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Willkommen auf Keeper Island – dem tödlichsten Luxusresort der Karibik Weiße Sandstrände, türkisblaues Meer, endloser Sommer: Keeper Island ist das Paradies auf Erden. Zumindest auf den ersten Blick. Hinter der exklusiven Hotelfassade regieren Geld, Macht und Gier. Als eines Morgens die Leiche des Resortchefs im Meer treibt, wird auch die neue Hotelmanagerin Lola in die Verlogenheiten der Gäste und Angestellten hineingezogen. Unbeirrt versucht sie herauszufinden, was auf der Insel vor sich geht – und droht dabei ebenfalls mit ihren Geheimnissen aufzufliegen. Hotelmanagerin Lola muss dringend weg aus Hongkong, ihr Job dort endete in einem Blutbad. Zum Glück verschafft ihr alter Kollege Moxham ihr eine Stelle weit weg in einem karibischen Luxusresort. Auf Keeper Island kann sie sich voll und ganz darauf konzentrieren, mit ihrem Fünf-Sterne-Lächeln die Probleme der extravaganten Gäste zu lösen. Doch nichts ist so einfach, wie es scheint. Kurz nach Lolas Ankunft wird Moxhams Leiche gefunden. Die Polizei geht von einem Unfall aus, aber Lola ahnt, dass es im Hotel nicht mit rechten Dingen zugeht. Angestellte und Gäste hintergehen sich gegenseitig.Um in diesem Haifischbecken der Superreichen zu überleben, muss sich Lola ganz auf ihre zwei goldenen Regeln verlassen: Sei auf alles vorbereitet. Traue niemandem.
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Seitenzahl: 480
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nicola Martin
The Island
Auf der Flucht
Thriller
Aus dem Englischen von Benjamin Mildner
Tropen
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.
Tropen
www.tropen.de
J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH
Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Getaway« im Verlag Bloomsbury Publishing Plc, London
© 2024 by Nicola Martin
Für die deutsche Ausgabe
© 2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und
Data Mining i. S. v. § 44 b UrhG vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, München
unter Verwendung der Daten des Originalverlags
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-50276-3
E-Book ISBN 978-3-608-12391-3
Bei der Überfahrt auf die Insel stieß ich mit den Knien gegen Champagnerkisten und Kühlboxen mit schwarzen Trüffeln. Eine Importlieferung wie jede andere.
Ich hatte drei Flüge und zwei Fähren gebraucht, um diese abgelegene Karibikinsel zu erreichen. Während der zweiunddreißigstündigen Reise hatte ich kein Auge zugetan, aber mittlerweile hatte sich meine Erschöpfung in eine nervöse Wachsamkeit verwandelt. Ich lehnte am Bug und versuchte die ersten Details meines neuen Zuhauses auszumachen. Dabei musste ich gegen die frühe Morgensonne anblinzeln, die von dem wolkenlosen Himmel strahlte.
Keeper Island war ein Smaragd, der aus dieser Entfernung so klein war, dass er in meine Hand zu passen schien. In der Mitte der Insel ragte ein grün bewaldeter Gipfel auf. Beim Näherkommen erblickte ich einen Sandstrand, Palmen winkten mir zu.
Dies würde mein sicherer Hafen sein. Mein Zufluchtsort.
Gedankenverloren berührte ich meinen Wangenknochen, schaute dann auf meine Fingernägel. Immer wieder musste ich sie kontrollieren, stellte mir vor, es befände sich Blut darunter. Nein. Sie waren sauber. Alles war in Ordnung.
Wir näherten uns einem langen Holzsteg, aber der Steuermann machte keine Anstalten, das Tempo zu drosseln. Er erzählte lebhaft irgendeine Anekdote (»… und sie sagte, du bist verdammt ungehobelt, du bist krank, Mann!«). Die anderen drei Passagiere waren muskulöse Männer, und vermutlich allesamt Jungferninsulaner. Sie waren höflich gewesen, als sie mir an Bord geholfen hatten, aber ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Verhaltenes.
Meine Hände klammerten sich an die salzig-klebrige Brüstung. Der Pier schien auf uns zuzurasen. Der Skipper legte den Rückwärtsgang ein und das Heckwasser rauschte. Während meine Begleiter entspannt die Balance hielten, stolperte ich gegen die Reling. Einer von ihnen stieß ein paar Fender vom Boot, und wir prallten gegen die Seite des Piers.
Sobald das Motorboot festgemacht war, begannen die Männer mit dem Abladen der Waren. Sie hoben meinen überfüllten lilafarbenen Koffer heraus und rollten ihn zusammen mit dem Brie und dem Blauflossenthunfisch zu einer Reihe wartender Golfwagen. »Ist schon gut, das ist nicht nötig«, rief ich ihnen hinterher, aber der Koffer war schon weg.
Der Skipper reichte mir die Hand, um mir vom Boot zu helfen. Er hatte federndes Haar und verschlafene Augen.
»Danke.« Ich kletterte an Land. »Wissen Sie, wo ich Moxham finden kann?«
Mike Moxham. Mein neuer Chef. Der Grund, warum ich hier war – in mehr als einer Hinsicht.
»Er ist hier irgendwo.« Der Steuermann hievte eine Kiste vom Boden und joggte dann seinen Begleitern hinterher.
Reflexartig wollte ich auch mithelfen, aber von den Vorräten stand nichts mehr auf dem Pier. Auch die Männer waren verschwunden, Gott weiß wohin. Ich war allein. Als ich mich zu der Nachbarinsel umschaute, war ich überrascht, wie weit entfernt sie schien. Ein Rumpeln und Platschen draußen auf dem Wasser erregte meine Aufmerksamkeit. Fünfzig Meter vom Ufer entfernt hüpften zwei rote Jetskis über die Wellen. Es sah nach Spaß aus. Bestimmt erfrischend, an einem so heißen Tag wie heute.
Der Jetlag machte sich bemerkbar. Ich brauchte eine Dusche, eine Mahlzeit, ein Bett, eine Gehirntransplantation. Ich hoffte, diese Insel würde wenigstens ein Käsesandwich für mich in petto haben. Ich schlurfte über die abgenutzten Holzbretter des Piers ins Landesinnere zu einem gepflasterten Weg, der von Palmen und stacheligem grünem Laub gesäumt war.
»Hallo, hallo!«, ertönte eine Stimme.
Ein weiterer Golfwagen war eingetroffen. Eine schlanke Frau in einem rosa geblümten Maxikleid, glamourös und doch dezent, glitt aus dem Gefährt und schwebte zu mir herüber. Ich war todmüde, schenkte ihr aber mein engagiertestes Service-Lächeln. Sie schien direkt der Keeper-Island-Broschüre entstiegen zu sein, ihr langes schwarzes Haar fiel an ihr hinab wie Seide, und ihre Lippen waren korallenrot. Vermutlich war sie eine von denen, die Tausende von Dollar pro Nacht bezahlten, um sich auf dieser Privatinsel verwöhnen zu lassen.
»Du bist Lola«, sagte sie.
»Ähm, das sagt man mir nach, ja.«
»Ich bin Fizzy.« Sie gab mir kraftlos die Hand, fast so, als wollte sie mich nicht berühren. »Ich bringe dich zu deiner Unterkunft.«
Sie war also gar kein Gast. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich ein Funkgerät an ihrem Gürtel, zusammen mit einem dicken Schlüsselbund. Aus dem Funkgerät ertönten entfernte Stimmen, die Lautstärke war niedrig eingestellt.
»Ich hatte Moxham erwartet?«, sagte ich.
»Der ist total beschäftigt, so wie immer.«
Sie öffnete eine Kühlbox hinten auf dem Golfbuggy und reichte mir ein zusammengerolltes Handtuch. Es war eiskalt und roch nach Eukalyptus. Dankbar fuhr ich mir damit übers Gesicht, rieb mir den Schweiß ab, und bereute es sofort, als mein Daumen meinen Wangenknochen berührte. Der Concealer, den ich vor einer Stunde aufgetragen hatte, war jetzt vermutlich weg und alle Welt konnte den blauen Fleck darunter sehen.
Als Fizzys Blick über mein Gesicht huschte, versuchte ich sie mit einem Lächeln abzulenken. »Danke.«
»Weißt du, das ist eine ziemliche Überraschung.« Sie hatte den unbestimmbaren Akzent einer Jetsetterin, mit eingestreuten Vokalen, die amerikanisch klangen. Manchmal klang auch mein Akzent ganz ähnlich, aber meistens konnte man meine Heimat London immer noch heraushören.
»Moxham hat mir erst vor einer Stunde gesagt, dass du kommst«, sagte sie. »Ich wusste gar nicht, dass wir eine stellvertretende Managerin brauchen.«
Ich versuchte, nicht zusammenzuzucken. »War wahrscheinlich eine kurzfristige Entscheidung.« Ich fühlte mich matt, und das lag nicht nur am Jetlag.
»Mox, ich hab’ eine Scheißangst.«
»Showgirl …«
Vor zwei Nächten hatte ich zusammengekauert auf dem Badezimmerboden gelegen, das Telefon am Ohr, und um Hilfe gefleht.
»Du musst das in Ordnung bringen, Mox. Du bist doch ein verdammter Problemlöser, also lös das Problem.«
»Wie wäre es mit einem neuen Job? Einem Neuanfang.«
»Wo?«
»Im Paradies.«
Draußen auf dem Wasser war wieder ein aufheulender Motor zu hören. Die Jetskis waren zurück, diesmal näher am Ufer.
