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Chris Delaney steht vor einem entscheidenden Jahr an der Uni. Eigentlich will er sich endlich auf sein Hauptfach konzentrieren – doch der mysteriöse Fremde an Lernplatz Nummer sechs lässt ihn nicht los. Chris ist seit Monaten fasziniert von ihm und träumt von einem Kennenlernen. Aber dazu müsste er den Mut aufbringen, ihn anzusprechen … Aiden Russo hat sich das College anders vorgestellt: Statt Partys und Leichtigkeit bestimmen endlose Vorlesungen und Berge von Hausaufgaben seinen Alltag. Die verstaubte Gitarre unter seinem Bett erinnert an aufgegebene Träume. Sein Medizinstudium fordert ihn bis an die Grenzen – und er braucht jemanden, der ihm zeigt, dass das Leben auch Spaß machen kann. Doch Aidens eiserne Disziplin hat einen ernsten Hintergrund …
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Seitenzahl: 365
Veröffentlichungsjahr: 2025
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A.M. JOHNSON
THE GLOW UP
FRANKLIN UNIVERSITY 3
Aus dem Englischen von Susanne Ahrens
Über das Buch
Chris Delaney steht vor einem entscheidenden Jahr an der Uni. Eigentlich will er sich endlich auf sein Hauptfach konzentrieren – doch der mysteriöse Fremde an Lernplatz Nummer sechs lässt ihn nicht los. Chris ist seit Monaten fasziniert von ihm und träumt von einem Kennenlernen. Aber dazu müsste er den Mut aufbringen, ihn anzusprechen …
Aiden Russo hat sich das College anders vorgestellt: Statt Partys und Leichtigkeit bestimmen endlose Vorlesungen und Berge von Hausaufgaben seinen Alltag. Die verstaubte Gitarre unter seinem Bett erinnert an aufgegebene Träume. Sein Medizinstudium fordert ihn bis an die Grenzen – und er braucht jemanden, der ihm zeigt, dass das Leben auch Spaß machen kann. Doch Aidens eiserne Disziplin hat einen ernsten Hintergrund …
Über die Autorin
Amanda Johnson ist eine preisgekrönte Autorin von LGBTQIA- und zeitgenössischer Liebes- und Unterhaltungsliteratur. Sie lebt mit ihrer Familie in New Hampshire, wo sie an den Wochenenden als Krankenschwester arbeitet und so oft wie möglich wandern geht.
Wenn sie nicht mit ihren Kindern beschäftigt ist, findet man sie in ein Buch vertieft oder an ihrem Laptop, wo sie das Leben in all seinen Facetten beim Schreiben erforscht.
Sie begeistert sich für alles, was mit Eishockey, Jane Austen und Oreos zu tun hat, und genießt den Austausch mit ihren Leser:innen.
Die englische Ausgabe erschien 2022 unter dem Titel »The Glow Up«.
Deutsche Erstausgabe Mai 2025
© der Originalausgabe 2022: A.M. Johnson
© für die deutschsprachige Ausgabe 2025:
Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth
Hammergasse 7-9, 98587 Steinbach-Hallenberg
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Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Die Nutzung des Inhalts für Text und Data Mining
im Sinne von § 44b UrhG ist ausdrücklich verboten.
Umschlaggestaltung: Ronja Forleo
Lektorat: Nina Restemeier
Korrektorat: Theresa Neuendorf
Schlussredaktion: Daniela Dreuth
Satz & Layout: Second Chances Verlag
ISBN Klappenbroschur: 978-3-98906-049-4
ISBN E-Book: 978-3-98906-061-6
Auch als Hörbuch erhältlich!
www.second-chances-verlag.de
Für alle ersten Lieben, dieser Song ist für euch.
»Wenn Musik die Nahrung der Liebe ist, so spielt fort.«
William Shakespeare
Titel
Über die Autorin
Impressum
Widmung
Zitat
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Epilog
Danksagung
CHRIS
Dichter Rauch stieg von der Spitze des Joints auf, als ich ihn an die Lippen hob. Der Himmel war strahlend blau, und die kalifornische Sonne brannte auf meine nackten Schultern herab. Ich blinzelte und starrte von meinem Aussichtspunkt auf dem Dach der Wissenschaftlichen Fakultät zum hundertsten Mal in den letzten zehn Minuten hinunter auf den Bürgersteig.
»Mist …« Keuchend und hustend wedelte ich den ausgeatmeten Qualm weg.
»Du Anfänger. Hast du heute deinen Dramatischen oder was?«, fragte Tommy. Ich kam zu dem Schluss, dass er nicht der fürsorglichste unter meinen Freunden war.
Tommy war einfach der Tommigste aller Toms mit seinem perfekt gestylten tiefen Seitenscheitel, seinen Polohemden und seiner Vorliebe dafür, bei jeder Party im Mittelpunkt zu stehen.
»Ich rauche sonst kein Gras. Das weißt du doch.«
Er verdrehte die Augen und nahm lässig einen Zug, als würde der Rauch nicht wie Feuer in der Lunge brennen. »Hasch-Gummibärchen sind was für Weicheier.«
»Nein, sie sind was für Leute, die sich nicht die Lunge kaputtmachen wollen. Aber danke fürs Teilen«, sagte ich ohne große Begeisterung. Mein Blick huschte zu einem Mann, der die Straße entlangkam.
Ich seufzte. Er war es nicht.
