vince’ Hand, sodass ich – wie meistens – übrig blieb.

»Okay«, sagte Ezra bloß, trat neben mich und verschränkte unsere Finger miteinander. Sein Griff war fest, beruhigend, seine Haut war trocken und warm. Trotz der Panik, die in mir tobte, gab es einen Teil von mir, der die Berührung genoss. Nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir ausgemalt, ihm jemals so nahe zu kommen.

»Egal, was geschieht«, schärfte er uns ein. »Wir müssen zusammenbleiben. Gemeinsam besteht zumindest eine Chance, dem Ansturm der Geister zu widerstehen. Einzeln …«

»Mach schon«, unterbrach ihn Vince. »Gib mir das Garnende.«

Ich spürte, wie Ezra für einen Sekundenbruchteil zögerte, bevor er Vince das Knäuel aushändigte.

»Ja. Ist klar«, winkte dieser ab, während er sich bemühte, Garn und Laternengriff so zu halten, dass er keines von beiden fallen ließ. »Nicht loslassen, sonst sind wir verloren inmitten einer rachsüchtigen Geistermeute.«

»Du hältst das immer noch für einen großen Witz, du Arschloch«, fuhr ihn Ezra aufgebracht an.

»Keiner zwingt dich, unseren Babysitter zu spielen, du eingebildeter Bastard.«

Ohne darüber nachzudenken, strich ich besänftigend mit dem Daumen über Ezras Handrücken.

Er atmete hörbar aus, dann straffte er die Schultern. »Letzte Chance. Die Grenze ist direkt vor uns. Lasst uns umkehren. Noch können wir zurück.« Seine Stimme klang nun so eindringlich, dass sich auf meinen Armen eine Gänsehaut bildete. Unwillkürlich umfasste ich seine Hand etwas fester. »Ihr müsst niemandem etwas beweisen, am allerwenigsten mir.«

Vince schnaubte verächtlich. »Klingt fast, als hättest du Angst.«

»Habe ich«, entgegnete Ezra fest. »Und die solltet ihr auch haben.«

2 – FAYE

Ein stummer Schrei

Langsam, fast zögerlich bewegten wir uns in den wabernden Dunst hinein, der mit jedem Schritt dichter wurde. Wir übertraten die Salzlinie, und der Nebel umschloss uns von allen Seiten, ließ meine Wahrnehmung schrumpfen. Ob es den anderen auch so ging? Das Rascheln des Laubs. Die kleinen Zweige, die unter unseren Füßen brachen. Das Geräusch unseres Atems. Alles war gedämpft, als läge eine schwere Decke über meinen Sinnen.

»Ezra«, sagte ich in die Stille. Seine Haut war warm, sein Griff gab Sicherheit. Die Verbindung zu ihm schien das einzig Reale zu sein in einer Welt, die nur noch aus Schweigen bestand. Es war nicht komplett finster, aber das dumpfe Glühen um uns herum war schlimmer als Dunkelheit. Testweise streckte ich den Arm aus und stellte fest, dass ich meine Fingerspitzen nur verschwommen sehen konnte.

Der Nebel frisst sowohl Licht als auch Geräusche.

Ich versuchte es erneut. »Ezra.«

Lediglich ein tonloser Hauch kam über meine Lippen.

Er hatte uns gewarnt, wusste genau, was geschehen würde. Wieso kannte er sich hier draußen aus? War es für ihn nicht das erste Mal, dass er den Kreis verließ? Er war kein Salzträger. Welchen Grund sollte er sonst gehabt haben?

Mit brennenden Augen starrte ich in den mich umgebenden Nebel. Nein, es war nicht nur Nebel. Es war viel mehr als das. Es war der dumpfe Schleier irgendwo zwischen Leben und Tod, erstickend und allgegenwärtig. Ich fühlte mich, als würde ich schweben und gleichzeitig fallen. Schwerelos. Zeitlos. Verloren.

Der Schein von Vince’ und Rowans Laternen verströmte warmes Licht, das jedoch nicht gegen die trüben Schwaden ankam.

Das Einzige, was blieb, war Ezras Hand, die ich so fest umklammert hielt, dass es ihm vermutlich wehtat.

Ihr werdet die Orientierung verlieren, blind im Nebel herumirren, bis sie einen Weg in euch gefunden haben und euch aushöhlen. Einen nach dem anderen.

