The Ice - John Kåre Raake - E-Book + Hörbuch
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The Ice E-Book

John Kåre Raake

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Beschreibung

Die junge Exsoldatin Anna Aune begleitet eine wissenschaftliche Expedition zum Nordpol. Eines Nachts wird der pechschwarze Himmel plötzlich von einem Notsignal erhellt, das von einer chinesischen Forschungsbasis ausgelöst wurde. Auf der Station erwartet Anna ein Szenario wie aus einem Albtraum: Alle Wissenschaftler des Labors wurden brutal ermordet und sind mit einer Eisschicht bedeckt. Bald wird klar, dass sie einem internationalen Machtkampf um arktische Ressourcen zum Opfer gefallen sind. Und Anna gerät mitten zwischen die eisigen Fronten ...

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Buch

Der Norweger Daniel Zakariassen, ein pensionierter Professor für Geowissenschaften, befindet sich auf einer Forschungsreise am Nordpol, um gemeinsam mit seiner Assistentin Anna Aune, einer ehemaligen Soldatin, die Umweltzerstörung durch den Klimawandel zu dokumentieren. Die beiden sehen während eines aufziehenden Schneesturms von ihrem Luftkissenfahrzeug aus plötzlich ein Leuchtsignal und nähern sich der chinesischen Forschungsstation. Dort angekommen erwartet die beiden ein albtraumhafter Anblick. Sie finden die Wissenschaftler tot und wie festgefroren vor, offensichtlich brutal hingerichtet. Aber von wem? Die Suche nach dem Mörder gerät angesichts der widrigen Wetterverhältnisse zu einem Wettlauf mit der Zeit …

Autor

John Kåre Raake ist einer der erfolgreichsten Drehbuchautoren Norwegens. Seine Filme wurden in mehr als 120 Länder verkauft und haben allein in Norwegen mehr als zwei Millionen Kinokarten verkauft. »The Ice« ist sein Debüt als Thrillerautor.

John Kåre Raake

The Ice

Der Kampf um den Nordpol hat begonnen

Thriller

Aus dem Norwegischen von Ulla Ackermann

Die norwegische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Isen« bei Gyldendal Norsk Forlag, Oslo. Dieses Buch wurde mit finanzieller Unterstützung von NORLA übersetzt.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2019

Copyright © der Originalausgabe 2019 by Gyldendal Norsk Forlag AS

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published in agreement with NORTHERNSTORIES

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Getty Images / Mlenny

Redaktion: Michael Lenkeit

AG · Herstellung: kw

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN: 978-3-641-24988-5V002www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Du weißt nicht, wer dein Freund oder dein Feind ist,bis das Eis bricht.

Sprichwort der Inuit

»Keine Nation besitzt das Vorrecht auf den Nordpol und dessen umliegende Gebiete, die Ressourcen der Arktis gehören allen Ländern. In China leben über eine Milliarde Menschen, ein Fünftel der Weltbevölkerung, und China wird all seine Macht einsetzen, um aktiv bei der Erschließung der Nordpolarregion mitzuwirken. Die derzeitigen Bestrebungen einzelner Länder, Hegemonieansprüche in der Arktis zu erheben, stellen eine ernsthafte Verletzung der Interessen der übrigen Staaten der Welt dar. Angesichts dieser neuen Wirklichkeit kann man schwer vorhersagen, wie sich der ›Krieg um die Arktis‹ entwickeln wird, aber die Stimmen aller Länder müssen gehört werden, auch die Chinas.«

Konteradmiral Yin Zhuo in einem Interview mit dem China News Service, Peking, 05. März 2010

Nordpol

November 2018

1

Allerheiligen

89º35'7" N – 037º22'9" W

Jeder Schritt brachte den Mann aus Xian dem Tod näher. Für arktische Verhältnisse war es nicht einmal kalt, nur zwanzig Grad unter null, doch in der vergangenen Stunde hatte der Nordwind aufgefrischt, und die Böen, die die Haut des Chinesen trafen, senkten die effektive Temperatur auf bis zu minus vierzig Grad.

Nordpolfahrer haben Temperaturen von minus fünfzig Grad und kälter überlebt, in zwei Schichten Wollunterwäsche, winddichter Oberbekleidung, Daunenhosen und Daunenjacken. Gai Zhanhai aber war praktisch nackt.

Außer einem karierten Holzfällerhemd, das um seinen mageren Oberkörper schlotterte, trug er nur eine dünne lange Unterhose mit einem Loch am linken Knie, grüne Adidas-Turnschuhe und eine Bärenfellmütze, die wenigstens seinen Kopf einigermaßen warm hielt.

Zhanhai wusste, dass er erfrieren würde, wenn er weiterlief, doch zugleich hielt er den Tod mit jedem Schritt auch auf Abstand.

Den Tod durch den Mann, vor dem er floh.

Zhanhai hatte kein Gefühl mehr in den Beinen. In extremer Kälte setzt der Körper Prioritäten und leitet das warme Blut von den Gliedmaßen zurück zum Herzen, um es am Schlagen zu halten. Doch die Beine des Chinesen hatten sich verselbstständigt. Sie ahnten Hindernisse instinktiv voraus und umrundeten oder übersprangen Eisbrocken, die der Auftrieb des Polareises an die Oberfläche gedrückt hatte. Und wenn Zhanhai im Schnee ausrutschte und zu fallen drohte, bewahrten sie intuitiv das Gleichgewicht.

Grüne Wellenbänder tanzten am Himmel. Ihr Licht reichte aus, um die Umgebung schemenhaft zu erkennen. Zhanhai hatte den Tag herbeigesehnt, an dem die dunkle Jahreszeit endete, sich danach gesehnt, das Eis im Sonnenschein baden zu sehen, am Nordpol zu stehen und die Landschaft um sich herum so zu erleben, wie sie ihm die Ausbilder im Trainingscamp der Chinese Arctic and Antarctic Administration auf Bildern gezeigt hatten.

Grüne Vorhänge fielen vom Firmament, und das Polarlicht leuchtete so kräftig, dass Zhanhai fürchtete, es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis sein Verfolger ihn in der flachen Ebene entdeckte. Unter der Bärenfellmütze sendete sein Gehirn einen Impuls an seine tauben Beine und veranlasste eine leichte Kurskorrektur Richtung Westen.

Während seiner Flucht durch die Polarnacht dachte Zhanhai nur an eines: seinen Verfolger weit genug aufs Eis hinauszulocken, damit er umkehren und zum Ausgangspunkt zurücklaufen konnte.

In die Wärme.

Ins Lager, zu den Waffen.

Gerade noch rechtzeitig bemerkte er den Salzgeruch. Im letzten Moment zwang er seine Beine, stehen zu bleiben, bevor sie ihn geradewegs in den Arktischen Ozean trugen.

Eine zehn Meter breite Rinne schnitt von Horizont zu Horizont einen schwarzen Kanal ins Eis. Der Riss war so frisch, dass sich auf der Wasseroberfläche erst eine dünne Frosthaut gebildet hatte. Eisnebel stieg vom pechschwarzen Nordpolarmeer auf und hüllte das Polarlicht in einen feuchten Dunst. Bereits in einer halben Stunde würde die Eisschicht auf der Rinne so dick sein, dass man sie mit Skiern überqueren könnte. Aber Zhanhai hatte weder Skier noch eine halbe Stunde. Das Einzige, was der Mann aus Xian hatte, war die Leuchtpistole, die zu seiner Verwunderung noch immer zwischen den kältestarren Fingern seiner rechten Hand steckte. Er drehte sich mit dem Rücken zur Rinne und hob den Arm so weit, dass die Mündung auf die Spuren zielte, die seine Adidas-Turnschuhe im Neuschnee hinterlassen hatten. Die Spuren, denen der Mann, der ihn jagte, folgen würde, um ihn zu finden. Zhanhais Blick glitt über die in die Höhe geschraubten Eisbrocken, die wie riesige graue Bonbons in der Landschaft verstreut lagen. Er konnte keine Bewegung erkennen.

Die Leuchtpistole zuckte heftig hin und her, so sehr zitterte er. Von seinen Ausbildern wusste er, dass sein Körper den Muskeltonus, der die äußeren Blutgefäße zusammendrückte, bald lockern und das warme Blut in seine eiskalten Arme und Beine zurückströmen würde. Dort kühlte es sofort ab, und wenn es zurück in sein Herz gelangte, würde es langsamer schlagen und weniger Blut in sein Gehirn pumpen. Kurz darauf würde sein Herz die Arbeit einstellen. Er würde anfangen zu halluzinieren. Der letzte Rest Blut, der unter seiner Haut zirkulierte, würde sich viel zu warm anfühlen. Er würde sich die Kleider vom Leib reißen.

Dann würde er sterben.

Zhanhai hörte das Platschen im selben Moment, als er in der Hoffnung, sein Verfolger könnte sich auf der falschen Fährte befinden, beschloss, seinen eigenen Spuren zurück zum Lager zu folgen. Hätte er diese Entscheidung nur wenige Sekunden früher getroffen, hätte ihn der Eisbär vielleicht nicht erwischt.

Nicht dass es am Ausgang etwas geändert hätte.

Ein ausgewachsener Eisbär kann streckenweise über dreißig Stundenkilometer schnell laufen. Wenn er mager und ausgehungert ist, sogar noch schneller. Und das junge Eisbärenweibchen hatte seit Wochen nichts gefressen.