»Er kommt nicht.« Ich ließ die Schultern sinken und stützte mich auf die Ellbogen. »Mein Leben ist vorbei.«
»Definitiv, du bist im Dramamodus.« Er legte die Hand an meine Stirn, und ich schlug sie weg. »Deine Obsession macht mir langsam Sorgen, mein Freund.« Tommy befeuchtete sich die Finger und drückte den Joint aus. »Der Kerl weiß nicht mal, dass es dich gibt.«
»Noch nicht.«
Er lachte und blinzelte mich aus blutunterlaufenen Augen an. »Dein Optimismus bringt dich noch mal um.«
»Na, vielen Dank.« Ich setzte mich wieder auf und zog die Beine von der Dachkante hoch. Sobald ich stand, wischte ich mir die Hände an der Jeans ab. »Ich mache mich besser wieder an die Arbeit.«
»Jetzt sei nicht sauer. Ist doch wahr. Du sabberst diesen Typ seit dem ersten Jahr an und kennst noch nicht mal seinen Namen. Das ist schon irgendwie … merkwürdig.«
»Erstens: Ich bin nicht sauer.« Ich hob einen Finger. »Zweitens: Wenn du mich fragst, werden Namen überbewertet. Und drittens: Du kannst mich mal. Ich bin nicht merkwürdig.«
Er stand auf und legte mir die Hände auf die Schultern. Sein Griff war schwer und fest. Er sah mir ernst in die Augen. »Du musst dir endlich ein Leben suchen. Sex haben. Und über diesen grummeligen Wissenschaftsknilch hinwegkommen.«
»Ich bezeichne ihn lieber als stoischen, gut aussehenden Wissenschaftshengst.«
Lachend ließ er die Hände sinken. »Oh Mann. Du bist ein hoffnungsloser Fall. Sehen wir uns heute Abend im Shenanigans?«
»Weiß ich noch nicht. Mal sehen, wie lange ich hier festhänge. Ich habe tonnenweise Hausarbeiten zu erledigen.«
»Wenn du endlich mal aufhören würdest, das Hauptfach zu wechseln …«
Er ließ den Satz in der Luft hängen wie den Rauch seines ekligen Joints und wartete darauf, dass die Message schließlich bei mir ankam. Aber ich war der Meinung, dass man sich nicht von den Erwartungen anderer einengen lassen sollte. So hatten es mir meine Moms beigebracht. Ich war von einem Seife kochenden, Kräuter anpflanzenden, lesbischen Hippie-Paar auf einer Farm in Nordkalifornien großgezogen worden. Sich dem Establishment zu widersetzen, wurde mir praktisch in die Wiege gelegt. Ich nahm meine Sprunghaftigkeit sehr ernst. Seitdem ich vor einigen Jahren an die Franklin University gegangen war, hatte ich ein paarmal das Hauptfach gewechselt, bevor ich mich schließlich für BWL entschieden hatte. Abgesehen von den Geisteswissenschaften war es der Abschluss, der sich am vielseitigsten einsetzen ließ, aber er kam mir nützlicher vor als Geisteswissenschaften, weil ich nebenbei angefangen hatte, Massagekurse an der Uni zu belegen. Ich wollte irgendwann ein Spa mit ganzheitlichem Ansatz eröffnen. Und egal, was meine Mütter behaupteten, es erschien mir sinnvoll zu wissen, wie man ein Geschäft richtig aufbaute. Sie selbst stürzten sich lieber kopfüber in neue Unternehmungen, und es war immer gut gegangen. Mir hatte es als Kind nie an etwas gefehlt. Sie waren die coolsten, tolerantesten Eltern, die ein schwuler Junge sich wünschen konnte. Aber manchmal sehnte ich mich nach Stabilität. Und das, obwohl sich bei diesem Wort mein Magen verkrampfte.
»Wollen wir jetzt schon wieder ans Eingemachte gehen?«, fragte ich.
Tommy hob die Hände. »Hey … tu, was du für richtig hältst. Wenn du unbedingt noch länger an dieser beschissenen Uni rumhängen willst, ist das dein Bier. Ich kann’s jedenfalls nicht erwarten, mich nächstes Jahr vom Acker zu machen.«
»Keine Sorge. Ich bin hier nächstes Jahr auch weg, selbst wenn ich kommendes Semester doppelt so viele Kurse belegen muss.« Ich sah hinüber zum Gewächshaus. Mir graute vor der ganzen Arbeit, die ich noch zu erledigen hatte, bevor ich nach Hause konnte. »Ich muss unbedingt meinen Scheiß auf die Reihe kriegen.«
»Dann geh mal deine Pflanzen gießen. Wir sehen uns später?«
»Ich versuch’s.«
Er brummte und verdrehte erneut die Augen. Er wusste genauso gut wie ich, dass ich viel länger hierbleiben würde als nötig, um auf meinen Wissenschaftler zu warten.
»Na gut«, knurrte ich. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht war ich wirklich eine erbärmliche Pfeife. »Wir sehen uns gegen neun im Shenanigans.«
»Super!« Er rammte mir die Faust gegen die Schulter. »Wer weiß? Möglicherweise findest du ja einen anderen, den du ansabbern kannst. Die Football-Saison läuft.«
»Ein nicht geouteter Vollpfosten ist das Letzte, was ich gebrauchen kann.«
Er zuckte mit den Schultern und ging rückwärts zur Tür, die zurück ins Gebäude führte. »Vollpfosten sind wenigstens echt. Das ist immer noch besser als jemandem hinterherzustarren, der nicht mal weiß, dass man …«
»Bis dann, Tommy.«
»Bis dann, du Loser.«
Nachdem die Tür zugefallen war, zeigte ich ihm lachend den Mittelfinger und fragte mich wieder mal, ob ich unsere Freundschaft überdenken sollte. Dank des Joints und der Sonneneinstrahlung fühlte sich mein Kopf an wie in Watte gepackt, als ich zum Gewächshaus hinüberging. Ich machte mich an die Arbeit. Nach einer halben Stunde war der Rausch verflogen, und ich spürte jede einzelne Minute dieses endlosen Tags in den Knochen. Ich hatte den größten Teil meiner Liste abgearbeitet und nur noch wenig zu tun, als ich das Gefühl des toten Maulwurfs auf meiner Zunge nicht mehr ertragen konnte. Ich holte meine leere Wasserflasche und ging nach unten. Die Tür zum Dach fiel hinter mir ins Schloss. Die Kühle der Klimaanlage war ein Segen. Es gab auf jedem Stockwerk des Gebäudes einen Trinkbrunnen, aber die Lernplätze für Studenten lagen im zweiten. Im ersten Jahr hatte ich mir noch eingeredet, dass das Wasser dort kühler war, oder dass ich noch Schritte brauchte oder sonstigen Unfug. In Wirklichkeit hielt er sich im zweiten Stock auf. Der grummelige Wissenschaftsknilch. An Platz Nummer 6. Jeden Tag. Inzwischen pfiff ich auf Ausreden und stieß die allzu vertraute Tür zur zweiten Etage auf. Überall im engen Flur standen plaudernde Studenten und blockierten den Weg zum Trinkbrunnen. Einige winkten mir zu, und ich nickte lächelnd. Ich gab nicht mal vor, nicht nach ihm Ausschau zu halten. Doch sein Platz war verwaist, und ich gab mir verdammt große Mühe, nicht enttäuscht zu sein.
Morgen ist ein neuer Tag.
Ich füllte meine Wasserflasche und ignorierte die leise Stimme im Hinterkopf, die mir einflüsterte, dass Tommy recht hatte. Vielleicht sollte ich heute Abend einfach Spaß haben, statt ständig an meinen Schwarm und seine gefühlvollen, traurigen braunen Augen zu denken. Einen echten Menschen kennenlernen, statt nur von einer Fantasiegestalt zu träumen. Ich schraubte die Flasche zu, drehte mich um und rannte beinahe in eine Studentin hinein, die sich einen Weg durch die Menge bahnte.
»Mist, ich …« Ich brach mitten im Satz ab.
Da war er, an Platz Nummer 6, und ließ gerade seinen Rucksack auf den Boden fallen. Mit seinen dichten, lockigen dunklen Haaren, der weiten Jogginghose und im T-Shirt. Die Muskeln an seinem Oberarm spannten sich an, als er den Stuhl rauszog. Seine Brust hob und senkte sich unter einem tiefen Atemzug, als er seine lange Gestalt auf den Stuhl klappte.