Jeglicher Zweifel an den Geschichten erlosch. Ich konnte spüren, wie die Seelen über mich und um mich herum glitten, als würden sie nach Schwachstellen suchen, von denen ich nicht einmal wusste, wie sie aussahen.

»Lasst uns umkehren!« Der Nebel dämpfte meinen Schrei zu einem kraftlosen Flüstern. Niemand reagierte.

Vorsichtig streckte ich die freie Hand aus, um Rowan, der sich irgendwo vor mir befinden musste, zu berühren.

Ich griff ins Leere.

Mit einem Mal hatte ich grauenvolle Angst, dass wir den Rückweg nicht mehr finden würden. Alles sah gleich aus, eine kränklich-schimmernde Masse, so undurchdringlich, dass jeglicher Versuch der Orientierung vergeblich war. Sämtliche Gedanken an den Talisman, den ich eigentlich suchen sollte, waren längst erloschen. Plötzlich hing unser aller Schicksal von einer Garnrolle ab, die sich ausgerechnet in Vince’ Händen befand. Vince, der die Unternehmung von Anfang an als harmlose Mutprobe gesehen hatte. Er würde uns eher alle ins Verderben laufen lassen, als zuzugeben, dass er die Gefahr unterschätzt hatte.

»Stopp!« Dieses Mal legte ich meine gesamte Kraft in das Wort, schrie so laut, dass meine Kehle schmerzte.

Tatsächlich zerschnitt meine Stimme die dumpfe Stille, und Sekunden später prallte ich gegen Rowans Rücken. Anscheinend hatte er sich nur knapp außerhalb meiner Reichweite befunden.

Geistesgegenwärtig griff ich zu, sodass sich meine Finger in den groben Stoff seines Leinenhemds gruben.

Rowan fuhr herum und zog Hana mit sich. Im fahlen Licht konnte ich die Panik in ihren weit aufgerissenen Augen erkennen. Ich war nicht die Einzige, die realisiert hatte, dass die Dinge aus dem Ruder liefen.

»Zurück!« Der Schrei verlangte mir alles ab und war trotzdem zu leise.

Ezra festigte den Griff um meine Hand, ein stummes Versprechen.

»Vince!«, brüllte Rowan gegen die erstickende Wand. »Amber! Kommt zurück!«

Ich rechnete nicht damit, dass seine Rufe Wirkung zeigen würden. Der Nebel verschluckte seine Stimme, genauso wie er Vince und Amber verschluckt hatte und wie er uns verschlucken würde, sollten wir nicht schnellstens die Flucht ergreifen. Die Frage war nur: wohin?

Als sich das Licht einer weiteren Laterne aus dem Dunst schälte, atmete ich auf und ließ die kühle Waldluft meine Lungen fluten. Sie schmeckte nach Tannennadeln und feuchter Erde, aber auch nach etwas Süßlichem, Fremdartigem, was mich an halbvergorenes Obst erinnerte.

Kurz darauf traten Amber und Vince zu uns. Wie auf Kommando bildeten wir einen Kreis im warmen Schein der beiden Lampen, deren Metallhenkel Rowan und Vince fest umschlossen hielten. Keiner von ihnen konnte sein Zittern noch verbergen.

Amber sah sich um, der Blick unstet und flackernd. Gerade wirkte sie eher wie ein gehetztes Tier als wie die gelassene Wortführerin, als die sie sich gerne präsentierte.

Sie öffnete den Mund, ihre Lippen bewegten sich, doch kein Laut war zu hören. Ihrem Gesichtsausdruck nach schien sie erst jetzt zu bemerken, dass der Nebel unsere Stimmen fraß. Völlig außer sich zog sie an Vince’ Hand, der wiederum Ezra anstarrte.

Im Dämmerlicht wirkten die Pupillen meines Begleiters fast schwarz, lediglich ein schmaler Ring aus silbrigem Grau war geblieben. Er erwiderte die unausgesprochene Frage mit einem durchdringenden Starren, dann deutete er auf das Garnknäuel in Vince’ Händen.

Die Botschaft war klar: umkehren. Zurück in die Sicherheit des Salzkreises. So schnell wie möglich.