»In unser aller Namen heiße ich dich herzlich willkommen.« Es klang nicht ehrlich. Fizzy wirkte, als hätte sie so oft eine aufgesetzte Stimme benutzt, dass sie die Fähigkeit verloren hatte, normal zu sprechen. Das brachte das Hotelgewerbe mit sich.
»Danke«, sagte ich noch einmal, aber mein Blick war auf die Jetski-Fahrer geheftet. Zwei Männer, beide mit freiem Oberkörper. Einer war dunkelhaarig, einer rothaarig. Sie machten Kunststücke. Der eine fuhr eine scharfe Linkskurve, dann nach rechts, wie ein Cowboy auf einem bockenden Wildpferd. Der andere Mann lehnte sich nach hinten und zog die Nase des Jetskis hoch, sodass eine weiße Wasserfontäne vom Heck aufstieß wie von einem Raketenschiff.
Eine Sekunde lang war der Anblick beeindruckend. Dann wurde es verhängnisvoll. Der Jetski verwandelte sich in ein Feuerrad aus Wasser, geriet außer Kontrolle, und der dunkelhaarige Mann wurde von seinem Ross geschleudert und schlug mit einem Platschen im Wasser auf.
»Oh, mein Gott!«
Der Motor ging aus, aber der Jetski drehte sich weiter. Der Mann war immer noch nicht wieder aufgetaucht.
»Scheiße, geht es denen gut?« Instinktiv machte ich einen Schritt auf das Ufer zu. Erst jetzt bemerkte ich, dass keiner der Männer eine Rettungsweste trug.
In der letzten Woche hatte es zu viel Tod gegeben, ich konnte nicht noch mehr davon ertragen.
»Die machen doch nur Spaß.« Fizzy schaute nicht mal hin, sie war damit beschäftigt, mein zusammengeknülltes Handtuch zu verstauen.
Ein mir nur allzu vertrautes Hyänenlachen wehte über das Wasser zu mir. Dieses Lachen hätte ich überall erkannt. Moxham. Er war aufgetaucht und schwamm entspannt eine Runde um seinen Jetski, der auf der Seite im Wasser lag.
Ich presste die Lippen zusammen und atmete scharf durch die Nase aus. Natürlich ging es ihm gut. Er sollte nicht wissen, dass er mir einen Schrecken eingejagt hatte, also winkte ich, aber entweder sah er mich nicht oder er ignorierte mich. Sekunden später war Moxham wieder auf den Jetski geklettert, und er und der andere Mann fuhren aus meinem Sichtfeld.
»Du und Moxham kennt euch?«, fragte Fizzy.
»Wir haben früher zusammengearbeitet. Bis er hierhergekommen ist, um das Resort hier zu leiten.«
»Dann weißt du vermutlich schon alles über Keeper Island?«
»Ein wenig.«
Wer würde sich diesen Namen nicht merken, auch wenn die wenigsten ihn auf einer Karte hätten finden können?
Die Privatinsel, Teil der Britischen Jungferninseln, gehörte dem Milliardär Kip Clement, der hier seit den Neunzigern lebte. In meiner Kindheit und Jugend hatten Fotos von ihm und seiner Frau ganze Magazinseiten gefüllt. Unser luxuriöses Leben in den Tropen.
Als jemand, der im Hotelgewerbe zu Geld gekommen war, hatte Kip natürlich nicht widerstehen können, sein Zuhause in ein exklusives Resort zu verwandeln – eine Insel, auf der zu jeder Zeit eine Handvoll Gäste lebte sowie das Personal, das sich um jeden ihrer Wünsche kümmerte.
»Ich bin Kips Assistentin«, sagte Fizzy in einem Tonfall, der normalerweise für Ich bin mit der Königsfamilie verwandt reserviert war. »Ist gar nicht so leicht, wie es aussieht, einen so großen Mann wie ihn zu bändigen.«
»Ich wette, du weißt, wo seine Leichen vergraben sind.«
»Ha«, sagte sie, anstatt zu lachen. »Also dann, rein mit dir.« Sie deutete auf den Golfwagen. An ihren Handgelenken trug sie jeweils ein halbes Dutzend Armreifen, die bei jeder Bewegung klirrten. Zusammen mit den Schlüsseln an ihrer Taille erinnerte mich das Geräusch an eine Gefängniswärterin.
»In der ersten Nacht auf Keeper«, sagte sie, während sie sich auf dem Fahrersitz niederließ, »verwöhnen wir unsere neuen Angestellten mit der Rockstar-Behandlung. Aufenthalt in einer Villa, alles wie bei einem Gast.«
»Hauptsache, es gibt eine Toilette«, sagte ich.
Fizzy runzelte die Stirn; das war nicht die richtige Entgegnung gewesen. »Kip möchte, dass jeder das Ethos dieses Ortes versteht. Luxuriös, aber entspannt. Wie ein Model, das so umwerfend ist, dass es sich nicht anstrengen muss.« Sie zupfte an ihren Wangen, um ein Facelifting anzudeuten. »Ich wünschte, bei mir wäre das so.«
Zuvor hätte ich Fizzy etwa auf mein Alter geschätzt, jetzt aber bemerkte ich die Lachfalten um ihre Augen. Vielleicht um die vierzig, jeden Schönheitsfehler gekonnt mit Make-up übertüncht. Ich rieb mir mein eigenes Gesicht und zuckte zusammen, als ich an den Bluterguss kam.
Durch eine seltsame Wendung des Schicksals hatte ich meinen dreißigsten Geburtstag verpasst. Das Datum war durch Zeitzonenverschiebungen und verspätete Flüge verschluckt worden. Ich war im Alter von neunundzwanzig Jahren in Hongkong aufgebrochen, jetzt war ich dreißig Jahre und einen Tag alt.
»Ja, es ist ein Urlaubsort«, sagte Fizzy, »aber es ist unser kleines Zuhause fern von zu Hause.«
Wir rasten mit dem Golfwagen über einen gepflasterten Weg, der an der Küste entlangführte. Ein Teil des Waldes im Landesinneren war abgeholzt worden, und als ich mich nach rechts drehte, sah ich Tennisplätze und ein Putting Green, perfekt und künstlich eingebettet in die chaotische Natur.
»Wie lange bist du schon auf der Insel?«, fragte ich Fizzy. »Ohhh …« Sie hielt inne und dachte nach. »Fünfzehn Jahre schon, ich Arme. Ich rechne ständig damit, dass mir jemand sagt, die Welt sei untergegangen und wir hätten es gar nicht bemerkt, hier draußen im Paradies.« Ihre Finger zuckten bei dem Wort Paradies, ihre Brauen wölbten sich. »Das Schlimmste, was dir hier passieren kann, ist Langeweile.«
Nach der Woche, die hinter mir lag, klang Langeweile himmlisch.
Aus der entgegengesetzten Richtung näherte sich ein anderer Golfbuggy. Der Fahrer trat auf die Bremse und bedeutete Fizzy, es ihm gleichzutun.
»Es gibt ein Problem«, sagte er. Es war der Typ mit dem federnden Haar, der mich auf die Insel gebracht hatte. Fizzy stellte ihn als Reggie vor, aber er grüßte mich nur nebenbei.
»Bei den Vorräten war kein Beluga-Kaviar dabei«, sagte er und zupfte an seinem Schnurrbart-Flaum, sichtlich erregt.
»Schhh… Scheibenkleister«, sagte Fizzy. »Hast du sie angerufen?«
»Sie sagen, morgen.«
»Das ist zu spät. Frag sie, ob sie ihn mit dem Jet nach Beef Island bringen können.«
»Ja, okay, ja.« Reggie sah erleichtert aus. Sein Golfwagen machte einen Satz und er war wieder weg.
»Wir haben heute Abend eine Party«, sagte Fizzy zu mir. »Wenn es keinen Kaviar gibt, ist die Hölle los.«
Ich nickte und versuchte, meine Verwunderung zu überspielen, was mir wahrscheinlich nicht gelang. Na klar, absolut normal, Kaviar extra mit einem Privatjet abzuholen, weil man ihn für eine Party braucht. Schweigend fuhren wir weiter. Der Felsvorsprung zu meiner Linken wich weißem Sand, der menschenleer war, bis auf einen gebückten Mann. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, was er da tat: Er harkte den Sand in gleichmäßigen Bögen, um Fußspuren zu beseitigen und ihn wieder makellos zu machen, bevor die Gäste den Tag begannen.
»Was ich noch fragen wollte«, meldete sich Fizzy zu Wort, »woher kommst du? Ich vermute, aus England?«
»Ursprünglich, ja, aber ich war die letzten Jahre in Hongkong.«
»Wir haben zurzeit einen Gast bei uns, Eddie Yiu. Macht irgendetwas unheimlich Faszinierendes mit Finanzen in HK. Ihr beide müsst euch mal vernetzen.«
Ich nickte unverbindlich. Ich hatte keine Lust, mit einem wildfremden Menschen über »HK« zu plaudern.