»Alter, pass auf, wo du hinlatschst«, murmelte die Studentin, doch ich ignorierte sie und ging ein paar Schritte Richtung Lernbereich, wo ich mich mit der Schulter an die Wand lehnte.
Ich benahm mich, als gehöre ich hierher, und gab mich lässig, obwohl ich es nicht war. Heimlich musterte ich ihn. Mein Wissenschaftstyp griff in die Tasche und zog seine Kopfhörer hervor, setzte einen nach dem anderen ein. Ich wollte wissen, was er sich anhörte. Musik, einen Kurs oder vielleicht einen Podcast? Ich hoffte, dass es Musik war. Eventuell etwas Folklastiges, so was mochte ich am liebsten, aber er kam mir eher wie der Klassiktyp vor. Er war stets von einer melancholischen, ernsten, nachdenklichen Aura umgeben, die mich eher an Bach als an The Head and the Heart denken ließ.
Oh Gott, bei dem Unsinn, den ich mir in letzter Zeit ausmalte, hätte ich es lieber auf einen Abschluss im Schreiben anlegen sollen.
Ich war gerade zu dem Schluss gekommen, dass mein Benehmen ziemlich gruselig war, und wollte gehen, als er sich bückte und ein Lehrbuch und einen Stapel Papier hervorholte. Ich gönnte mir noch ein paar Sekunden. Wie immer kaute er am Ende seines Bleistifts und runzelte die Stirn, als wäre er dem Sinn des Lebens auf der Spur, während er Seite um Seite umblätterte. Er biss sich auf die volle Unterlippe, rieb sich den Nasenrücken und kippelte auf dem Stuhl.
Früher hatte ich öfter überlegt, ihn anzusprechen. Aber jedes Szenario, das ich mir ausgemalt hatte, war mir immer lächerlicher erschienen, je länger ich darüber nachgedacht hatte. Sachen wie vor ihm zu stolpern oder mich aufzuführen, als würde ich ihn mit jemandem verwechseln. Das war doch kitschig und widersprach meinem Prinzip, dass sich ein Kontakt natürlich entwickeln musste. Wenn ich ihn kennenlernen sollte, würde es auch geschehen. Ich zählte bis drei, sah mich an ihm satt und kehrte mit einem Seufzen, über das Tommy sich lustig gemacht hätte, zurück an die Arbeit.
Um kurz nach fünf war ich fertig und konnte nach Hause gehen. Da ich die erste Fressattacke nach dem Joint übergangen hatte und jetzt bei ernsthaftem Heißhunger angekommen war, war ich erleichtert, dass mein Mitbewohner Brolin auf dem Innenhof den Grill angefeuert hatte.
Ich wohnte auf dem Liberty Court, der Wohnanlage am Südende des Campus. Genauer gesagt im Stormer oder auch Stoner House. Die anderen drei Häuser hießen Adler, Freidman und Mundell und waren alle nach den etwas bekannteren Dekanen der Uni benannt. Die Anlage hatte ein klassisch kalifornisches Ambiente mit strahlend weißem Stuck an den Gebäuden, im Wind schwankenden Palmen und von jedem der Dächer einen umwerfenden Blick auf den Strand. Zwischen den Häusern spannten sich Lichterketten und rahmten den Innenhof mit Grill, Picknicktischen und ein paar Hängematten ein. Egal wie spät es war, um den alten Brunnen in der Mitte saßen immer ein paar Leute. Das Ding wurde nie eingeschaltet und war meiner Meinung nach in erster Linie brandgefährlich, aber man konnte sich während Partys gut auf den Rand setzen. Für eine Unterbringung auf dem Campus waren wir verdammt gut aufgestellt, und es lebte sich hier mit Sicherheit viel besser als in den Wohnheimen. Ich hatte in den ersten beiden Jahren mit Gemeinschaftsbädern leben müssen und würde lieber in einem Zelt am Strand hausen, als je wieder ins Wohnheim zu ziehen.
»Was geht, Mann?« Brolin lächelte mir zu und winkte mit der großen Grillzange. »Hast du gerade Feierabend gemacht?«
Er umarmte mich von der Seite und klopfte mir auf den Rücken. Brolin war jemand, der andere viel berührte, mehr als jeder andere meiner Hetero-Freunde. Aber ich schrieb das der Tatsache zu, dass er die halbe Zeit über stoned war. Und wenn er nicht high war, schlief er.
»Ja.« Ich löste mich von ihm. »Was hast du denn da?« Ich deutete auf den Grill. »Riecht klasse.«
»Steaks.« Er schenkte mir ein schiefes, albernes Lächeln. »Ein paar von den Jungs aus Adler und Freidman haben was dazugetan. Hab echte New York Strips besorgt.«
Er rieb sich den Bauch und leckte sich die Lippen. Ich musste lachen. Brolins Lieblingsthemen waren Essen und Sex. Mit seinen blonden Locken und seiner Neigung, anderen gefallen zu wollen, war er im Grunde mehr Labrador als Mensch.
»Cool. Was schulde ich dir?«
Er schüttelte den Kopf und hob den Deckel des Grills an. »Du hast letzte Woche für zwei Abende Futter gekauft. Mach dir keinen Kopf.«
»Sicher?« Ich strich mir durch die Haare. »Ich habe kein Problem damit, was dazuzugeben.«
»Du arbeitest zu viel.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Aber wenn du magst … Ich hätte nichts gegen ein paar der Gummibärchen, die deine Moms dir schicken.«
»Sie gehören ganz dir«, antwortete ich. »Ich hole dir nach dem Abendessen welche, okay?«
»Cool.« Er versetzte mir einen sanften Stoß gegen die Schulter. »Danke.«
»Kein Ding.« Ich deutete hinter mich. »Ich gehe eben rein und räume meinen Kram weg. Soll ich Teller holen oder so?«
»Nee. Collins, Watty und Ford bringen alles mit.«
»Die Lacrosse-Jungs?«
»Genau.«
»Alles klar.« Ich zog an den Riemen meines Rucksacks. »Bis gleich.«
Im Wohnzimmer lag Ross, ein weiterer meiner Mitbewohner, auf der Couch und schlief, die Bong unter den Arm geklemmt. Der frische Rauch lag noch im Raum und trieb mir auf dem Weg durch den Flur die Tränen in die Augen. In meinem Zimmer angekommen, warf ich meine Tasche auf den Boden, riss das Fenster auf und ließ mich auf mein Bett fallen. Ich schloss die Augen und atmete die frische Meeresluft ein. Wenn ich mich anstrengte, konnte ich das Rauschen der Wellen hören, vielleicht sogar die Schreie der Möwen. Nach ein paar Minuten öffnete ich die Augen und betrachtete die Bandposter an den Wänden und die Fotos meiner Moms auf dem Nachttisch.