Vince nickte und senkte die Lider, ein stummes Eingeständnis. Endlich war er bereit, Ezra die Führung zu überlassen. Zögerlich streckte er die Hand aus, um ihm das Garn zu geben.

Zu spät. Viel zu spät.

Zuerst stellten sich meine Nackenhaare auf. Es fühlte sich an, als wäre die Luft elektrisch aufgeladen, als wären wir unvermittelt in ein Spannungsfeld getreten. Als Nächstes setzten die Kopfschmerzen ein. Tausende spitzer Nadeln schienen sich in meine Schläfen zu bohren, und ich kniff mehrfach die Augen zusammen. Ein hochfrequentes Sirren, fast außerhalb meiner Wahrnehmung, schien sich in mir festzusetzen. Je weiter es in den hörbaren Bereich vordrang, desto lauter wurde es. Innerhalb weniger Sekunden steigerte es sich zu einem ohrenbetäubenden Kreischen, noch immer so hoch, dass meine Zähne kribbelten. Es schien von überall her und gleichzeitig aus meinem Innern zu kommen, so durchdringend, dass es meine Knochen zum Vibrieren brachte.

Ezras Griff wurde noch fester, und er formte zwei Worte. Zwei Worte, die ich nicht hören musste, um zu verstehen.

Sie kommen.

Wirkte die Zeit eben noch wie eingefroren, schien sie jetzt in doppelter Geschwindigkeit weiterzulaufen. Wir rückten näher zusammen, sodass wir einander fast berührten. Für einige Sekunden gab ich mich der Hoffnung hin, dass wir noch eine Chance hatten. Dass noch nicht alles verloren war. Ezra würde wissen, was zu tun war. Er würde uns wohlbehalten aus dem Nebel führen.

Tatsächlich sah er auffordernd in die Runde. »Das Garn.« Seine Stimme war leise, obwohl er aus vollem Halse schrie. »Vince, du musst uns führen! Nehmt euch an den Händen! Alle müssen verbunden sein. Mein Talisman bringt zumindest ein wenig Schutz.«

Für einige Sekunden erwiderte Vince Ezras Blick, dann rannte er unvermittelt los und zerrte Amber grob hinter sich her. Dabei stieß er gegen Rowan und schlug ihm die Laterne aus der Hand. Nicht absichtlich, doch das spielte keine Rolle. Sie landete am Boden, das Glas splitterte, die Flamme erlosch. Kein Laut war zu hören.

Vince nutzte die allgemeine Verwirrung, und im nächsten Moment waren er und Amber mit der Nebelwand verschmolzen.

»Hinterher!« Wieder ergriff Ezra die Initiative, geistesgegenwärtig und schnell. Er hatte recht. Die verfluchte Garnrolle war unsere einzige Möglichkeit zur Orientierung.

Ohne zu zögern, fassten wir uns an den Händen und rannten los, ignorierten die Zweige, die uns ins Gesicht schlugen, stolperten und rutschten über das feuchte Laub, während sich Dornenranken in unseren Kleidern verfingen. Der verstörende Lärm hatte nicht nachgelassen. Im Gegenteil, bei jedem Schritt spürte ich die tosenden Präsenzen, wie sie an mir zogen, an meinem Körper und an meiner Seele rissen.

Wir kamen zu langsam voran. Während Vince und Amber zu zweit waren, bildeten wir eine Kette von vier Personen. Egal ob neben- oder hintereinander, es war unmöglich, sich auf diese Weise schnell durch den Wald zu bewegen.

Auch Ezra erkannte die Aussichtslosigkeit unserer Lage und blieb stehen. Im gelblichen Schein des Nebels konnte ich ihn nur verschwommen sehen.

Hana, die meine andere Hand hielt, lief in vollem Tempo in mich hinein, sodass ich wiederum gegen Ezra prallte, der mich sofort mit einem beherzten Griff um den Oberarm stabilisierte. Unsere Blicke trafen sich. Der Ausdruck in seinen Augen gefiel mir nicht. Beklommenheit. Unruhe. Sorge.

Der Herzschlag dröhnte mir in den Ohren, mein Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Wir hatten sie verloren. Vince und Amber waren in den wirbelnden Dunstschwaden nicht mehr auszumachen. Wir hatten keine Ahnung, wohin wir flüchten sollten, keine Ahnung, in welcher Richtung der Salzkreis lag, keine Ahnung, wie wir wohlbehalten das Dorf erreichen sollten. Und der Ansturm der Geister nahm zu.

»Wohin?« Ich sah die Worte, die über Rowans Lippen kamen, doch ich hörte sie nicht.

Ezra schüttelte nur den Kopf. Er wusste es nicht.

Meine letzte Hoffnung zerbrach. Natürlich wusste er es nicht, er war in dieser brodelnden Hölle ebenso gefangen wie wir. Unsere einzige Chance hatte er Vince anvertraut.

Das allgegenwärtige Kreischen um uns herum schien weiter zuzunehmen, mein gesamter Körper summte sowohl vor Schmerz als auch vor Anspannung. Der Lärm war markerschütternd und zugleich flüsterleise. Als würden Tausende Stimmen kontinuierlich auf mich einwispern. Zischend. Knisternd. Fauchend. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis einer von uns die Nerven verlieren würde.

Hana war die Erste.

Sie riss sich sowohl von mir als auch von Rowan los, bedeckte die Ohren mit den Händen und schwankte einige Schritte zur Seite, als würden sie die Stimmen von den Füßen reißen.

Rowans Augen weiteten sich, als ihm bewusst wurde, dass er durch Hanas Kurzschlussreaktion nicht nur von ihr, sondern auch von uns getrennt worden war. Von uns und damit von dem schützendem Salztalisman. Bevor ich nach ihm greifen konnte, taumelte auch er blindlings in den wabernden Schleier.

Ezra zog mich an sich und legte einen Arm um meine Hüfte. Instinktiv schmiegte ich mich an ihn, als würde mein Körper erkennen, dass von ihm Sicherheit ausging.

»Nicht loslassen. Nicht weglaufen.« Obwohl seine Lippen fast mein Ohr streiften und ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte, war seine Stimme nicht mehr als ein Raunen. »Das Salz schützt dich.«

»Die anderen.« Verzweifelt versuchte ich gegen den Nebel anzukommen. »Du musst den anderen helfen.«

»Faye.« Sein Wispern wurde eindringlicher, drängender. »Es hat keinen Zweck. Die Geister sind entfesselt, und sie sind ungeschützt. Wir können ihnen nicht …«

Er verstummte, denn in dieser Sekunde schälte sich Rowan aus dem Dunst und traf ihn so schwungvoll, dass er ihn von den Beinen riss. Geistesgegenwärtig umklammerte ich seine Hand, sodass ich zwar ebenfalls auf dem Boden landete, die Verbindung jedoch nicht verlor.

Rowan schien seinen Sturz nicht einmal bemerkt zu haben. Stattdessen starrte er auf einen Punkt hinter mir im Nichts. In seinen Augen lag solche Panik, dass ich innerlich gefror. Um nichts in der Welt wollte ich mich umdrehen.

Ezra war weniger befangen und folgte seinem Blick. Seine Miene versteinerte umgehend. Ich biss mir heftig auf die Unterlippe, und das kupfrige Aroma von Blut breitete sich in meinem Mund aus. Der Albtraum nahm kein Ende.

Dann hörte ich den Schrei. Er war anders als das Kreischen der Geister. Intensiver. Verzweifelter. Menschlicher.

Hana.

Ich hatte keine Ahnung, weshalb ihre Stimme mühelos den Schleier durchschnitt, weshalb sie fast überdeutlich zu hören war.

Zögerlich wandte ich mich um und bereute es sofort.

Der Nebel um sie herum hatte sich gelichtet, schien weniger geworden zu sein. Nein. Nicht weniger, er hatte sich nur verlagert und um sie herum verdichtet.

Wie eine zweite Haut legte sich die fluoreszierende Schicht um ihren schmalen Körper, schloss sie ein und ließ sie im düsteren Licht glühen. Es war ein beängstigendes und zugleich wunderschönes Bild. Zumindest bis ich realisierte, was mit Hana geschah.

Sie starb.

Der Nebel schien ihr die Luft zum Atmen zu rauben, sie langsam zu ersticken. Sie hatte beide Hände an ihren Hals gelegt, und die Augen so weit aufgerissen, dass sie fast aus den Höhlen traten. Vergeblich rang sie nach Sauerstoff, als hätte der Schrei, den sie zuvor ausgestoßen hatte, all ihre Reserven aufgezehrt.