Bevor ich ins Taxi zum Flughafen gestiegen war, hatte ich meinem Freund Nathan einen Zettel dagelassen, auf dem stand, dass ich für ein paar Tage verreisen würde – Kurzurlaub in Vietnam. Diese Lüge würde bald auffliegen. Wenn der Mietvertrag meiner Wohnung Ende des Monats auslief, würde dieser weiße Schuhkarton in Wan Chai nicht mehr mir gehören. Mein Namensschild vom Hotel würde in den Müll wandern, meine Büroschubladen vom Hausmeister ausgeräumt werden. Ich überlegte, was ich dort vergessen hatte: Kokosnussbonbons und einen halbgelesenen Krimi. Ich würde wohl nie herausfinden, wie er ausging.
Ich verspürte ein plötzliches Bedauern. Ich hatte meine Kollegen im Clement-Hotel in Hongkong im Stich gelassen. Nathan würde wahrscheinlich gegen eine Wand boxen, wenn er merkte, dass ich für immer weg war. Der Gedanke daran jagte mir einen Schauer über den Rücken, trotz der Hitze.
Während Fizzy weiter von all den »unheimlich faszinierenden« Milliardären schwärmte, die auf der Insel wohnten, konzentrierte ich mich darauf, tief durchzuatmen. Wir fuhren weiter, vorbei an etwas, das wie der Hauptkomplex aussah: schräge, über den Strand ragende Strohdächer und ein künstlicher Pool, der ins Meer überzugehen schien. Keine zehn Minuten später standen wir vor einem weißen Kubus auf den Felsen über dem Meer.
»Du wirst in der Queen-Conch-Villa schlafen.« Fizzy brachte den Buggy sanft zum Stehen. »Eine meiner Lieblingsvillen, direkt neben Kip. Du bist bestimmt völlig erschöpft nach der langen Reise in der Holzklasse. Komm heute Abend zur Party. Die Vollmondpartys auf Keeper Island sind absolut einzigartig.«
Ich dankte ihr und schlurfte in das Fünf-Sterne-Haus, das für einen Tag meines sein würde. Es war klimatisiert, kühl und duftete nach Jasmin. Von außen betrachtet hatte ich hier einen Traumjob ergattert. Solange alles, was in Hongkong geschehen war, in der Vergangenheit blieb, war ich hier sicher.
Ich war so erschöpft, dass ich mich auch mit einer tröpfelnden Dusche und einem Schlafsack auf dem Boden zufriedengegeben hätte. Die Queen-Conch-Villa war jedoch der pure Luxus.
Alles war in blassen Sand- und Steintönen gehalten und mit geschwungenen Kanten versehen, fast so, als ob scharfe Ecken unschicklich wären. Die Ausstattung war dezent, aber ich hatte genug Erfahrung in diesem Bereich, um den Wert jedes Gegenstandes in der Villa sofort zu erkennen. Im Bad gab es italienischen Marmor, im Wohnzimmer skandinavische Designerstühle, überall maßgefertigte Leuchten aus schimmerndem Glas, die von der Decke herunterzuperlen schienen.
Nach einer langen, heißen Dusche ließ ich mich auf eines der weißen Sofas fallen und schaufelte mir Iberico-Schinken in den Mund, als wäre es ein Big Mac. Ich hatte den Zimmerservice über das hauseigene Tablet bestellt, und die Geschwindigkeit, mit der er gekommen war, ließ mich vermuten, dass die Insel entweder zu viel Personal hatte oder mit militärischer Präzision geführt wurde.
Am Vormittag klopfte es leise an der Tür. Ich riss den Kopf hoch. Moxham?
»Herein!« Ich stapfte zur Tür und spürte in meinem Körper die Schmerzen jeder einzelnen Stunde meiner Langstreckenreise.
Als ich die Tür aufmachte, erblickte ich eine kleine, kurvige Frau mit dunkler Haut. Als sie sich mir als Masseurin vorstellte, stieß ich ein dankbares Wimmern aus. »Ja, bitte.«
Sie lächelte schief und begann, ihren Tisch aufzubauen. Ich machte ihr Komplimente für ihre herabbaumelnden, wie Vögel geformten Ohrringe, aber sie schien nicht in der Stimmung für Smalltalk zu sein, also ging ich ins Badezimmer, um mich auszuziehen.
Wenige Minuten später lag ich auf dem Rücken, schloss die Augen und atmete den Lavendelduft des Aroma-Öls ein. In dem Moment, als die Frau ihre Daumen in meine Schultern grub, begann ich zu weinen, und konnte dann nicht mehr aufhören. Ich weinte um Nathan, um alles, was ich verloren hatte. Ich weinte, weil ich jetzt in Sicherheit zu sein glaubte. Im Paradies würde ich vielleicht sicher sein.
Die Masseurin tat zunächst so, als würde sie es nicht bemerken, aber als mein ganzer Körper von Schluchzern geschüttelt wurde, konnte sie es nicht mehr ignorieren. Sie zog das Laken ein Stück über mich und murmelte: »Möchten Sie, dass ich Sie allein lasse?«
»Ja«, stammelte ich, ohne sie anzuschauen.
Als sie weg war, versuchte ich mich zu beruhigen, indem ich im Geiste eine Liste der seltsamsten Gäste aufstellte, denen ich im Laufe meiner Karriere begegnet war. Verrotztes Weinen schaffte es da nicht mal unter die Top 100. Ich tröstete mich mit den Erinnerungen an Gäste, die ihren Zwergpudel als ihren Sohn bezeichneten und rund um die Uhr eine Hundebetreuerin brauchten. Mit etwas Glück hatte die Masseurin auch schon ganz andere Dinge als meine Heulerei gerade erlebt. Aber leider war ich kein Gast, und ich würde sie irgendwann wiedersehen müssen.
Ich ging hinaus auf die Veranda, um den Kopf freizubekommen. Die Sonne näherte sich ihrem Höhepunkt, aber vom Wasser her wehte eine starke Brise. Die riesige Veranda, die über die felsige Küste hinausragte, war größer als meine alte Wohnung. Es gab eine Außendusche, ein paar Hängematten und einen Whirlpool.
Ich blickte über die Brüstung in die Tiefe. Fünf Meter unter mir erstreckte sich ein Felsvorsprung bis hinaus ins Meer. Als ich angekommen war, musste gerade Ebbe gewesen sein, aber jetzt stieg der Meeresspiegel. Bei Flut würde unter der Veranda nichts als Wasser zu sehen sein.
Dann sah ich sie. Auf den Felsen lag eine Frau. Sie klammerte sich dort verzweifelt fest.
Grundgütiger …
Was hatte sie da draußen zu suchen? Sie würde ertrinken.
Ich war schon kurz davor, über das Geländer zu springen und ihr zu Hilfe zu eilen, doch als ich blinzelte, klärte sich die Szene von selbst auf.
Die Frau war eine Statue, alabasterfarben. Sie lag auf den Felsen, den Rücken gekrümmt, den Kopf zurückgeworfen, orgasmisch. Wenn die Flut käme, würden die Wellen über sie hereinbrechen. Verstört ließ ich das Geländer los und drehte mich um. Ich wollte nicht zusehen, wie das Meer sich auf sie stürzte.
Mein Plan war gewesen, vor der Party noch ein paar Stunden zu schlafen, aber ich war hellwach. Es war mir unangenehm, Resortgast zu spielen und nichts zu tun. Ich wollte da raus und sehen, wie die Arbeit auf Keeper Island wirklich aussah. Und außerdem wollte ich Moxham finden.
Er war der einzige Mensch auf der Welt, mit dem ich über die vergangenen Ereignisse sprechen konnte. Alles ist in Ordnung. Ich wiederholte die Worte immer wieder, aber ich war mir nicht sicher, ob ich sie glauben würde, solange ich sie nicht von Moxham gehört hatte.
~
»Hallo?« Als ich das Restaurant betrat, war niemand zu sehen. Es war ein balinesisch inspiriertes Gebäude, ganz aus natürlichem Holz und Bambus, mit Belüftungsöffnungen in den Seiten, durch die eine laue Brise wehte. Ich schlenderte in die benachbarte Küche, in der es nach Knoblauch und etwas Fleischigem roch, das in einer Pfanne brutzelte.
»Entschuldigung?« Die einzige Person, die ich sehen konnte, war ein muskulöser Mann mit einem Kurzhaarschnitt, der Kopfhörer trug und dessen Arme bis zu den Ellbogen in seifigem Geschirr steckten.
Ich war zu Fuß die Küstenstraße zurückgelaufen, über die ich mit Fizzy zur Villa gekommen war. Ein zehnminütiger Spaziergang hatte mich zum Hauptkomplex des Resorts geführt, der mit Swimmingpools und Tiki-Bars ausgestattet war.
Auf dem Weg dorthin hatte ich einen Golfwagen angehalten, dessen Fahrerin von einem riesigen Wäschestapel halb verdeckt wurde. Sie hieß Shirley und gab mir munter Auskunft, als ich fragte, wo ich Moxham finden könne.
»Er bringt mir manchmal mittags Kuchen mit«, ein kurzes Lächeln war in ihrem Gesicht aufgeblitzt.
»Er hört sich gerne den Klatsch und Tratsch an. Aber heute habe ich ihn noch nicht gesehen. Muss wohl mit der Party beschäftigt sein.«
Ich hatte das Gefühl gehabt, sie aufzuhalten, und als sie mir gesagt hatte, ich solle mit dem Chefkoch sprechen, hatte ich sie nicht nach weiteren Einzelheiten gefragt.
Ich machte einen weiteren Schritt hinein in die Küche. »Entschuldigung«, sagte ich noch einmal, und dieses Mal schaute der Tellerwäscher auf. Bevor er etwas sagen konnte, brach am anderen Ende des Raumes ein Tumult aus.