Diese kleinen Momente, in denen ich die Welt sich selbst überließ und das Sonnenlicht genoss, das mein T-Shirt aufheizte, wurden immer seltener. Dank meines Arbeitsstudienprogramms, der Kurse und meiner Bemühungen, mich als Massagetherapeut zu zertifizieren, blieb mir nicht viel Zeit, um abzuhängen oder wie Tommy und meine Mitbewohner um die Häuser zu ziehen und jemanden aufzureißen. Aber ich konnte mich nicht beklagen. Mein Leben war großartig. San Luco hatte ein paar der schönsten Strände von Kalifornien, und ich konnte einen davon zu Fuß erreichen. Meine Mitbewohner gaben zwar alles, um mir Lungenkrebs zu verpassen, doch sie waren die besten Freunde, die man sich vorstellen konnte. Und ja, ich sollte meine Schwärmerei für einen superscharfen Fremden wohl nicht als Sahne auf der Torte betrachten, aber ihn jeden Tag zu sehen, brachte mich zum Lächeln. Es erinnerte mich daran, dass es okay war, sich in Tagträumen zu verlieren und zu hoffen.
Darauf, dass meine nächste Note in Statistik besser ausfiel.
Darauf, dass ich alles beendete, was ich angefangen hatte.
Darauf, dass er nächstes Mal von seinem Lehrbuch aufsah, mich endlich bemerkte und mich vielleicht ebenfalls kennenlernen wollte.
AIDEN
Frustriert knallte ich das Pathophysiologiebuch zu und griff nach meinem Handy. Ich schaltete meine Lern-Playlist ab und zog die Kopfhörer aus den Ohren. Im Flur war das leise Summen eines Staubsaugers zu hören. Wie immer war ich der letzte Student, der noch hier war. Während ich meine Sachen packte, war ich mir Rons Blick bewusst. Eigentlich sollte es mich nicht mehr wundern, dass ich ihn praktisch körperlich spürte, aber heute Abend Fühlte ich sein Mitleid selbst auf einen Kilometer Entfernung. Er war einer der Wachmänner des Campus, die ich im Laufe der letzten Jahre kennengelernt hatte. Ron war der Einzige, der mir nicht auf den Zeiger ging, weil ich so lange im Lernbereich saß. Dafür war ich ihm dankbar, selbst wenn dadurch eine zu große Vertrautheit entstand. Er war rund zehn Jahre älter als ich und auf Ex-Militär-regelbuchkonforme Weise attraktiv. Außerdem hatte er schöne Hände, aber für so etwas hatte ich keine Zeit.
Ich hatte nicht mal Zeit für meine eigenen Hände, verdammt noch mal.
»Ich weiß, ich weiß. Ich geh ja schon«, sagte ich und zog den Reißverschluss meines Rucksacks zu. »Du musst nicht wie ein Stalker neben dem Fahrstuhl rumlungern.«
Ron lächelte sanft und sah mich mit seinen blauen Augen wissend an. »Ich mache nur meine Arbeit.«
»Hm.«
Ich stand auf und streckte mich. Er verschränkte die Arme und ließ den scharfen Blick zu der Stelle gleiten, an der sich mein T-Shirt über den Saum der Jogginghose hob.
»Wirst du je mit mir Abendessen gehen?«, fragte er.
Ich lachte. »Für Abendessen ist es zu spät.«
So lief es immer. Er bat mich, mit ihm auszugehen, und ich lehnte ab. Wahrscheinlich meinte er es nicht einmal ernst. Er hatte mir schon viel zu oft gesagt, dass ich mehr ausgehen sollte. Dass etwas Sonne gut für mich wäre. Dass das Gehirn Nährstoffe brauchte, um richtig zu arbeiten. Daher hatten seine Einladungen vermutlich eher mit Mitleid zu tun.
»Es ist nie zu spät, um was zu essen. In einer Stunde …«
»Hast du Feierabend. Ich weiß.« Ich warf mir den Rucksack über die Schulter, und er lachte verhalten.
»Einen Versuch war es wert.« Ron drückte auf den Fahrstuhlknopf. Ein leises Ping hallte durch den leeren Flur. »Ich mache mir Sorgen, weil du dich ständig hier verkriechst. An der Uni sollte man Spaß haben.«
»Nicht, wenn man sich aufs Medizinstudium vorbereitet.« Ich stieß die Luft aus und versuchte, mich daran zu erinnern, dass ich mir wünschen sollte, Arzt zu werden. Mit einem künstlichen Lächeln verhakte ich die Daumen in den Riemen des Rucksacks. »Spaß ist erst wieder angesagt, wenn ich meine Assistenzzeit hinter mir habe.«
Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und ich trat ein, gefolgt von Ron.
»Weißt du …« Er lehnte sich gegen die Rückwand und verschränkte die Knöchel, ein Sinnbild des Selbstvertrauens. »Du hast mir nie erzählt, warum du Arzt werden willst. Warum du glaubst, dass es die ganze Mühe wert ist.«
Ich lehnte mich ebenfalls an die Rückwand und berührte seine Schulter mit meiner. Die Nähe half mir, mich zu entspannen. Nicht, weil ich scharf auf ihn war, sondern weil er auf eine Weise echt war, die mir fremd geworden war. Leider war Ron abgesehen von meinem Mitbewohner Drew der Einzige, mit dem ich redete. Ich hatte keine Freunde. Ich ging nicht auf Dates. Im Grunde lebte ich nur, um zu lernen und mir Krankheitsverläufe und die Anatomie des Menschen einzuprägen. Ich war ein wandelndes Lexikon, und das Schlimmste daran war, dass ich es hasste. Jede Sekunde lang. Ich wollte nicht Arzt werden. Ich musste.
»Geld.«
»Geld?«, schnaubte er. »Das kann ich nicht glauben.«
»Nicht?« Ich sah zu Boden. Ich wollte nicht darüber reden. Nicht mit ihm und auch mit sonst keinem. Selbst daran zu denken, war schon zu viel. »Geld ist vielen Menschen wichtig.«
»Menschen, ja?«
»Mir.«
Die Fahrstuhltüren glitten auf und beendeten die unangenehme Fragestunde. Ron folgte mir nach draußen und schloss hinter uns ab, als ich mich auf den Weg zu den Wohnheimen machte. »Warte, ich begleite dich.«
Dieses Mal war mein Lächeln echt. »Ich brauche keinen Begleitschutz. Ich bin ein großer Junge.«
»Sicherheit geht vor.«
»Du weißt, dass ich nie mit dir ausgehen werde, oder?« Ich schob die Hände in die Hosentaschen. »Du bist nicht mein Typ.«
»Ist mir klar. Aber ich …« Er unterbrach sich, und ich wandte mich ihm zu. Seine Miene war ernst, und natürlich zeichnete sich auch wieder das unerwünschte Mitgefühl darin ab, verdammt noch mal. »Ich habe irgendwie das Gefühl, dass du einen Freund brauchen kannst. Das mit dem Ausgehen ist eher ein Witz. Selbst wenn ich garantiert nicht Nein sagen werde, falls du deine Meinung änderst.« Rons Grinsen brachte seine Augen zum Funkeln. »Aber jetzt bin ich neugierig: Wer ist denn dein Typ? Du stehst doch bestimmt auf Bücherwürmer.«
»Vielleicht.« Ich lachte auf, und wir setzten uns wieder in Bewegung. Ich hielt den Blick auf den Bürgersteig gerichtet, und sein Atem war so leise, dass ich mir einreden konnte, dass Ron gar nicht da war.