Die gewaltige Pranke traf Zhanhai am Bein und zerriss seine lange Unterhose und die gefrorene Haut darunter zu Fetzen. Der Chinese stürzte zu Boden und drehte sich hilflos im Schnee. Er spürte weder die Kälte noch die spitzen Eiskristalle, die sich in sein Gesicht bohrten. Unwichtige und energieerfordernde Sinneswahrnehmungen wie diese hatte sein Körper längst eingestellt. Doch den Rachen, der sich vor seinen Augen öffnete, registrierte er. Vier lange Eckzähne. Eine Reihe scharfer, kleiner Zähne. Eine bläuliche Zunge. Seinen Sehnerven gelang es gerade noch, diese Informationen ans Gehirn zu senden, bevor die Eisbärin ihr Gebiss um den Kopf des Chinesen schloss. Zhanhais Schädel platzte, und sein Hirn spritzte auf das Eis.

Mit seinen letzten Regungen schickte das Rückenmark Milliarden ungeordneter Signale in die Nervenbahnen von Zhanhais Körper. Eines dieser Signale gelangte bis in eine Fingerspitze seiner rechten Hand.

Zhanhai war bereits tot, als der Finger zuckte und den Abzug betätigte. Der Bolzen der Leuchtpistole schlug gegen das Anzündhütchen der Signalpatrone, das Treibladungspulver explodierte, und der Gasdruck schoss die Munition aus der Mündung.

Auf ihrem Weg in den Himmel versengte die Leuchtrakete das Fell der Eisbärin, die daraufhin von Zhanhais zerquetschtem Kopf abließ und in die Rinne floh. Das Tier tauchte ins Wasser und brach dabei ein Loch in die Eiskruste, die sich in der Zwischenzeit gebildet hatte. Die Wellen schoben die Schollen gegen die Kante der Rinne, wo sie augenblicklich festfroren.

Hoch oben am Himmel schwebte die brennende Leuchtrakete an ihrem Fallschirm. Ihr roter Lichtschein verwandelte die Eislandschaft, in der Zhanhais malträtierter Körper lag, in eine flüchtige Vision der Hölle.

2

89º33' N – 037º43' W

»Scheiße!«

Anna Aune setzte sich im Bett auf. Ihr linker Arm fühlte sich an wie eingefroren. Er war aus dem Schlafsack gerutscht und hatte direkt an der Außenwand des Luftkissenbootes Sabvabaa gelegen, die aufgrund der Luft, die durch die schlecht abgedichteten Fensterfugen in die Kabine drang, immer eiskalt war. Eigentlich hätte sie die Dichtung schon längst auswechseln müssen, doch wenn das nächste Materiallager achthundert Kilometer entfernt lag und die einzige Beschaffungsmöglichkeit ein eigens zu diesem Zweck angefordertes Transportflugzeug aus Norwegen war, welches das benötigte Ersatzteil mit einem Fallschirm abwarf, gestaltete sich die Umsetzung eines solchen Vorhabens nicht gerade leicht. Da war es einfacher, so gut es eben ging, mit beiden Armen im Schlafsack zu schlafen. Anna steckte die Hand unter ihre Superfunktionsunterwäsche. Unter der klammen Haut pochte ihr Herz gegen ihre Finger. Der tägliche Medizincheck: Anna Aune lebte noch. Sie schaute auf die Leuchtzeiger ihrer Armbanduhr – 23:13. Anna hatte keine Ahnung, was sie geweckt hatte oder wann sie ins Bett gegangen war. Ohne natürliches Licht als Orientierungshilfe gingen die Tage am Nordpol konturlos ineinander über.

Sie gähnte und blickte durch die Eisblumen am Fenster. Auf der Scheibe spiegelte sich der schemenhafte Umriss ihres ausgestreckten Körpers, der in dem engen Schlafsack einer Raupe ähnelte. Am Himmel leuchtete ein roter Stern. Ungewöhnlich groß, dachte Anna. Eine Supernova. Sie blinzelte und rieb sich die Augen. Der Stern strahlte unverändert. Um besser sehen zu können, presste Anna die Nase gegen die Scheibe und hielt die Luft an, damit der warme Atem aus ihrer Lunge nicht zu einer weiteren Eisschicht am Fenster gefror. Da entdeckte sie etwas über dem roten Stern. Weißen Rauch und einen Fallschirm. Das war kein sterbender Stern.

Das war eine Leuchtrakete. Der Anblick pumpte Adrenalin in ihr Blut.

Sie wusste nur allzu gut, was ein solches Notsignal in der Regel bedeutete.

Gefahr.

Tod.

All das, wovor sie zu fliehen versucht hatte.

Anna blieb reglos liegen. Sie hörte deutlich, wie der Wind um die Antennen auf dem Dach des Luftkissenbootes pfiff, klammerte sich jedoch an die Hoffnung, sie könnte immer noch schlafen, mitten in einem hyperrealistischen Traum stecken und nur noch nicht realisiert haben, dass sie träumte. In der arktischen Stille mit ihrem Mangel an Sinneseindrücken waren die Träume zurückgekehrt.

Eigentlich hatte sie keine Lust, Daniel Zakariassen zu wecken, aber als sie den Schein der Leuchtrakete lange genug betrachtet hatte, um sicher zu sein, dass sie keine Täuschung war, übernahm ihr Instinkt.

»Daniel, du musst aufwachen!«, hörte sie sich rufen.

Zakariassen, der auf der anderen Seite des Vorhangs schlief, mit dem sie die Kabine nachts unterteilten, grunzte leise. Sein Bett knarrte, als er sich umdrehte. Der alte Mann besaß einen außergewöhnlich tiefen Schlaf.

Anna zog den Vorhang zur Seite und ging an dem Arbeitstisch vorbei, auf dem drei Laptops leise surrend die Daten der Messinstrumente verarbeiteten, die sie unter dem Eis positioniert hatten.

»Daniel, am Himmel ist eine Leuchtrakete!«

Anna rüttelte Zakariassen, der zusammenzuckte und sich aufsetzte. Kampfergeruch stieg ihr in die Nase. Zakariassen schwor zur Vorbeugung gegen Erkältungen auf Kampferöl, auch wenn sie die einzigen Viren, die es hier gab, selbst eingeschleppt hatten.

»Was ist los?«, fragte er verschlafen.

»Am Himmel ist eine Leuchtrakete«, wiederholte sie.

»Eine Leuchtrakete?«

Sein Tonfall klang weniger hochgestochen als üblich. Zakariassen war ein waschechter Tromsøer Junge, aber über die Jahre hatte er die trockene, theoretische Sprache der Wissenschaft übernommen.

Anna trat an das große Fenster im vorderen Teil der Kabine. Das rote Leuchtsignal am Himmel war zwar gesunken, aber immer noch deutlich zu sehen.

»Die Position, hast du die Position ermittelt?«, rief Zakariassen.

»Nein.«

Daniel Zakariassen zwängte sich an ihr vorbei und wischte das Kondenswasser von dem großen Kompass auf dem Armaturenbrett. Er murmelte irgendetwas, das sie nicht verstand.

»Die Entfernung«, wiederholte er. »Wie weit ist die Leuchtrakete von uns entfernt?«

Anna versuchte, die Distanz zu berechnen. Das Licht schwebte direkt über einer Gruppe zusammengefrorener Presseishügel, die sich vor zwei Wochen gebildet hatte. In einer Tasche unter ihrem Bett lag ein Fernglas mit Entfernungsmesser, aber bis sie es geholt hatte, war die Leuchtrakete vermutlich erloschen. Sie behalf sich mit einem einfachen Pfadfindertrick.

Anna kniff ihr rechtes Auge zu, streckte den Arm aus und peilte mit dem Daumen die Kuppe der Eismasse an. Als sie das Auge wechselte, bewegte sich der Daumen in ihrem Blickfeld zwei Hügelspitzen weiter nach links. Sie schätzte die Entfernung zwischen den beiden Kuppen auf ungefähr vierhundert Meter. Der Trick bestand darin, diesen Wert mit zehn zu multiplizieren.

Die Presseishügel lagen also vier Kilometer entfernt. Das Leuchtsignal schien noch etwas dahinter zu schweben.

»Mindestens vier, vielleicht fünf Kilometer«, sagte sie.

Obwohl sie ihre eigene Stimme hörte, hatte Anna das Gefühl, außerhalb ihres Körpers zu stehen. Sie wollte nur zurück ins Bett, sich den Schlafsack über den Kopf ziehen und weiterschlafen.

Zakariassen holte einen kleinen Koffer hervor und nahm ein Gerät heraus, das an eine altmodische Videokamera erinnerte.

»Vielleicht kann ich was mit der Wärmebildkamera entdecken.« Er schaltete das Gerät an und blickte hindurch. Auf dem kleinen Display zeichnete sich die dunkle Eislandschaft als bläuliche Konturen ab. Nur die Leuchtrakete stach signalrot hervor. Zakariassen schwenkte die Kamera über das Eis, doch kein weiteres Objekt strahlte Wärme ab. Er legte die Kamera in den Koffer zurück und setzte sich vor einen der Computer.

Als er seine Brille in die Stirn schob, vergrößerten die Gläser seine tiefen Falten. Auf dem Monitor erschien eine Karte des Nordpols. Zakariassens dürre Finger glitten über die Tastatur, und in der weißen Landschaft erschienen Zahlen.