»Ich kann nicht! Ich kann nicht! Ich kann einfach nicht!«
Eine schrille weibliche Stimme. Der Geschirrspüler bewegte sich nicht, aber ich wurde instinktiv in Richtung des Tumults gezogen.
Die Küche war ein großzügig bemessener Raum, mit riesigen glänzenden Flächen aus Edelstahl. Ich ging vorbei an Gestellen mit mindestens hundert winzigen Marmeladentörtchen, die dort gerade abkühlten.
»Er ist widerlich. Ich hör’ auf, ich hör’ auf, ich hör’ auf!«
Eine junge Frau lag auf dem Boden, ihr blondes Haar verdeckte das Gesicht, die Sonnenbrille saß schief auf dem Kopf. Sie versuchte, noch etwas zu sagen, aber es kamen nur stöhnende Laute aus ihr heraus, als wäre sie tödlich verletzt.
»Was ist hier los?«, fragte ich.
Zwei Männer in weißen Kochuniformen standen über ihr.
»Sie hat einen schlechten Tag«, sagte einer von ihnen.
Es war eine so absurde Untertreibung, und dann noch vorgetragen mit einem völlig ausdruckslosen französischen Akzent, dass ich fast gelacht hätte, aber sein Gesicht blieb ernst. Das Erste, was mir an ihm auffiel, waren seine perfekt gewölbten Augenbrauen. Sie passten zum Rest seines guten Aussehens: olivfarbene Haut und kastanienbraunes Haar.
Er musterte mich eingehend. »Und du bist …«
Bevor ich die Villa verlassen hatte, war ich in die Uniform geschlüpft, die man mir bereitgelegt hatte. Schwarze Shorts und weißes T-Shirt mit einem kleinen Schlüssel-Logo.
»Die neue stellvertretende Managerin.«
»Richtig, Moxham hat dich heute Morgen erwähnt.« Der andere Mann, dünn wie eine Bohnenstange, mit einem Kopftuch, das sein schwarzes Haar zusammenhielt, schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Lola. London.« Seine Finger zeigten wie Pistolen auf mich. »Nachwuchshotelkauffrau des Jahres, aber nicht wirklich Nachwuchs.« Sein Akzent war südafrikanisch.
Sie hatten mich gegoogelt. Hätte ich an ihrer Stelle auch gemacht. Ich lächelte unschuldig. »Das bin ich.«
»Hobbys: Wandern und Squash. Fußfetisch. Vielleicht habe ich den letzten Teil auch nur erfunden.« Der südafrikanische Kopftuchmann grinste.
Wenn ein Fußfetisch das Schlimmste war, was sie sich über mich vorstellen konnten, dann Gott sei Dank.
»Schön, dich kennenzulernen, Lola.« Der Bilderbuchkoch trocknete seine Hände an einem Geschirrtuch ab und gab mir mit einem ahnungsvollen Gesichtsausdruck die Hand. Er stellte sich als Guillaume vor. Der Bandana-Mann hieß Tyson.
»Wir haben hier ein kleines Problem«, sagte Guillaume. »Entschuldige uns.«
Wie auf Kommando stieß die Frau am Boden einen weiteren, schrecklich leidenden Schrei aus. »Das ist es nicht wert! Kein Geld der Welt ist es wert, dieses …«
Trotz all ihrer Bemühungen waren die Männer absolut nutzlos. Ich hockte mich hin und berührte die Frau sanft am Arm. »Komm, lass dir mal vom Boden aufhelfen, Herzchen.« Ich sah zu Tyson auf. »Hol ihr einen Stuhl und ein Glas Wasser.«
»Kaffee«, schniefte sie, »mit Hafermilch.«
Ich unterdrückte ein Lächeln. Offensichtlich stand sie nicht wirklich an der Schwelle zum Tod.
»Hol ihr einen Kaffee.«
Im Laufe der nächsten zehn Minuten kam Tessa (Irin, einundzwanzig, einfache Herkunft, Möchtegern-Model-Influencerin, seit Kurzem Hostess auf Keeper Island – »Ich höre auf!«) allmählich hinter ihrem Haarvorhang hervor und erzählte ihre Geschichte.
Tobias Ford, ein Tech-Bro mit einer Milliarde auf der Bank und einer launischen Trophäen-Freundin im Schlepptau, war vor zwei Tagen angekommen. Die beiden waren schon ein paar Monate zuvor auf der Insel gewesen und ihr Ruf eilte ihnen voraus. Tyson hatte sie »Der Wichser und die Wichserin von und zu Silly-Cone Valley« getauft. Tessa und die beiden anderen Hostessen, Maria und Alex, hatten Strohhalme gezogen, wer in die Ford-Villa würde einziehen müssen. »Ich hab’ verloren«, sagte sie und ihre Unterlippe bebte.
Während ihres Aufenthalts in den letzten achtundvierzig Stunden hatten sich Ford und seine Freundin Carolina über das Wi-Fi beschwert (nicht schnell genug), sie hatten sich über die Golfwagen beschwert (nicht schnell genug), sie hatten sich über die Faultiere beschwert (nicht freundlich genug) …
»Es gibt hier Faultiere?«, fragte ich.
Guillaume nickte.
… Sie hatten sich über die Küche beschwert (er: nicht gehoben genug, sie: zu gehoben). Vor einer Stunde hatten sie sich über das Team vom Wassersportbereich beschwert.
»Der Mann war mit dem Jetski unterwegs und sie wusste nicht, wohin mit sich« – Tessa nahm einen Schluck von ihrem Kaffee – »also haben wir ihr ein Paddelbrett besorgt. Dann kommt er zurück und kriegt einen Anfall, weil die Jungs sie im Bikini gesehen haben. Ich meine, sie haben geguckt. Sie haben eben aufgepasst, dass sie nicht ertrinkt, weil sie immer wieder reingefallen ist.«
Tessa, jetzt auf einem herbeigeholten Restaurantstuhl, saß nach vorne geneigt, immer noch den Tränen nahe. Ich streichelte ihren Rücken in langsamen Kreisen. Es war erleichternd, wieder bei der Arbeit zu sein, sich auf eine Katastrophe konzentrieren zu können, die so leicht zu beheben war.
Eine kleine Menschenmenge hatte sich versammelt, Küchenhilfen und ein paar Kellner, die aus dem Restaurant herübergekommen waren, aber Guillaume scheuchte sie weg. »Das Mittagessen kocht sich nicht von selbst!« Sein Tonfall klang falsch, nicht sarkastisch genug, nur unfreundlich, aber seine Ansage hatte die gewünschte Wirkung. Die Menge zerstreute sich. Guillaume seufzte. »Dieser Hühnerstall«, sagte er leise.
Tyson knallte eine Pfanne auf den Herd und begann, demonstrativ etwas darin zu flambieren. »Soll sie eben ertrinken, dann werden sie schon sehen.« Er sprach laut, um über das Brutzeln hinweg gehört zu werden.
»Ja, ich wünschte, sie hätten sie ertrinken lassen«, sagte Tessa. »Er hat mich angeschrien und gesagt, ich sei ein nutzloses Miststück.« Sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Mein Kopf ist völlig durcheinander, ich kann das alles nicht mehr. Ich bin um fünf Uhr wachgeworden, weil sie versucht haben, eine Banane im Klo runterzuspülen. Dieser Job ist das Allerletzte.«
»Wie bist du mit Ford auseinandergegangen?«, fragte ich.
»Er wollte mit dem Manager sprechen.«
Guillaume nickte. »Wir sollten auf Moxham warten. Er wird wissen, was zu tun ist.«
»Ich habe ihn angefunkt, aber er ist nirgendwo zu finden«, sagte Tessa.
Reflexartig zupfte ich an meinem Ohrläppchen. »Wir müssen nicht auf ihn warten.«
Tessas und mein Blick begegneten sich. Ihre Augen waren von einem verwaschenen Grau, ihre Wimpern blass.
»Wenn du morgen kündigen willst«, sagte ich, »dann kündigst du. Aber jetzt bringen wir die Sache in Ordnung. Du wirst den Jungs vom Wassersportbereich sagen, sie sollen sich entschuldigen.«
Tyson stotterte. »Was?«
»Die haben wahrscheinlich etwas geglotzt. Und selbst wenn nicht, Ford ist verärgert. Und wenn man verärgert ist, kriegt man eine Entschuldigung.«
Ich stand auf und schnippte mit den Fingern. »Wir lockern es etwas auf, falls ihr sein Wutanfall peinlich ist. Wir verbinden den Jungs die Augen und schreiben ihnen mit Filzstift ›Tut uns leid‹ auf die Stirn. Sie sollen es ein bisschen übertreiben. Dann bringst du ihnen eine Magnumflasche Champagner, zusammen mit – Guillaume, was ist dein Lieblingsdessert? Irgendwas mit Schokolade.«
Guillaume murmelte, der Konditor habe letzte Woche gekündigt und er sei mit dem Essen für den »Hühnerstall« überfordert, aber vielleicht – vielleicht – könne er, wenn er sich richtig ins Zeug lege, eine dreilagige Ganache-Torte machen.
»Okay.« Ich klatschte in die Hände. »Also, wir haben einen Plan.«
»Findest du wirklich, ich sollte das alles tun?« Tessa umklammerte ihre Kaffeetasse wie einen Stressball.