Das Schweigen hüllte uns in eine seltsame Decke aus Anonymität. Es kam mir vor, als würden sich meine Worte in der Dunkelheit verlieren, sobald ich sie ausgesprochen hatte.
»Ich will Psychiater werden«, erklärte ich schließlich und atmete tief durch. Es laut auszusprechen, war befreiend. »Mein Dad … Seitdem meine Mom gegangen ist, hat er Probleme. Ich war damals fünfzehn. Er behält keinen Job länger als sechs Monate und ist schwer depressiv. Ich habe mir überlegt … Ich dachte …« Ich strich mir durch die Haare. »Ach Mann, ich weiß auch nicht.«
»Du denkst, du kannst ihm helfen, wenn du Psychiater wirst?«
»Schätze schon.«
Als wir am Liberty Court vorbeikamen, hallte uns Musik entgegen. In den vier Häusern ging es sehr lebendig zu, und es wurde viel gelacht. Ich fühlte mich an die zehnte Klasse an der Highschool erinnert, als ich noch ich selbst gewesen war. Als ich gewusst hatte, wie man ohne strikte Tagesordnung überlebte. Ich gestattete mir den Wunsch, mitzufeiern, etwas zu trinken und mich zu entspannen, ohne mir um jede Kleinigkeit Sorgen zu machen.
»Wenigstens hast du Spaß daran. Das macht es sicher leichter, die Opfer zu ertragen.«
Ich korrigierte ihn nicht, verriet ihm nicht, dass ich in Hausarbeiten versank und es kaum schaffte, meine Kurse zu bestehen. Stattdessen nickte ich lächelnd. »Ich liebe es.«
»Ich muss rüber zum Fitnessstudio und abschließen.« Ron sah in Richtung der Wohnheime und zögerte.
»Klar.« Einsamkeit stieg in mir auf und nagte an meinem Nervenkostüm. »Wir sehen uns.«
»Tust du mir einen Gefallen?«, fragte er, während er sich bereits zum Gehen wandte. »Unternimm diese Woche irgendwas Schönes. Ich wette, das würde dein Dad sich auch wünschen.«
»Vielleicht solltest du ebenfalls Psychiater werden«, schlug ich ihm vor.
Er schüttelte lächelnd den Kopf, dann setzte er sich in Bewegung.
Das Wohnheim war beinahe leer, als ich die Treppen hochstieg. Es war Freitagabend, die meisten Studenten waren mit Freunden unterwegs, auf Partys oder im Shenaningans, der Bar in der Nähe des Campus. Nur ich war ganz allein. Wieder stieg die Einsamkeit in mir hoch. Ich schüttelte sie ab und schloss meine Tür auf. Mein Zimmer war typisch für ein Wohnheim. Zweckmäßig weiß getünchte Wände, zwei baugleiche Betten, daneben jeweils ein kleiner Schreibtisch. Drews Seite sah immer aus wie ein Schlachtfeld. Seine Klamotten quollen aus dem Schrank und dem Wäschekorb, und von seinem Bett stieg ein befremdlicher Geruch auf. Über der Kopfplatte hing ein riesiges Poster von einem Footballspieler, an seinem Schrank klebten ein paar kleinere, die er aus einem Badeanzugkatalog rausgerissen hatte. Er entsprach dem klassischen Kumpel-Bro-Klischee. Auch wenn er immer nett zu mir war, versuchte, Zeit mit mir zu verbringen, und nie verächtliche Sprüche über Schwule von sich gab, hatte ich meine sexuelle Orientierung für mich behalten. Ich hielt sie nicht unbedingt geheim, zumindest zu Hause nicht. Aber auf dem Campus war Ron der Einzige, der Bescheid wusste. Und da ich nicht vorhatte, mir in nächster Zeit einen Freund zu suchen oder mit jemandem ins Bett zu gehen, konnte ich mir den Ärger mit einem potenziell homophoben Mitbewohner auch sparen. Mein Leben war schon chaotisch genug.
Ich warf meinen Rucksack auf den Schreibtischstuhl und scrollte mich durch die Musik-App auf meinem Handy. Letztendlich entschied ich mich für Van Morrison, legte mich aufs Bett und starrte an die Decke, das Handy lag auf meiner Brust. Anders als auf Drews Seite waren meine Wände praktisch leer. Ich hatte nur ein paar Fotos aus meinem Leben zu Hause in Decatur neben das Bett geheftet. Meine beiden Lieblingsbilder waren eines von mir mit dem Schriftsteller Wilder, der früher immer in das Café gekommen war, in dem ich gearbeitet hatte. Und eines von meinem Dad. Das zweite Foto war vor sechs Jahren aufgenommen worden, bevor alles auseinandergebrochen war. An unserem letzten fröhlichen Weihnachten. Seufzend setzte ich mich auf und stellte das Handy in die Dockingstation. Die roten Digitalziffern auf dem Wecker erinnerten mich daran, dass ich ins Bett gehen sollte. Es war fast Mitternacht, und ich wollte nicht wach sein, wenn Drew wieder einmal angeheitert und überdreht nach Hause kam. Aber die Gitarre unter meinem Bett schien nach mir zu rufen. Ich konnte es genauso deutlich hören wie das Pulsieren meines Herzens. Nach ein paar Sekunden gab ich nach, holte die Martin hervor, die ich zu meinem dreizehnten Geburtstag gebraucht geschenkt bekommen hatte, und zog den Reißverschluss des Gigbags auf. Ich strich über das glatte, helle Holz. Nostalgie lag in der Luft. Es war nicht wichtig, wie oft ich sie spielte. Sie brachte mich immer zurück in eine Zeit, in der es samstagmorgens Pancakes gegeben hatte, ich nach der Schule Flag Football gespielt, sich Moms Schallplatten auf dem Plattenspieler gedreht hatten, und die Beatles von Revolution und einer Frau namens »Eleanor Rigby« sangen.
Ich zupfte an den starren, kühlen Saiten und stimmte sie zum ersten Mal seit Wochen. Leise summte ich die einzelnen Töne, bis die Gitarre richtig gestimmt war. Dann spielte ich den Song mit, der auf meinem Handy lief, und fühlte mich ausnahmsweise wie ich selbst. Ich dachte nicht länger an Tests, ans Labor, Stipendien und die Unfähigkeit meines Dads, über eine Frau hinwegzukommen, die sich nicht wirklich um ihn oder uns geschert hatte. Es fiel mir leicht, mich in den Rhythmus hineinzufinden, und als der Song zu Ende war und der nächste anlief, spielte ich weiter. Für einen winzigen Moment war ich ganz bei mir. Nach zwei oder drei Liedern spürte ich den ersten Schmerz in meinen Fingerspitzen und lächelte. Ich war wieder Aiden Russo, der Junge, der früher auf Partys Gitarre gespielt hatte, eine Band gründen und so gut wie möglich im Hier und Jetzt leben wollte. Denn wenn mir meine Mutter etwas beigebracht hatte, dann, dass das Leben zu kurz war, um sich zu verbiegen.