»Fünf Kilometer, 89 Grad … 35 Minuten, 7 Sekunden nördliche Breite. 37 Grad … 22 Minuten, 9 Sekunden westliche Breite. Das kann nicht stimmen, nach meinen Angaben ist da niemand.«

In ihrem früheren Beruf hatte Anna gelernt, immer gründlich über den Ort informiert zu sein, an dem ein möglicher Krieg stattfinden konnte. Das Gelände zu kennen. Jederzeit auf Feindbegegnung gefasst zu sein. Jederzeit eine Möglichkeit zum Angriff zu haben, oder zum Rückzug.

Zakariassen hatte recht, an der Position, von der die Leuchtrakete abgeschossen worden war, sollte niemand sein. Das bedeutete, dass die Person, die dafür verantwortlich war, von dem einzigen Ort in einem Umkreis von mehreren hundert Meilen kommen musste, an dem sich, soweit sie wusste, Menschen aufhielten.

Sie holte Luft. Das mussten die Chinesen sein.

3

»Der Eisdrache«, sagte Anna unnötig laut. »Die Leuchtrakete muss in der Nähe des Eisdrachen abgeschossen worden sein. Die Richtung stimmt. Die chinesische Forschungsstation liegt sieben oder acht Kilometer nördlich von uns.«

Anna blickte aus dem Fenster. Die Leuchtrakete sank hinter den Eishügeln langsam zu Boden und färbte den Horizont tiefrot. Blut auf Eis. Sie hatte solche Signale schon häufiger gesehen. Über einer fremden Stadt, einer Hochebene, einem Gebirge unter einem fernen Himmel. Und es kündigte immer das Gleiche an.

Kriege kommen in vielen Verkleidungen.

Dieser begann mit einem gut gemeinten Vorschlag an einem Siebzigerjahre-Küchentisch mit Aussicht auf den Tromsø-Fjord.

»Es muss doch Hunderte Studenten geben, die sich für eine Nordpolexpedition melden«, wandte Anna spontan ein, nachdem ihr Vater Johannes Aune gesagt hatte, sie könne die geeignete Begleiterin für Daniel Zakariassen sein.

»Jaaa«, erwiderte ihr Vater gedehnt. »Die Leute waren ganz wild darauf, und Daniel hat auch mit vielen Bewerbern gesprochen, aber bei jedem passte ihm irgendwas nicht. Daniel ist … ein bisschen speziell. Außerdem könnte das auch für dich gut sein, Anna.«

Sie hatte es nicht über sich gebracht, ihren Vater zu fragen, weshalb er meinte, dass es seiner einundvierzigjährigen Tochter so unglaublich guttäte, neun Monate mit einem dreiundsiebzig Jahre alten Sonderling und Witwer, den sie seit fünfzehn Jahren weder gesehen noch gesprochen hatte, auf einer Eisscholle über den Nordpol zu treiben.

Johannes Aune und Daniel Zakariassen waren in Tromsø in derselben Straße aufgewachsen. Schon damals war Daniel ein heller Kopf und hatte Mitschülern Nachhilfe gegeben, die in der Schule hinterherhinkten, darunter auch Annas Vater, der seine Norwegischnote verbessern musste, um an der Berufsschule eine Ausbildung zum Mechaniker machen zu können. In Johannes Aune stieß Daniel auf jemanden, der ein Naturtalent für alles besaß, was mit Motoren und Technik zu tun hatte, wodurch sich zwischen dem Theoretiker und dem Praktiker im Laufe der Jahre eine enge Freundschaft entwickelte. Der Wissenschaftler bat Johannes um Hilfe, wenn er ein Forschungsinstrument bauen musste, und Johannes erschien mit einer Plastiktüte voller Quittungen bei Daniel, wenn die Steuererklärung anstand. Es war Johannes gewesen, der die Nordpolexpedition als krönenden Abschluss einer ansonsten anonym verlaufenden Wissenschaftskarriere vorgeschlagen hatte.

»Daniel braucht das«, hatte ihr Vater gesagt und mit seinen nikotingelben Fingerspitzen über das alte Kartenspiel gestrichen, mit dem er in der Zeit, als es noch kein Frühstücksfernsehen gab, immer Patiencen gelegt hatte. »Du weißt doch, seit Solveig tot ist … hat er nichts.«

»Papa, ich bin keine Therapeutin.«

Johannes Aune stand auf, holte zwei der zerbrechlichen Kaffeetassen, die Annas Mutter von ihrer russischen Großmutter geerbt hatte, und nahm die Kanne aus der stark beanspruchten Kaffeemaschine.

»Es eilt ein bisschen, musst du wissen. Gestern hat der letzte Sponsor zugesagt, den Daniel noch brauchte, um loszulegen. Fast drei Millionen norwegische Kronen von einem Schweizer Forschungsinstitut. Allerdings wollen sie, dass er sofort aufbricht … Daniel ist Theoretiker, mit Zahlen und Fakten kennt er sich aus, er braucht jemanden, der auf ihn aufpasst. Und du hast schließlich schon mal die eine oder andere Winternacht im Freien verbracht«, argumentierte Johannes, während er ihnen einschenkte.

»Ehrlich gesagt habe ich schon lange keine Winternacht mehr im Freien verbracht, ich kann die Kälte nicht mehr leiden«, erwiderte Anna und trank einen Schluck von dem bitteren Kaffee. Die gelbe Packung von Coop war die Lieblingssorte ihres Vaters.

»Ja, aber du warst in der Armee … Diese ganzen Militärübungen, an denen du hier oben teilgenommen hast. Da weißt du doch, wie man unter arktischen Bedingungen überlebt.«

Für einen kurzen Moment lag Anna der ironische Kommentar auf der Zunge, ihre Stärke sei eher, dafür zu sorgen, dass andere nicht überlebten, doch sie schluckte ihn hinunter. Ihr Vater meinte es nur gut. Es waren auch für ihn zwei harte Jahre gewesen, nachdem ihn ein Anruf vom Spezialkommando der norwegischen Streitkräfte aus dem Rena-Militärcamp mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen hatte und man ihm mitteilte, seine Tochter sei bei Kampfhandlungen in Syrien schwer verletzt worden.

Eine Stunde später hatte er in einem schwarzen Wagen mit dem Hoheitszeichen der norwegischen Streitkräfte gesessen. Auf dem Weg zum Tromsøer Flughafen hatte der Fahrer auch noch Annas Halbschwester Kirsten abgeholt, die mit ihrem Mann und drei Kindern in der Nähe lebte.

Ein Jet, der normalerweise für den Oberbefehlshaber der norwegischen Streitkräfte, den Staatsminister oder den König reserviert war, flog sie zu einem Militärflugplatz in Deutschland, von wo sie ein Hubschrauber der Luftwaffe zum US-Militärkrankenhaus in Landshut brachte. Als ihr Vater und ihre Schwester ihr Zimmer betraten, lag Anna bewusstlos im Bett. Man hatte sie in ein künstliches Koma versetzt, um ihrem Körper Zeit zu geben, sich von drei Herzstillständen im Verlauf von zwei Operationen zu erholen. Die Ärzte teilten ihnen mit, ein kraftvolles Projektil habe Annas Körper von der Schulter bis zum Hüftknochen durchbohrt.

Nachdem sie eine Woche lang an ihrem Bett gewacht hatten, ohne dass Anna zu Bewusstsein kam, musste Kirsten zurück nach Norwegen, sie hatte eine Familie und ein Buchhaltungsbüro, um das sie sich kümmern musste. Ihr Vater blieb insgesamt zwei Monate im Landshuter Krankenhaus. Zu Hause in Tromsø sorgten drei Angestellte dafür, dass seine Werkstatt reibungslos weiterlief.

Zwei Wochen nach ihrer Ankunft im Militärkrankenhaus weckten die Ärzte Anna aus dem künstlichen Koma.

»Yann ist tot«, waren die ersten Worte, die sie zu ihrem Vater sagte. Johannes weinte vor Freude, weil seine Tochter überlebt hatte. Anna weinte aus demselben Grund, aber aus Bedauern.

Einen Monat später schob Johannes seine Tochter im Rollstuhl in den Empfangsbereich des Sunnaas Hospitals, einer Rehaklinik auf Nesodden außerhalb von Oslo. Nach weiteren zwölf Wochen qualvoller Therapiemaßnahmen konnte Anna wieder laufen. Noch am selben Tag ließ sie sich per Taxi zum Hafen bringen und fuhr mit der Nesodd-Fähre nach Oslo. Von der Station Aker Brygge ging sie einige hundert Meter zu einem anonymen Bürogebäude und traf sich dort mit Victoria Hammer, der Frau, die sie vor vielen Jahren für eine geheime Abteilung innerhalb der norwegischen Streitkräfte rekrutiert hatte. Victoria versuchte Anna zu überreden, ihren Job nicht zu kündigen. Ohne Erfolg.

Seitdem wohnte Anna in ihrem alten Kinderzimmer. Und in der Küche ihres Elternhauses hatte sie schließlich doch noch eingewilligt, an Daniel Zakariassens Expedition teilzunehmen. Allein, um keine Entscheidung treffen zu müssen. Um sich keine weiteren Überredungsversuche und gut gemeinten Ratschläge anhören zu müssen. Um nicht in die Welt zurückkehren und ein neues Leben beginnen zu müssen. Zakariassens Luftkissenboot würde mit dem Meereis Richtung Nordpol driften. Es würde sie weit forttreiben – von allem.