»Ja« – ich entriss ihr die Tasse und stellte sie auf den Tresen – »und in ein paar Tagen reisen sie ab und geben dir ein fettes Trinkgeld, weil du so wunderbar und verständnisvoll gewesen bist.«
»Okay.« Tessa setzte ihre Sonnenbrille auf. Ich bemerkte, dass es eine Cartier-Sonnenbrille war. Sie musste gutes Trinkgeld bekommen, wenn sie sich die leisten konnte. Vielleicht waren die Gäste auf Keeper Island doch nicht ganz so miserabel.
Sie stand auf und ich schob sie zur Tür. »Du wirst das großartig machen. Einfach immer lächeln.«
Tyson kratzte sich am Kinn. »Scheiße, mein einziger Vorschlag wäre gewesen, den Strom in seiner Villa zu kappen. Um mal zu sehen, wie ihm das Paradies ohne Klimaanlage gefällt.«
»Wir sind hier, um Probleme zu lösen, nicht, um neue zu schaffen«, sagte ich.
Guillaume, dessen Stirnrunzeln auch gut in ein düsteres Editorial-Fotoshooting gepasst hätte, schnauzte Tyson an, dass er sich wieder an die Arbeit machen solle.
»Tut mir leid, dass ich euch noch mehr Stress bringe«, sagte ich zu ihm.
Er zuckte mit den Schultern und starrte in die Ferne. »So ist eben der Job.«
Ich schluckte ein Lachen runter. »Irgendeine Idee, wo ich Moxham finden kann?«
»Schon im Kontrollzentrum nachgesehen?«
~
Ich hätte es Moxham gegenüber niemals zugegeben, weil er auch so schon selbstgefällig genug war, aber alles, was ich wusste, hatte ich von ihm gelernt. Schon nach ein paar Monaten unserer Zusammenarbeit hatten wir einen Geheimcode entwickelt. In brenzligen Situationen im Hotel zog ich mir einmal am Ohrläppchen. Das bedeutete: »Dieser Gast ist besonders furchtbar.« Er schaute mich dann an und zog zweimal an seinem Ohrläppchen, was bedeutete: »Ich weiß, die können sich alle mal ficken.«
Mox ließ sich seine Gereiztheit nie anmerken. Selbst die unmöglichsten Gäste wusste er zu bezaubern. Auch an den stressigsten Tagen konnte er noch lachen. Wir hielten uns gegenseitig mit Galgenhumor bei Laune, taten so, als würden wir Zyanid in den Champagner von X schütten oder einen Toaster in den Whirlpool von Y werfen.
Trotz allem freute ich mich also darauf, wieder mit Moxham zusammenzuarbeiten. Doch ich konnte ihn beim besten Willen nicht ausfindig machen. Er war nicht im Kontrollzentrum – einer unansehnlichen Ansammlung von Gebäuden auf der Nordseite der Insel, die für die Gäste nicht einsehbar war und zu der die Wäscherei, die Entsalzungsanlage und die Klärgrube gehörten.
Auf dem Rückweg, als ich an den Gästevillen vorbeikam, sah ich jemanden, der gerade an dem schlanken Stamm einer Kokospalme hinaufkletterte und dann mit einer Machete Kokosnüsse abschnitt. Aber es war nicht Moxham.
Er war auch nicht am Hauptstrand, wo eine kleine Armee von Hotelangestellten Tiki-Fackeln anzündete und riesige Spaliere aus weißen Rosen aufstellte, von denen rote Farbe tropfte.
Irgendwann, als die Schatten länger wurden und sich mein Jetlag allmählich wieder meldete, stapfte ich zur Queen-Conch-Villa, um mich für die Party umzuziehen.
~
Die Sonne ging früh unter, so nahe am Äquator. Von der Veranda der Villa aus bot sich ein spektakuläres Bild: Orange- und Rottöne spiegelten sich im Wasser. Die Marmorstatue war in den Wellen verschwunden. In der Ferne ertönten Steel Drums.
Nach dem ganzen Umhergelaufe am Nachmittag war ich verschwitzt. Mein Blick fiel auf den Whirlpool. Ein Bad würde mir guttun. Was hatte Fizzy gesagt? Ich soll mich »wie ein Gast fühlen«. Ein letztes bisschen Luxus würde nicht schaden. Die Blubberblasen fühlten sich himmlisch an, als ich in das sprudelnde Wasser glitt.
~
Ich musste eingenickt sein.
Verschlafen setzte mich auf. Das Wasser spritzte, als ich nach dem Keramikrand griff. Meine Mutter war immer abergläubisch gewesen, wenn es ums Ertrinken in der Badewanne ging.
Die Musik war jetzt lauter und hallte über das Meer. Ein Schrei ließ mir die Nackenhaare zu Berge stehen, doch er löste sich in Gelächter auf. Es war nur die Party. Die Veranda war dunkel, aber am Rand meines Sichtfeldes tanzten Lichter.
»Lola.«
Ich schaute mich um, unsicher, ob ich mir die Stimme nur eingebildet hatte.
Mir war mulmig. Das Wasser war kalt geworden, die Oberfläche glatt, und ich war splitternackt.
»Lola …«
Meine Fingerknöchel am Rand des Whirlpools wurden weiß.
Eine Gestalt trat zögerlich aus der Dunkelheit.
»Du hast mich zu Tode erschreckt.« Ich lächelte erleichtert.
»Dich erschreckt doch nichts, Showgirl.«
Moxham sank neben dem Whirlpool auf die Knie. Er gab sich keine Mühe, die Augen abzuwenden. Wahrscheinlich hatte er mich schon mal nackt gesehen – beim Nacktbaden im Hotelpool nach Feierabend –, aber es brachte ein Gefühl der Verletzlichkeit mit sich.
»Wie bist du hier reingekommen?« Mein Verstand war vom Schlaf noch getrübt. Ich hatte die Tür zur Villa verschlossen (oder?). Moxham musste einen Generalschlüssel haben. »Wie spät ist es?«
»Zehn, noch früh am Abend.« Als er mit den Schultern zuckte, purzelte ihm ein Zylinder vom Kopf. Er fuhr sich mit der Hand durch das braune Haar, sodass es sich aufrichtete. »Schön, dich zu sehen, Kleines.« In der anderen Hand hielt er eine offene Flasche Champagner. Er bot mir einen Schluck an, aber ich schüttelte den Kopf.
»Ist ganz schön lange her.« Ich neckte ihn. »Du bist alt geworden.«
Er schnaubte. Ich überlegte, ob ich ihn anweisen sollte, sich umzudrehen, und etwas Aufhebens darum veranstalten, meine Kleider von der Veranda zu holen, wo ich sie abgelegt hatte. Das würde allerdings meine Unsicherheit offenbaren, während ich eigentlich gelassen wirken wollte.
»Weißt du, ich habe mir heute eine Blase gelaufen, als ich dich gesucht habe«, sagte ich. »Wo warst du denn?«
Ich tastete nach dem Bedienfeld des Whirlpools und brachte das Wasser wieder zum Leben. Von den schäumenden Blasen wurde ich zumindest teilweise bedeckt.
Er lächelte. »Genau wie in alten Zeiten, oder? Ich hänge irgendwo rum und du machst die Arbeit.« Moxham ließ einen Arm über den Rand des Whirlpools hängen. Sein Atem roch nach saurem Wein und Zigaretten. Er trug einen zerknitterten babyblauen Leinenblazer, darunter ein Hemd.
Ich lachte. Moxham und ich hatten uns nie verstellen müssen, wenn wir zusammen waren, und das war angenehm.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Viel.« Er unterstrich das Wort, indem er mit der Flasche gegen den Whirlpool klopfte. »Eine Menge ist los. Ich habe dich vermisst. Ich brauche deine Hilfe.«
Meine Heiterkeit verflog. Ich schüttelte den Kopf.
»Ein bisschen Taschengeld dazuverdienen?«, fragte er.
»Ich will das nicht.«
Er tauchte eine Hand unter die Wasseroberfläche. Mein ganzer Körper spannte sich an.
»Natürlich tust du das«, sagte er, wirbelte mit seinen Fingern herum und spritzte spielerisch mit dem Wasser.
»Tu ich nicht.«
Ich spritzte zurück, aber es war nicht spielerisch, sondern so aggressiv, dass der Ärmel seines Jacketts durchnässt wurde. Mein Standpunkt wurde deutlich. Er nahm seine Hand aus dem Wasser.
»Du und ich, wir sind Realisten. Und das Realste, was es gibt«, er rieb seine Finger aneinander und ließ die Tropfen fliegen, »ist hartes, kaltes Geld, Showgirl.«
Sein Spitzname für mich – aus einem Barry-Manilow-Song – hatte mich sonst immer zum Lachen gebracht, heute aber nervte er mich.
»Was hast du diesmal ausgeheckt?« Ich versuchte, unbeschwert zu klingen, aber die Worte kamen hart rüber.
»Mir sitzt der Teufel im Nacken«, murmelte er.
Schweißperlen traten mir auf die Stirn, als sich das Wasser im Whirlpool allmählich aufheizte. »Was?«
Er antwortete nicht, nahm nur einen tiefen Schluck aus der Champagnerflasche. »Was ist in Hongkong passiert?«, fragte er schließlich.
