The Feeling Of Forever - Yvy Kazi - E-Book

The Feeling Of Forever E-Book

Yvy Kazi

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kann die Liebe dir den Mut geben, für dein perfektes Für immer zu kämpfen?

Penelope Perez ist die einzige Tochter eines erfolgreichen Selfmademillionärs und hat eigentlich alles, was man sich wünschen kann. Doch schon ihr ganzes Leben begleitet sie das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Als sie Cameron Burton kennenlernt, wird diese Begegnung für Penny in mehr als einer Hinsicht zu einem Neuanfang. Denn sie merkt, dass es noch etwas anderes geben muss, als die Ansprüche ihrer Familie zu erfüllen. Cam ist nicht die Sorte Mann, die ihre Eltern gutheißen würden: Sein Design-Studium am St. Clair College kann er sich nur durch ein Footballstipendium leisten, und er ist bereits Vater einer kleinen Tochter - trotzdem fühlt Penny sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Mehr noch: Cam gibt ihr endlich den Mut, für ihren Traum zu kämpfen. Dabei könnte sie ausgerechnet die Erfüllung ihrer Wünsche wieder auseinanderreißen ...

"THE REASON OF LOVE konnte mich absolut begeistern. Die Story hat mich komplett verzaubert. Eine richtige Wohlfühlgeschichte!" YVONNE von @TINTENWOELKCHEN

Band 3 der ST.-CLAIR-CAMPUS-Reihe

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 587

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Motto

Playlist

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Yvy Kazi bei LYX

Impressum

Yvy Kazi

The Feeling Of Forever

Roman

Zu diesem Buch

Als einzige Tochter eines erfolgreichen Selfmademillionärs hat Penelope Perez eigentlich alles, was man sich wünschen kann – doch schon ihr ganzes Leben begleitet sie das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Zwar gibt sich Penny jahrelang die größte Mühe, allen zu gefallen, aber plötzlich beginnt die Fassade zu bröckeln und sie merkt, dass ihr bisheriger Lebensentwurf sie einfach nicht glücklich macht. Doch etwas völlig anderes wagen, ohne die Zustimmung ihrer Familie? Dafür fehlt Penny noch der Mut. Als sie jedoch Cameron Burton an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag kennenlernt, wird diese Nacht für Penny in mehr als einer Hinsicht zu einem Neuanfang. Cam ist nicht die Sorte Freund, die ihre Eltern gutheißen würden: Sein Design-Studium am St. Clair College kann er sich nur durch ein Footballstipendium leisten, und außerdem ist er bereits Vater einer kleinen Tochter – trotzdem fühlen die beiden sich unaufhaltsam zueinander hingezogen. Bei Cam hat Penny das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl, vollkommen verstanden und geliebt zu werden. Mehr noch: Er gibt ihr endlich den Mut, ihr Leben zu verändern und für ihre Träume zu kämpfen. Dabei könnte sie ausgerechnet die Erfüllung ihrer Wünsche wieder auseinanderreißen …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält Elemente, die potenziell triggern können. Diese sind:

Erwähnung von Retterkindern, Schilderungen von toxischen Familienverhältnissen, Erwähnung von Fehlgeburten.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Für L.

– und die Kinder von gestern, heute und morgen

Was willst du dir selbst sagen,

wenn du auf dem Sterbebett liegst?

Dass du deine Zeit bestmöglich genutzt hast

oder dass die Bilanz lautet:

Habe stets versucht, es allen recht zu machen?

July C. Summers

Playlist

»Drunk And I Miss You« – KIDDO, Decco

»(I Just) Died In Your Arm« – Annett Louisan

»Falling« – Harry Styles

»I Like Me Better« – Lauv

»Anywhere With You Is Home« – Kurt Hugo Schneider, Sam Tsui, Alyson Stoner

»Better Together« – Jack Johnson

»More Than Love« – Trevor Hall, Sofi Tukker

»The Lime Tree« – Trevor Hall

»If You Really Love Me« – David Guetta, MistaJam, John Newman

»Missing Peace« – JJ Heller

»Cure For Me« – AURORA

»L. I. F. E.« – Remady, Manu-L

»This Is Me« – Keala Settle, The Greatest Showman Ensemble

»Lean On Me (Acoustic)« – Joshua Radin

»I Say No« – Carrie Hope Fletcher, Original Westend Cast Of Heathers

»Unwritten« – Jonah Baker

»White Flag« – Dido

Liebe Zukunfts-Penny,

ich schreibe dir heute, weil du keinen guten Tag hast.

Aber das sollte er sein: der verflucht glücklichste Tag deines ganzen Lebens! Es ist immerhin der Tag, an dem das ersehnte Schreiben der Columbia ankam. Eine Zusage für Journalismus!

Eine Zusage, die du eurer Haushälterin Hanna gegeben hast, damit sie sie für dich verbrennt, weil du sie nie wieder in den Händen halten willst. Weil du nicht daran erinnert werden möchtest, dass sie je existiert hat. Und weil July sie auf keinen Fall in die Finger bekommen soll, denn sie würde wollen, dass du nach New York gehst, um deinen Traum zu leben.

Aber das kannst du nicht! Falls du vergessen solltest, wieso das nicht geht, kommt hier eine schnelle Erinnerung:

1.) Du hast July versprochen, in Fair Haven zu bleiben, weil sie hier nicht wegkann. Ihr Vater kann es sich nicht leisten, ihr ein Studium andernorts zu ermöglichen. Sie hat bereits ihre Mom verloren und es nicht verdient, auch noch ihre beste Freundin zu verlieren.

2.) Du hast deinen Eltern zugesagt, BWL zu studieren. Etwas Richtiges. Du bist es ihnen schuldig. Also: Mach sie stolz!

Ich weiß, dass sich das alles in diesem Moment nicht gut anfühlt – dass es sich nicht richtig anfühlt. Aber das wird es! Irgendwann. Ganz bestimmt.

Wenn du diesen Brief in frühestens vier Jahren aus deinem Schmuckkästchen hervorholst, wird es dir besser gehen. Du wirst deinen Bachelor haben und glücklich sein.

Das hier ist nicht das Ende deines Traums. Es ist die Chance auf einen neuen.

Ganz sicher.

In Liebe

Deine Vergangenheits-Penny

1. KAPITEL

Einen One-Night-Stand haben

Beinahe wie in Zeitlupe steige ich aus dem Doppelbett und halte die Luft an, um möglichst leise zu sein. Auf Zehenspitzen schleiche ich über den weichen Teppich des Hotelzimmers, sammle mein Kleid und die High Heels vom Boden auf.

Ein Fluchen unterdrückend stolpere ich über ein herumliegendes Kissen, taste nach meinem Handy, schalte die Taschenlampenfunktion ein und suche die Strumpfhose, bis mir wieder einfällt, dass ich sie im Taxi ausgezogen und vermutlich dort vergessen habe.

Auch okay. Wer braucht in Kalifornien schon eine Strumpfhose?

Auf dem Weg zur Tür schlüpfe ich in die Schuhe und lasse den Blick ein letztes Mal durch das Zimmer schweifen. Ein paar verstreute Kissen, eine leere Champagnerflasche, eine Hose. Das Chaos hält sich in Grenzen. Cameron wird sicherlich allein damit fertigwerden, sobald er wieder aufwacht – falls er überhaupt schläft. Vielleicht tut er auch nur so, damit ich mich unbemerkt und ohne peinliche Abschiedsszene aus dem Staub machen kann.

An der Tür angekommen, sehe ich noch einmal zu ihm zurück und bewundere seine muskulöse Rückenansicht im Mondschein, der durch einen Spalt zwischen den Vorhängen auf das Bett fällt. Allein für diesen Anblick hat sich der Ausflug in sein Hotelzimmer schon gelohnt. Ich bin viel zu versucht, mir meinen Lippenstift zu schnappen und das Wort Danke auf seinen makellosen Körper zu schreiben. Er war der perfekte Abschluss meines einundzwanzigsten Geburtstags: Cameron Burton.

Meinen Nachnamen habe ich ihm nicht genannt, da wir wussten, dass diese Nacht kein Nachspiel haben würde. Cameron kommt aus Ohio und ist ebenfalls nur für dieses Wochenende in Los Angeles. Hiernach werden sich unsere Wege nie wieder kreuzen. Aber das ist okay, denke ich. Vielleicht macht die Einmaligkeit den Zauber dieser besonderen Nacht aus. Und das war sie: besonders. Für ein paar Stunden war vollkommen egal, wie ich heiße oder was ich studiere. Cameron hat mich so genommen, wie ich bin. In vielerlei Hinsicht.

Und jetzt? Schleiche ich mich tatsächlich aus dem Hotelzimmer eines beinahe Fremden. Ich weiß nicht viel über ihn, trotzdem hat er mir von der ersten Sekunde an, in der wir uns im Club begegnet sind, das Gefühl gegeben, besonders zu sein. Als gäbe es unter den Hunderten Menschen keinen einzigen, mit dem er gerade lieber zusammen wäre. Wenn ich mich an seine bewundernden Blicke und liebevollen Berührungen erinnere, kostet es mich all meine Selbstbeherrschung, nicht wieder zu ihm ins Bett zu steigen.

Aber auch die beste Nacht muss irgendwann ein Ende finden. Andernfalls werde ich mich wieder an ihn schmiegen und in seinen Armen einschlafen. Und was dann? Werden wir morgen früh gemeinsam aufwachen, uns in die Augen sehen und …?