Anna betrachtete ihre Reflexion in der Fensterscheibe. Ihr dunkler Pony hing ihr wie ein schlaffer Waschlappen in die Stirn. Ihr Gesicht war bleich, die Augen schwarze Löcher. Die Wangenknochen warfen lange Schatten. Sie sah aus wie ein Vampir mit akutem Eisenmangel.

Im Lautsprecher des Funkgeräts knackte es. »This is ice drift station Fram X calling ice drift station Icedragon … over!« Zakariassen beugte sich über das Mikrofon. Er sprach langsam und artikuliert, hielt das Prozedere für Funkmeldungen ein. Sein Englisch klang wie aus einem Thor-Heyerdahl-Dokumentarfilm. Abgehackte Wörter, völlig tonlos.

»Hier spricht das Luftkissenboot Sabvabaa. Die norwegische Fram-X-Expedition ruft die Eisdrachen-Forschungsstation, können Sie uns hören … over?«

Polarlichter überzogen die Spiegelung von Annas Gesicht mit einem grünen Schimmer. Sie tanzten in den kosmischen Winden, die aus dem Weltall herabfegten. Der Funkverkehr wurde schon die ganze Woche durch ungewöhnlich starke Sonnenstürme beeinträchtigt.

Die Tromsøer Universität hatte Zakariassen zwar schon nach den ersten Tagen informiert, dass aufgrund der Sonnenstürme mehrere Satelliten ausgefallen waren. Doch als dann sein Wochenbericht an die Sponsoren aus dem Weltraum zurückkatapultiert wurde, hatte der Professor seine Hand wütend und höchst unwissenschaftlich auf den Computerbildschirm geschlagen. Server not found.

»Die Fram-X-Expedition ruft den Eisdrachen, können Sie uns hören, over?«

Zakariassen lauschte auf das Knacken im Lautsprecher. »Die Fram-X-Expedition ruft den Eisdrachen, können Sie uns hören, over?«, wiederholte er.

»Ich funke Boris an«, sagte Anna.

4

»Wir bekommen auch keinen Kontakt zum Eisdrachen«, sagte Boris.

Die tiefe Baritonstimme des Russen erklang und verschwand im Takt mit dem flackernden Polarlicht. In Annas Kopf rief die Stimme das Bild eines untersetzten, korpulenten Mannes hervor, der in einem winzigen, abgeschotteten Kabuff saß.

»Gibt es ein Problem?«, fragte sie.

»Nicht bevor Sie angerufen haben, Anna«, antwortete er und lachte laut.

»Die Chinesen haben kein Mayday abgesetzt …« Anna formulierte ihren Satz bewusst als Feststellung. Sie hoffte, dass Boris erwiderte, er würde sich darum kümmern, weil die Sache in den Zuständigkeitsbereich der russischen Behörden fiele.

Boris war Meteorologe und auf einer russischen Wetterstation auf der Taimyr-Halbinsel nördlich von Sibirien stationiert, dem nördlichsten Punkt Russlands. Boris und sie wechselten täglich ein paar Worte über Funk, wenn er seine Wetter- und Eisberichte schickte. Eigentlich war das nicht nötig, sie bekam die Satellitenbilder und die Berichte per E-Mail, aber Boris redete gern.

Als er erfuhr, dass Anna sich für klassische Musik interessierte, ein Erbe ihrer Mutter, die Filmmusik geliebt und Klavier gespielt hatte, wurde er noch eifriger und meinte, Anna müsse unbedingt einmal in seine Heimatstadt Sankt Petersburg kommen. Er bot ihr an, ihr die Stadt zu zeigen und mit ihr in Konzerte, Opern- und Ballettaufführungen zu gehen. Hin und wieder fragte sie sich, wie ein Mann mittleren Alters aus Sankt Petersburg mit einem Faible für die guten Seiten des Lebens auf einem der abgelegensten Militärstützpunkte Russlands gelandet war. Hatte der Lebemann und Connaisseur eine Affäre mit der Frau des Universitätsdirektors gehabt? Gelder unterschlagen? Kleine Jungen missbraucht? All diese Szenarien gingen Anna durch den Kopf, weil sie sich selbst an einen Ort verbannt hatte, der nirgendwo verzeichnet war, da das Eis nie lange genug still lag, um auf einer Karte fixiert zu werden.

Daniel streckte die Hand nach dem Satellitentelefon aus. Anna reichte ihm den Hörer.

»Haben Sie mit der CAA gesprochen?«, fragte Zakariassen.

Boris lachte nicht mehr.

Die Chinese Arctic and Antarctic Administration stand bei den Russen nicht hoch im Kurs. Obwohl China nicht an den Nordpol grenzte, hielt das die Chinesen nicht davon ab, Anspruch auf die Bodenschätze unter dem Eis zu erheben. Zur Untermauerung dieses Anspruchs schickten sie in regelmäßigen Abständen ihren Eisbrecher Schneedrache, oder Xue Long, wie sein chinesischer Name lautete, an den Nordpol und provozierten die Russen, indem sie den feuerroten Stahlkoloss direkt über der Fahne ankern ließen, die eine russische U-Boot-Mission am geografischen Nordpol in den Meeresboden gerammt hatte.

»Die Chinesen sind genauso von den Sonnenstürmen betroffen wie wir, aber die Yellow River Station auf Spitzbergen hatte mit dem Kommandanten des Eisdrachen noch vor ein paar Stunden Kontakt. Die Verbindung war hundsmiserabel. Sie wollen noch ein wenig abwarten.«

Anna blickte hinaus. Tiefschwarze Finsternis umgab sie von allen Seiten. Die Leuchtrakete war für immer erloschen.

»Wer weiß, vielleicht war es auch nur ein Versehen. Vielleicht haben die Chinesen sich im Kalender verguckt, geglaubt, es sei Neujahr, und ein Feuerwerk veranstaltet. Shiiit happens«, sagte Boris.

Es war später Abend und Boris’ Baritonstimme träge von Wodka. Sein Englisch klang wie eine dissonante Mussorgsky-Symphonie, eine Mischung aus Genialität und trunkenem Wahn.

»Das war kein Feuerwerk! Können Sie einen Hubschrauber schicken?«, schrie Anna, damit Boris sie durch das Rauschen in der Leitung verstand.

»Ja, falls der Wind morgen abflaut – und die Chinesen eine Anfrage senden.«

»Wie sieht die Wettervorhersage aus?«

»Nooot good … Windgeschwindigkeiten von bis zu zwanzig Metern pro Sekunde. Vereinzelte Orkanböen.«

Zakariassen drückte den Hörer ans Ohr, um zu signalisieren, dass er jetzt das Reden übernahm. »Hier ist der Sturm noch nicht so stark«, wandte er ein.

Boris’ Lachen drang durch das Knistern in der Leitung. »Okay, rufen Sie mich in zwei, drei Stunden wieder an, dann werden wir ja sehen, wer recht hat.«

»Mit der Sabvabaa schaffen wir es problemlos in zwei Stunden zum Eisdrachen«, sagte Zakariassen mit entschlossener Stimme, nachdem Boris die Verbindung beendet hatte. »Wir sind die Einzigen, die den Chinesen helfen können, falls sie Schwierigkeiten haben.«

»Woher willst du wissen, ob das Boot dem Sturm standhält?«, fragte Anna, schaltete die Dachscheinwerfer der Sabvabaa ein und richtete sie auf die Wetterstation, die auf dem Eis stand. Der Propeller, mit dem sie die Windgeschwindigkeit maßen, rotierte.

»Die Sabvabaa hat schon mal einen kompletten Winter im Eis verbracht. Ihr Rumpf wurde speziell für arktische Gebiete konzipiert«, erwiderte Zakariassen.

»Die Amerikaner sind von ihrer Basis auf Thule schneller mit einem Hubschrauber vor Ort als wir.«

Zakariassen musste zugeben, dass Annas Einwand berechtigt war, doch als er endlich eine Verbindung zum Wachhabenden auf der 821 Air Base Group an der grönländischen Westküste hergestellt hatte, erhielt er dieselbe Rückmeldung wie von Boris. Die Chinesen mussten offiziell um Hilfe bitten, wenn auf ihrer Basis eine Notsituation vorlag. Und darüber hinaus ließen die momentanen Wetterverhältnisse ohnehin keine Hilfe zu. Selbst wenn die amerikanischen Rettungshubschrauber zum Nordpol aufbrächen, hätten sie keine Möglichkeit, in dem aufziehenden Sturm zu landen.

Bevor er die endgültige Entscheidung zum Aufbruch traf, rief Zakariassen den Eigentümer der Sabvabaa an: das Nansen Environmental and Remote Sensing Center in Bergen. Der Institutsleiter teilte Annas Besorgnis hinsichtlich des angekündigten Sturms, räumte der Pflicht zur Hilfe in einer Notsituation aber Priorität ein und gab Zakariassen die Erlaubnis loszufahren. Während der Professor den Motor des Luftkissenbootes anließ, zog Anna sich hinter dem Vorhang an – eine geblümte Picknickdecke, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Die Sabvabaa vibrierte im Takt des stotternden Motors. Als Anna sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht strich, kam an ihrer Wange eine schmale Narbe zum Vorschein. Die Narbe setzte sich in Richtung einer größeren verheilten Verletzung fort, die vom Hals abwärts verlief und unter ihrem Wollpullover verschwand. Ihr rechtes Ohrläppchen fehlte. Die Narben stammten von der Kugel, die sie in Syrien fast getötet hätte.