Eigentlich hatte ich ihm mein Herz ausschütten wollen, aber Moxhams Nihilismus rieb mich völlig auf. Meine Geschichte kam in gestelzten, unvollständigen Sätzen raus. Schließlich versank ich in Schweigen. In der Ferne waren Trommeln zu hören; in der Nähe nur das aufgewühlte Wasser.
»Du hast es vermasselt, hab’ ich recht?«, sagte Moxham.
Seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Keinerlei Bestärkung. Kein Versuch, mich zu trösten. Hinter meinen Augen baute sich Druck auf.
»Trotzdem« – er lachte, dieses unverwechselbare Hyänenkläffen – »jetzt bist du hier. Aus der Schusslinie. Könnte sich als nützlich erweisen.«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ich musste mich anstrengen, nicht zu weinen.
Mühsam erhob er sich, wankend, und beugte sich hinab, um seinen Zylinder aufzuheben.
»Na los, zieh dich an, komm zur Party. Und komm nicht zu spät, wir haben noch zu tun.«
Moxham verschwand in der Dunkelheit. Laut fiel die Glastür hinter ihm zu.
~
Eine Stunde später war ich Alice im Wunderland. Barfuß lief ich im Sand an einem handgemalten Holzschild mit der Aufschrift Wir sind alle verrückt hier vorbei. Irgendjemand hatte mir ein glitzerndes schwarzes Kleid in meiner Villa dagelassen, zusammen mit meiner Arbeitsuniform. Der Saum war zu lang und ich stolperte mehr als einmal beinah darüber.
Im Clement Hongkong hatte ich hin und wieder Themenpartys organisiert, aber nie so aufwendige wie diese. Zusätzlich zu den bemalten Rosen von vorhin gab es einen märchenhaften Baum aus echtem Holz, dessen Stamm an der Basis abgesägt war und an dessen Ästen riesige Taschenuhren an Ketten hingen. Vor dem dunklen, sich kräuselnden karibischen Meer und dem im Vollmond leuchtenden Sand wirkte das alles noch seltsamer.
Ein paar Dutzend Leute tummelten sich am Hauptstrand, tranken, lachten und versuchten, zu der Musik des DJs zu tanzen. Alle waren formell gekleidet, deshalb war es schwer, zwischen den Gästen und dem Personal zu unterscheiden.
»Hallo, Herzchen!« Fizzy winkte mir über die Köpfe hinweg zu. Aus mir unerfindlichen Gründen hatte sie eine Plastikkrone auf dem Kopf. Sie stürzte herbei, um mir Luftküsse zu geben, und stellte mich dann einer Gruppe von irgendwelchen Neureichen vor.
Neben einem Gewürzmagnaten und einem TV-Manager war auch ein englischer Fußballspieler anwesend. Eine modisch gekleidete Italienerin, Erbin eines Drogerie-Vermögens, flirtete ausgiebig mit ihm, während seine Frau direkt danebenstand. Vielleicht hatte sie, wie wir anderen auch, von seiner außerehelichen Affäre gehört, von der in allen Zeitungen die Rede gewesen war. Keiner der Gäste interessierte sich sonderlich für mich, und ich war erleichtert, als ein stürmischer Deutscher zu mir sagte: »Einen Drink, bitte, Schätzchen!«
Er bedankte sich herzlich (»Danke, merci, thank you!«), als wäre ich eine hilfsbereite Freundin. Eine Freundin, die dafür bezahlt wurde, hier zu sein. Eine Freundin, die einem immer nachschenkte. Dann ignorierte er mich wieder.
Ich schlenderte zum Büfett hinüber, das zwar schon etwas abgepflückt aussah, auf dem es aber immer noch reichlich gab; sicherlich mehr als jemals gegessen werden würde. Mir kam der vage Gedanke, dass ich eine örtliche Wohltätigkeitsorganisation ausfindig und etwas vom überschüssigen Essen spenden sollte. Ich war nicht hungrig, aber der Jetlag machte mich schwindelig, also beschloss ich, etwas zu essen, um nicht irgendwann zusammenzuklappen.
Guillaume hatte eine Art Gourmet-Teeparty erschaffen. Es gab die Törtchen, die ich in der Küche gesehen hatte (Erdbeermarmelade mit einem Schuss Rum), daneben kleine Räucherlachssandwiches, Earl-Grey-Shortbread und Mini-Zitronenbaiserkuchen.
Ich sah mich in der Menge um. Ich hatte erwartet, den berühmten Kip Clement zu sehen, aber ich hörte jemanden sagen, er sei wegen Kopfschmerzen früh zu Bett gegangen.
An der Tiki-Bar schnappte ich mir eine der Mini-Glasflaschen mit der Aufschrift Trink mich. Der darin enthaltene Tequila mit Hibiskus ließ mich zwar weder wachsen noch schrumpfen, aber er war köstlich. Ich trank ihn aus, bevor ich darüber nachdenken konnte, ob ich während der Arbeit Alkohol trinken sollte.
Moxhams Worte von vorhin gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Was hatte er vor? War es dumm von mir gewesen, nach Keeper Island zu kommen? Oder machte ich mir zu viele Gedanken? Wie auch immer, ich wollte unser Gespräch noch vernünftig zu Ende bringen.
Ich wandte mich an Fizzy. »Hast du Moxham gesehen?«
»Nein.« Ihre Stimme klang etwas schnippisch, was sie jedoch mit einem Lächeln versüßte. »Aber du musst unbedingt Eddie kennenlernen.« Sie schob mich in die Richtung eines Mannes, der von Kopf bis Fuß in etwas gekleidet war, das wie brandneue Freizeitkleidung aussah. »Großes Tier in Hongkong«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, bevor sie uns einander vorstellte.
Eddie Yiu setzte ein breites, gebleichtes Lächeln auf, das sich nicht in seinen Augen widerspiegelte. »Ah, ein bekanntes Gesicht«, sagte er mit amerikanischem Akzent.
Ich runzelte die Stirn, konnte ihn aber nicht einordnen. War er vielleicht ein Gast im Clement Hongkong gewesen? Eddie Yiu war ein paar Zentimeter größer als ich, aufgepumpt mit Muskeln, die sich langsam in Fett verwandelten. Bevor ich fragen konnte, was er damit meinte, begann er mir eine lange, langweilige Geschichte zu erzählen über »seine Auszeit« und die spirituelle Suche, die er gerade hinter sich gebracht hatte. (Ich vermutete, dass es um Ayahuasca und die Wüste ging.)
Fizzy schwebte davon und ich saß mit Eddie fest. Er schien als Einziger unter diesen ganzen Superreichen Interesse an mir zu haben. Vor allem, weil er mich mit der Subtilität eines Mannes anbaggerte, der noch nie das Wort »Nein« gehört hatte.
Unweit von uns spielten zwei Frauen in juwelenbesetzten Kleidern mit Plastikflamingos Krocket. Ich schaute ihnen nebenbei zu, während Eddie gerade eine Anekdote über eine Großwildjagd zum Besten gab, auf der er vor Kurzem gewesen war (»Ich hab’ da ein richtig fettes Biest erlegt«). Beim Sprechen rollte ein Tropfen irgendeiner Flüssigkeit – Wein? Tinte? Blut? – seinen Arm hinunter und landete im Sand.
Bevor ich herausfinden konnte, ob ich es mir eingebildet hatte, hörte ich das Klirren von Glas. Eine der Krocket-Frauen hatte ihren Flamingo so heftig geschwungen, dass sie ihrer Begleiterin die Champagnerflöte aus der Hand geschlagen hatte.
»Ich muss das wegmachen«, sagte ich zu Eddie. »Das ist wirklich gefährlich.« Das war keine Lüge. Zerbrochenes Glas war der heimliche Ripper der Badeorte.
Ohne Eddies Antwort abzuwarten, huschte ich davon.
Ich ging den Strand hinauf und den gepflasterten Weg entlang, der zum Restaurant mit seinem balinesischen Strohdach führte. Ich nahm an, dass sich nie mehr als zwanzig Gäste gleichzeitig auf der Insel aufhielten – oft wahrscheinlich sogar weit weniger –, aber das Restaurant war groß genug, um doppelt so viele Gäste zu beherbergen. Es schien ein weiterer Beweis dafür zu sein, dass Keeper Island kein normaler Urlaubsort war und wie ein Königsschloss betrieben wurde.
Da alle Gäste am Strand waren, war das Restaurant dunkel und die Lüftungsöffnungen geschlossen. Die Tür war zu. Ich scheiterte bereits jetzt an meiner neuen Aufgabe, weil ich nicht wusste, wo ich etwas so Einfaches wie eine Kehrschaufel und einen Handfeger herbekommen sollte.
Niemand war in der Nähe, aber irgendwo in der Ferne hörte ich Rap-Musik – ein Kontrast zu dem Electro-Pop, den der DJ am Strand spielte. Ich ging einen mit Farnen gesäumten Weg entlang, der seitlich an dem Restaurant vorbeiführte.
Ein leises Stöhnen erfüllte die Luft, wie von einem wilden Tier. Was war das? Als ich um die Ecke ging, kam ich zu einem der Gästepools, der von einer Terrasse umgeben war. Gestreifte Liegestühle waren mit Tellern und halbleeren Gläsern übersät. Cannabisgeruch juckte in meiner Nase.
Jetzt sah ich die »wilden Tiere«. Ein paar Jungs rangen miteinander. Einer von ihnen trug ein Hasenkostüm.