Am Rande meines Sichtfeldes nahm ich wahr, dass sich Rowan halb aufgerichtet und die Arme nach ihr ausgestreckt hatte, jedoch nicht von der Stelle kam, weil ihn Ezra am Knöchel festhielt.

Währenddessen befand sich Hana weiter in ihrem Todeskampf. Mittlerweile hatte ihr Gesicht eine dunkle Färbung angenommen, die im fahlen Schimmer unheimlich, fast grotesk aussah. Sie schwankte nach vorne, dann sank sie langsam auf die Knie, als würde der Nebel ihren Sturz verhindern und sie nun fast zärtlich zu Boden gleiten lassen. Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei.

Ich hatte in meinem Leben schon einiges Vieh sterben sehen, teilweise sogar selbst geschlachtet, aber noch nie einen Menschen. Es war grauenhaft, und die plötzlich einkehrende, drückende Stille machte es noch schlimmer. Ich wollte ihr helfen, sie umarmen oder an mich ziehen, um irgendwie der erzwungenen Untätigkeit zu entfliehen, doch Ezras Hand war wie ein Schraubstock um meinen Arm geschlossen.

Ich tobte, schrie, schlug um mich. So wild und unkontrolliert, dass ich Ezra mit dem freien Ellbogen im Gesicht traf, woraufhin er kurzzeitig seinen Griff lockerte. Es reichte aus. Mit einer entschlossenen Bewegung riss ich mich los und warf mich in Hanas Richtung.

»Nein!«

Ich wusste nicht, ob der Schrei wirklich oder nur in meinem Kopf ertönte, aber es war ohnehin zu spät. Meine Finger schlossen sich um ihren Unterarm. Ihre Haut war kalt. Verstörend kalt. Ein unangenehmer Schauer durchlief mich, kühl und gleichzeitig sengend heiß, doch ich erhielt die Berührung aufrecht. Der faulige Gestank vermischt mit einer metallischen Note stieg mir in die Nase, deutlich stärker als zuvor.

Ich konzentrierte mich auf Hana, versuchte, ihr Halt zu geben und Trost zu spenden. Mehr konnte ich nicht tun.

Sie starrte mich an, in ihren Augen Todesangst und Verzweiflung, während ich noch immer ihren Unterarm umklammerte. Ihre Fingernägel gruben sich in die weiche Haut ihres Halses, rissen an ihrer Kehle.

Dann brach ihr Blick.

Ich konnte sehen, wie das Leben sie verließ. Es wirkte, als würde ihr Körper leicht durchsichtig werden und sich vollends den tobenden Präsenzen ergeben.

Finger gruben sich in meine Schulter, und ich wurde so grob zurückgezerrt, dass meine Hand abrutschte.

Mit einem schmerzerfüllten Keuchen landete ich rücklings am Boden und spürte umgehend ein tonnenschweres Gewicht auf meiner Brust, das dafür sorgte, dass ich mich nicht rühren konnte. Würden mich die Geister jetzt ebenso ersticken, wie sie es gerade bei Hana getan hatten?

Ich blinzelte in das trübe Dämmerlicht und erkannte Ezra, der über mir kniete und mich prüfend musterte.

Da er mich nicht hören konnte, beschränkte ich mich auf ein beruhigendes Nicken, woraufhin er aufstand und mich mit sich zog.

Ich sah verstohlen zu Hana, die reglos am Boden lag und von einer schlängelnden Schicht aus Dunst bedeckt war. In diesem Moment wirkte der Nebel lebendiger als je zuvor, und ich schluckte hart.

Ezra ließ seine Hand über meinen Oberarm gleiten, sodass er unsere Finger miteinander verschränken konnte, ohne den Kontakt zwischen uns auch nur eine Sekunde abreißen zu lassen. Anders als mich schien ihn Hanas gewaltsames Ende und der Triumph der Seelen nicht zu verstören, denn er wandte sich, ohne zu zögern, ab.

Widerspruchslos ließ ich mich durch den Nebel führen und bemerkte erst nach einigen Schritten, dass sich Rowan auf der anderen Seite Ezras befand und auch dessen Hand hielt. Er wirkte genauso betroffen wie ich. Die Erinnerung an den entsetzten Ausdruck in Hanas Gesicht, an die Angst in ihren Augen hatte sich tief in mein Gedächtnis gegraben. Ich war mir sicher, sie für den Rest meines Lebens in meinen Albträumen zu sehen – der nicht mehr sonderlich lang sein würde, sollten wir nicht bald in die Sicherheit des Salzkreises zurückkehren.

Ich hatte keine Ahnung, wohin wir liefen, und ich bezweifelte, dass es Ezra oder Rowan besser erging. Noch immer spürte ich einen Nachhall von Hanas Berührung in meinem Innern, als hätte sich die klamme Kälte in mir festgesetzt. Lediglich die Verbindung zu Ezra sorgte dafür, dass ich nicht komplett auskühlte. Es war, als würde seine Hand eine schwache, aber konstante Wärme ausstrahlen. Ich war unglaublich dankbar dafür, dass er mich nicht losließ, obwohl er ohne mich deutlich schneller vorankommen würde.

Die Zeit verschwamm, während wir uns durch den Nebel kämpften. Ich wusste nicht, wie spät es war und ob nicht allmählich der Morgen heraufdämmern müsste. Der folgende Gedanke erschreckte mich so sehr, dass ich abrupt stehen blieb und fast den Kontakt zu Ezra verlor. Was, wenn es schon Morgen war? Wenn der allgegenwärtige Dunst uns vom Tageslicht abschirmte? Wenn wir für immer in diesem Schwebezustand zwischen Leben und Tod gefangen wären, im Nichts herumirrend, bis die Seelen einen Weg in uns hineingefunden hätten?

Ezra zog an meinem Arm, riss mich förmlich mit sich, und ich stolperte hinter ihm her, kämpfte gegen das Schluchzen an, das meine Kehle emporstieg. Ich musste durchhalten. Um jeden Preis.

Obwohl ich nach wie vor nichts sah, richtete ich den Blick abwechselnd auf meine Füße und auf die düstere Wand vor mir. Ein winziger Teil in meinem Innern hielt an der Hoffnung fest, Ezra würde uns wohlbehalten nach Hause bringen. Ezra, der uns vor der Unternehmung gewarnt hatte und der eigentlich gar nicht mitkommen wollte. Ezra, dessen Berührung die einzige Rettung war.

Obwohl wir uns in hohem Tempo durch die Nacht bewegten, nahm die Kälte in meinem Innern zu. Mit jedem schnellen Herzschlag breitete sie sich weiter aus und sandte kribbelnde Schauer durch meine Nervenbahnen. Es fiel mir zunehmend schwer, mit Ezra und Rowan Schritt zu halten. Mittlerweile hatte ich mehrere Kratzer von Dornen und Zweigen im Gesicht, und bei jedem Atemzug zuckte ein Stechen durch meine Seiten.

Alle Schmerzen rückten schlagartig in den Hintergrund, als überraschend die Erde unter meinen Füßen nachgab, sodass ich ausrutschte und um ein Haar gefallen wäre, hätte mich Ezra nicht erneut gestützt.

Im Gegensatz zu dem festen und mit Blättern bedeckten Waldboden war der Untergrund hier feucht und lehmig, saugte sich regelrecht an den dünnen Sohlen meiner Lederstiefel fest.

Ebenso wie Ezra und Rowan hielt auch ich schlagartig inne.

Der Bach.

Wir befanden uns in direkter Nähe zum Bach, der vom Wiesensee gespeist wurde, und waren somit nicht mehr völlig orientierungslos. Im Gegenteil. Wir konnten nun der Fließrichtung folgen und würden so früher oder später die Stelle erreichen, an welcher eine kleine Brücke den Salzkreis über den Fluss hinweg fortführte.

Unglaubliche Erleichterung durchflutete mich. Ich drückte kurz Ezras Hand, bevor wir uns wieder in Bewegung setzten, dieses Mal zielgerichtet und mit neu entfachter Zuversicht.

Jetzt, da ich wusste, dass wir nicht mehr planlos herumirrten, schien auch die lähmende Angst ein wenig nachzulassen, sodass ich freier atmen konnte. Ich bildete mir sogar ein, der metallische Fäulnisgeruch wäre weniger geworden.

Ende der Leseprobe