Rasch schlüpfte Anna in ihre Thermounterwäsche und streifte eine weitere Kleidungsschicht darüber. Sie schob den Vorhang zur Seite und sah, dass Zakariassen auf dem Weg zur Luke war.

»Ich fange an, draußen klar Schiff zu machen. Komm nach, wenn du so weit bist!«, rief er und drückte die Luke auf. Augenblicklich pfiff der Wind in die Kabine, und die Temperatur sank schneller als ein Bleilot auf den Meeresgrund. Zakariassen knipste seine Stirnlampe an und kletterte in das Schneegestöber hinaus.

Die Kabine war so niedrig, dass Anna aufpassen musste, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Mit einem langen Schritt erreichte sie ihren Überlebensanzug, der an einem Haken über einem Spirituskocher und einem Wasserkocher hing. Neben dem Spirituskocher stand ein Samowar. Ein filigran verzierter russischer Teebereiter. Eigentlich war er viel zu groß für die kleine Kabine, aber er war ein Abschiedsgeschenk gewesen, das Anna nicht hatte ablehnen können. Sie hatte ihn von Galina bekommen, einer Russin, die Johannes angestellt hatte, als er anfing, in dem großen Schweizer Haus mit der schönen Lage am Tromsø-Fjord Zimmer an Touristen zu vermieten.

»Mein Vater hat während seiner Zeit als Schaffner bei der Transsibirischen Eisenbahn mit einem Samowar immer Tee für die Passagiere gekocht. Nichts hilft so gut gegen Kälte wie starker, süßer Tee«, hatte Galina am Flughafen gesagt, bevor sie Anna einen Kuss auf jede Wange drückte und ihr zum Abschied hinterherwinkte.

Nach drei Wochen am Nordpol stimmte Anna ihr zu. Nichts brachte den Körper so sehr auf Trab wie dampfender Tee mit rauen Mengen Zucker. Aber der Tee musste warten. Sie zwängte sich in ihren Überlebensanzug mit Reflektoren im Brustbereich und an den Knien und schlüpfte in ein Paar blaue Moonboots. Der Nordpol war kein Ort für Modeliebhaber.

Stille umgab sie. Abgesehen vom Brummen des Motors waren nur ihr Atem und das Quietschen ihrer Sohlen auf den Holzdielen der Kabine zu hören.

Als Anna die Luke öffnete, biss ihr der scharfe Polarwind unbarmherzig ins Gesicht.

Der Sturm war im Anmarsch.

5

Zakariassen stand ein Stück weiter draußen auf dem Eis. Er holte gerade die Kabel ein, an denen die wissenschaftlichen Messinstrumente hingen, derentwegen sie am Nordpol waren. Oder genauer gesagt: derentwegen Professor Daniel Zakariassen am Nordpol war.

Der Großteil ihres Equipments hing an langen Kabeln Tausende Meter tief in der arktischen See. Hochsensible Sensoren fingen unter Wasser die Laute von Robben oder die Echolaute einer Weißwalherde auf, die nach einem Atemloch im Eis suchten. Weitere Messgeräte baumelten in den unsichtbaren Autobahnen des Arktischen Ozeans, den Meeresströmungen unter dem Eis. Bei der ersten Auswertung der Messdaten hatte Zakariassen nicht lange gebraucht, um festzustellen, dass die Wassertemperatur gestiegen, der Salzgehalt jedoch gesunken war.

Das Schmelzwasser des Polareises mache das Meer deutlich süßer und schwäche das Strömungssystem, das normalerweise kaltes Wasser von Norden zum Äquator transportiere, wo es verdampfe und dadurch die Atmosphäre abkühle, erklärte er Anna. So dagegen führe es zu einem Temperaturanstieg, auch über dem Nordpol. Und als Folge dieser Erwärmung begänne nun das eigentliche Rückgrat des Nordpols zu schmelzen – das alte, harte Kerneis, das Jahrtausende überdauert habe.

»Deine Kinder werden mit großer Wahrscheinlichkeit seit drei Millionen Jahren die Ersten sein, die ohne Eis am Nordpol aufwachsen«, hatte Zakariassen eines Abends geseufzt, nachdem er seinen ersten Beitrag in den Blog der Fram-X-Expedition gestellt hatte.

»Wie gut, dass ich nicht vorhabe, Kinder zu bekommen«, hatte sie erwidert.

Anna schloss die Luke, überquerte gegen den Wind gestemmt das Deck der Sabvabaa und sprang aufs Eis hinunter. Zakariassen winkte sie zu sich.

»Ich muss nur noch kurz was erledigen«, rief Anna. Ihre Worte wurden vom Wind davongetragen, doch Zakariassen schien sie gehört zu haben, denn er gestikulierte wild mit den Armen.

»Nein, wir müssen sofort los, bevor der Sturm richtig anfängt.«

Anna ignorierte seinen Protest, passierte mit raschen Schritten den großen Heckpropeller der Sabvabaa und verschwand in der Dunkelheit. Sie ließ sich vom Lichtschein ihrer Stirnlampe an den Stäben entlangführen, die in regelmäßigen Abständen im Eis steckten. Zwischen den Stäben verliefen fast unsichtbare Drähte, die auf den Stabspitzen befestigte Leuchtsignale auslösten, falls ein ungebetener Gast über sie stolperte. In dieser Ecke der Welt war das in der Regel ein Eisbär.

Der Lichtschein ihrer Stirnlampe fiel auf eine Erhebung. Anna trat näher und kniete sich auf den Boden. Sie zog ihre Handschuhe aus und hauchte warme Luft auf ihre vor Kälte starren Finger. Anschließend wischte sie den Schnee von dem Eisblock, den sie am Morgen hierhergeschafft hatte. Heute war der erste November, der Tag der Toten. Allerheiligen. Unter der Schneedecke kam eine im Eis eingefrorene Fotografie zum Vorschein.

Das Bild eines Mannes.

Der Mann stand unter einem blauen Himmel, er hatte ein sonnengebräuntes Gesicht und große Augen, von denen Lachfältchen abstrahlten. In seine dunklen Locken mischte sich an den Schläfen die eine oder andere graue Strähne, die verriet, dass der Mann womöglich älter war, als er aussah. Er trug eine hellblaue Jacke, und auf seiner Brust hing ein unleserlicher Ausweis.

Anna zog einen Gegenstand aus dem Schnee, ein Grablicht. Es war erloschen. Der Schnee musste durch die Luftlöcher im Deckel gedrungen sein und die Flamme erstickt haben. Anna kippte den Schnee aus und zündete den Docht mit ihrem Zippo-Feuerzeug an, auf dem ein Dolch mit Flügeln eingraviert war. Als die Kerze brannte, grub sie bis hinunter zur Eisfläche ein Loch in den Schnee und stellte das Grablicht hinein. So war es vor Wind geschützt.

Anna blieb sitzen und betrachtete das Bild. Die Kerzenflamme verlieh dem Mann einen Glorienschein. Das flackernde Licht machte seine Augen lebendig. Der Mann hieß Yann Renault. Er und Anna waren seit fast einem Jahr ein Paar gewesen, als Yann während eines Einsatzes für Ärzte ohne Grenzen in Syrien von IS-Kämpfern entführt worden war. Es hätte für sie beide ihr letzter Einsatz sein sollen. Danach hatten sie zusammen in das französische Dörfchen Seillans in den provenzalischen Alpen ziehen wollen, wo Yanns Eltern einen kleinen Gasthof betrieben. Ihr Plan war gewesen, den Gasthof zu übernehmen, wenn Yanns Eltern in Rente gingen. Aber willst du die Götter zum Lachen bringen, erzähl ihnen von deinen Plänen.

Yann Renault wurde auf dem Friedhof in Seillans beerdigt, während Anna in dem Militärkrankenhaus in Deutschland lag. Für die Welt war Yann Renault ein Held, der sich für seine Mitgeiseln geopfert hatte. Nur wenige Menschen wussten, dass es Anna Aune gewesen war, die die Geiseln gerettet hatte. Und kaum einer wusste, was wirklich geschehen war, als Yann getötet wurde.

Anna schob den steifen Ärmel ihres Überlebensanzugs hoch und sah auf die Uhr. Der Zeiger bewegte sich von der Zwölf fort. Allerheiligen war vorüber. Den Verstorbenen war gedacht worden. Die Weltenmaschinerie drehte sich weiter.

Als Anna zurück in die warme Kabine der Sabvabaa kletterte, saß Zakariassen bereits auf dem Fahrersitz, die Hände am Steuer. Er wirkte verärgert, verkniff sich aber einen Kommentar, dass sie sich so viel Zeit gelassen hatte. Anna drehte sich auf ihrem Sitz um und blickte auf die Ausrüstungskisten, die sie auf dem Eis zurückließen. Vierzig Kisten mit allem, was sie benötigten, um fast ein Jahr in der Arktis überleben zu können. Ein Jahr, ohne an etwas anderes denken zu müssen als an Arbeit, Essen und Schlaf. Gerade erschien ihr dies mehr denn je wie das größte Glück auf Erden.

»Die Eisscholle könnte auseinanderbrechen, während wir weg sind«, sagte Anna.

Zakariassen sah sie stumm an.

»Wenn das passiert, verlierst du dein ganzes Equipment, Daniel«, fuhr sie fort, »und deine Expedition endet im Desaster.«

Der alte Mann betrachtete sie noch einen Moment, dann wandte er den Blick ab und heftete ihn auf einen Punkt über dem Arbeitstisch. Nach ein paar Sekunden schüttelte er energisch den Kopf und legte seine Hand auf den Gashebel.