»Er hat mir in die Eier getreten!«, rief der Hase mit einem vertrauten südafrikanischen Akzent. »Du dreckiger Bastard.«
»Ich hab’ nie gesagt, dass es keine Regeln gibt«, war die Antwort. Amerikanisch.
Die darum versammelte Menge brach in einen Streit darüber aus, wer recht hatte und wer nicht. Ich hatte das Gefühl, dass vom Ausgang des Ringkampfes eine Menge Geld abhing. Alle hier waren Angestellte. Sie hatten sich davongeschlichen, um sich in den Gästeanlagen auszubreiten, was zu trinken, was zu rauchen, sich vor der Arbeit zu drücken und sich außer Hörweite über die Gäste zu beschweren.
Das erinnerte mich an meine Aufgabe. »Ich muss ein paar zerbrochene Gläser auffegen«, sagte ich, obwohl alle gerade damit beschäftigt waren, Wetten aufzugeben. Ich hatte gehofft, Moxham hier zu finden, aber als ich mich umschaute, war er nirgendwo zu sehen. Also ging ich den Weg wieder zurück.
»Bist du die Neue?«, sagte eine Stimme.
Als ich mich umdrehte, erkannte ich die Masseurin, die vorhin in meine Villa gekommen war. Am Morgen hatte ich sie schwer einschätzen können, aber jetzt hatte sie ein gummiartiges Grinsen im Gesicht, ihre dunkle Haut war schweißnass.
»Du weißt nicht, worauf du dich hier eingelassen hast.« Sie brach in Kichern aus.
»Was meinst du damit?« Ich nahm an, dass sie damit lange Arbeitstage und eine beschissene Bezahlung meinte, aber ihr Lachen hatte etwas Beunruhigendes an sich.
»Komm, trink einen mit uns.« Sie stürzte auf mich zu, wich nur knapp einem Farn aus und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ihre umherbaumelnden Ohrringe waren rote Vögel mit offenen Mäulern, die auf und ab hüpften, während sie vergeblich versuchte, gerade zu stehen.
Jetzt, wo sie direkt vor mir stand, konnte ich ihren Schnapsatem riechen. »Klingt gut«, sagte ich, »aber ich muss noch ein paar Scherben am Strand auffegen.«
Sie starrte an mir vorbei und hörte mir nicht zu, also sagte ich laut: »Sag mal, hast du Moxham gesehen?«
»Ja.« Etwas blitzte in ihren Augen auf. »Ich hab’ ihn gesehen.«
Sie ließ mich los, machte einen Schritt nach vorne und brach dann in schallendes Gelächter aus.
»Geht es dir gut?«
Ihre Beine knickten ein. Sie krachte in einen Farn neben uns.
»Scheiße!« Ich versuchte, sie aufzufangen, aber sie lag schon auf dem Boden.
Ich kniete mich neben ihr hin. Ich wusste ihren Namen nicht. »Hey! Kannst du mich hören?«, rief ich.
Sie antwortete nicht.
Ich schüttelte sie, aber es nützte nichts.
Wie viel hatte sie getrunken? Atmete sie noch?
»Hilfe! Ich brauche Hilfe«, rief ich, aber der Ringkampf war wieder aufgenommen worden. Die Menschen johlten und buhten.
Ich legte meine Finger an ihren Hals und fühlte ihren Puls. Da stöhnte sie auf und drehte sich um. An ihren Zöpfen hingen Blätter, an ihrem weißen T-Shirt klebte Erde.
»Bist du okay?«, fragte ich.
Ihr Gesicht wirkte schlaff, wie bei einer Seekranken, aber wenigstens atmete sie noch.
»Ich will … Ich will …« Sie lallte, als würde sie Elvis imitieren.
»Ooh, Mann!« Ein Mann kniete sich neben mir hin. »Die Party ist vorbei.« Seine Stimme war fröhlich, und der karibische Dialekt dehnte die Worte wie Kaugummi. »Unsere Aschenputtel muss zu ihrer Kutsche.«
Als er die Frau unter den Achseln hochhob, erkannte ich, dass es Reggie war, der Bootsführer. Er nickte mir zu.
»Alles gut, die wird schon wieder.«
Die Frau erwachte bereits wieder zum Leben. Sie wehrte Reggies Hilfe ab. Erst als sie wieder wankend auf den Beinen stand, ließ sie sich von ihm stützen, und sie gingen fort.
Ich schaute ihnen hinterher. Ich hatte das alles schon tausendmal gesehen – Leute, die betrunken und durcheinander waren und Gefahr liefen, sich ernsthaft zu verletzen –, aber nach der Woche, die hinter mir lag, war es schwer, die Situation mit Humor zu nehmen.
Der Hase (Tyson) half mir, eine Kehrschaufel und einen Handfeger zu holen. Als ich zurück zum Strand ging, kam mir die offizielle Party dort im Vergleich zu der, die ich gerade hinter mir gelassen hatte, ziemlich nüchtern vor.
Einige der Gäste schienen zu Bett gegangen zu sein, darunter auch Eddie, Gott sei Dank. Die verbliebenen Gäste hatten sich zu einem Kartenspiel zusammengetan. Ein muskulöser Mann mit zerknittertem blondem Haar lag mit hochgelegten Füßen da, als gehöre ihm der ganze Ort. Er rief mir zu: »Lust auf ein Spielchen?«, aber ich winkte ihm mit dem Handfeger. »Ein anderes Mal!«
Ich war gerade mit dem Beseitigen der Glasscherben fertig, als Moxham endlich auftauchte. Er schaute den Spielern in die Karten und tat so, als sei das hier eine Party zu seinen Ehren. Ich sah, wie der blonde Mann finster dreinblickte und etwas vor sich hin murmelte. Vielleicht hatte er ein schlechtes Blatt.
Es musste kurz vor Mitternacht sein. Ich unterdrückte ein Gähnen. Die Queen-Conch-Villa erwartete mich. Doch bevor ich die Nachtruhe einläutete, wollte ich noch etwas mit Moxham klären.
»Mox, lass uns kurz reden.« Ich schob mich dicht an ihn ran.
»Willst du was trinken? Du solltest was trinken.« Er hielt immer noch die Champagnerflasche in der Hand, vielleicht war es auch eine neue. Sein Alkoholpegel machte es mir leicht, ihn vom Kartenspiel wegzuführen. Zwanzig Meter weiter stand eine hölzerne, türkisfarbene Strandhütte. Ich ging hinein, und er folgte mir. Sein Telefon piepte, als er sich auf einen der gepolsterten Sitze sinken ließ.
»Verdammte Scheiße, diese Leute könnten nicht mal ein Besäufnis in einer Brauerei organisieren.« Er strich unbeholfen auf seinem Telefon herum. »Dieses dumme Miststück. Kriegt nichts ohne mich hin.«
Ich wurde stutzig. Wer war dieses dumme Miststück? »Hör mir mal kurz zu.« Ich schnipste mit den Fingern vor seinem Gesicht und er schaute mich an.
»Showgirrrl … endlich bist du hier. Mein Ass im Ärmel. Du bist gut in solchen Dingen.« Er griff nach mir und zog zweimal an meinem Ohrläppchen. »Ein kleines Flüstern ins Ohr … und alle Geheimnisse kommen heraus. Scheiße, er hat Geheimnisse, die dir die Haare zu Berge stehen lassen würden.«
»Wer?«
Ohne zu antworten, richtete er sich auf und machte ein paar Schritte nach vorn, als wolle er weggehen. Ich versperrte ihm den Ausgang, machte mich so breit wie möglich in dem Türrahmen der Strandhütte.
»Hör zu, das hier muss ein Neuanfang für mich werden.«
»Natürlich, natürlich«, murmelte er und schaute wieder auf sein Handy.
Ich nahm es ihm aus der Hand. »Keine krummen Sachen, ich mein’s ernst.«
Er stieß sein Hyänenlachen aus. »Aber ich habe da grad einen schönen großen Fisch an der Angel.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Großer Fisch. Reicht für uns beide. Manchmal sträubt sich das Biest ein bisschen. Aber am Ende werden sie immer ruhig. Mir sind fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als ich es gehört hab’. Ertrunken, am Arsch. Das ist nicht die ganze Geschichte, können sie mir nicht erzählen. Verstehen die das nicht? Das ist jetzt meine Insel.«
»Mox, du redest wirres Zeug.«
Zum ersten Mal fragte ich mich, ob vielleicht gar nicht Betrunkenheit sein Problem war, sondern wirklicher Wahnsinn.
Da piepte sein Telefon erneut. Ich hielt es immer noch in der Hand. Automatisch blickten meine Augen auf die neue Nachricht auf dem Display.
Es tut mir leid. Ich möchte …
Bevor ich den Rest der Nachricht lesen konnte, hatte Moxham mir das Telefon aus der Hand gerissen. Sein Gesicht hatte einen Gollum-artigen Schimmer, als er die Nachricht las.
»Herrjemine! Herrjemine!«, sagte er.
»Was?«
Irgendwann hatte er im Laufe des Abends seinen Zylinder verloren, aber er setzte trotzdem eine imaginäre Mütze auf. »Herrjemine! Ich werde mich sicher verspäten.«
Es dauerte eine Sekunde, bis ich begriff, dass er das Kaninchen aus Alice im Wunderland zitiert hatte. Moxham schob mich zur Seite und verschwand aus der Strandhütte.