Der Gedanke an sie ließ mich innehalten. Das letzte Klirren der Saiten schien in der Luft hängen zu bleiben. Ich rang nach Atem. Früher hätte ich weitergespielt, hätte mich gezwungen, mich zu erinnern und alles auf mich einprasseln zu lassen. Doch ich hörte Drews volltönenden Bariton im Flur und packte die Gitarre schnell wieder weg.
Ich schob sie gerade unters Bett, als die Tür aufflog und Drew ins Zimmer gepoltert kam. Wie ein großer Hund, der übers Laminat schlittert, rutschte er weg und knallte gegen die Kommode, bevor er in seinen Nachttischschubladen wühlte. »Junge, du hast heute Abend eine abgefahrene Party verpasst«, verkündete er.
»Vielleicht beim nächsten Mal.«
Er unterbrach sein Treiben und starrte mich an. Seine großen, braunen Augen weiteten sich vor … Oh verdammt, war das etwa Vorfreude? »Ist das dein Ernst? Dann musst du nächstes Wochenende unbedingt mit mir zu Peyton gehen. Er schmeißt eine Party und …«
»Wer ist Peyton?«, fragte ich und gab mein Bestes, um ernsthaft interessiert zu klingen.
»Soll das ein Witz sein?« Enttäuschung lag in seiner Stimme, und er schüttelte den Kopf. Vollkommen ungehemmt zog er eine Packung Kondome aus der Schublade. »Er ist der Quarterback von unserem Football-Team.«
»Oh.«
»Oh?« Drew zog die Augenbrauen hoch und stopfte sich die folierten Päckchen in die Gesäßtasche. »Er ist praktisch der König auf dem Campus.«
»Drew, sehe ich aus, als würde ich mich für so was interessieren?« Seine verletzte Miene brachte mich zum Lachen. Mein Mitbewohner war ein riesiger Kerl mit einer Unmenge Muskeln, aber ich kannte niemanden, der den Hundeblick so perfektioniert hatte wie er. »Jetzt guck nicht so. Woher soll ich denn wissen, wer hier der König ist? Ich mache nun mal nichts anderes, als zu lernen.«
Das wusste er natürlich genau, doch das hatte ihn noch nie davon abgehalten, sich als mein persönlicher Animateur zu versuchen.
»Dann komm nächstes Wochenende mit.« Grinsend tätschelte er die Tasche, in der er die Kondome verstaut hatte. »Vielleicht kannst du ja deinen Schwanz Gassi führen.«
Ich runzelte die Stirn und hob abwehrend die Hände. »Hör bloß auf. Ich tu jetzt mal so, als hättest du das nicht gesagt.«
»Hör mal, Little A.« Sein Spitzname für mich, mit dem er gepflegt ignorierte, dass ich immerhin eins achtzig groß war, brachte mich zum Lachen. »Es ist doch wahr. Womöglich würde dein Gehirn ein bisschen mehr aufnehmen, wenn du ab und zu mal Druck vom Kessel lassen würdest.«
»Ach ja? Wie sind denn deine Noten so?«, fragte ich und verkniff mir ein Lächeln, als er aufstöhnte.
»Verdammt, erinnere mich bloß nicht daran. Ich brauche für die Chemieprüfung am Dienstag unbedingt deine Hilfe.«
»Na klar.« Ich zog mir die Schuhe aus und ließ mich in die Kissen sinken. »Es sei denn, eine Runde Sex heute Abend hilft deinem Gehirn auch besser aufzunehmen, was du schon gelernt hast.«
»Glaub nicht, dass ich nicht gemerkt habe, dass du den Spieß umgedreht hast.«
Jetzt musste ich wirklich lachen. »Ach ja?«
Drew zog die Nase kraus und kratzte sich am Kopf. »Weißt du, was dein Problem ist?«
»Ich habe ein paar Theorien, aber deine ist vermutlich lustiger.« Ich verschränkte die Arme und wartete auf seine brillante Psychoanalyse.
»Du musst dich entspannen. Und zu deinem Glück weiß ich genau, wie wir dafür sorgen können.«
»Wenn du jetzt wieder irgendwas Ekliges vorschlagen willst, schenk es dir. Ich …«
»Es ist nicht eklig.« Ein Anflug von Stolz funkelte in seinem Blick. Er warf sich in die Brust und hob die Hände, als wollte er mir den besten Einfall aller Zeiten präsentieren. »Der Studiengang für Massagetherapie bietet Gratis-Massagen an, damit die Studenten ihre praktischen Stunden zusammenbekommen oder so. Wir sollten da mal hingehen.«
»Und wie hast du das herausgefunden? Oder will ich das lieber nicht erfahren«
»Ich kenne eine der Studentinnen, die dort arbeiten. Wir verbringen manchmal ein bisschen Zeit miteinander.« Drews Grinsen verriet mir mehr, als ich wissen wollte. »Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr.«
»Ich wusste doch, dass es gleich unappetitlich wird.«
»An einer heißen Blondine, die mit ihren Händen umgehen kann, ist gar nichts unappetitlich. Mehr sag ich dazu nicht.« Er schnappte sich das Rasierwasser von der Kommode und verteilte es erst auf seiner Brust, dann vorn auf seiner Hose. Oh Gott, dieser Kerl … »Ich habe ihr quasi versprochen, dass ich meinen Freunden von den Gratis-Massagen erzähle. Ich weiß ja, dass du nicht gern unter Leute gehst, aber es könnte helfen … Ich meine … und das ist wirklich nicht böse gemeint, aber du bist so was von verkrampft, das ist echt nicht mehr schön.«
»Na danke.«
Doch ich konnte nicht anders, als über seine Worte nachzudenken. Früher war ich ein fröhlicher Mensch gewesen. Ich war gern ausgegangen, hatte Zeit mit Freunden verbracht und mir von praktisch jedem Mann, der nicht bei drei auf dem Baum war, einen blasen lassen. Ich wollte mich entspannen und mir nicht mehr ständig Sorgen machen, aber was blieb mir denn für eine Wahl? Meine Noten waren unterdurchschnittlich, obwohl ich mir wirklich jede Mühe gab. Drew meinte es gut. Er versuchte bereits seit zwei Semestern, mich aus meinem Schneckenhaus zu locken. Wenn ich jedoch zum Medizinstudium zugelassen werden wollte, musste ich mein altes Ich unter Verschluss halten.
»Ich sehe dir jetzt schon an, dass du Nein sagst. Du guckst viel zu ernst und verkniffen.« Drew zupfte vor dem kleinen Spiegel über seiner Kommode seine Haare zurecht. »Denk einfach darüber nach. Es könnte helfen.«
»Na gut«, entfuhr es mir. »Äh … Ich meine, ich …«
»Oh nein.« Er verschränkte mit einem bockigen Grollen die Arme. »Zurücknehmen gilt nicht.«
»Wann hast du dich in einen Fünfjährigen verwandelt?«
Er zeigte mir den Mittelfinger und griff nach seinen Schlüsseln. »Hast du morgen früh Zeit?«
»Morgen ist Bibliothekstag.«
»Was ist mit Sonntag?«
»Da muss ich lernen.«
»Scheiß drauf. Wir gehen morgen, nachdem ich aus dem Gym zurück bin.«
»Drew, ich …«
»Wir reden hier von einer Stunde.« Ich vermutete, seine Dringlichkeit hatte eher etwas damit zu tun, seiner Bekannten an die Wäsche zu gehen, als mit mir. Aber er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und wirkte ernsthaft besorgt, weshalb ich nachgab. »Dir steht eine Stunde für dich allein zu. Das hast du dir verdient.«
»Okay …«
»Okay?« Drew war so aufgeregt, dass ich am liebsten die Augen verdreht hätte.
»Ja … Wir sehen uns da.«
Eine Stunde.
Das war machbar.
CHRIS
Der süßliche Duft von Bergamotte und Weihrauch lag über dem Empfangsbereich, als ich mich neben Annabelle in einen der weichen Sessel warf. Normalerweise empfand ich den Geruch als entspannend, aber nachdem ich gestern Abend mit Tommy und ein paar anderen aus meinem Haus im Shenanigans gefeiert hatte, konnte ich ihn kaum ertragen. Ich wollte es nicht bereuen, ausgegangen zu sein. Ich hatte wirklich Spaß gehabt. Doch ich hatte es offensichtlich übertrieben.
Annabelle warf mir einen Seitenblick zu, griff unter den Empfangstresen und reichte mir eine Flasche Wasser aus der kleinen Kühltasche, die sie jeden Samstag dabeihatte.
»Danke.«
»Ausreichend Wasser zu trinken, ist der Schlüssel …«
»… für eine jung wirkende Haut«, wiederholte ich die Worte, die sie mir seit meinem ersten Tag im Massagetherapiezentrum hundertmal vorgebetet hatte. Sie selbst trank jeden Tag mindestens dreieinhalb Liter. Und hey, für eine Sechzigjährige hatte sie wirklich eine straffe Haut. »Das weiß ich noch von den letzten hundert Gelegenheiten, bei denen du mir das gesagt hast.«
»Na ja …« Sie schob sich eine schwarze Strähne hinters Ohr und schlug den Terminkalender auf. »Bei euch jungem Gemüse mit all eurem Gras und Bier weiß ich immer nicht so genau, wie viel ihr mitbekommt.«
»Haha.«
Sie grinste, und ich trank aufgesetzt einen großen Schluck Wasser.
»Und sofort siehst du besser aus«, behauptete sie und tätschelte mir die Wange. »Hattest du einen schönen Abend?«
Ich stellte die Flasche auf den Tresen. »Ja. Tommy und Brolin haben es sich zur Aufgabe gemacht, mich abzufüllen.«
Sie musterte mich prüfend. »Wie ich sehe, haben sie es geschafft.«
»Autsch.« Ich legte die Hand an meine Brust. »Warum bist du so gemein zu mir?«
»Du hättest dir wenigstens die Haare kämmen können. Debra wird dir ganz schön was husten.«
Debra war eine meiner Ausbilderinnen und hatte an neun von zehn Tagen schlechte Laune. Sie war das genaue Gegenteil von dem, was man sich unter einer Lehrerin für Massagetherapie vorstellte. Statt Blumenröcken und Hanfarmbändern trug sie ausschließlich Hosenanzüge und Pumps.
Ich fuhr mir mit den Fingern durch meine zerzausten blonden Haare, um sie halbwegs in Form zu bringen. »Besser?«
Annabelle schob mir lachend ein paar Strähnen hinter die Ohren. »Annehmbar, würde ich sagen. Wenigstens stinkst du nicht nach Kneipe.«
»Fürs Duschen hat’s gerade noch gereicht«, witzelte ich.
Cora, eine der anderen Studentinnen, kam aus dem Hinterzimmer geschlendert. Während sie Lavendellotion auf den Händen verteilte, beugte sie sich über mich und warf einen Blick in den Terminkalender. »Schon wieder nichts. Ich reserviere die ersten spontanen Besucher für mich.«
»Von wegen. Du kannst dich nicht jeden Samstag vordrängeln«, schoss ich zurück.
Sie schnaubte spöttisch und winkte ab, als wäre ich keine Sekunde ihrer kostbaren Zeit wert. »Ich habe weniger Stunden als du. Ich brauche die Kunden dringender.« Sie warf sich die kurz geschnittenen, braunen Fransen aus den Augen und zuckte mit den Schultern. »Es ist also nur fair.«
Cora war nie fair. Sie klaute anderen die Kunden, besonders, wenn es sich um Männer handelte.
Objektiv betrachtet konnte man sie als hübsch bezeichnen. Sie hatte ein ansprechendes Gesicht, war durchtrainiert und hatte große Brüste. Damit wies sie alle Eigenschaften auf, die meine Hetero-Freunde an Frauen mochten. Ich hätte mich auch gar nicht beschwert, wenn es nur ihr Äußeres gewesen wäre, mit dem sie die Kunden in den Bann zog. Dafür konnte sie schließlich nichts. Aber sie flirtete offen mit den Männern. Ich hatte mich schon oft gefragt, warum sie für ihr Benehmen nicht abgemahnt wurde. Sich an Kunden heranzumachen, war ein absolutes No-Go. Logisch. Ich musste sowieso schon immer mit geschmacklosen Happy-Ending-Witzen rechnen, wenn ich meine angestrebte Qualifikation erwähnte. Viele nahmen unseren Beruf nicht ernst. Leute wie Cora, die ständig Grenzen überschritten und diesem Unsinn Nahrung boten, waren kaum eine Hilfe.
»Ich bin mir nicht sicher, ob du weißt, was ›fair‹ auch nur bedeutet«, gab ich zurück.
Sie wollte gerade antworten, als die Türglocke ertönte.
Von einer Sekunde zur nächsten schien jeglicher Sauerstoff aus dem Raum gesaugt zu werden. Die Luft knisterte, in meinen Fingern kribbelte es, und mir sträubten sich die Nackenhaare. Ach du Scheiße. Gottverdammte Scheiße. Mein Wissenschaftler war hier. Er sah mich für den Bruchteil einer Sekunde aus seinen dunkelbraunen Augen an, bevor er den Blick abwandte und sich umschaute. Er rieb sich die Hände an der dunkelgrauen Jogginghose, dann am Hals und wirkte hinreißend nervös. Die Türglocke klingelte erneut.
Ein weiterer Gast trat ein und stupste meinen Wissenschaftler sacht gegen die Schulter. »Du bist wirklich gekommen. Ich glaub’s ja nicht.«
Ein winziges, schüchternes Lächeln umspielte die Lippen meines Schwarms. Wow! Die dunkle Wolke der Melancholie, die ihn normalerweise umgab, hob sich. Die tiefe Falte auf seiner Stirn verschwand, und mein Gott, er sah so gut aus.
»Was geht, Cora?«, fragte der andere. Natürlich klimperte sie prompt mit den Wimpern und beugte sich über den Tresen, bis er in ihren Ausschnitt starren konnte. »Hast du mir einen Platz freigehalten?«
»Hab ich doch versprochen.« Ihre Stimme war zuckersüß und verführerisch. Sie hob das Kinn. »Wen hast du denn da mitgebracht, Drew?«
Ich rückte näher. Endlich seinen Namen zu erfahren, war mir genauso wichtig wie der nächste Atemzug.
»Das ist mein Mitbewohner Aiden.«
Aiden.
Konnte ein Name sexy sein?
Definitiv.
»Ich musste ihn quasi herschleppen.« Drew senkte die Stimme, als könnten wir ihn dadurch nicht hören. »Er ist ziemlich verspannt.«
Aiden lachte auf. Gut möglich, dass der Boden unter mir erbebte. Oder vielleicht war ich es auch selbst. Verkatert weiche Knie zu bekommen, ist nicht gut fürs Gleichgewicht.
»Heißen Dank.« Aidens Stimme war ein leises Donnergrollen, in dem sich ein Anflug von Humor verbarg. »Ich würde ja alles abstreiten, aber ich fürchte, er hat irgendwie recht.«
»Oh, da kann ich helfen«, schnurrte Cora.
Oh nein, das kam überhaupt nicht infrage.
»Ich habe Zeit«, platzte es aus mir heraus.
Oh Gott, Aidens nachdenklicher Blick war zurück. Als er mich ansah, vergaß ich nicht nur meinen Namen, sondern wusste auch nicht mehr, was ich dachte oder sagen wollte. Ich blickte kurz zu Boden und strich mir mit zitternden Fingern durch die Haare, bevor ich mich zwang, ihn wieder anzuschauen. Ich hatte seine Aufmerksamkeit. Der Mann, von dem ich träumte, seitdem ich ihn im ersten Jahr im Gewächshaus bei Dr. Spielmans Pflanzen gesehen hatte, war hier. Ich hätte ihn damals beinahe angesprochen, doch ich war über und über mit Kompost bedeckt gewesen und hatte furchtbar gestunken. Und danach hatte mich jedes Mal der Mut verlassen. Er war immer sehr still, allein und wirkte distanziert. Aber nun war es so weit. Endlich. Ich musste ruhig bleiben.
Ich gab mir Mühe, meinem inneren Tommy die Führung zu überlassen. »Ich habe jetzt keinen Termin. Wenn du also nicht auf Cora warten willst …«
Ich spürte Coras wütenden Seitenblick, doch ihr Bekannter Drew nickte. »Klar, gute Idee. Hat ja keinen Sinn, eine Stunde rumzusitzen.« Erneut verpasste er Aiden einen Klaps. »Dann kommst du schneller hier weg und kannst dich in die Bibliothek verziehen, wie du es geplant hast.«
Beinahe war ich eifersüchtig auf Drews vertrauten Umgang mit Aiden. Doch gleichzeitig gierte ich nach weiteren Informationen über den süßen Typen, dem ich jetzt schon lächerlich lange hinterhersabberte.
Aiden schluckte und ließ die Hände in die Hosentaschen verschwinden. »Äh … Ja … Okay«, murmelte er.
Drew packte ihn lachend an der Schulter. »Kein Grund, nervös zu sein, Little A.«
Aiden riss die Augen auf, rollte die Schulter nach hinten und entwand sich damit dem Griff seines Kumpels. »Ich hasse es, wenn du mich so nennst«, knurrte er kaum hörbar.
Annabelle räusperte sich, befestigte zwei Blätter an einem Klemmbrett und hielt es Aiden hin. »Ich nehme an, du warst noch nie hier?«
»Nein, Ma’am. Noch nie.«
»Dann füll das hier bitte aus, und du …« Sie zeigte auf Drew. »Komm mir nicht auf komische Gedanken. Das CBD-Öl ist ausschließlich für medizinische Zwecke gedacht.«
Drew hob ergeben die Hände und schaute so übertrieben unschuldig, dass ich beinahe gelacht hätte.
»Keine Sorge«, flötete Cora. Sie öffnete die Tür zu den Behandlungsräumen und bedeutete Drew, ihr zu folgen. »Ich werde schon mit ihm fertig.«
Ich zappelte nervös, während ich darauf wartete, dass Aiden den Anamnesebogen ausfüllte. Ich hatte Angst, eine unausgesprochene Grenze zu überschreiten. Selbst wenn ich vorhatte, mich so professionell wie irgendwie möglich zu verhalten, fühlte ich mich zerrissen. Die Vorstellung, seinen Körper zu berühren, meinen Schwarm, diesen Fremden, nach dem ich mich schon so lange sehnte, war sowohl aufregend als auch beunruhigend. In mir kreisten all diese Gefühle, mit denen ich nichts anzufangen wusste, und ich hatte definitiv nicht das Recht, sie mit an den Behandlungstisch zu bringen. Ich kannte Aiden nicht, aber oh Gott, ich wollte ihn kennenlernen. Vielleicht sollte ich ihn doch auf Cora warten lassen. Auch Jodi würde bald auftauchen. Das wäre die richtige Entscheidung.
Ich kam zu dem Schluss, dass ich mich nicht wie der letzte Arsch benehmen konnte, und bückte mich unter dem Vorwand, einen Blick auf Annabelles Monitor zu werfen. »Ich kann den Kunden nicht übernehmen«, flüsterte ich ihr zu.
Annabelle zog eine Braue hoch und seufzte. »Will ich wissen, warum nicht?«
Ich wand mich und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«
»Warum hast du dann gesagt, dass du ihn drannimmst?«, zischte sie lauter als nötig. Aiden sah von den Unterlagen auf. Wenig elegant verschwand ich aus seinem Sichtfeld und hinter der Trennwand, die den Empfangsbereich vom Wartezimmer separierte. »Was treibst du denn da?«, fragte sie mit einem gezwungenen Lächeln.
Ich lehnte mich an die Wand und schloss die Augen. Gottverdammte Scheiße, ich war ein Rindvieh.
»Danke«, hörte ich Annabelle sagen und öffnete die Augen. »Setz dich schon mal. Chris holt dich gleich ab.«
Ich stöhnte kaum hörbar.