»Es ist unsere Pflicht, Menschen in Not zu helfen«, sagte Professor emeritus Daniel Zakariassen mit entschlossener Stimme und schob den Gashebel nach vorn.

6

Sabvabaa bedeutet in der Inuktitut-Sprache sanft fließen.

Als Anna auf dem Sitz neben Zakariassen saß, hatte sie jedoch eher das Gefühl, dass »langsam holpern« die Fortbewegungsart des Luftkissenbootes treffender umschrieb.

Der Wind hatte aufgefrischt, und Zakariassen fuhr weit unter fünfundzwanzig Knoten, um nicht die Kontrolle über das Boot zu verlieren.

Die Sabvabaa schwebte auf einem Luftkissen über das Eis, das von starken Gummischürzen an seinem Platz unter dem Rumpf gehalten wurde. Kleinere Hindernisse bereiteten ihr keinerlei Schwierigkeiten, mühelos flog sie über Eisbrocken und klaffende Risse hinweg, doch bei Seitenwind erwies sich die fehlende Bodenhaftung als Problem. Zakariassen musste ständig den Kurs mit dem Steuer korrigieren, das den großen Propeller kontrollierte. Die Sabvabaa schwankte heftig, und jedes Mal wenn der Professor ruckartig Gas gab oder die Geschwindigkeit abrupt drosselte, machte Annas Magen einen Satz.

Sie atmete tief ein und versuchte, geradeaus zu blicken.

Die Schneeflocken wirbelten im Scheinwerferlicht umher wie weiße Falter in einer lauen Sommernacht. Ein Bild, das nicht weiter von der Realität hätte entfernt sein können.

Annas Finger waren immer noch eiskalt, und eine Anzeige auf dem Armaturenbrett sagte ihr, dass die Außentemperatur auf fast minus dreißig Grad gesunken war, seit sie die Leuchtrakete gesehen hatte. Sie spürte, wie ihr Sitz schaukelte, hörte das Klirren von Gegenständen, die in der Kabine aneinanderstießen, roch den schwachen Geruch von Diesel. Der Nordpol fegte immer größere Schneemengen gegen die Frontscheibe. Anna versuchte sich zu konzentrieren, indem sie sich vorstellte, was auf der chinesischen Forschungsstation geschehen war, was sie dort bei ihrer Ankunft vorfinden würden, doch das eintönige Brummen des Motors ließ ihre Gedanken abschweifen.

Zu Yanns Foto, das auf dem Eis zurückgeblieben war.

Anna erinnerte sich genau, wann und wo es aufgenommen worden war.

Im syrischen Flüchtlingslager Ain Issa, vor zwei Jahren, sechs Monaten und zweiundzwanzig Tagen.

Yann hatte sie dorthin eingeladen, um den Jungen zu besuchen, der sie zusammengeführt hatte. Als Anna sich über sein Kinderbett beugte, hatte der kleine Sadi gelacht und fröhlich gegurgelt, dem Anschein nach völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass ihm ein Fuß fehlte – die brutale Erinnerung, dass der Bürgerkrieg keine Rücksicht darauf nahm, ob seine Opfer Soldaten oder Kinder waren.

»Sadi wird problemlos laufen lernen. Kinder gewöhnen sich sehr viel schneller an Prothesen als wir Erwachsene«, sagte Yann, als sie anschließend in einem klimatisierten Zelt gemeinsam zu Mittag aßen. Die Mahlzeit, von der Yann später immer behauptete, sie sei ihr erstes Date gewesen. Anna hatte jedes Mal lautstark protestiert.

»Ich weiß, dass ich nicht der romantischste Mensch der Welt bin, aber zwei Stunden durch eine sengend heiße Wüste zu einem trostlosen Flüchtlingslager zu fahren, um etwas von Papptellern zu essen, das du als Mittagessen bezeichnet hast, während deine Kollegen sich auf Französisch gestritten und ihre Ellenbogen in meinem Essen platziert haben, ist kein Date – selbst in Norwegen nicht, nicht mal in Tromsø.«

Yann hatte immer gelächelt und sie geküsst. »Du weißt gar nicht, wie romantisch du bist, Anna. Du kannst von Glück sagen, dass du mich getroffen hast, denn sonst wärst du nie aufgetaut, meine wunderbare skandinavische Eisfrau.«

Jetzt war Yann tot und sie wieder die Eisfrau, im wahrsten Sinne des Wortes. Anna wusste, dass sie nie wieder jemandem begegnen würde, der an den selbstbewussten, romantischen Franzosen aus den provenzalischen Bergen heranreichte. Diese Gewissheit war in dem Augenblick in jede Faser ihres Körpers eingedrungen, als sie in dem Krankenhaus in Deutschland aus dem Koma erwachte. Ganz gleich, was ihr Vater sagte, womit ihre Kollegen sie trösten wollten, was eine Reihe von Psychologen versucht hatten, damit sie nach vorn blickte, sie sah keinen Sinn mehr im Leben. Nur der Gedanke, ihr Vater könne derjenige sein, der sie tot auffand, hatte sie bisher noch am Leben gehalten. Anna hatte eingewilligt, an den Nordpol zu fahren, nicht aber, auch wieder zurückzukehren.

»Sind wir auf dem richtigen Kurs?«

Eine seitliche Windböe brachte die Sabvabaa ins Schlingern und riss Anna aus ihren Gedanken. In letzter Sekunde gelang es ihr, den Laptop auf ihrem Schoß festzuhalten. Die Uhr auf dem Bildschirm zeigte an, dass sie seit fast zwei Stunden unterwegs waren. Auf dem Satellitenbild, das sie aufgerufen hatte, blinkten drei Punkte. Der rote markierte den Standort der chinesischen Forschungsstation, der blaue die Position der Sabvabaa. Der grüne war das Signal des GPS-Senders an ihrer zurückgelassenen Ausrüstung. Die Sabvabaa befand sich ungefähr in der Mitte zwischen dem roten und dem grünen Punkt. Die Eisfläche auf dem Satellitenbild war von schwarzen Blutadern durchzogen – vor ihnen liegende Spalten.

»Ja, wir sollten die Basis bald sehen.«

Zakariassen gab Gas.

Das Boot schoss vorwärts. Im Küchenschrank klirrte es. Schneematsch spritzte auf und verklebte die Frontscheibe, als sie über eine breite Rinne fuhren.

»Verflucht!«

Wie aus dem Nichts tauchte eine Eiswand vor ihnen auf. Zakariassen riss das Steuer herum. Das Luftkissenboot krängte, die Eiswand kam immer näher. Weiße Flocken. Schwarze Schatten. Scharfe Konturen.

Auf dem Armaturenbrett blinkten rote Lämpchen, das Kollisionswarnsystem heulte hysterisch, als Zakariassen den Gashebel noch weiter nach vorn drückte und so in letzter Sekunde einen Zusammenstoß verhinderte.

»Herrgott, Anna, du musst dein Gewicht verlagern!«, schrie er wütend.

Annas Herz schlug bis zum Hals, und ihr Puls rauschte in den Ohren, als sie die scharfen Spitzen sah, die aus der Eiswand ragten wie die Stacheln eines riesigen Igels. Ihr Blick wanderte über das Armaturenbrett. Irgendetwas stimmte nicht.

»Es würde helfen, wenn du das Radar einschaltest«, stellte sie fest und drückte den Knopf, den Zakariassen in der Hektik des Aufbruchs vergessen hatte.

Zakariassen murmelte etwas Unverständliches und beugte sich vor, um besser sehen zu können. Die Sabvabaa glitt jetzt sanft vorwärts. Die hohe Eiswand bot ihnen Schutz vor dem Wind.

Anna schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter. Auf dem Satellitenbild befanden sich der blaue und der rote Punkt inzwischen auf gleicher Höhe.

»Wir sollten da sein«, sagte sie und versuchte, einen Blick durch den Schnee zu werfen, der sich mittlerweile so schnell auf die Frontscheibe legte, dass die Scheibenwischer nicht mehr hinterherkamen. Im grellen Scheinwerferlicht der Sabvabaa warf die Wand lange Schatten in die eisige Ödnis. Nach einer Weile sah Anna in der Dunkelheit etwas blinken.

»Halt an!«, rief sie. Zakariassen zog den Gashebel zurück. Das Luftkissenboot kam ruckartig zum Stillstand. Der Professor kniff die Augen zusammen. »Ich kann nichts erkennen.«

Anna schaltete die Scheinwerfer aus. Diesen Trick hatte ihr Vater ihr beigebracht, als sie ihr erstes Auto bekam, einen Volvo, den er repariert und neu lackiert hatte. »Mach vor jeder Kurve kurz das Licht aus, dann erkennst du, ob dir ein Auto entgegenkommt«, hatte er gesagt und ihr dann besorgt hinterhergewinkt, weil sie bei tiefster Finsternis und auf regennassen Straßen zu einem Konzert in Tromsdalen gefahren war.

Nachdem ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie die glitzernden Lichter auf der anderen Seite der Eiswand. Das musste die chinesische Forschungsstation sein.

Zakariassen entdeckte die Lichter im selben Moment wie sie, gab wieder Gas, und nach kurzer Zeit überlagerten sich der rote und der blaue Punkt auf ihrem Bildschirm.