Hirn an Herz: Vergiss es. Ich lasse mich nicht noch einmal von dir einlullen.

Ich weiß, dass es besser ist, jetzt zu verschwinden. Dieser Abend war einfach nur ein Punkt auf meiner Ordne-dein-Leben-neu-To-do-Liste. Denn wenn ich etwas tun muss, dann mein Leben aufräumen.

Eigentlich läuft es ganz gut. Marie Kondō wäre sicherlich stolz auf mich. Ich habe im Sommer endlich mit dem Cheerleading aufgehört, zu dem ich mich jahrelang gequält habe, weil ich mir eingeredet habe, dass es zu mir passt. Großer Irrtum. Und ich habe meinen untreuen Ex-Freund Kyle verlassen, nachdem ich mir immer wieder eingeredet hatte, dass er sich ganz bestimmt irgendwann für mich ändert, wenn ich mir nur genug Mühe mit ihm gebe. Riesiger Irrtum! Seitdem kümmere ich mich vor allem um kleinere Anliegen auf besagter To-do-Liste. Dinge wie: Mir beweisen, dass ich sehr wohl leidenschaftlich sein kann.

Und genau das habe ich mit dieser Nacht getan.

Als Aliza mir angeboten hat, die Tage zwischen Weihnachten und Silvester mit ihr in ihrer neuen Wohnung in L. A. zu verbringen, musste ich einfach zusagen. Vielleicht weil ich spontan verreisen von meiner Liste streichen wollte. Mein Ausflug war so überaus spontan, dass er meine Eltern beinahe in eine Sinnkrise gestürzt hätte, weil ich damit ihre Neujahrspläne durchkreuzt habe. Es war schwierig für sie zu akzeptieren, dass ich ausgerechnet den einundzwanzigsten Geburtstag ohne elterliche Begleitung feiern wollte.

Aliza hat jedenfalls gespürt, dass ich Abstand von allem brauchte. Vielleicht sogar von mir selbst und meinem alten Ich. Manchmal scheint sie für so etwas einen siebten Sinn zu besitzen. Obwohl sie jetzt an der Westküste lebt und uns mehr als 2000 Meilen voneinander trennen, schafft sie es bemerkenswert oft, mich anzurufen oder mir eine Nachricht zu schicken, wenn ich gerade an sie denke. Es ist merkwürdig, das zuzugeben, weil ich mich mit ihrem Bruder Drew anfangs nicht gut verstanden habe, aber ohne ihn und meine beste Freundin July hätte ich Aliza McDaniels nie kennengelernt – und damit einige der besten Nächte meines Lebens verpasst.

Nachdem sie sich letztes Jahr von ihrem Freund Bradley getrennt hat, hat sie sich ein paar Wochen Auszeit vom Job als seine PR-Managerin genommen und ihren Bruder in Fair Haven besucht. Es war eine Auszeit, in der wir oft gemeinsam feiern waren, obwohl ich damals eigentlich nicht alt genug gewesen war, um in die Clubs zu kommen, in die sie mich mitgenommen hat. Seit gestern bin ich es nun. Aliza hat viel damit zu tun, dass ich in der letzten Zeit Dinge getan habe, die sich die alte Penny nie getraut hätte, und dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Sie ist einfach ebenso hinreißend wie mitreißend.

Zugegeben: Sie war nicht besonders begeistert davon, dass ich mit einem fremden Mann mitgegangen bin, aber ich musste es tun. Nicht nur, um einen Eintrag auf meiner Liste durchstreichen zu können. Cameron hatte irgendetwas an sich, das es mir leichtgemacht hat, mich für ein paar Stunden fallen zu lassen.

Doch die sind nun vorbei. In Fair Haven warten die unerledigten Punkte meiner To-do-Liste und mein altes Leben auf mich. Ein Leben, das sich manchmal so unbequem anfühlt wie meine High Heels nach einer wirklich langen Nacht.

Bedauernd schließe ich die Tür hinter mir.

2. KAPITEL

Nicht streiten

»Dass wir dich auch mal wieder sehen«, tadelt Dad, als ich mich zu meinen Eltern an den Esstisch im Wintergarten setze. Er schaut kurz von dem Tablet in seinen Händen auf, als Hanna eine Kanne mit Tee auf dem Tisch abstellt, versinkt jedoch sofort wieder in seiner Arbeit.

Mein Blick gleitet nach draußen, über die Terrasse auf den Lake St. Clair hinaus. Die Aussicht in die Natur hilft mir manchmal dabei, mich etwas zu entspannen. Ich werde nie verstehen, warum meine Eltern die alte Villa, die früher hier stand, abgerissen haben, um sie durch diesen gläsernen Kasten von einem Architektenhaus ersetzen zu lassen. Glas, Beton, Pampasgras und schneeweiße Teppiche, die jeden Sockenfussel so magisch anziehen, dass im gesamten Haus Hausschuhpflicht herrscht. Warum nur macht man sich den Alltag absichtlich derart ungemütlich?

»Wir haben dich bereits zum Frühstück erwartet«, reißt Mom mich aus den Gedanken und zieht ihre schmalen Augenbrauen vorwurfsvoll zusammen.

»Ich habe euch gesagt, dass ich heute nicht zum Frühstück kommen kann, weil ich mit July zu einer Lesung gehe.«

»Und die Lesung irgendeiner Autorin ist dir wichtiger als deine eigene Familie?« Mom blinzelt mich an. Wie kann eine so harmlose Geste dermaßen aufgebracht wirken?

»Es war nicht irgendeine Autorin, sondern Sofia Flores. Ihr neuer Roman ist …« Ich suche nach dem richtigen Wort, finde es aber nicht. »Bewegend. Und Augen öffnend. Ich bin ein großer Fan von ihr und ihrer Arbeit. Ihre Geschichte handelt zwar von einer fiktiven Person, aber Sofia verarbeitet darin ihre eigenen Erlebnisse. Als sie noch ein Kind war, wurde ihre Mom in Mexiko auf offener Straße erschossen. Einfach so.«

»Es wird schon Gründe gegeben haben«, murmelt Dad, ohne aufzusehen.

»Das sagst du so, aber wusstet ihr, dass in Mexiko jeden Tag rund zehn Frauen ermordet werden, ohne dass jemand etwas dagegen unternimmt? Ein Viertel davon einfach nur, weil sie Frauen sind. Wenn man dort in den sozialen Medien die Stimme erhebt, schlägt einem so viel Ablehnung entgegen, dass man fast das Gefühl hat, dass Gerechtigkeit mehr gehasst wird als Femizide. Und das heutzutage.«

»Penelope.« Mom seufzt so schwer, dass sich ihre Schultern heben und senken. Kopfschüttelnd greift sie nach der Teekanne.

»Was, Mom? Das sind Fakten. Sofia ist nicht nur Autorin, sie ist vor allem Journalistin. Ich verfolge ihre Artikel schon seit Jahren. Alles, was sie schreibt, ist gut recherchiert und trotzdem nie langweilig.«

»Ja, und wir haben Mexiko nicht grundlos verlassen.« Sie atmet erneut tief durch, aber ich sehe ihr genau an, dass sie über dieses Thema eigentlich nicht sprechen will. Überhaupt hat sie eine Abneigung gegen so ziemlich alles, was auch nur im Entferntesten unangenehm werden könnten, aber so schnell gebe ich nicht auf.

»Wusstet ihr, dass in Mexiko nur rund zehn Prozent der Jobs in Führungspositionen mit Frauen besetzt sind?«, führe ich fort, was Sofia vorhin berichtet hat. Fakt ist, dass July und ich ihr Buch gleichermaßen verschlungen haben, und es schmerzt mich, wie wenig Interesse meine Eltern an diesen Dingen zeigen. Ebenso wie an fast allen Dingen, die mich interessieren. »Worte haben Macht, aber nur wenn sie auf fruchtbaren Boden fallen. Nicht, wenn du sie schon im Keim erstickst. Das hat Sofia gesagt, und ich denke, sie hat recht.«

»Penelope, jetzt ist es aber genug!« Dad legt das Tablet auf dem Esstisch ab. »Wir sind hier nicht in Mexiko, und du brauchst keine Führungsposition. Was denkst du, wofür ich so hart arbeite?«

»Aber ich kann doch unmöglich für den Rest meines Lebens nichts tun und die Welt um uns ignorieren«, werfe ich ein und sehe Dad eindringlich an, als würde ich von ihm eine Erlaubnis erwarten. Wofür? Das weiß ich selbst nicht.

»Andere Kinder wären froh, wenn sie deine Möglichkeiten hätten.« Damit ist das Gespräch für ihn beendet.

Möglichkeiten?, liegt mir auf der Zunge. Welche habe ich denn, außer hübsch auszusehen und die Kontakte zu pflegen, die ihnen gefallen? Alles andere, jedes Mal wenn ich es wage, meine Meinung zu irgendetwas zu äußern, führt zu Streitereien.

»Penelope, jetzt sei doch nicht so.« Mom nippt an ihrem Tee und bedeutet mir, mich ebenfalls zu bedienen. »Wir haben doch nur noch dich und wollen, dass es dir gut geht.«

Da ist er. Der Satz, den sie immer dann bringt, wenn sie mir den Wind aus den Segeln nehmen will. Weil sie weiß, dass er seine Wirkung nie verfehlt.

Wir haben doch nur noch dich. Es ist Erinnerung und Vorwurf in einem.

Sie winkt Hanna heran. »Bringst du uns bitte noch Penelopes Geburtstagsgeschenk aus dem Arbeitszimmer. Bist du so gut?«

»Natürlich.«

Es gibt drei Dinge, die ich an Hanna bewundere. Erstens: die Fähigkeit, ihre Haare zu einem Dutt zusammenzuknoten, der jeder Hausarbeit standhält. Zweitens: dass sie in den zwanzig Jahren, die sie mittlerweile für meine Eltern arbeitet, nie die Haltung verloren hat. Auch dann nicht, wenn sie Dinge erledigen sollte, die garantiert nicht in ihrem Arbeitsvertrag stehen. Drittens: Wenn sie lächelt, tritt jedes Mal so ein Funke Nachsicht in ihre Augen, als wäre sie dazu in der Lage, in jedem Menschen immer nur das Beste zu sehen. Ich wünschte, ich wäre mehr wie sie.

Kurz darauf stellt sie eine Tasche auf dem Tisch ab. Es ist eine schlichte schwarze von Hermès, die mit einer roten Schleife versehen ist.

»Eigentlich hättest du sie schon zu Weihnachten bekommen sollen und die Reisetasche zum Geburtstag, aber als wir von deinen Reiseplänen gehört haben, haben wir uns spontan umentschieden. Gefällt sie dir nicht?« Mom neigt den Kopf zur Seite, sieht mich erwartungsvoll an und klopft mit dem Nagel des Zeigefingers gegen ihre Teetasse. Pling.Pling.Pling.

»Doch. Sicher. Das ist …«, bringe ich irgendwie hervor. Es ist nett. Meine Eltern haben es gut gemeint. Ich hatte Dad zwar schon vor Wochen eine E-Mail geschickt und ihn gebeten, mir nichts zu schenken, sondern das Geld einem örtlichen Kinderhospiz zu spenden, aber vielleicht kam sie nicht an? Vielleicht hat er sie ungelesen gelöscht? Ich weiß es nicht, aber es würde reichlich undankbar klingen, meinen Eltern Vorwürfe zu machen, weil sie meine Geschenkwünsche ignoriert haben. Es ist immerhin ihre Entscheidung, wofür sie ihr Geld ausgeben. »Die Tasche ist schön. Ich danke euch.«

»Ich hätte etwas mehr Begeisterung erwartet«, gesteht Mom. »Ist das nicht die Tasche, die du letztes Jahr haben wolltest? Wir brauchten Cynthia Clovers Kontakte und mussten dennoch neun Monate warten, um eine von ihnen zu bekommen.«

Letztes Jahr fühlt sich für mich unendlich lange her an. Damals war ich noch mit Cynthias Sohn Kyle zusammen, aber in den vergangenen Monaten hat sich für mich viel geändert – nicht nur was mein Liebesleben betrifft. So selten wie ich hier bin, ist es allerdings kein Wunder, dass es ihnen nicht aufgefallen ist.

»Doch, die Tasche ist großartig. Danke. Wirklich.« Ich streiche mit den Fingern über das weiche Leder und weiß genau, dass July mich fragen wird, welches Tier dafür sein Leben lassen musste. Ich hingegen frage mich, wohin ich diese Tasche ausführen soll. Sie wäre groß genug, um all meine Collegeunterlagen darin zu verstauen, aber wenn ich mit einer Tasche, die locker so viel kostet wie anderer Leute Gebrauchtwagen, Bücher transportiere, käme ich mir komisch vor. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, sie mit ins Wohnheim zu nehmen. Dort kamen schon weniger wertvolle Gegenstände abhanden.

»Hättest du dir etwas anderes zum einundzwanzigsten Geburtstag gewünscht?«, hakt Mom nach. »Cynthia sagte, dass diese Taschen eine sichere Investition sind und selbst gebraucht nicht an Wert verlieren.«

»Das habe ich auch gehört«, stimme ich zu.

»Sie hat auch gesagt, dass sie dir ihre Taschen gern vererbt hätte, wenn Kyle und du …«

»Mom, bitte.« Genervt schließe ich die Augen und massiere mir die Schläfen. Wie auch immer der Satz hätte enden sollen, es klingt, als wäre ich käuflich. Für keine Taschensammlung dieser Welt würde ich Kyle eine weitere Chance geben.

»In der Tasche steckt eine Karte«, unterbricht Dad uns. »Ein Spendennachweis. Ich habe Thomas gebeten, diesem Kinderheim aus deiner E-Mail eine kleine Aufmerksamkeit zu schicken.«

»Wirklich?«, frage ich überrascht und schenke ihm ein dankbares Lächeln. »Das ist großartig. Aber es ist kein Kinderheim, sondern ein Hospiz.«

»Oh«, ist alles, was Mom dazu sagt. Sie fährt mit dem Daumen über ihre Tasse und scheint sich einen Moment zu sortieren. »Ein Hospiz? Ich denke, dass es besser wäre, wenn eine junge Frau in deinem Alter sich nicht mit solchen Themen belastet.«

Ich würde ihr gern sagen, dass der Tod kein Alter kennt, bringe es aber nicht übers Herz. Das weiß sie schließlich besser als ich.

Es ist einer der Gründe dafür, dass ich Alizas Einladung nach L. A. einfach annehmen musste: Wenigstens dieser eine Geburtstag sollte mir allein gehören. Keine Erinnerung daran, dass ich mein ganzes Leben lang nur die zweite Wahl gewesen bin.

»Wieso beschäftigst du dich neuerdings mit diesen ganzen unschönen Dingen? Manchmal frage ich mich noch immer, ob July wirklich ein guter Umgang für dich ist«, setzt sie nach.

»Halt sie da raus.« Meine Antwort klingt unfreundlicher als beabsichtigt, aber ich kann mir das nicht anhören. Nicht schon wieder.

»Wir werden ja wohl noch besorgt sein dürfen«, wirft Dad ein.

»Manchmal erkennen wir dich gar nicht wieder«, stimmt Mom zu. »An irgendetwas muss es ja liegen. Früher wärst du nie zu Lesungen von Menschen gegangen, die mit ihrer Zeit nichts Besseres anfangen, als Unruhe zu stiften.«

»Menschen über Missstände aufzuklären, nennst du Unruhe stiften?« Mir entfährt ein abfälliges Schnauben. »Wenn Kyle sich während unserer Beziehung durch die halben Staaten vögelt, ist das natürlich vollkommen in Ordnung. Er ist ja noch jung und muss sich nur ausprobieren. Moralisch vollkommen vertretbar. Aber wenn ich zu einer Veranstaltung gehe, deren geladene Autorin ihr nicht mögt, bereitet euch das Sorgen? Findet ihr das nicht etwas … lächerlich?«

»Lächerlich? Genau das meine ich. Seit wann redest du so mit uns?«

Mir ist bewusst, dass ich mich im Tonfall vergriffen habe. Meine Eltern äußern ihre Sorgen, und zum Dank gifte ich sie an. Das ist nicht nett. Aber es ist einfach immer und immer wieder dasselbe. Ständig geraten wir aneinander. Und. Es. Ermüdet. Mich. Vielleicht auch, weil ich ohnehin nie das Gefühl habe, es meinen Eltern recht machen zu können. Nichts, was ich tue, ist für sie jemals gut genug.

Eine Entschuldigung murmelnd greife ich nach der Teekanne, gieße mir ein und spüle den bitteren Geschmack auf meiner Zunge mit ein paar Schlucken Pfefferminztee herunter. Schweigen breitet sich aus. Niemand fragt mich, wie es in L. A. war. Ob ich ein paar schöne Tage hatte. Wie es Aliza geht. Hier, an diesem Tisch, findet mein Leben nur statt, wenn es in die Schablone meiner Eltern passt. Das wird mir einmal mehr bewusst, als Mom sich räuspert, bevor sie die Stimme erhebt.

»Cynthia Clover hat mich übrigens gestern angerufen. Wusstest du, dass Kyle …«

Ich stöhne in meine Tasse. Wenn ich etwas noch weniger ertrage als das mangelnde Interesse an mir, ist es das gesteigerte Interesse meiner Eltern an meinem Ex-Freund.

»Wir finden, du solltest …«, beginnt sie erneut.

»Hör auf.«

»Verbietest du deiner Mutter gerade das Wort?« Dad lässt erneut das Tablet sinken und sieht mich mit einem Blick an, den ich keine Sekunde länger ertrage. Das wiederholte Gerede über Kyle hat mich endgültig überkochen lassen – Geburtstag hin oder her.

»Ich denke, ich sollte besser gehen.« Ich stelle die Tasse ab. Heute ist kein guter Tag, ich spüre es einfach. Wenn ich noch länger bleibe, wird es in einem Streit enden. Es gibt Phasen, während denen kann ich die Tochter sein, die meine Eltern sich wünschen. Die sie ganz sicher verdienen. Aber heute ist keine davon.

Hastig greife ich meinen Autoschlüssel vom Tisch.

»Wo willst du denn jetzt hin?«, ruft Dad mir nach, als ich mich erhebe und zum Gehen wende.

»Weg«, ist alles, was mir zu meiner Verteidigung einfällt. Im Vorbeigehen bitte ich Hanna, die Tasche auf mein Zimmer zu bringen. Ich muss hier raus. Meine Flucht wirkt vollkommen irrational. Ich weiß das. Aber manchmal fühlt es sich an, als wäre die Atmosphäre in diesem Haus derart vergiftet, dass sie mir die Luft zum Atmen raubt. Spätestens wenn meine Eltern wieder einmal von Kyle anfangen, ist das der Fall. Als würden sie nicht sehen, dass er mich so tief verletzt hat, dass allein der Klang seines Namens an manchen Tagen noch immer schmerzt.

Auf dem Weg nach draußen schließe ich die Hand dermaßen fest um den Autoschlüssel, dass es wehtut. Der körperliche Schmerz lenkt mich von dem Gefühlschaos in meinem Inneren ab. Nur mit Mühe kann ich das Brennen in den Augen zurückdrängen. Ich werde jetzt nicht weinen. Wir haben so oft Meinungsverschiedenheiten, dass sie beinahe zu einem normalen Treffen im Hause Perez dazugehören. Was macht da schon diese kleine Auseinandersetzung? Manchmal bin ich sogar fast dankbar für die Wut, denn sie überlagert die anderen Gefühle, die meine Eltern in mir hervorrufen: den Schmerz, die Ohnmacht, die Hilflosigkeit.

Warum müssen sie ständig betonen, dass ich ihr einziges Kind bin?

Einundzwanzig. Ich bin jetzt schon viel älter, als Alejandro werden durfte.

Mein Herz zieht sich jedes Mal zusammen, wenn ich an seinen Namen denke. An die verblassenden Kinderfotos in den Alben, die meine Mom in ihrem Nachttisch aufbewahrt, um sie ab und an hervorzuholen, über die Bilder zu streichen und stumme Tränen zu weinen. Meine Eltern reden schon seit Jahren nicht mehr über ihn, aber sie haben meinen Bruder nie vergessen. Jedes Mal, wenn ich mich daran erinnere, wie Mom heimlich ihre wohlgehüteten Bilder betrachtet, ist es eine erneute Erinnerung daran, dass ich versagt habe. Dass ich in der Schuld meiner Eltern stehe. Einer Schuld, die ich nicht begleichen kann. Mit keinem Geld der Welt. Ich will sie nicht enttäuschen, aber es wird von Jahr zu Jahr schwieriger, der Mensch zu sein, den sie sich wünschen. Weil ich das Gefühl habe, dass es immer öfter bedeutet, nicht der Mensch zu sein, der ich gern wäre.

Nachdem ich mich ins Auto gesetzt habe, lasse ich den Schlüssel in das Fach der Mittelkonsole fallen, atme einige Male tief durch und zucke zusammen, als mein Handy eine neue Nachricht anzeigt.

Ungläubig lese ich sie. Einmal. Und noch einmal. Aber egal, wie oft ich die Zeile überfliege, der Inhalt ändert sich dadurch nicht.

Kyle:Ich sitze gerade im Flugzeug nach Washtenaw und denke an dich.

Es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter. Wollte Mom mir das sagen? Dass Kyle sein Auslandssemester beendet hat und auf dem Weg hierher ist? Dass es deswegen der perfekte Moment wäre, um ihm eine weitere Chance zu geben? Noch nie wollte ich so sehr hier weg. Raus. Alles hinter mir zurücklassen. Aber so funktioniert das Leben nicht. Ich sitze in Fair Haven fest, und mein Ex-Freund kommt zurück. Es fühlt sich an, als wäre der Käfig, in dem ich gefangen bin, gerade noch kleiner geworden. Noch enger. Wie ein Korsett schnürt er mich ein.

Er denkt an mich.

Was soll das heißen? Warum schreibt er mir so etwas?

Selbst Stunden später kreisen mir Kyles Worte noch immer durch den Kopf. Ich habe ihm auf seine Nachricht nicht geantwortet. Stattdessen bin ich vollkommen sinnlos ins nahe gelegene Ann Arbor gefahren, habe mein Elektroauto aufgeladen, währenddessen in einem Café gesessen, Tee getrunken und aus dem Fenster gestarrt. Aber auch nach diesem spontanen Ausflug weiß ich nicht, was ich ihm schreiben soll.

Fragen wir unsere Lesenden. Stimmen Sie jetzt ab, und gewinnen Sie ein Jahresabo. Wie lautet die richtige Antwort auf diese Nachricht?

a) Komm gut nach Hause, du Traum meiner schlaflosen Nächte.

b) Schön für dich. Mir egal.

c) Fick dich!

Was schreibt man seinem Ex-Freund als Antwort auf so eine Nachricht? Es gibt immerhin einen guten Grund dafür, dass wir nicht mehr zusammen sind. Mehr als einen sogar. Diese Gründe hören auf malerische Namen wie Brook, Chloé oder Isabel. Während sich Kyle nach unserer Trennung für einige Monate nach Europa abgesetzt hat, bin ich seinen Partyeroberungen auf dem Campus immer wieder über den Weg gelaufen. Mittlerweile habe ich mich mit der Situation arrangiert. Mit Chloé war ich früher in einem Cheerleading Squad und arbeite jetzt mit ihr in der Redaktion des College-Blogs zusammen. Den anderen gehe ich bestmöglich aus dem Weg. Zumindest denjenigen, von denen ich weiß. Ich bin eben die, deren Ex-Freund immer wieder fremdgegangen ist. Punkt. Oder vielleicht ist es auch eher ein Ausrufezeichen, denn wenn dein Freund ständig fremdgeht, wirft das ein schlechtes Licht auf dich.

Er wird schon seine Gründe haben. Sie ist bestimmt echt schlecht im Bett. Haben die überhaupt Sex, so prüde wie sie aussieht?

Tief durchatmend schüttle ich den Kopf, als könnte ich die lästigen Stimmen dadurch aus meinen Gedanken vertreiben.

Ich habe mir Mühe gegeben, Kyle immer und immer wieder zu verzeihen. All seine Entschuldigungen und Versprechungen habe ich mir angehört. Sogar über eine offene Beziehung habe ich nachgedacht, um einen Weg zu finden, mir seine Fehltritte schönzureden und ihn nicht zu verlieren. Ich habe ihn verteidigt und damit beinahe all meine Freundschaften riskiert. Und was hat er getan? Wie hat er es mir gedankt? Indem er vor meiner besten Freundin July behauptet hat, dass ich nur des Images wegen mit ihm zusammen gewesen wäre.

Ich hatte jedes verdammte Recht dazu, mit ihm Schluss zu machen. Welches Recht hat er, mir zu schreiben, als wäre nie etwas gewesen? Als hätte ich kein eigenes Leben und würde nur hier in Fair Haven sitzen und auf ihn warten?

Er ist einfach ein Arschloch. Ein Armleuchter. Ein Aas. O-Ton July Summers, zwanzig Jahre, beste Freundin der Betrogenen.

Berichterstattung Ende.

Zugegeben: Vielleicht hätte ich in dem einen Punkt direkter sein können. Eventuell habe ich Kyle gesagt, dass ich Abstand von ihm brauche – und nie präzisiert, dass der gern für immer sein kann. Aber kann man das tatsächlich dermaßen falsch verstehen? Er war für ein halbes Jahr in Europa, hat sich nicht gemeldet, und nach allem, was vorgefallen ist, bin ich einfach davon ausgegangen, dass er die Beziehung auch nicht mehr fortsetzen will. Doch nun schickt er mir diese Nachricht.

Ich denke an dich. Was soll das?

Fluchend schlage ich auf das Lenkrad. Seitdem ich die Nachricht gelesen habe, kaue ich so exzessiv auf der Unterlippe, dass ich nun Blut schmecke. Aber noch immer sind meine Gedanken keinen Deut klarer. Wütend über mich selbst presse ich einen Zeigefinger auf die kaputte Stelle und stutze.

Was zum Geier macht der Fahrer vor mir da?

Täuscht es oder wird er immer langsamer? Und langsamer. Und langsamer. Wenn er so weitermacht, kann er auch gleich aussteigen und sein Auto schieben. Vielleicht muss er das sogar. Zumindest hält er jetzt an und schaltet den Warnblinker ein.

Hervorragend. Das hat mir heute gerade noch gefehlt.

3. KAPITEL

Einen Mann abschleppen

Ich würde das Auto am liebsten einfach überholen, immerhin befinden wir uns mitten im Nirgendwo auf einer Nebenstraße nach Fair Haven, und die einzigen Augenzeugen sind ein paar schneegepuderte Bäume. Es ist als junge Frau vielleicht nicht allzu klug, aus dem Auto zu steigen, aber der Wagen vor mir ist ein Elektroauto. Genauer gesagt ein piRez – und stammt damit aus der Fabrik meines Dads. Im Gegensatz zur Zahl Pi ist die Akkulaufzeit dieser Fahrzeuge nicht annähernd unendlich. Aufgrund eines Fehlers in dem mexikanischen Werk, das die Akkus herstellt, ist sie sogar ausgesprochen kurz, wenn man das kostenlose Upgrade noch nicht in Anspruch genommen hat. Ob ich will oder nicht, fühle ich mich für die arme, liegen gebliebene Seele verantwortlich. Immerhin kosten diese Autos ein halbes Vermögen, da sollte man mit besserer Qualität rechnen können.

Es ist einfach nicht mein Tag!

Seufzend fahre ich rechts ran und setze ebenfalls den Warnblinker, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand vorbeikommen sollte.

Ein kurzer Blick in den Spiegel der Sonnenblende bestätigt, dass ich nicht an der Unterlippe hätte kauen sollen, aber davon abgesehen, sehe ich vernünftig aus.

Nach dem Aussteigen richte ich meinen camelfarbenen Mantel und will zu dem Auto hinübergehen, als ein junger Mann aussteigt und mich in der Bewegung verharren lässt. Seine Statur ist imposant. Der Mann dürfte beinahe zwei Meter groß sein. Er verbringt offensichtlich viel Zeit im Fitnessstudio. Sehr viel Zeit. Wahrscheinlich könnte er das Auto notfalls mit purer Muskelkraft fortbewegen. Obwohl es winterlich kühl ist, trägt er nur einen Hoodie mit einem quietschbunten Aufdruck, der im Kontrast zu seiner dunklen Haut steht. Auch seine Turnschuhe haben Akzente in Neonfarben, die in der tristen Winterlandschaft förmlich leuchten. Wenn Kleider Leute machen, was ist er dann?

Ich will gerade zu ihm hinübergehen, um ihm meine Hilfe anzubieten, da dreht er sich zu mir um. Blinzelnd verharre ich in der Bewegung, er wirkt ebenso überrascht wie ich.

»Penny?«

»Cameron.« Mein Tonfall ist selbst für mich nicht zu deuten. Mein Herz schlägt einen anderen Takt an, während mein Hirn nur noch in Zeitlupe zu funktionieren scheint, als würde ich unter einem internen Serverabsturz leiden. Ich weiß nicht, was ich bei Camerons Anblick fühlen soll. Momentan überwiegt Überforderung. Was tut er auf der Landstraße zwischen Fair Haven und Ann Arbor? Sollte er nicht in Toledo sein?

Verlegen lächelnd fährt er sich über die kurz geschorenen Haare.

Noch bevor ich seinen plötzlichen Anblick verarbeitet habe, öffnet sich die Beifahrertür. Ein Mädchen im Grundschulalter springt aus dem Auto, lässt die Tür offen stehen und sieht sich interessiert um. Anscheinend teilt sie seine Vorliebe für farbenfrohe Kleidung. Von ihrem schwarzen Kleid aus zwinkert mir ein neongelber Smiley zu. Ihre pinken Schuhe und grünen Zopfgummis passen farblich zu nichts. Vor allem nicht zueinander. Wahrscheinlich steht in ihrem Freundschaftsbuch unter Lieblingsfarbe: bunt.

Die Anwesenheit der Kleinen sorgt nicht dafür, dass der Grad meiner Verwirrung abnimmt. Wieso reist Cameron mit einem Mädchen in Richtung Fair Haven?

Als die Kleine mich erblickt, winkt sie mir zu – und ich zögerlich zurück.

»Lucy. Habe ich nicht gesagt, dass du im Auto warten sollst?« Cameron schenkt ihr nur einen halben Seitenblick. Seiner verkrampften Körperhaltung nach zu urteilen, hat er ebenso wenig damit gerechnet, mich hier zu treffen, wie umgekehrt.

Besagte Lucy steht im Gras am Straßenrand und zuckt mit der Schulter. »Du hast auch gesagt, dass ich an der Raststätte keinen Schokopudding bekomme, wenn ich mir auf der Toilette nicht die Hände wasche, und hast es nicht so gemeint.«

»Doch. Habe ich«, widerspricht er und sieht sie zweifelnd an.

»Ups.« Sie zuckt erneut mit den Schultern. »Dann hättest du es wohl besser kontrollieren sollen.«

»Ich dachte, ich kann dir vertrauen«, murmelt er kopfschüttelnd.

»Ja, normalerweise schon, aber die Toilette da war echt supereklig. Du hättest sie mal sehen sollen. Da wäre dir auch die Lust auf Schokoladenpudding vergangen.« Sie rümpft die Nase, bevor sie wieder zu mir herübersieht. »Können wir dir irgendwie helfen?«

Ich fühle mich dabei ertappt, wie ich sie belausche, und versuche mich an einem entschuldigenden Lächeln, spüre aber, wie sehr meine Mundwinkel zittern. »Eigentlich wollte ich gerade fragen, ob ich euch helfen kann«, gestehe ich, streiche mir eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr und gehe zu ihnen hinüber.

»Ja. Nein. Alles gut. Irgendwas stimmt mit dem Akku nicht.« Cameron weicht meinem Blick aus. »Ich schwöre, er war eben noch voll aufgeladen. Ich habe die Anzeige die ganze Zeit über im Auge behalten, weil ich diesen Elektroautos nicht traue. Und jetzt ist die Karre einfach stehengeblieben.«

»Karre«, wiederhole ich schmunzelnd. Das Wort hört man in Bezug auf Luxusautos dann doch eher selten.

»Ich bin übrigens Lucy«, stellt sich das Mädchen vor.

»Lucy? Steigst du jetzt bitte wieder ein?« Cameron wischt sich die Hände an den schwarzen Jeans ab, als wäre er nervös.

Wie von selbst gleitet mein Blick zu den strammen Oberschenkeln, die sich unter der engen Hose abzeichnen. Sofort schenkt mir mein Gedächtnis eine Rückblende, wie er mich unter der Dusche gehalten hat. Wie sich sein feuchter, heißer Körper im Kontrast zu den kalten Fliesen an meinem Rücken angefühlt hat. Eine Erinnerung ebenso intensiv wie unangebracht.

»Ich kenne mich mit Autos aus«, versichere ich rasch, bevor meine Gedanken zu weit auf Wanderschaft gehen können. Hoffentlich glühen meine Wangen nicht annähernd so sehr, wie es sich anfühlt. Wahrscheinlich stehen mir all meine unangebrachten Fantasien in Großbuchstaben auf der Stirn geschrieben. »Ich hatte den Eindruck, dass ihr vielleicht Hilfe brauchen könntet.«

Widerstrebend steigt Lucy wieder ins Auto, schließt umständlich die Tür hinter sich und schnallt sich artig an. Sie greift einen Plüschotter vom Armaturenbrett und zeigt ihm durch die Fensterscheibe die Landschaft.

»Was für eine schräge Situation.« Cameron reibt sich mit einer Hand über den Hals.

»In der Tat«, stimme ich zu und spüre den Anflug eines schlechten Gewissens, weil ich mich bei unserer letzten Begegnung ohne Verabschiedung aus dem Zimmer geschlichen habe. Nicht dass es für einen One-Night-Stand eine groß angelegte Verabschiedungszeremonie bräuchte, aber sich aus heiterem Himmel wiederzusehen ruft sehr gemischte Gefühle in mir hervor. »Hast du nicht gesagt, du wohnst in Toledo?«

»Das stimmt auch. Stimmte. Bis heute.« Er wirft einen flüchtigen Blick auf das Auto, bevor er auf mich zukommt. »Nachdem wir uns einig waren, dass wir uns nicht wiedersehen werden, dachte ich, dass es überflüssig ist, dir zu sagen, dass ich demnächst umziehe.«

»Du ziehst hierher?«, wiederhole ich stumpf, weil mein Gehirn offensichtlich noch immer nicht ganz hochgefahren ist. »Nach Fair Haven?«

»Hatte ich dir nicht erzählt, dass ich Football spiele? Die St. Clair Otters haben mich übernommen, weil sie …« Er verstummt und mustert mein Gesicht, als wäre er sich noch immer nicht ganz sicher, ob ich tatsächlich vor ihm stehe. Oder als hätte er bei meinem Anblick schlichtweg den Rest des Satzes vergessen. »Wow. Entschuldige. Ich hätte nicht gedacht, dass du im Tageslicht noch hübscher aussehen kannst.«

Das beruht auf Gegenseitigkeit.

»Danke«, antworte ich wenig eloquent. Ich sollte in Zukunft einen Bogen um Footballspieler machen. Irgendwie läuft es mit denen nie nach Plan. »Also bist du hier, weil sie das Team ausbauen?«, vermute ich. Sie haben Cameron übernommen, genauso wie sie Drew einen Startplatz angeboten haben.

Als er nickt, wirkt es, als hätte er sich wieder gesammelt. »Die Aussicht auf einen Startplatz bei einer erfolgreicheren Mannschaft und näher an Ann Arbor zu sein konnte ich nicht ablehnen. Und du …?« Er deutet vage um sich.

»Ich wohne in Fair Haven«, beantworte ich seine unausgesprochene Frage. Ich studiere am St. Clair. Und wir werden uns zukünftig zwangsläufig über den Weg laufen müssen.

Es reicht ein Blickwechsel, um zu klären, dass wir uns das beide anders vorgestellt hatten.

»Das hier ist irgendwie typisch für mein Leben«, gesteht Cameron.

»Nicht nur für deins.«

Er fährt herum, als Lucy die Beifahrertür erneut öffnet.

»Dad? Dauert das noch lange?«

Dad? Hat sie das gerade wirklich gesagt? Wie kann sich ein kurzes Wort so unangenehm anfühlen?

»Lucy, wartest du bitte im Auto? Es ist zu kalt hier draußen. Ich kümmere mich darum, dass wir gleich weiterfahren können«, antwortet er und erntet ein genervtes Stöhnen.

»Sie ist deine Tochter?«, frage ich, kaum dass sie die Tür wieder geschlossen hat.

»Der Satz IchhabeeineTochter ist normalerweise nicht unbedingt der passende Türöffner für One-Night-Stands, aber ja.«

»Normalerweise?«, hake ich nach. »Du hast darin also Routine? Sag mir nur bitte, dass du nicht verheiratet bist.«

Abwehrend hebt er die Hände. »Glücklicher Single. Wenn auch in diesem Moment ein etwas verwirrter, peinlich berührter glücklicher Single.«

Mir entweicht ein Seufzen, das vielleicht eine Spur zu erleichtert klingt, aber das Gefühl der Beruhigung hält nur kurz. Die Tatsache, dass wir zukünftig auf dem gleichen Campus studieren werden, ändert irgendwie alles. Ich weiß so gut wie nichts über Cameron. Ist er jemand, der mit seinen Bettgeschichten prahlt? Gerüchte machen am St. Clair schneller die Runde als eine Grippewelle. Ich sollte es gewohnt sein, dass man in den Fluren hinter meinem Rücken über mich tuschelt, trotzdem ist mir die Vorstellung davon unangenehm. »Vorschlag: Wenn wir uns zukünftig auf dem Campus über den Weg laufen, ist diese Sache nie passiert, okay? Was in L. A. geschieht, bleibt in L. A.?«

»Klingt gut. Lucy weiß nichts von uns, und ich wäre dir dankbar, wenn es dabei bleibt.«

»Perfekt. Von mir wird sie nichts erfahren.« Allein die Idee, dass ich einem kleinen Mädchen erzählen könnte, was ich mit ihrem Daddy getan habe, entlockt mir ein Naserümpfen. »Es ist ja auch nicht so, als hätte es eine Bedeutung gehabt.«

»Natürlich nicht. Also sind wir offiziell zwei Fremde?«, vergewissert sich Cameron und hält mir die Hand hin, um unsere Abmachung zu besiegeln.

Ich erwidere die Geste. »Wie wäre es mit Fremden, die sich prinzipiell sympathisch sind?«

»Deal.« Er schließt seine warme Hand um meine.

Da wir gerade beschlossen haben, dass alle Erinnerungen an L. A. bedeutungslos sind – auch die daran, wo mich diese Hände schon berührt haben und wie unfassbar gut es sich angefühlt hat –, ziehe ich sie rasch zurück.

»Vielleicht kann ich euch mit eurem Auto helfen«, schlage ich vor, weil der rationale Teil meines Gehirns offensichtlich der erste ist, der wieder einsatzbereit ist. »Ich habe zufällig ein passendes Datenkabel dabei und könnte eben rasch den Fehlerspeicher eures Wagens auslesen. Falls es sich um Fehler Y-002 handeln sollte, kann ich euch einen schnellen Werkstatttermin organisieren. Ich habe in Fair Haven ein paar Kontakte, die auf E-Autos spezialisiert sind.«

»Von diesen Autosachen verstehe ich gar nichts.«

»Musst du ja auch nicht«, behaupte ich, obwohl ich immer noch nicht weiß, was er studiert. Ich wende mich zum Gehen und hole schnell das Kabel und mein iPhone.

Erst als ich wieder bei ihm bin, setze ich meinen Vortrag fort. »Bei der Produktlinie zwei des piRez wurden fehlerhafte Akkus verbaut. Sehr ärgerlich und rufschädigend. Es ist schwer zu sagen, ob es ein Versehen im mexikanischen Werk war oder eine Art von Sabotage aus Protest. Mein Dad …« Ich stocke und beschließe, Cameron nichts über meine Familie zu erzählen. Er weiß nicht, wie mein Nachname lautet – und wenn es nach mir geht, kann es gern noch eine Weile so bleiben. Meistens benehmen sich die Menschen anders, sobald sie erfahren, wer mein Dad ist. Vorsichtig und skeptisch, weil sie Respekt vor ihm und der Macht des Geldes haben. Oder aber aufdringlich und anhänglich, weil sie sich durch mich Privilegien erhoffen, die ich ihnen nicht bieten kann.

»Dein Dad?«, wiederholt Cameron meine letzten Worte.

»Ich wollte nur sagen, dass es einige Menschen kritisch sehen, dass Manuel Perez zwar die Produktionsstätten in Mexiko aufgebaut hat, selbst allerdings in den USA lebt. Und so kommt es in letzter Zeit immer häufiger zu Problemen aller Art.«

Camerons aufmerksamer Blick gleitet über meinen Körper und bleibt an den Fingern hängen, die unruhig mit dem Ladekabel spielen. »Eine Bekannte von mir arbeitet bei einer Tankstelle drüben in Ann Arbor. Sie hat sich mal bei der Perez Inc. beworben, aber ohne Schulabschluss hatte sie keine Chance.«

»Das tut mir leid.« Tut es wirklich, aber mit den Einstellungsvoraussetzungen habe ich nichts zu tun. »Ich müsste einmal kurz an das Lenkrad des Fahrzeugs, um den Fehlerspeicher auszulesen. Nur wenn es für dich okay ist und du keine Angst hast, dass ich stattdessen deine Tochter entführe.« Es soll ein Scherz sein, aber seinem sparsamen Lächeln nach findet er ihn nicht witzig. »Das war nur Spaß. Ich würde etwas derartiges nie tun.«

»Davon bin ich auch nicht ausgegangen«, sagt er, bevor er mir die Fahrertür öffnet, als wäre es eine Einladung.

Während ich mich auf den Fahrersitz gleiten lasse und Lucy erneut begrüße, kann ich nicht anders, als sie kurz zu mustern. Wenn Cameron nicht gelogen hat, ist er kaum älter als ich, aber Lucy sieht aus, als wäre sie sechs oder sieben Jahre alt. Das bedeutet, er wäre mit etwa fünfzehn Jahren Vater geworden. In dem Alter habe ich mich wahrscheinlich eher für Pokémon als Jungs interessiert. Einerseits wüsste ich gern, wie es dazu gekommen war, andererseits habe ich nach unserer Nacht eine ziemlich genaue Vorstellung davon. Aber wenn mich etwas nichts angeht, dann ist es Camerons Privatleben.

»Ich muss einmal kurz euer Auto fragen, was ihm fehlt«, erkläre ich auf Lucys interessierten Blick hin. Die eigenartige Stimmung zwischen mir und ihrem Dad ist schließlich nicht ihre Schuld, und ich habe keinen Grund dafür, nicht nett zu ihr zu sein. Durch einen flüchtigen Blick nehme ich wahr, dass die Rückbank mit Reisetaschen und Bettzeug vollgestopft ist.

»Daddy zieht heute hierher«, plaudert Lucy und beobachtet, wie ich mit einem Handgriff eine Verblendung löse und das Datenkabel einstecke, bevor ich es mit dem iPhone verbinde.

Ich muss die passende App öffnen und kurz warten. Der Rest geschieht automatisch. »Wieso nur Daddy? Ziehst du nicht mit ihm?«

»Leider nicht. Aber Fair Haven ist schon einmal sehr viel besser als Toledo. Ich wohne nämlich mit Mommy und Juicy in Ann Arbor. Solang Daddy noch nicht spielt, besuche ich ihn jedes zweite Wochenende. An den Tagen kümmert sich dann Mommy um Juicy.«

»Juicy ist ihre Schildkröte«, erklärt Cameron hilfsbereit.

»Interessantes Haustier. Ich hatte mal zwei Hamster. Sie hießen Cookie und Bagel.« Dass es mit ihnen kein gutes Ende nahm, behalte ich lieber für mich. »Ich bin übrigens Penny«, stelle ich mich vor.

»Das ist ein schöner Name«, behauptet Cameron, als hätte er ihn nicht bereits gekannt, und lehnt sich gegen das Auto.

Mir steigt ein vertrauter Duft in die Nase. Es ist eine Mischung aus ihm und Vanille, die auf mich anziehender wirkt, als mir lieb ist. Bis vor Kurzem war mir gar nicht bewusst, dass Vanille dermaßen sexy sein kann. Entweder das, oder ich brauche eine kalte Dusche. Dringend. Denn wahrscheinlich hat er einfach nur das Shampoo seiner Tochter benutzt.

Tochter. Er hat eine Tochter. Er trägt Verantwortung für einen anderen Menschen – und ich konnte mich nicht einmal um zwei Hamster kümmern.

Räuspernd wende ich mich dem iPhone zu. »Ich wusste übrigens, dass das Footballteam einen Neuzugang erwartet, aber ich hatte keine Ahnung, dass der ausgerechnet Cameron Burton heißt.«

»Oh. Du hast schon mal von Daddy gehört?«, vermutet Lucy und klingt ziemlich stolz. »Manchmal passiert das, dass Leute ihn auf der Straße erkennen.«

»Aber eher selten. Die Torpedoes sind momentan ja nicht gerade auf Erfolgskurs«, gesteht er beinahe kleinlaut.

»Aber auch ein Startplatz in Toledo ist etwas Großartiges«, werfe ich ein. »Das schafft nicht jeder.«

»Daddy hat einen Fan«, trällert Lucy und zieht das letzte Wort in die Länge.

»Ich bin mir sicher, dass er sogar sehr viele Fans hat.«

Der Redaktion der St. CC News wurde zwar ein potenzieller Nachfolger von Cornerback Lex Smith, der dieses Jahr seinen Abschluss macht, angekündigt. Aber es war nicht mehr als ein Post-it, der auf meinem Schreibtisch in der Redaktion klebte. Foto und persönliche Daten sollten noch nachgereicht werden. Jetzt weiß ich also: Ausgerechnet Cameron stößt mitten im laufenden Studienjahr als Transfer zu den Otters. Was bedeutet, dass er für den Rest der Saison erst mal als Redshirt pausieren muss und nicht an den Spielen teilnehmen darf. Wenn sein Studienfach mit auf der Notiz stand, kann ich mich daran nicht erinnern.

Warum nur interessiert es mich? Weil ich mir einbilde, dass die Wahl des Studienfachs irgendetwas über einen Menschen verrät? Dabei sollte ich am besten wissen, dass das ganz schön in die Irre führen kann. Was es wohl mit dem Aufdruck auf seinem Hoodie auf sich hat? Wenn mich nicht alles täuscht, ist es die Comicversion eines Zettels, auf dem Exam steht. Er hält in der einen Hand ein Schwert, in der anderen einen Zauberstab und schreit: »You shall not pass!« Ich habe die Vermutung, dass es ein Der-Herr-der-Ringe-Studium-Witz sein soll, aber mit diesen Dingen kenne ich mich nicht aus.

»Ich bin übrigens die Leiterin der St. CC News«, erkläre ich, nachdem ich Cameron vielleicht ein paar Sekunden zu lange betrachtet habe. »Head Coach Brooks hat mich gebeten, dich irgendwann in den nächsten Tagen zu interviewen.«

Vielmehr stand er im Türrahmen zur Redaktion und sagte etwas wie: »Hey, Perez. Hast du meine Notiz gefunden? Du interviewst dann für uns den Neuzugang?« Danach verschwand er, kaum dass ich den Ansatz eines Nickens gezeigt habe.

»Natürlich erst, sobald du dich ein wenig eingelebt hast. Wir machen auf unserem Blog kleine Vorstellungsartikel für fast alle Sportler, und der Head Coach hätte dich bestimmt gern dabei.«

»Cool«, ist alles, was ihm dazu einfällt.

»Cool«, wiederhole ich und werfe einen flüchtigen Blick auf das iPhone. Es lädt noch. Täuscht es oder braucht es ganz schön lange? Das ist kein gutes Zeichen.

»Ich habe letztens auf dem St.-CC-Blog vorbeigeschaut und muss sagen, dass mir gefällt, was ihr macht«, sagt Cameron.

»Du hast dir den Blog angesehen?«, hake ich nach. Wobei meine eigentliche Frage wohl lautet: Hast du dir die Steckbriefe der Redaktionsmitglieder auch durchgelesen? Wusstest du, wer ich bin, als du mich im Club angetanzt hast? War ich es, die dich interessiert hat – oder war es nur mein Name?

Aber so überrascht, wie er eben ausgesehen hat, hat er wohl nicht damit gerechnet, mich in Fair Haven zu treffen. Manchmal machen mich meine Erfahrungen ein wenig paranoid. »Bis vor Kurzem habe ich mich eigentlich nur um den Tratschteil gekümmert. Liebe und Lifestyle auf dem Campus. Aber die vorherige Leiterin musste ihren Job abgeben. Jetzt habe ich die ehrenvolle Aufgabe, das Redaktionsteam zu leiten.«

»Du siehst aus, als würdest du das schaffen«, behauptet er.

Schön, dass er mich kaum kennt und trotzdem so zuversichtlich klingt. Oder vielleicht klingt er auch nur so optimistisch, eben weil er mich nicht kennt.

July hat sofort das Panik-P in meinen Augen erkannt, als ich ihr davon erzählt habe, dass ich die Redaktionsleitung übernehmen soll. Für andere Verantwortung zu übernehmen ist keine meiner Kernkompetenzen.

Ich bin nur gut darin, den Anschein zu erwecken, als hätte ich mein Leben im Griff. Dass sich mein Inneres sehr oft nach Chaos anfühlt, muss man von außen ja nicht sehen. Jeder, der mich trifft, denkt immer, ich wäre organisiert und mein Leben durchgeplant, aber in mir sieht es aus, als wäre jemand mit der Abrissbirne durchgegangen und hätte die Trümmer achtlos liegen lassen. Wahrscheinlich wäre der Soundtrack meines momentanen Lebens tatsächlich Wrecking Ball. Und wenn nicht der Soundtrack meines Lebens, dann zumindest der meines bisherigen Studiums.

Laut meinen Eltern gibt es Dinge, die man im Leben durchgemacht haben muss. Zum Beispiel das Wohnen in einem kleinen geteilten Zimmer im Studierendenwohnheim. Check. Ich hätte noch anzubieten: ein Studienfach, das sich trotz hervorragender Noten bemerkenswert falsch anfühlt. Check. Ein Hobby, bei dem ich mich jahrelang zur Perfektion gequält habe, nur um es hinzuwerfen. Check. Eine katastrophal gescheiterte Beziehung, die in den sozialen Medien breitgetreten wurde. Check.

Und nicht einmal die Sache mit dem One-Night-Stand lief wie gedacht. Statt uns nie wiederzusehen, steht Cameron jetzt neben mir, weil er zukünftig am selben College studieren wird. Ich habe keine Ahnung, was ich diesbezüglich fühlen soll. Klingt irgendetwas davon, als hätte ich alles unter Kontrolle?

Tief durchatmend widme ich mich wieder dem iPhone. Es hat endlich fertig geladen und ist bereit, den Fehlerspeicher anzuzeigen. Ein Tippen später kann ich ein Naserümpfen nicht unterdrücken. »Fehler Y-002. Die gute Nachricht ist, dass er allgemein bekannt ist. Alle Vertragswerkstätten wissen Bescheid. Ihr werdet für den Austausch des Akkus und das Software-Update nichts zahlen müssen, das ist ein Garantiefall. Die schlechte Nachricht ist, dass ihr hier heute nicht mehr wegkommt. Zumindest nicht in diesem Auto. Ihr werdet einen Abschleppdienst brauchen.«

Cameron reibt sich stöhnend mit der flachen Hand über die Stirn. Das sind offensichtlich nicht die Neuigkeiten, die er sich erhofft hat.

»Tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten für euch habe.« Ich bin mir sicher, dass sich auch Cameron seinen Tag irgendwie anders vorgestellt hat.

»Du kennst dich aber gut mit Autos aus«, sagt Lucy anerkennend.

»Ist eine Art Hobby von mir«, stimme ich zu. »Ich kenne in Fair Haven übrigens eine sehr gute Werkstatt für E-Autos. Ich kann für euch anrufen, damit sie einen Abschleppwagen vorbeischicken und ihr euer Fahrzeug schnellstmöglich zurückbekommt. Ich schätze mal, eine Woche wird die Reparatur dennoch dauern.«

»Eine Woche? Es ist eigentlich nur ein Leihwagen, den ich morgen wieder abgeben wollte«, gesteht Cameron.

»Wie gesagt, der Fehler ist bekannt, ihr habt nichts falsch gemacht, also dürfte der Autoverleih euch deswegen keinen Stress machen. Ich bin mir sogar sicher, dass es grob fahrlässig war, euch den piRez ohne das Update überhaupt zu überlassen. Ich kann euch gern helfen, ein paar Anrufe übernehmen und euch die letzten Meter nach Fair Haven mitnehmen, falls ihr wollt. Ich habe bis heute Abend ohnehin nichts mehr vor.«

Was auch immer zwischen mir und Cameron gewesen sein mag: Ich kann die zwei unmöglich allein in der Kälte stehenlassen. Diese Strecke ist selten befahren, und ich könnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, ihnen nicht zu helfen.

Es hat viel zu lange gedauert, bis der Abschleppdienst endlich da war. Ich hatte schon Sorge, Lucy würde sich erkälten oder aber der Akku meines Autos würde nicht bis nach Fair Haven reichen, wenn ich die Heizung noch wärmer drehe.

Beim Umladen der Sachen vom Leihwagen in mein Auto ist Lucy die Bettdecke auf den Boden gefallen. Nun ist sie vollkommen durchnässt und dreckig. Also habe ich versprochen, Cameron eine Ersatzdecke samt Bettzeug vorbeizubringen. Ich weiß nicht, wo die beiden unterkommen wollen, aber sie scheinen nur das Nötigste bei sich zu haben. Zumindest habe ich noch niemanden gesehen, der nur mit zwei Reisetaschen umzieht.

Cameron sitzt zusammen mit dem Gepäck auf der Rückbank, weil wir Angst hatten, dass Lucy davon erschlagen werden würde, wenn wir sie neben den Berg aus Taschen und Bettzeug setzen. Sie lümmelt in ihrem Kindersitz auf dem Beifahrersitz meines Autos und erzählt ihrem Plüschtier eine Geschichte nach der anderen. Mittlerweile weiß ich, dass der Otter Clair heißt und Cameron ihn ihr vor Kurzem geschenkt hat, als er am College angenommen wurde. Clair der Otter für die Tochter eines St.-Clair-Otters. Cameron scheint eine interessante Art von Humor zu haben.

»Wo darf ich euch zwei denn eigentlich absetzen?«, frage ich.

»Weißt du zufällig, wo das ist?« Cameron reicht mir hilfsbereit sein Handy nach vorn.

Als ich die Adresse erkenne, zu der sie gebracht werden wollen, stutze ich. Die muss ich nicht einmal in die Navigationsapp eingeben. Den Weg dorthin kenne ich auswendig.

»Weiß ich. Ich war in der Vergangenheit ein paarmal dort«, gestehe ich und muss mich räuspern, da sich mein Hals mit einem Mal trocken anfühlt. Ich war bereits in diesem Haus. In diesem Appartement. In einer Vergangenheit, die mich heute zu oft einholt – egal wie weit ich fahre, um vor ihr zu fliehen.

Es geht mich nichts an, wenn sich Mateo Ortega und Joshua Simons einen neuen Mitbewohner suchen, dennoch wundert es mich. Hat Kyle nicht geschrieben, dass er auf dem Rückweg nach Fair Haven ist? Also wird er nicht in seine ehemalige WG zurückziehen. Ob er wohl ans St. Clair zurückkommt? Ich werde mich hüten, ihm zu schreiben, um ihn danach zu fragen.

Unruhig streiche ich mit den Fingern über das Lenkrad. »Was meint ihr? Schafft ihr es nachher, die Sachen allein hochzutragen, oder soll ich euch helfen? Ich würde euch sonst nur kurz rauslassen und zum Wohnheim weiterfahren, um das Bettzeug zu holen. Es könnte zwar sein, dass euch Mateo und Joshua auch welches leihen können, aber sie haben selbst oft Übernachtungsbesuch, deswegen würde ich mich nicht darauf verlassen.«

»Weißt du zufällig etwas über unsere zukünftigen Mitbewohner? Der Coach sagte nur, sie studieren am St. Clair und sind Startspieler der Otters. Ich habe mir ein paar ihrer Spiele angesehen und sie gegoogelt, aber das war, ehrlich gesagt, etwas einschüchternd.«

»Weswegen? Abseits des Felds sind sie ganz normale Studierende mit Problemen wie jeder andere.« Ich reiche ihm sein Handy zurück und zucke unwillkürlich zusammen, als mich seine warmen Finger berühren. Diese winzige Berührung reicht aus, um mir einen wohligen Schauer über den Körper zu jagen, den er hoffentlich nicht bemerkt. Hastig wende ich mich von ihm ab und fahre los. »Apropos Probleme. Ich sage es nur, bevor sie es euch erzählen: Mein Ex-Freund hat mit ihnen zusammen in der WG gelebt.«

»Warum ist er dein Ex-Freund?«, fragt Lucy und blinzelt mich mit grauen Augen an. »Warum habt ihr euch nicht mehr lieb?«

»Weil …« Mir fällt so schnell keine Begründung ein, die für die Ohren von kleinen Kindern geeignet wäre.

»Schwere Trennung?«, deutet Cameron mein Schweigen.

»Vieles an der Beziehung war schwierig für mich. Die Trennung von Kyle war nicht einmal die größte Herausforderung.« Kaum habe ich den Namen ausgesprochen, bereue ich es. Zumindest bis ich mich daran erinnere, dass die zwei nicht von hier sind.

Ich weiß nicht, welche Aufzeichnungen der Spiele Cameron sich angesehen hat, aber selbst wenn Kyle Clover dabei noch Starting-Quarterback der Otters war, heißt es nicht, dass er all die Gerüchte über ihn gelesen hat. All die Berichte über seine Eskapaden. Frauen, die er in der Mannschaftsumkleide verführt hat. Abende, an denen er betrunken aus einer Bar getragen wurde. Und wenn er es doch getan hat, kann er sich vielleicht denken, warum wir nicht mehr zusammen sind, denn allein die Erinnerungen reichen, um die ganzen unangenehmen Gefühle wieder aufkommen zu lassen.

»Aber eure Mitbewohner sind wirklich vollkommen in Ordnung«, wechsle ich das Thema.

»Wenn Daddys Mitbewohner in Ordnung sind, aber dein Ex-Freund nicht, hätte er sich bei ihnen abschauen sollen, wie man aufräumt«, sagt Lucy und widmet sich wieder ihrem Otter.

»Wie wahr.« Ich kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

»Lucy?«, bittet Cameron. »Was habe ich dir über das Beurteilen von Menschen gesagt?«

»Dass es nicht nett ist.« Sie seufzt resigniert und streckt sich, um zum Fenster hinauszusehen. Ein andächtiges »Wow« kommt über ihre Lippen, als der Lake St. Clair zwischen den Bäumen aufblitzt.

Ich fahre so oft daran vorbei, dass mir schon gar nicht mehr auffällt, wie schön es hier ist. Egal zu welcher Jahreszeit: Fair Haven hat seinen eigenen Zauber. Automobilindustrie, Collegeleben, Sportbegeisterung und einzigartige Natur treffen aufeinander. Und das nicht nur laut Werbeprospekt. Jeder, der einen lauen Sommerabend an einem der Lagerfeuer am Seeufer verbracht hat, würde mir zustimmen. Sie sind magisch.

»Willkommen in Michigan – dem Bundesstaat der Autos und Seen«, plaudere ich. »Und du wohnst in Ann Arbor?«

»Jupp«, antwortet Lucy. »Daddy eigentlich auch. Er ist nur für das Studium weggezogen. Da war ich drei. Toledo liegt übrigens in Ohio.«

»Sekunde. Du kommst aus Ann Arbor?«, frage ich überrascht.

»Quasi«, lautet seine vage Antwort. »Als ich kleiner war, sind meine Eltern oft umgezogen. Die je drei Jahre in Ann Arbor und Toledo waren meine längste Zeit an einem Ort. Woher kennst du dich eigentlich so gut mit Autos aus?«, wechselt er das Thema.

Unwillkürlich umfasse ich das Lenkrad fester und streiche mit dem Daumen darüber. Was soll ich darauf antworten? Am besten irgendetwas Unverfängliches, das keine Fragen nach sich zieht. »Das ist eine lange und langweilige Geschichte. Mein Dad sagt immer, dass Autos ein Männerding sind. Ich wollte ihm wohl das Gegenteil beweisen und habe irgendwann damit angefangen, mich ein wenig damit zu beschäftigen. Autos, Football und solche Dinge.«

»Weißt du, was mein Dad immer über Männerdinge sagt?«, hakt Lucy nach, richtet sich in ihrem Sitz auf und erhebt den Zeigefinger.

»Was sage ich denn?«, fragt Cameron verwundert.

»Dass es keine Männerdinge und Frauendinge gibt. Es sei denn, man braucht zur Bedienung einen Penis oder eine Vagina.«

Camerons leises »Oh Gott« bringt mich zum Lachen.

»Was denn? Das sagst du doch immer!«, rechtfertigt sie sich.

»Ja. Und was habe ich dir über die Wörter Penis und Vagina gesagt?«

»Dass man sie nicht in der Öffentlichkeit benutzt.« Sie deutet demonstrativ um sich. Ihrer Meinung nach zählt mein Auto wohl nicht zur Öffentlichkeit. »Ich verstehe das nicht. Kopf und Fuß darf man doch auch überall sagen. Und die gehören auch zum Körper. Da sagt niemand: Oh Gott, Lucy, du hast gerade Fuß gesagt. Wie konntest du nur? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!«

Lucys Geplauder und Camerons peinlich berührte Art bringen mich zum Lachen. Ich versuche wirklich, mich zusammenzureißen, kann es aber nicht. Diese ganze Konstellation ist einfach zu schräg. Vor allem, wenn man Camerons andere Seite kennt. Wenn man weiß, wie wenig zurückhaltend er sein kann.

Die Situation wird auch nicht besser, als Lucy in meinen Lachanfall einfällt. Keine Ahnung, worüber sie sich so amüsiert. Vielleicht darüber, dass mir Tränen die Wangen hinunterlaufen. Aber es ist einfach zu süß, wie sie sich darüber echauffiert, dass ein Penis nicht das Gleiche wie ein Fuß ist.

»Wie schön, dass ihr zwei euch versteht«, schnaubt Cameron von der Rückbank.

Auch ohne mich zu ihm umzudrehen, höre ich an dem warmen Unterton in seiner Stimme, dass er es ehrlich meint.

Als ich an einer roten Ampel halten muss, hole ich einmal tief Luft. Zum ersten Mal an diesem Tag habe ich das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Keine Erwartungen, keine Vorhaltungen, keine Altlasten. Für einen kurzen Moment bin ich einfach nur ich, genau wie ich es in L. A. sein konnte.

»Danke, Lucy.«

»Wofür?«, fragt sie verwundert.

»Bisher war mein Tag echt mies. Ihr habt ihn gerade sehr viel besser gemacht.«

»Unser Tag war auch mies«, murmelt sie und wendet sich dem Fenster zu. »Die Toilette an der Tankstelle war eklig. Das Auto ist kaputt. Und Daddy zieht noch immer nicht zu uns zurück.«

»Ja, aber wenn du möchtest, machen wir weiterhin jeden Tag Videotelefonie«, verspricht Cameron, lehnt sich zwischen den Sitzen nach vorn und knufft sie in die Schulter. »Es ändert sich doch gar nichts.«

»Doch! Du hättest zu uns ziehen und jeden Tag nach Fair Haven fahren können!«, erwidert sie, ohne den Blick vom Fenster zu lösen. »Mommy hätte dir sogar ihr Auto geliehen.«

Ihr Tonfall sorgt dafür, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzieht. Weil ich weiß, wie es ist, wenn Eltern einen enttäuschen. Wenn sie keine Zeit für einen haben. Wenn man sich gemeinsame Momente und Zuneigung wünscht – und stattdessen mit Geschenken abgespeist wird. Aber dies ist eine Sache zwischen Cameron und seiner Tochter, also schweige ich.

Er streckt die Hand aus, um ihr über den Kopf zu streicheln, aber sie weist ihn ab. »Es ist doch nur eine Stunde Autofahrt. Wenn irgendetwas sein sollte, leihe ich mir ein Auto und komme schnellstmöglich vorbei.«

»Versprochen?«

»Versprochen.« Er zögert, bevor er ergänzt: »Aber das zählt nicht für Spinnennotfälle. Die sind immer noch Mommys oder Grandpas Einsatzbereich.«

»Was sind denn Spinnennotfälle?«, hake ich nach, obwohl es mich ebenfalls nichts angeht.