»Mox, bitte …«
»Was auch immer du tust, Lola, vertraue diesen Leuten nicht.«
Er grinste noch immer, aber jede Leichtigkeit war aus seiner Stimme verschwunden.
»Warum nicht?«
Meine Nägel gruben sich in meine Handflächen. Diesen Leuten? Wem? Meinen neuen Kollegen? Den Gästen?
Moxham rannte davon, aber er wandte sich im Laufen um und rief: »Das sind alles Verräter, du wirst schon sehen.«
In der Strandhütte roch es noch immer nach Zigaretten und Schweiß. Ich wusste nicht, wovon Moxham geschwafelt hatte, aber mir wurde jetzt eine größere Sache klar. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Es war ein Fehler gewesen, Moxham zu vertrauen.
Ich ließ mich auf den Sessel fallen und kämpfte gegen eine Welle der Verzweiflung an. Meine Augenlider fielen langsam zu, als mich ein Schrei von draußen wieder aufschrecken ließ. Durch die offene Tür konnte ich jemanden den Strand entlanglaufen sehen. Es war zu dunkel, um viel von der Person zu erkennen, aber sie war groß und rannte, als ob sie gejagt wurde.
Es vergingen noch ein paar Minuten, bis ich die Kraft hatte, mich aus der Strandhütte zu schleppen.
Bumm.
Eine Explosion zerriss den Himmel. Ich brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass es nur ein Feuerwerk war und nicht das Ende der Welt.
~
Das Bett, in dem ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sich an wie eine Wolke. Ich verkroch mich unter den Laken aus ägyptischer Baumwolle und war versucht, wieder wegzudösen.
Ich hatte letzte Nacht unruhig geschlafen. Irgendwann war ich sicher gewesen, wach zu sein, und hatte ein fernes Licht auf dem Wasser gesehen, das zu hell war, um die Spiegelung des Mondes zu sein. Vielleicht war es ein Traum gewesen.
Widerstrebend warf ich die Decke zurück. Ende der Schlafenszeit. In meinem Kopf schrieb ich bereits eine To-do-Liste. Es war mein erster richtiger Tag auf der neuen Arbeit und Punkt eins auf der Tagesordnung war, mit meinem Chef zu sprechen. Sicherlich würde ich nüchtern ein normales Gespräch mit Moxham führen können.
Es war noch früh, nicht mal sieben Uhr, und ich hatte einen Bärenhunger. Über das Villa-eigene Tablet bestellte ich Frühstück, obwohl ich mich unwohl dabei fühlte, mich immer noch wie ein Gast aufzuführen. Ich bekam frischen Kaffee, Rührei, knusprigen Speck und Pfannkuchen mit Ahornsirup an die Tür geliefert. Dazu eine Papayahälfte, in die ein Blattmuster geschnitzt worden war.
Nach dem Frühstück duschte ich mich und zog meine Uniform an. In dem großen Bad neben dem Schlafzimmer betrachtete ich mich im Spiegel und arrangierte mein dichtes, dunkles Haar. Damals in Hongkong war Nathan gerne mit seinen Händen durch mein Haar gefahren, wenn wir im Bett lagen, hatte verträumt damit gespielt. Ich fummelte eine Nagelschere aus der Schale auf dem Tresen und zögerte, als ich eine Haarsträhne herauszog. Ich musste an Nathans warme braune Augen und sein breites Lächeln denken.
Schnipp.
Ich schnitt, bis das Becken voll war und mir die Haare nur noch bis zum Kinn fielen. Wegen der Nagelschere waren meine Schnitte zackig gewesen und meine Haarspitzen bildeten jetzt eine Art Treppe. Aber das war mir egal. Die Frau, die mich im Spiegel anschaute, sah anders aus, und das gefiel mir.
Neuer Job. Neues Leben. Ein ganz neuer Mensch.
Ich goss mir noch eine Tasse Kaffee aus der Cafetière ein und schlenderte auf die Veranda, um einen letzten Moment der Ruhe zu genießen, bevor ich mit der Arbeit begann. Gegen die klimatisierte Luft in der Villa wirkte die heiße Sonne belebend. Ich lehnte mich an das Geländer und atmete den salzigen Geruch des Meeres ein.
Heute Morgen waren nur der Kopf und die Schultern der Alabasterstatue zu sehen. Eine weitere Welle schwappte über das Gesicht der Frau. Was für eine bizarre Statue. Aber wenn ich eines über reiche Leute wusste, dann, dass die meisten von ihnen vollkommen seltsam waren.
Ich hatte mich schon halb weggedreht, als ich es sah. Etwas Rotes im Wasser.
Die Statue blutete.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streckte mich über das Geländer. Nein, ich hatte es mir nicht eingebildet. Die Felsen waren mit Blut bespritzt.
Eine Welle krachte. Eine Stoffpuppe wirbelte in der Strömung umher.
Noch eine Welle. Mehr Blut.
Der Mann trieb mit dem Gesicht nach oben im Wasser, seine Augen waren leer, er hatte einen Stich oder Striemen auf seiner Wange. Sein Haaransatz war blutverklebt. Die Jacke war nass-dunkel und ebenfalls voller Blut, aber ich konnte erkennen, dass sie einmal babyblau gewesen war.
Moxham.
Ich rannte aus der Villa.
Tot? War er tot?
So viel Blut.
Hastig blickte ich nach links und rechts. Stachelige Büsche, größer als ich, säumten den Weg. Wo zum Teufel sollte ich hinlaufen?
»Hilfe«, keuchte ich, obwohl mich niemand hören konnte. »Hilft mir jemand, bitte!«
Sollte ich ins Wasser springen? Versuchen, ihn zu retten?
Nein, die Felsen. Wenn er überhaupt noch am Leben war.
Die Erinnerung an seine leeren Augen waberte in meinen Gedanken umher und ließ mich stolpern.
Er war tot.
Mir drehte sich der Magen um. Ich hatte den Tod mit nach Keeper Island gebracht. Es war meine Schuld. Alles, was ich anfasste, ging kaputt.
Was sollte ich tun? Den Notruf wählen? Wie war überhaupt die Notrufnummer auf den Jungferninseln?
Ich lachte, es war ein schriller, hilfloser Laut. Ich hatte kein Telefon dabei. Ich hatte keine Freunde auf der Insel. Ich kannte niemanden.
Moxhams Abschiedsworte fielen mir wieder ein. Das sind alles Verräter.
In der Ferne konnte ich die Nachbarvilla sehen, aber ich wusste nicht, wie ich dort hinkommen sollte. Ich hörte ein Geräusch. Quietsch-quietsch-quietsch-quietsch.
Die Spitze meines Zehs blieb an einem gezackten Stein am Wegesrand hängen. Ich stieß einen Schrei aus. Meine Beine knickten ein und ich schlug mit den Knien auf dem Boden auf.
»Verdammt, hilf mir doch jemand!«, schrie ich in den Himmel.
Ein Mann näherte sich. Mein Blick war von Tränen getrübt, aber ich erkannte seine große, schlanke Gestalt, seine perfekte Glatze.
»Was ist los, schönes Mädchen?«
~
Ich lag auf einem gestreiften Liegestuhl, eine Kaschmirdecke von Hermès über mich ausgebreitet. Kip hatte mir eine Glasflasche mit Wasser gebracht, eiskalt aus dem Kühlschrank, aber jedes Mal, wenn ich daran nippte, stellte ich mir vor, im kalten Wasser zu ertrinken. Ich konnte nicht aufhören zu zittern.
Christopher »Kip« Clement, Hotelmagnat und Nummer vierundvierzig auf der Forbes-Liste, saß auf der Kante meiner Sonnenliege und spielte für mich das Kindermädchen.
»Was für ein furchtbarer Schock«, sagte er.
»Ja.«
»Erst mal tief durchatmen.«
Kip hatte mich mit einem Golfbuggy zum Hauptkomplex gefahren. Wir saßen im Innenhof, den ich vage von der Mitarbeiterparty gestern Abend wiedererkannte, obwohl er jetzt sauber gefegt war. Ein paar Meter weiter schimmerte das helle Blau eines ovalen Swimmingpools in der Morgensonne. Alles war zu makellos; es fühlte sich unecht an.
Ich hatte erwartet, dass Kip alles über Moxham würde wissen wollen, aber stattdessen unterhielten wir uns über meine Familie in London.
»Erzählen Sie mir von Flora«, sagte er.
»Ich mache mir Sorgen, dass sie mir zu ähnlich ist«, sagte ich über meine Nichte.
»Das ist sicher nichts Schlimmes.« In Kips Sportsonnenbrille spiegelte sich mein aschfahles Gesicht, aber seine vornehme Stimme hatte etwas Beruhigendes.
»Ich war früher ziemlich wild.«
Kip gluckste. Ich schätzte ihn auf sechzig, aber sein lässiges Lächeln und sein eitles Auftreten ließen ihn jünger erscheinen. Er rieb sich den Nacken und betastete einen gelblichen Bluterguss oberhalb seines Schlüsselbeins. »Solche kenne ich.«
Ein schlaksiger, dunkelhaariger Mann kam mit gesenktem Kopf zu uns. »Die Polizei ist hier«, sagte er mit gedämpfter Stimme zu Kip.
Kip tätschelte meinen Arm und stand auf. Ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht nach seiner Hand zu greifen und zu schreien: Bitte bleiben Sie hier!
»Bin gleich wieder da.«