Doch dann erklang ein Alarmsignal.

Auf dem Armaturenbrett blinkte die Antikollisionswarnleuchte.

Direkt vor ihnen tauchte der Schlund eines riesigen Ungeheuers auf. Zakariassen riss das Steuer abrupt nach links, und das Luftkissenboot entkam im letzten Moment den Fängen des Monsters. In dem grellen Licht entpuppten sich die scharfen Zähne als im Schnee liegende Ölfässer.

Hinter den Fässern stand eine blau gestrichene Baracke.

Zakariassen manövrierte die Sabvabaa an dem Gebäude vorbei und änderte per Schubumkehr die Drehrichtung des Propellers, sodass sie mitten im Flutlicht zum Stehen kamen. Anna merkte erst, dass sie die Luft anhielt, als schwarze Flecken am äußeren Rand ihres Blickfelds zu tanzen begannen.

Das gleißende Scheinwerferlicht der Basis schmerzte in ihren Augen. Nach der langen Fahrt durch die dunkle Polarnacht hatte sie das Gefühl, in einem erleuchteten Himmel gelandet zu sein.

Doch wie sich herausstellen sollte, begleicht auch der Teufel seine Stromrechnung.

7

Es wurde merkwürdig still in der Sabvabaa. Doch obwohl sie den Motor ausgeschaltet hatten, vibrierten die Fensterscheiben weiter. Der Sturm zog auf. Schnee wirbelte in dichten Massen durch das grelle Flutlicht der chinesischen Forschungsstation, und Anna suchte nach einem Vorwand, um nichts tun zu müssen. Einfach in ihrem warmen Sitz bleiben zu können. Die Augen zu schließen und ins Nichts zu verschwinden.

»Die Windstärke beträgt inzwischen dreizehn Meter pro Sekunde«, sagte sie. »Das ist schon ein kleiner Sturm.«

»Jaja, glaubst du, das weiß ich nicht?« Zakariassen warf ihr einen wütenden Blick zu. »Wir sind hier nicht im Kinderferienlager.« Um besser sehen zu können, stellte er die Scheibenwischer auf die höchste Stufe. Die gefrorenen Gummiblätter schabten quietschend über die Eisschicht, die sich auf dem Glas gebildet hatte.

Das Flutlicht kam von der Spitze eines Turms, der sich hinter einem gelben Gebäude erhob, das die Ausmaße einer kleinen Industriehalle hatte. Es war mindestens sieben Meter hoch und fünfzehn Meter breit.

Rings um die gelbe Halle gruppierten sich in Hufeisenformation kleine rote Polarhütten. In den meisten Fenstern brannte Licht, doch nirgends war eine Bewegung oder ein neugieriges Gesicht zu sehen. Zakariassen hustete und putzte seine Brille. Dann schob er sie wieder auf seine schmale Nase und blickte auf das Armaturenbrett. Seine Finger suchten nach einem ganz bestimmten Schalter.

Anna zuckte zusammen, als die Dachsirene des Luftkissenbootes losheulte.

Das Geräusch wurde von Wind und Schnee verschluckt.

Zakariassen ließ einen zweiten, längeren Alarmton erklingen. Sie starrten auf das vom Flutlicht erhellte Gelände der Basis. Keine Tür öffnete sich in den rot gestrichenen Hütten, niemand kam aus der Dunkelheit herbeigelaufen. Das einzige Geräusch, das Anna außer dem Tosen des Windes vernahm, war ein fernes, rhythmisches Klopfen. Irgendetwas schlug unentwegt gegeneinander.

Zakariassen hörte das Geräusch ebenfalls. Er atmete langsam durch die Nase aus. Ein besorgter Ausdruck trat auf sein Gesicht. Vermutlich dämmerte ihm gerade, dass ihre Rettungsaktion nicht unbedingt damit enden musste, dass sie gemeinsam mit den Chinesen Friedenswürstchen grillten und am Lagerfeuer Kumbaya sangen.

»Wir werden wohl das Institut informieren müssen«, beschloss er schließlich.

Das Material seines Überlebensanzugs raschelte, als er nach dem Hörer des Satellitentelefons griff, das in einer Halterung am Armaturenbrett steckte.

»Ja, wir sind bei der chinesischen Basis«, sagte er laut, als sich der Institutsleiter in Bergen meldete. »Nein, wir haben noch niemanden gesehen … Was haben Sie gesagt? Würden Sie das bitte noch einmal wiederholen … Ich kann Sie nicht verstehen … Ja, ja, ja, ich werde Sie auf dem Laufenden halten. Wir sehen nach … Natürlich sind wir vorsichtig.«

Zakariassen beendete das Gespräch, stand auf, ging zum Arbeitstisch, zog eine Schublade auf und nahm einen schwarzen Gegenstand heraus. Er drehte sich zu Anna um und hielt ihr den Gegenstand hin. Anna erkannte das Holster, in dem der große Smith-&-Wesson-Magnum-Revolver steckte, den Zakariassen in Longyearbyen gekauft hatte.

»Ich schieße nicht.«

Zakariassen hatte Anna nach dieser Eröffnung verblüfft angesehen, mitten in der Lobby des Radisson Hotels in Longyearbyen, in dem sie Quartier bezogen hatten, während sie darauf warteten, dass die Polarstern im Hafen anlegte, um sie, die Sabvabaa und ihr gesamtes Equipment an Bord zu nehmen. Es wimmelte von Japanern und Amerikanern, die in Strümpfen und übergroßen Daunenjacken herumliefen. Ein Schild an der Eingangstür wies darauf hin, dass das Tragen von Straßenschuhen in den Räumlichkeiten des Hotels nicht gestattet war. Ein anderes, dass Waffen (Revolver, Pistolen und Gewehre) im Waffenschrank des Hotels deponiert werden müssten und der Schlüssel am Empfang erhältlich sei.

Zakariassen hatte den Revolver einem Bergarbeiter abgekauft, der nach Hause zurückkehrte. Auf Spitzbergen waren alle Einwohner gesetzlich verpflichtet, außerhalb der Siedlungen Waffen zu tragen. Am Tag zuvor hatte Anna gesehen, wie eine Mutter ihr Kind zu einer Kita mitten im Stadtzentrum brachte, mit einem Schneemobil und einer baumelnden Pistole am Gürtel.

»Was soll das heißen, du schießt nicht?«, fragte Zakariassen. »Du bist doch Soldatin.«

»Ich war Soldatin.«

»Was ist passiert?«

»Das geht nur mich was an. Ich schieße nicht. Punkt.«

»Aber das ist unmöglich … Du kannst dich nicht unbewaffnet am Nordpol aufhalten.«

»Ich bin bewaffnet.«

Zakariassen lachte laut auf, als Anna ihm den japanischen Sportbogen zeigte, den sie vor vielen Jahren in Tokio gekauft hatte.

»Willst du einen Eisbären etwa ernsthaft mit Pfeil und Bogen zur Strecke bringen?«

»Nur wenn es sich nicht vermeiden lässt. Aber ich denke, ich werde ihn mit Geschrei und wildem Armgefuchtel schon in die Flucht schlagen können.«

Am Ende hatte Zakariassen dann doch zähneknirschend akzeptiert, dass Anna weder sein altes Mausergewehr noch den Revolver benutzen wollte. Den Ausschlag für seine Zustimmung hatte eine Präsentation ihrer Bogenkünste gegeben, bei der ihr leere Konservendosen, die sie auf einem großen Eisblock neben der Sabvabaa aufreihte, als Zielscheibe dienten. Aus zwanzig Metern Entfernung traf sie nacheinander schnell und präzise jede einzelne Dose. Das Echo der zurückschnellenden Bogensehne hallte wie harte Peitschenhiebe vom sie umgebenden Eis wider. Als Zakariassen eine der Dosen aufhob, hatte der Pfeil »Trondheims braunes Labskaus«, das sie am Vortag gegessen hatten, komplett durchbohrt.

Zakariassen versuchte, Anna das Holster mit dem Revolver in die Hand zu drücken, und deutete auf den Schnee, der im Flutlicht umherwirbelte. »Wir können nicht bei Sturm und null Sicht nach draußen gehen, ohne uns vor Eisbären zu schützen … Bei diesen Bedingungen kannst du nicht mit Pfeil und Bogen schießen … das müsstest du doch am allerbesten wissen.«

Anna wurde übel, als das Metall des Revolvers ihre Hand berührte. Sie ballte sie zu einer Faust.

»Nein, ich komme schon klar.«

»Du kannst bei diesem Wetter nicht mit dem Bogen schießen«, beharrte Zakariassen.

Anna stand auf, ging in den hinteren Teil der Kabine und zog eine abgewetzte Northface-Tasche unter ihrem Bett hervor. Sie wühlte zwischen Slips, Socken, T-Shirts, langen Unterhosen und Büchern, die sie nie zu lesen begonnen hatte. Unter einer unangebrochenen Flasche Lagavulin Single Malt Whiskey fand sie schließlich, wonach sie suchte. Sie öffnete das Futteral und zog das Jagdmesser heraus. Eine lange mattschwarze Klinge endete in einem robusten Ledergriff. Sie hatte das Messer bei einem Armdrückduell mit einem US-Marine in Bosnien gewonnen. Der Soldat hatte keine Ahnung gehabt, dass er eine dreifache skandinavische Juniorenmeisterin im Armdrücken herausforderte.

Ihre Technik siegte mühelos gegen seine Muskelkraft. Es dauerte gerade einmal zwei Sekunden, bis der Angeber kläglich winselte und sein Arm auf der Tischplatte lag.

»Siehst du, ich bin bewaffnet.« Anna öffnete eine Seitentasche ihres Überlebensanzugs und ließ das Messer vor Zakariassens frustriertem Blick hineingleiten. Er murmelte irgendetwas Unverständliches und griff nach dem Magazin, das er immer auf die Fensterbank legte, nachdem er mit dem alten Mausergewehr draußen auf dem Eis gewesen war. Ein Klicken erklang, als er es ins Gewehr schob. Anschließend sah er Anna mit entschlossener Miene an.

»Dann schauen wir mal nach, was die Chinesen hier so treiben.«

8

Als Anna vom Deck der Sabvabaa kletterte, stach der heftige Wind eiskalte Nadeln in die ungeschützte Haut um ihre Augen. Obwohl sie eine Gesichtsmaske trug, drang der Schnee bis in ihre Augenbrauen, schmolz und gefror zu einer harten Eisschminke.

Sie drehte sich aus dem Wind und sah, dass Zakariassen ihr mit dem Mausergewehr über der Schulter folgte. Anna setzte ihre Skibrille auf und tastete in der Tasche nach ihrem Handy. Es war mit dem Internet auf der Sabvabaa verbunden, und sobald das Wetter sich besserte, bestand eine kleine Chance, dass sie telefonieren oder eine SMS schicken konnte.

Zakariassen stapfte an ihr vorbei durch den Schnee. Im Flutlicht wirkte sein zurückgeworfener Schatten wie eine schwarze Gummifigur. Widerwillig ging sie ihm nach. Das Laufen war mühsam. Der Wind zerrte an ihr und versuchte unermüdlich, sie zurückzudrängen. Sie musste ständig den Kopf drehen, um sich einen Überblick zu verschaffen, da die zu einer kleinen Öffnung zusammengeschnürte Kapuze und die Skibrille ihr Sichtfeld einschränkten. Die umherwirbelnden Schneeflocken trugen das Flutlicht vom Eisdrachen wie Glühwürmchen in die Dunkelheit hinaus. Anna dachte, dass sie sich hier, auf dieser Basisstation, die man schon fast als kleines Dorf bezeichnen konnte, eigentlich sicher fühlen sollte, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Die Dunkelheit und die eisige Einöde, die sie umgab, schienen ihr eindeutig der gefahrlosere Ort zu sein.

Sie wandte den Kopf nach links und ließ ihren Blick an der gelben Halle vorbei zu einer kleineren grauen Hütte mit Flachdach schweifen, an deren Wand sich eine hohe Schneeverwehung türmte.

Als sie in die entgegengesetzte Richtung schaute, kamen zwei der roten Polarhütten in Sicht. Beide hatten breite Vordertüren, aber keine Fenster. Bei der hinteren ragten zwei Rohre aus dem Dach. Die ohnehin schon wirbelnden Schneeflocken drehten hier eine zusätzliche Pirouette um die Rauchsäulen, die aus ihnen aufstiegen.

Anna folgte Zakariassen an der Wand der großen Halle entlang. Je näher sie der vorderen Giebelseite kamen, desto lauter wurde das Klopfgeräusch. Zakariassen verschwand um die Ecke. Annas Beine wurden mit jedem Schritt schwerer. Sie war schon einmal hier gewesen. Alte Erinnerungen erwachten zum Leben. Die Schneeflocken wurden zu Löwenzahnsamen.

Die Löwenzahnsamen schwebten vom Himmel herab, im Licht der tiefstehenden Abendsonne sahen sie aus wie die Fallschirmjäger einer mächtigen Invasionsarmee. Die Stimmung war entspannt. Die Soldaten in ihrer Patrouille machten sich über den Karaokewettbewerb vom Vorabend lustig.

Anna ging an zweiter Position. Es war ihr erster Auslandseinsatz innerhalb einer internationalen Nato-Truppe im Kosovo. Vor ihr lief ein amerikanischer GI. Sebastian hatte eine schöne Stimme. Seine Version von My Way war eine der besseren Darbietungen des gestrigen Abends gewesen. Vor einem ausgebombten Einkaufszentrum in Pristina drehte er sich zu ihr um.

»Are you good?«, fragte er noch, dann verschwand er um die Ecke des Gebäudes.

Sie blickte nach hinten, um nach den anderen zu sehen.

Ein Knall.

Die Mauer schützte sie vor der Explosion. Karaoke-Sebastian aus einem kleinen Dorf in Minnesota, dessen Namen Anna vergessen hatte, wurde von der Nato-Streubombe dagegen in Stücke gerissen. Blue on blue. Von den eigenen Leuten getötet.

Anna blieb an der Ecke stehen. Auf dem Platz zwischen der Halle und den Polarhütten befanden sich drei Schneewehen im Abstand von ungefähr einem Meter, über die die Schneeflocken wie Tausende mikroskopische Skispringer hinwegfegten.

Ihr Instinkt sagte ihr, dass es ab dem Moment, in dem sie um die Ecke trat, kein Zurück mehr gab. Ab da war sie wieder Soldatin. So wie die magnetische Kraft unter dem Eis alle Kompasse der Welt dazu brachte, in dieselbe Richtung zu zeigen, so zog Anna Aune offensichtlich das Unheil an, ganz egal, wie weit sie versuchte, sich von allem und allen zu entfernen.

Sie machte einen Schritt nach vorn und ging um die Ecke.

9

Der heftige Wind aus der russischen Tundra traf sie wie ein unsichtbarer Güterzug.

Zakariassen stand ein, zwei Meter von ihr entfernt vor einer Tür, die im Wind hin und her schlug.

Bang. Bang. Bang.

Er starrte auf etwas im Türrahmen, dann drehte er sich langsam zu ihr um.

Das Scheinwerferlicht über ihm brach sich in der großen Skibrille, die sein Gesicht bedeckte.

»Was ist?«

Annas Frage wurde vom Wind davongetragen. Es war eiskalt.

Ein weiterer Windstoß erfasste die Tür.

Bang.

Bang.

Bang.

Anna zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und stapfte durch den tiefen Schnee langsam auf Zakariassen zu. Und dann sah sie, was er sah. In der Tür kniete ein Mann auf allen vieren. Er hatte den Kopf geneigt und starrte auf den Boden, als suche er etwas.

Jedes Mal wenn die Tür gegen den Mann schlug, glaubte Anna, er würde sich gleich von dort wegbewegen, um sich nicht die Finger einzuklemmen. Doch noch immer kniete er unverändert an derselben Stelle.

Bang.

Bang.

Anna fasste an den Türrahmen und riss sich dabei den Handschuh auf. Sie hatte keine Ahnung, weshalb sie überhaupt danach gegriffen hatte. Vermutlich war es eine Reaktion darauf, dass Zakariassen einfach nur dastand und starrte.

»Hallo, ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ich glaube … der Mann ist tot!«, schrie ihr Zakariassen ins Gesicht, Speichel flog aus seinem Mund und fror auf ihrer Skibrille fest.

Anna hielt die Tür mit dem Rücken geöffnet und beugte sich zu dem Mann hinunter. Eine weiße Frostschicht umhüllte ihn. In seinen Haaren hatte sich Raureif gebildet, von seiner Nase hing ein Eiszapfen.

Sie berührte ihn an der Schulter. Kälte kroch ihren Arm hinauf. Keine physische Kälte, sie trug dicke Handschuhe, aber von dem reglosen Körper ging etwas Bösartiges aus. Anna versuchte, den Mann zu bewegen, doch er rührte sich keinen Millimeter von der Stelle. Er erinnerte Anna an die toten Bergsteiger auf dem Mount Everest, die so hoch oben erfroren waren, dass die Rettungshubschrauber sie nicht hatten erreichen können. Sie würden auf ewig in den eisigen Höhen ruhen.

Die Eismenschen.

»Du hast recht«, sagte Anna und drehte sich zu Zakariassen. »Der Kerl hat das Zeitliche gesegnet.«

»Was?«

»Er ist mausetot!«, schrie Anna, um sicher zu gehen, dass der Professor sie verstand.

»Ist … ist er erfroren?« Zakariassens Augen flackerten hektisch.

»Nein, er wurde erfroren.«

Zakariassen betrachtete den zu Eis erstarrten Mann. »Was ist der Unterschied?«

»Er kniet auf allen vieren. Wäre er auf natürliche Weise gestorben, würde er auf dem Boden liegen oder hätte sich an die Wand gelehnt. Vielleicht stehen wir auch vor dem geduldigsten Selbstmörder der Welt, aber das bezweifele ich.«

Anna deutete auf die weißen Hände des Mannes.

»Selbst bei minus zwanzig Grad braucht eine solche Menge Wasser mindestens zwei Stunden, um vollständig zu gefrieren. Niemand kann so lange dasitzen, ohne sich zu bewegen. Irgendwas hat dafür gesorgt, dass dieser arme Teufel innerhalb weniger Augenblicke eingefroren ist.«

»Ein Unfall?«

»Hoffentlich«, erwiderte Anna und schaute zu den roten Polarhütten hinüber, die die Halle umringten. Sie erschienen ihr mit einem Mal verändert. Im ersten Moment hatten sie wie ein sicherer Zufluchtsort vor dem Sturm gewirkt, doch jetzt konnten sie auch etwas völlig anderes beherbergen.

Anna spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten.