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Verregnete Ferien bei Oma in Connemara sind nicht so spannend. Darum überzeugt die abenteuerliche Amy ihren ängstlichen älteren Bruder Liam, ihr durch einen rückwärtsfließenden Wasserfall zu folgen. Plötzlich finden sich die beiden im mythischen Tir Na Nog wieder. Kaum angekommen, wird Liam von kopflosen Reitern entführt. Ein böser Zauberer, der die Sonne und damit alle Bewohner Tir Na Nogs gefangen hält, braucht für seinen Fluch ein Menschenkind aus der Welt jenseits des Wasserfalls. Nun ist es an Amy, die verschiedenen Wesen und Stämme Tir Na Nogs zu vereinen, um ihren Bruder zu retten. Währenddessen entdeckt Liam im Schloss des Zauberers den verlorenen Mädchenkönig, mit dem ihn mehr verbindet, als er jemals ahnen konnte...
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Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2025
Für Ellen
CATHERINE DOYLE
Aus dem Englischen von Sarah Heidelberger
KNESEBECK
Titel der Originalausgabe:
The Lost Girl King
Zuerst erschienen in Großbritannien 2022 bei Bloomsbury Publishing Plc., London, England
Copyright Text © 2022 Catherine Doyle
Copyright Illustrationen © 2025 Isabelle Hirtz
Deutsche Erstausgabe
1. Auflage 2025
Copyright © 2025 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München
Ein Unternehmen der Média-Participations
Übersetzung: Sarah Heidelberger, Hamburg
Projektkoordination und Lektorat: Stefanie Böhm, Knesebeck Verlag
Umschlagadaption unter Verwendung der Gestaltung von Isabelle Hirtz:
Leonore Höfer, Knesebeck Verlag
Satz & Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig
ISBN 978-3-95728-910-0
Vervielfältigungen eines Werkes, dessen Rechteinhaber der Verlag ist, für das Text und Data Mining und damit insbesondere für das Training einer Künstlichen Intelligenz bleiben ausdrücklich vorbehalten (§ 44b Abs. 3 UrhG).
Hinweis: Der Vorbehalt umfasst dabei auch Nutzungen außerhalb von Deutschland nach den im Ausland bestehenden Rechtsordnungen.
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.
www.knesebeck-verlag.de
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Kapitel 1 DAS HAUS ZWISCHEN DEN WELTEN
Kapitel 2 DER GOLDENE WASSERFALL
Kapitel 3 DIE VERFLUCHTE SONNE
Kapitel 4 DIE SCHATTENREITER
Kapitel 5 DIE GRÜNLINGE
Kapitel 6 DIE MÄCHTIGEN FIANNA
Kapitel 7 DIE GESCHICHTE DES KRIEGERS
Kapitel 8 HANDEL IN LETZTER SEKUNDE
Kapitel 9 BLAGGARDS FESTE
Kapitel 10 DIE STADT DER GESCHICHTEN
Kapitel 11 DIE STADTFLÜSTERIN
Kapitel 12 DIE KREISCHENDE FINSTERNIS
Kapitel 13 DER WUNSCHBRUNNEN
Kapitel 14 DAS KÖNIGSMÄDCHEN
Kapitel 15 DER SELKIE-PRINZ
Kapitel 16 DER TURM DES MAGIERS
Kapitel 17 DER GÖTTERFRIEDHOF
Kapitel 18 DER LEBENDIGE SEE
Kapitel 19 IN DEN WOLFSLANDEN
Kapitel 20 DAS SCHWERT DER WAHRHEIT
Kapitel 21 CULANNS HÖHLE
Kapitel 22 DER GESANG DER BANSHEE
Kapitel 23 DER SCHLUMMERNDE SUMPF
Kapitel 24 DIE GEBORSTENE KETTE
Kapitel 25 DIE GESTALT IM KERKER
Kapitel 26 DAS VEREITELTE RITUAL
Kapitel 27 DIE FLUCHT
Kapitel 28 DER ÄCHZENDE WALD
Kapitel 29 DIE MACHT DER KLEINEN DINGE
Kapitel 30 DIE RÜCKKEHR DES KÖNIGSMÄDCHENS
EPILOG
DAS HAUS ZWISCHEN DEN WELTEN
Weit draußen im Westen, wo die Straßen immer schmaler werden und die zerklüfteten Gipfel von Connemara steil bis in den Atlantik abfallen, befand sich ein gelbes Haus, das auf der Grenze zwischen zwei Welten stand. Es war angefüllt mit Büchern und Krimskrams und umgeben von hohen Bergen, die im Winter ächzten und im Frühling blühten.
Es gehörte Amy Bells Großmutter Dorothy, und als Amys Mum in die Auffahrt abbog, schlief Amy tief und fest auf dem Rücksitz.
Jedes Mal, wenn sie einen lauten Schnarcher von sich gab, beschlug die Fensterscheibe, was aber kaum auffiel, weil draußen so dichter Nebel herrschte.
»Da sind wir. Allesamt gesund und munter«, verkündete ihre Mum, nachdem sie den Motor abgestellt hatte. »Ich hoffe, dass ihr euch von eurer besten Seite zeigt. Macht eurer Gran keinen Ärger, ja?«
Amys älterer Bruder Liam, der auf dem Beifahrersitz saß, blickte von seinem Buch auf. »Mum«, schnaubte er. »Du weißt doch, dass ich vernünftig bin.«
»Natürlich, Spatz.« Ihre Mum warf durch den Rückspiegel einen vielsagenden Blick auf Amy. Als keine Antwort kam, rief sie mit ihrer lauten Opernstimme, die normalerweise für den Weckruf an Schultagen reserviert war: »Guten Morgen, Sonnenschein!«
Amy fuhr aus dem Schlaf hoch. »Sonnenschein? Wo?«
»Hier jedenfalls nicht«, bemerkte Liam. »An deiner Stelle würde ich mir keine Hoffnungen machen.«
Der Regen war ihnen mit seinem ständigen Tapp-tapp-tapp gegen die Scheiben den gesamten Weg von der Stadt aus gefolgt.
Ihre Mum faltete die Hände in den Schoß. »Lasst uns einfach kurz warten, ja?«
Liam schob sich die Brille zurecht und schaute nach draußen. »Ich glaube nicht, dass kurz reicht, Mum. So dicht, wie der Nebel ist, kann man ja kaum die Berge erkennen.«
Amy runzelte die Stirn. Es war doch schon schlimm genug, dass sie die erste Ferienwoche so weit weg von ihren Freundinnen verbringen musste! Lily und Gita waren mit ihren Familien gemeinsam auf den Aran-Inseln zelten, während Amy hier in dieser dämlichen Regenwolke feststeckte. Wie sollte man bei dem Wetter bitte ein Abenteuer erleben?
»Was ist das nur für ein Sommer?«, murmelte sie vor sich hin.
»Ein unvorhersehbarer«, flötete ihre Mum gut gelaunt. »Was meiner Meinung nach die besten sind.«
Amys Stirnrunzeln wurde noch eine Spur tiefer. Ihre Mum hatte leicht reden. Die flog nämlich morgen mit ihrem Freund Paul nach Santorin, bei dem es sich den Fotos nach um ein richtiges Paradies mit funkelndem, klarem Wasser und Restaurants handelte, in denen Getränke in Regenbogenfarben mit winzigen Papierschirmchen darin serviert wurden.
»Keine Ahnung, was an Regen in Connemara unvorhersehbar sein soll. Ich werde hier so was von sterben vor Langeweile.«
»Ich hab dir ja gesagt, dass du besser ein Buch mitbringen solltest«, sagte Liam, dem der Regen nicht das kleinste bisschen ausmachte. Seiner Meinung nach war es sowieso grundsätzlich gefährlich, sich im Freien aufzuhalten. Er hasste Insekten und Sport und war der einzige ihr bekannte Mensch, der sogar an bewölkten Tagen einen Sonnenbrand bekommen konnte. Wenn es nach Liam ging, war eine Woche Regenwetter in Grans Haus tausendmal besser als eine Woche im sonnigen Santorin. »Ich habe ein superinteressantes Buch über Haie dabei, das ich dir leihen könnte. Aber du darfst keine Eselsohren reinmachen.«
»Danke, aber da ess ich lieber meine ungewaschenen Haare.« In der Ferne war Donnergrollen zu hören, und Amys Laune sackte endgültig in den Keller. Sie drückte die Stirn gegen die Scheibe – und schreckte zusammen, als auf der anderen Seite plötzlich ein Gesicht auftauchte. »Gran!«
Das Lächeln ihrer Großmutter war kaugummirosa, und ihre Augen hatten das strahlende Blau eines Himmels, der wusste, was sich im Sommer gehörte. Sie klopfte mit den Knöcheln gegen das Fenster. »Steigst du aus, oder muss ich reinkommen, um dich zu holen?«
Amy klappte die Autotür auf und fiel ihrer Gran um den Hals. Sie freute sich über das Wiedersehen, auch wenn weit und breit kein Abenteuer in Sicht war.
Liam steckte sein Buch in die Bauchtasche seines Hoodies und stieg ebenfalls aus dem Wagen. Ihre Gran musste auf die Zehenspitzen gehen, um ihn zu umarmen.
»Ach, du liebes Lieschen, du bist ja lang wie eine Bohnenstange!« Sie steckte den Kopf durch die offene Tür ins Auto und rief: »Mit was fütterst du ihn, Darcy? Turbodünger?«
Amys Mum winkte ihr zur Begrüßung mit den Fingern. »Einer von uns muss schließlich an die Deckenlampen kommen.«
»Da hast du wohl recht.« Gran tätschelte Amy den Kopf. »Keine Sorge, Liebes, das holst du schon noch auf.«
Liam tätschelte mit. »Eines fernen Tages vielleicht.«
Amy streckte ihm die Zunge heraus. »Ich bin gern klein. So kann ich viel besser rumschnüffeln.«
»Ich tue mal so, als hätte ich das nicht gehört«, sagte Gran. Dann scheuchte sie die beiden in Richtung Haus. »Kommt, verkrümeln wir uns aus dieser Sintflut, ehe wir zerfließen. Ich habe Rhabarber-Crumble gemacht und würde vorschlagen, wir verhalten uns vernünftig und fangen das Abendessen mit dem Nachtisch an.«
Ihre Mum verabschiedete sich und drückte Amy und Liam jeweils einen Abschiedskuss auf die Wange. Dann sprang sie wieder in ihr Auto und fuhr davon.
Liam und Amy winkten ihr von der Haustür aus hinterher. Sie waren beide ein bisschen beleidigt, weil ihre Mum bei der Abreise so gute Laune hatte.
Im Flur legte Gran ihren Regenmantel ab wie ein Schmetterling, der seinen Kokon verließ. Darunter trug sie ein Outfit, das ihrer Persönlichkeit entsprach: eine goldene Bluse, eine blaue Hose und knallgelbe Gummistiefel. Sie brachte die Kinder zum Aufwärmen ins Wohnzimmer zum knisternden Kaminfeuer. Liam schnappte Amy den Platz auf dem abgenutzten Sitzsack in der Ecke weg und ließ sich genüsslich darauf fallen.
»Du bist jetzt doch viel zu groß für das Ding«, sagte Amy und stupste ihn mit dem Schuh an. »Nicht dass der Sack am Ende noch platzt.«
»Netter Versuch«, erwiderte Liam und verschränkte dabei die Hände hinterm Kopf. »Für Sitzsäcke kann man gar nicht zu groß sein.«
»Ach, mach doch, was du willst.« Amy streifte ihre Turnschuhe ab und kuschelte sich in den Polstersessel vor dem Kamin. Die Bücherregale links und rechts davon wirkten sogar noch schiefer als üblich, und kurz fragte sie sich, ob das hier wohl der lang gefürchtete Urlaub sein würde, in dem sie umstürzten und jemanden unter sich begruben.
Sie sah zu den Büchern auf und überlegte, wie viele davon nötig wären, um sie zu zerquetschen. Die vergoldeten Rücken schienen ihr zuzuzwinkern. Die zerlesene Ausgabe von Altirland durch die Jahrhunderte: Eine vollständige Sammlung keltischer Legenden war mindestens achthundert Seiten lang. Sie würde bestimmt mehr Schaden anrichten als Sieben Kniffe, eine Elfenfestung aufzuspüren oder Banshees Bannen in drei Schritten, die eher Hefte als Bücher waren. Amys Lieblingsbuch Verborgene Kämpfe im Atlantik: Die großen Schlachten zwischen Selkies und Meermännern verbarg sich ganz unten im Regal neben gleich mehreren Ausgaben eines schimmernden neuen Buchs mit dem Titel Mythos oder Mumpitz? Auf der Suche nach dem magischen Königreich Tír na nÓg, das Amy heute zum ersten Mal sah. Dann entdeckte sie den Namen der Autorin.
»Gran! Da stehst ja du drauf! Hast du echt ein Buch geschrieben?«
Liam nahm den aufgeregten Jubel seiner Schwester mit Skepsis zur Kenntnis. »Falls das ein Trick sein soll, um mich aus dem Sitzsack zu locken: Darauf falle ich nicht rein.«
Gran, die in der Tür stand, lachte leise auf. »Tja, nachdem ich so viele Jahre lang meinen Schülerinnen und Schülern alles über irische Mythen beigebracht habe, dachte ich, warum nicht ein paar davon aufschreiben? Jetzt, wo ich offiziell im Ruhestand bin, habe ich schließlich Zeit.«
Amy nahm eine Ausgabe des Buchs ihrer Gran aus dem Regal und hievte es auf ihren Schoß. »Boah, ist das cool«, sagte sie, während sie es aufschlug. »Wetten, damit könnte man einen Einbrecher k. o. schlagen?«
Nach zwei ungeschickten Versuchen gelang es Liam, sich in dem Sitzsack aufzurichten, um sich genauer ansehen zu können, wovon Amy da sprach. »Sagst du nicht immer, Bücher sind langweilig?«
»Nein. Ich sage immer, deine Bücher sind langweilig«, korrigierte ihn Amy. »Aber das hier hat Gran geschrieben. Damit ist es automatisch das beste Buch der Welt. Und es macht mich irgendwie auch berühmt, weil ich Gran kenne.«
Amy hatte immer schon gefunden, dass ihre Gran eher Archäologin war als Literaturprofessorin. Sie grub die spannendsten Geschichten aus und holte mit Meißel und Pinsel die Magie aus ihnen hervor. Und das Beste war, dass sie an alles, worüber sie forschte, auch wirklich glaubte. An die magischen Meereswesen und herumstreunenden Riesen, an die verwunschenen Bäume und wandernden Geister. Aus Grans Sicht gab es all das wirklich. Genauso wie das verlorene Königreich von Tír na nÓg.
»Weißt du, was noch berühmt ist?«, fragte Gran mit funkelnden Augen. »Mein Rhabarber-Crumble. Kommt, lasst uns essen, ehe es kalt wird.«
Den dicken Märchenband, den ihre Großmutter geschrieben hatte, ließ Amy zwar los. Aber an ihrer Neugierde hielt sie fest, als sie dem Geruch von frischgebackenem Crumble nach hinten in die kleine Küche folgte.
*
»Aber wenn es Tír na nÓg wirklich gibt, wie kommt es dann, dass es noch niemand gefunden hat?«, fragte Amy, nachdem sie das gesamte Dessert und die halbe Cottage Pie mit ihrer fluffigen Decke aus Kartoffelbrei verputzt hatten.
»Woher willst du das überhaupt wissen?«, fragte Gran in ernstem Ton. »Im Lauf der Jahrhunderte haben schon viele Menschen behauptet, es gefunden zu haben.«
»Aber es behaupten auch viele Leute, die Erde wäre eine Scheibe, ohne dass es stimmt«, warf Liam ein und spielte dabei mit seiner Gabel herum. »Keine Ahnung, wie man so was Lächerliches behaupten kann. Wo man doch so einfach beweisen kann, dass sich die Erde krümm…«
»Hörst du bitte auf mit dem Wissenschaftsgebrabbel?«, unterbrach ihn Amy. »Wir reden hier über Magie.«
Liam musterte sie finster. »Ich dachte, vielleicht willst du zur Abwechslung mal was lernen.«
»Will ich ja auch«, schoss Amy zurück. »Nämlich, wie man Tír na nÓg findet.«
»Dann wirst du wohl eine ausgedachte Karte brauchen«, sagte Liam. »Da es sich offensichtlich um einen ausgedachten Ort handelt.«
Gran schob mit einem nachdenklichen »Hmmm« eine Erbse auf ihrem Teller herum. »Vielleicht ist es ja auch einfach nur verborgen«, sagte sie. Sie spießte die Erbse mit der Gabel auf. »Manche Orte wollen nicht gefunden werden. Und das sollten wir respektieren.«
Liam schnaubte so heftig, dass er fast Hackfleisch in die Nase bekommen hätte. »So ein Quatsch.«
Amys Augen flammten auf vor Wut. »Liam!«
»Was? Das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn.«
Während Amy es liebte, über Grans Forschung zu reden, nahm Liam nichts davon ernst. Dass ihre Großmutter nun einige ihrer Geschichten in einem Buch niedergeschrieben hatte, änderte daran auch nichts. Weil es sich, wie er erklärte, ganz klar um ein Werk »literarischer Fantastik« handelte, was nichts weiter war als eine komplizierte Beschreibung für »komplett erfunden«.
»Aber das ist doch das Schöne an Märchen, Spatz. Sie brauchen keinen Sinn zu ergeben.« Gran trug ihren Teller zum Spülbecken und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. Ihr Blick wanderte durchs Fenster hinaus über die Landschaft, und sie stimmte ihr Lieblingslied an. »Durch Felder, so grün, und Berge, so alt, schimmert die goldne Magie …«
Ein Regenschauer prasselte gegen die Scheibe.
»Ich wette, in Tír na nÓg regnet es nie«, brummte Amy.
Gran hörte auf zu singen. »In Tír na nÓg scheint stets die Sonne. Die Vögel haben alle Farben des Regenbogens, und die Bäume werden von Geistern bewohnt und haben Stämme, hoch wie Wolkenkratzer«, erzählte sie verträumt. »Die Flüsse singen, und der Wind lacht, und wenn der Mond aufgeht, scheint er so hell, dass das Land leuchtet wie ein Stern.«
»Das klingt ja noch viel besser als die Aran-Inseln«, sagte Amy sehnsüchtig. »Stellt euch mal vor, auf so einen Baum zu klettern!«
Liam verzog das Gesicht. »Stellt euch lieber mal vor, von so einem Baum runterzufallen. Da bricht man sich doch alle Knochen, und am Ende hat man Wabbelarme und Wackelpuddingbeine.«
Amy funkelte ihn wütend an. »Wieso machst du das?«
»Was denn? Vernünftig sein?«
Gran lächelte ihnen von der Küchenzeile aus zu. »Es gibt eine Geschichte über ein kleines Mädchen, das vor vielen Jahren den Weg nach Tír na nÓg fand.« Sie senkte die Stimme, und Amy lehnte sich gespannt nach vorn. »Das Meer war voller Kreaturen, die schwammen wie Robben, aber sprachen wie Menschen. Sie trugen Algen am ganzen Leib wie eine zweite Haut, sodass niemand genau wusste, wo die See endete und die Kreaturen begannen …«
»Cool«, sagte Amy.
Als Liam sich vom Tisch wegdrückte, schabte sein Stuhl über den Boden. »Nette Geschichte«, sagte er, während er seinen Teller ins Spülbecken räumte. »Aber hör doch bitte auf, ihr diesen Unsinn auch noch einzureden, Gran. Du weißt doch, dass das alles totaler Quatsch ist.«
Amy schlug mit einem Geschirrhandtuch nach ihm.
»Ähm, nicht bös gemeint«, fügte Liam hastig hinzu.
Gran wandte sich vom Fenster ab und tätschelte ihm liebevoll die Schulter. »Wenn du mich fragst, steckt ein Tröpfchen Wahrheit in jeder Geschichte – manchmal sogar ein ganzer Wasserfall.«
Liam musterte sie irritiert. »Ähm … klar doch.«
»Wenn ich das verlorene Königreich erst mal gefunden habe, wird er so was nicht mehr sagen«, verkündete Amy und stand auf, um ihren Teller mit einem triumphierenden Klappern im Spülbecken zu versenken. »Sobald sich der Regen morgen legt, mache ich mich auf die Suche.«
»Das lässt du schön bleiben.« Grans Tonfall war plötzlich ungewohnt scharf. Es fühlte sich an, als wäre die Temperatur im Raum um mehrere Grad gesunken. »Das sind nur Geschichten, Amy. Schön zu lesen, aber mehr auch nicht.«
»Aber …«
»So, meine Lieben.« Gran klatschte in die Hände. »Wer in zehn Sekunden noch hier in der Küche steht, dem wird die große Ehre zuteil, die große Auflaufform putzen zu dürfen. Zehn, neun, acht …«
Liam flitzte davon, dicht gefolgt von Amy.
Mehrere Stunden später – inzwischen hatten sie einen Film geschaut und zwei Schüsseln leicht angebranntes Mikrowellenpopcorn verdrückt, vom Kaminfeuer im Wohnzimmer war nur noch die Glut übrig, und der Mond hing als schmale Sichel an einem samtenen Himmel – stiegen Liam und Amy die knarrende Treppe nach oben, wo ihre Betten standen. In dem winzigen Schlafzimmer hinten im Haus spielten sie so wie immer Schnick-Schnack-Schnuck um das obere Etagenbett. Amy verlor, obwohl sie viermal hintereinander eine Revanche gefordert hatte.
Sie ließ sich auf dem unteren Bett nach hinten fallen, sodass ihre leuchtend roten Haare über die Bettkante flossen wie ein kupferfarbener Wasserfall. »Falls mich das klapprige alte Dinge heute Nacht erschlägt, bist auf jeden Fall du schuld«, sagte sie und streckte der durchgelegenen Matratze über sich die Zunge heraus.
»Ich weiß genau, was du machst. Nur, dass du’s weißt«, ertönte Liams Stimme von oben.
Amy lauschte im Dunkeln seinen leisen Atemgeräuschen. Er war sofort eingeschlafen, während sie sich herumwälzte und einfach keine bequeme Lage fand. Außerdem hielt sie das Knarren des Lattenrosts wach.
Sie rollte sich auf den Bauch und ließ den Arm von der Bettkante baumeln. Zu ihrer Überraschung streifte sie dabei mit dem Handrücken ein Loch in der Wand. Da sie normalerweise eigentlich immer das obere Bett gewann, war es ihr noch nie aufgefallen.
Sie spähte über den Rand und entdeckte eine kleine Öffnung direkt über der Bodenleiste. Sie war vollgestopft mit altem Zeug: vier Haargummis und eine Spule Nähgarn, ein angelaufener Goldohrring und ein altes Taschentuch. Bäh.
Ganz hinten klemmte eine Silbermünze.
Amy zog sie hervor und hielt sie ins Mondlicht.
Auf der einen Seite war ein Wolfshund eingeprägt, auf der anderen eine Harfe. Sie erkannte die Münze nicht, was bedeutete, dass sie echt alt sein musste. Was die wohl wert war? Ob sie vielleicht sagenhaft reich würde, wenn sie sie verkaufte? Dann könnte sie bis zu den Aran-Inseln segeln und Lily und Gita von ihrer brandneuen Jacht aus zuwinken.
Als sie endlich einschlief, hielt sie die Münze fest umklammert. Und in dem kurzen Moment genau auf der Grenze zwischen Wachsein und Schlafen hätte sie schwören können, dass sie ein Klopfen am Fenster hörte.
DER GOLDENE WASSERFALL
Am folgenden Morgen wachte Amy erst lang nach der Frühstückszeit auf. Sie wollte unbedingt auf Erkundungstour gehen. Liam war schon aufgestanden, nur seine zerknitterte Decke und der zusammengeknüllte Schlafanzug lagen noch auf dem oberen Bett.
Nachdem sie ihre Lieblingsjeans und ihren gemütlichsten Hoodie angezogen hatte, band sie sich die zerzausten roten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und steckte die Silbermünze ein.
Gran war unten in der Küche und begutachtete den Inhalt ihrer Teetasse. »Der Regen hat schon fast aufgehört«, sagte sie anstelle einer Begrüßung. »Ich würde sagen, wir haben es eigentlich nur noch mit einem leichten Nieseln zu tun.«
»Das reicht wohl kaum, um mich davon abzuhalten, ein Abenteuer zu erleben«, sagte Amy fröhlich. Nachdem sie zwei Scheiben Brot in den Toaster gesteckt hatte, zog sie die Münze aus ihrer Hosentasche und legte sie auf den Tisch. »Die habe ich in der Wand neben dem unteren Stockbett gefunden. Weißt du, wie viel sie wert ist?«
Beim Anblick der Münze musste Gran lächeln, als wäre sie gerade einem alten Freund wiederbegegnet. »Eigentlich hatte ich gedacht, wir hätten die ganzen Sixpence-Stücke inzwischen gefunden. Aber es tauchen immer wieder neue auf.«
»Ich habe eben ein Näschen für Schätze«, behauptete Amy stolz. »Der hier war gut versteckt.«
»Meine Schwester Peggy hat Sixpence-Stücke gesammelt. Und ich habe mir ab und zu welche stibitzt, um unten im Süßwarenladen Apfelbonbons zu kaufen.« Grans Lächeln nahm einen wehmütigen Zug an, und sie schloss die Finger so fest um die Münze, als würde sie die Erinnerungen an jene lang vergangenen Tage in ihre Haut einprägen wollen. »Es ist mir ein Rätsel, wie dieses da so lange unentdeckt bleiben konnte. Aber da wir uns in diesem Haus streng an die Wer’s-gefunden-hat-darf’s-behalten-Regel halten, darfst du sie gern nehmen.«
»Ich wusste ja gar nicht, dass du eine Schwester hast«, sagte Amy.
»O ja. Und eine Mum und einen Dad auch. Aber das ist alles so lange her, dass es mir manchmal vorkommt wie ein anderes Leben.« Gran legte die Münze vorsichtig auf den Tisch zurück und ließ mit einem tiefen Seufzer die Schultern sinken. Auf einmal wirkte sie viel kleiner und älter als sonst.
»Ich habe schon öfter darüber nachgedacht, Liam gegen eine Schwester einzutauschen«, bemerkte Amy nachdenklich. »Weil er manchmal so ein fürchterlicher Besserwisser ist.«
Gran lachte leise auf. »Hab Geduld mit ihm, Liebes. Ich wünschte, ich wäre viel netter zu meiner Peggy gewesen. Aber solche Dinge begreift man oft erst, wenn es zu spät ist.«
Amy wollte noch viel mehr Fragen zu dieser geheimnisvollen Schwester namens Peggy stellen, aber über ihre Gran schien sich ein Schatten gelegt zu haben, und sie wollte die Stimmung nicht noch mehr ruinieren. Dann ploppte der Toaster, und der Augenblick war vorüber. Sie steckte die Münze wieder ein und holte die Butter aus dem Kühlschrank. »Ich wollte nachher auf Entdeckungstour gehen. Kommst du mit?«, fragte sie.
»Ich fürchte, meine Entdeckerinnentage sind vorbei.« Gran erhob sich vom Küchentisch. Ihr Blick wirkte ganz weit weg. »Außerdem muss ich nach dem heftigen Regen gestern meinen Kräutergarten retten.«
Und so leistete Amy nur das Sixpence-Stück Gesellschaft, während sie ihren Toast aß. Sie dachte an Peggy, ein Mädchen wie sie, mit einem Geheimlager voller seltsamer Gegenstände. Sie nahm sich vor, Gran noch einmal auf Peggy anzusprechen, sobald sich deren Laune gebessert hatte.
Nach dem Frühstück stieß sie im Wohnzimmer auf Liam, der – was auch sonst? – in seinem Buch las.
»Hallo.« Sie bewarf ihn mit einem Kissen. »Willst du mit auf Entdeckungstour gehen?«
»Es regnet«, erwiderte er, ohne aufzusehen.
»Das ist doch höchstens ein leichtes Nieseln. Komm schon, ich will einen Frosch fangen. Und ich lass dich erst in Ruhe, wenn du mir hilfst.«
Liam legte mit einem erschöpften Seufzer sein Buch beiseite. »In Ordnung. Aber nur eine Stunde. Ich will heute noch die Sizilianische Verteidigung lernen.«
Amy starrte ihn ratlos an.
»Das ist ein Schachzug. Ich hab dir gestern auf der Autofahrt davon erzählt.«
Sie tat so, als würde sie schnarchen. »Ach, deswegen bin ich also eingeschlafen.«
Liam brummelte vor sich hin, folgte ihr aber nach draußen, wo Gran zwischen ihren Kräutern kniete und die Beete pflegte.
»Wir gehen dann mal, Gran!«, rief Amy, als sie an ihr vorbeikamen. »Wenn wir zurückkommen, bringen wir dir einen Frosch mit.«
»Bitte keinen Frosch! Ich habe mit euch beiden schon genug zu tun!«, rief Gran ihnen hinterher. »Die Regeln kennt ihr ja. Geht nicht zu nah zu den Bergen und immer in Sichtweite des Hauses bleiben.«
»Machen wir!«, antworteten sie im Chor.
Aber kaum waren sie durch den halb verwilderten Garten zu dem plätschernden kleinen Bach vorgedrungen, der sich durch die Landschaft schlängelte, hatten sie die Regeln wieder vergessen.
Amy setzte über den Bach hinweg und stellte sich dabei vor, sie wäre eine furchtlose Entdeckerin, die in neue Welten vordrang. Liam dagegen überquerte das Wasser mit unsicheren Schritten auf den herausragenden Steinen und wirkte schon ziemlich außer Atem.
Vor ihnen erstreckte sich Richtung Westen eine Wildnis aus zerklüfteten Gipfeln und felsigen Wanderwegen. Dahinter kam der Ozean. Die Welt schimmerte vom frischgefallenen Regen. Als sich dann auch noch die Sonne zwischen den Wolken hervorschob, funkelte ganz Connemara wie ein riesiger Smaragd.
Amy hielt die Nase in die feuchte, frische Luft. »Weißt du, wonach das riecht, Liam? Nach Abenteuer!«
Liam rückte seine Brille zurecht. »Also, eigentlich handelt es sich dabei um Petrichor«, bemerkte er. »Das Wort haben Wissenschaftler erfunden, um den erdigen Geruch zu beschreiben, der entsteht, nachdem Regen auf den Boden gefallen ist. Das Wort stammt aus dem Griechischen.«
»Meine Erklärung war viel besser«, sagte Amy. »Weißt du vielleicht auch was über Frösche?«
Liam überlegte. »Wusstest du, dass sich Frösche manchmal häuten und die alte Haut danach auffressen?«
»Ist ja eklig«, flüsterte sie anerkennend.
Während sie durch hohes Gras, Heidekraut und Felder voller fluffiger Schafe immer tiefer in die Landschaft vordrangen, bemerkten sie gar nicht, wie sie außer Sichtweite des gelben Hauses gerieten. Amy erzählte ihrem Bruder von Grans geheimnisvoller Schwester Peggy und zeigte ihm die alte Münze, die sie in der Wand gefunden hatte.
»Gran meinte, das sei nur ein Sixpence-Stück, aber es ist so alt, dass es ja wohl total wertvoll sein muss, oder?«, fragte sie eifrig. »Ich wette, damit kann man ein ganzes Boot kaufen.«
»Wohl eher einen bootsförmigen Schlüsselring«, erwiderte Liam lachend.
Als er die bestürzte Miene seiner Schwester bemerkte, schob er hastig nach: »Aber du wirst auf Schiffen doch sowieso seekrank.«
Amy versenkte die Münze wieder in ihrer Tasche. »Spaßverderber.«
An einem See legten sie eine Pause ein. Liam setzte sich auf einen großen Felsbrocken, während Amy auf der Suche nach Fröschen das Riedgras durchforstete. Sie war gerade kurz davor, einen zu erwischen, als sie plötzlich innehielt. Es fühlte sich an, als würde sie beobachtet. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, und als ein Schatten über sie hinwegzog, schoss ihr Blick nach oben.
»Hey!«, rief sie Liam zu. »Schau mal, der Vogel. Der ist ja riesig!«
Liam legte ebenfalls den Kopf in den Nacken. »Sieht aus wie ein Falke. Nur die Farbe stimmt nicht.«
Der Vogel war weiß wie ein Schwan. Amy beobachtete, wie er sich in Kreisen immer tiefer zu ihnen herabschraubte. Sein helles Gefieder schimmerte im Sonnenlicht. Nachdem er drei Kreise gezogen hatte, kreischte er ihnen zu.
»Hallo zurück!«, rief Amy und winkte. »Glaubst du, er will uns was sagen?«
»Das ist ein Vogel.« Liam hatte beim Klang des Kreischens das Gesicht verzogen. »Vermutlich ist er eher hinter deinem Frosch her.«
»Aber er starrt mich an!«
Der Falke gab einen weiteren durchdringenden Ruf von sich, dann flog er in Richtung Berge davon.
Ja der Vogel wollte ihnen ganz eindeutig etwas sagen. Und Amy war fest entschlossen herauszufinden, was. »Komm! Ich glaube, er will, dass wir ihm folgen!«
»Amy, komm zurück!«, schrie Liam ihr hinterher. Aber sie war schon losgeflitzt.
Zufällig war Amy Bell die Zweitschnellste an ihrer Schule, Jungs inbegriffen. Nur Melissa Talbot hatte sie am Sports Day beim Hundert-Meter-Sprint knapp geschlagen und es sich nicht nehmen lassen, am kommenden Tag mit ihrer Goldmedaille um den Hals in die Schule zu kommen, damit auch ja niemand – insbesondere aber Amy – vergaß, dass sie gewonnen hatte. Als Amy jetzt dem Vogel folgte, stellte sie sich dabei Mels hüpfenden Pferdeschwanz vor.
Als Liam seine Schwester einholte, stand sie unten an einem schmalen Wasserfall und schnappte nach Luft. Er nahm seine Brille ab und schob sich das zerzauste braune Haar aus den Augen.
»Ich … wusste ja … gar nicht … dass es … in der Gegend … einen … Wasserfall gibt«, keuchte er. »Ich … fürchte ich … muss … sterben.«
Der weiße Falke beobachtete sie aus seinen silberhellen Augen.
Von hinten kroch ihnen ein schrägfallender Sonnenstrahl über die Schultern, schlich Stück für Stück den Fluss entlang und färbte den Wasserfall golden, bis er ein klein wenig an fließenden Honig erinnerte.
Amy blinzelte ungläubig. »Moment mal! Ich glaube, das Wasser fließt in die falsche Richtung!«
Liam kam näher. Die Furche zwischen seinen Augenbrauen wurde tiefer.
Amy hatte recht. Der Wasserfall floss von unten nach oben, als würde er das Wasser aus dem Fluss aufsaugen und über den Felsen nach oben pumpen. Auf der Suche nach einer Erklärung zermarterte sich Liam das Hirn, aber die Wissenschaft ließ ihn ausnahmsweise im Stich. »Das ist … seltsam.«
Der Falke legte auffordernd den Kopf schief.
Amys Nackenhaare stellten sich wieder auf. Wenn du mich fragst, steckt ein Tröpfchen Wahrheit in jeder Geschichte, hörte sie Gran sagen. Manchmal sogar ein ganzer Wasserfall.
Der Vogel hob kreischend ab und zog einen Kreis über ihnen, ehe er die Flügel anlegte und über ihre Köpfe hinweg im Sturzflug in den Wasserfall schoss.
Amy zuckte zusammen. Aber der Aufprall von Federn und zarten Knochen auf Gestein, den sie befürchtet hatte, blieb aus.
Stattdessen schien ihr das Wasser dort, wo der Falke verschwunden war, zuzuzwinkern. Zurück blieb nur das Echo seines Schreis.
Liam klappte die Kinnlade herunter. »Wo ist er hin?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, antwortete Amy, die schon mit einem Fuß im Wasser stand. Die Strömung zog sie sanft auf den Wasserfall zu.
»Amy, nicht!« Liam sah sich nervös um. »Wir sollten umkehren. Du kennst doch Grans Regeln.«
»Komm schon. Wo bleibt deine Abenteuerlust?«
»Die wird von meiner panischen Angst vor Gefahren erstickt.«
Amy seufzte. Sie hatte den Verdacht, dass die Feigheit ihres Bruders angeboren war. So wie bei ihr der Charme und der Heldenmut. Ihre Lehrerin Miss Lennon bezeichnete sie zwar häufiger als leichtsinnig und vorlaut, aber für Amy waren das nur andere Begriffe für »furchtlos«. Und auf ihre Furchtlosigkeit war sie stolz. Sie hatte weder Angst vor Schlangen noch vor Spinnen, Außerirdischen oder Hausaufgaben. Noch nicht mal vor Direktor Greshams Gebiss hatte sie sich gegruselt, damals, als es ihm bei der Morgenansprache plötzlich aus dem Mund gefallen war.
Amys Theorie lautete, dass Liam nur deshalb seine gesamte Zeit mit Lesen verbrachte, damit er gar nicht erst in Versuchung geriet, auch nur den Hauch eines echten Abenteuers zu erleben. Aber wenn man von Haus aus nicht mutig war, gab es nichts Sinnvolleres, als rauszugehen in die Welt und zu üben. Und wenn das bedeutete, dass man auf einen Baum klettern oder im Meer baden oder vielleicht sogar einem Bären eins auf die Schnauze geben musste, dann war es eben so.
Was auch der Grund dafür war, dass Amy jetzt durchs Flussbett watete und, ehe Liam sie davon abhalten konnte, tief durchatmete und den Wasserfall querte.
Ein plötzlicher Windstoß erfasste sie, und dann – nichts.
»Amy!« Liam nahm die Brille ab und putzte sie mit dem Ärmel. Aber als er sie wieder aufsetzte, war seine Schwester noch immer verschwunden.
»Amy?«, rief er verunsichert. »Wo bist du?«
Doch nur das Rauschen des Wasserfalls antwortete ihm. Seine Schwester war komplett davon verschluckt worden.
Er bemühte sich, die aufkeimende Panik zu unterdrücken. »Komm raus, wenn du dich versteckst. Das ist echt nicht witzig!«
Sein Herz pochte wie wild, und in seinen Fingerspitzen prickelte es vor Anspannung. Wenn er nicht schnell etwas dagegen tat, würde ihn die Panik überrollen und in ein zitterndes Häuflein Elend verwandeln.
Also watete er ebenfalls in den Fluss. Das Wasser drang in seine Schuhe und quatschte zwischen seinen Zehen. »Amy?«
Es war zwecklos. Seine Schwester war fort. Nervös knetete er seine Hände. Der Wasserfall schimmerte einladend. Wolken schoben sich vor die Sonne. Das goldene Licht verblasste bereits.
Aus irgendeinem Grund wusste Liam ganz sicher, dass er nur diese eine Chance hatte – und sie ihm durch die Finger zu gleiten drohte. Er musste Amy folgen.
Ehe er es sich anders überlegen konnte, kniff er fest die Augen zu und duckte sich unter dem Wasserfall durch.
DIE VERFLUCHTE SONNE
Amy beobachtete, wie sich ihr Bruder mühsam durch den tosenden Wasserfall kämpfte. Während ihr vor Begeisterung das Herz wild in der Brust pochte, schien Liam dieses aufregende Abenteuer nicht das geringste bisschen zu genießen. Er wollte wieder umdrehen, konnte aber nirgends mehr hin. Die Felswand hinter ihm war glatt und flach. Fast wirkte es so, als würde sie ihn voranstupsen, bis er mit voller Wucht von den eisigen Fluten des Wasserfalls getroffen wurde.
Amy war bereits aus dem kristallblauen Felsbecken geklettert und sprang jetzt wild winkend auf und ab. »Schau dir nur die Bäume an, Liam! Die sind so hoch wie Wolkenkratzer!«
Liam watete zum Ufer und putzte dabei seine Brille. Dann sah er auf – zu den größten Bäumen, die er je gesehen hatte. Die waren ja größer als der Big Ben Tower! Größer als die Mammutbäume in Kalifornien! Vielleicht sogar größer als der Eiffelturm! Aber das eigentlich Seltsame an ihnen war, dass sich die Rillen in der Rinde in ständiger Bewegung befanden. Als wären Hunderte von Gesichtern darin verborgen, die versuchten, in Richtung der beiden Neuankömmlinge zu schauen.
Amy fühlte sich, als wäre sie in einen Tagtraum gestolpert. Sie sah sich nach dem weißen Falken um, aber er war im Wald verschwunden.
»Wo sind wir hier?«, fragte Liam, während er aus dem Wasser stieg.
Sie wandte sich zu ihm um. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen. »Aber ist das denn nicht sonnenklar?«
Liam schüttelte unwillig den Kopf. »Tír na nÓg gibt es nicht«, sagte er zu seiner Schwester. Und ein bisschen auch zu sich selbst.
»Schau doch mal, da ist eine Nase in dem Stamm«, sagte Amy und deutete auf ein Gesicht in einem Baum neben ihr. Aber es war schon wieder verschwunden. »So was bekommt man in Connemara nicht zu sehen.« Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn über die Lichtung. »Komm, schauen wir uns um. Ich finde bestimmt noch mehr Beweise.«
Die Bäume waren riesig und knorrig und verwachsen. Die samtigen Blätter wirkten so groß und weich wie Kissen, und zwischen den Zweigen blitzten wie bunte Sonnenstrahlen herumflitzende Rotkehlchen mit leuchtender Brust, smaragdgrüne Lerchen und golden schimmernde Stare auf.
»Hast du zu Hause schon mal solche Vögel gesehen?«, fragte sie ihren Bruder
»Nein«, gab Liam widerwillig zu. »Aber in meinen Naturdokus kommen viele Tiere mit ungewöhnlichem Äußerem vor. Dass die Vögel hier so bunt sind, muss also nicht zwingend bedeu…«
»SCHAU!« Amy deutete auf eine Lücke zwischen zwei Bäumen, aus der ein purpurrotes Eichhörnchen hervorspähte. »Ich glaube, es spioniert uns aus!«
Das Eichhörnchen gab ein entsetztes Keckern von sich und schoss davon. Fünf Sekunden später spähte es erneut zwischen den Bäumen durch, diesmal allerdings nur mit einem Auge.
»Großes Spionagetalent bringt es allerdings nicht mit«, bemerkte Liam trocken.
»Vielleicht ist es ja schüchtern.« Amy wartete ab, bis sich das Eichhörnchen noch mal zeigte, dann winkte sie ihm zu. »Schau mal, es trägt ein winziges Lederstirnband! Das heißt, es muss zahm sein!«
Vielleicht bildete sie es sich ja nur ein, aber sie hätte schwören können, dass ihr das Eichhörnchen einen finsteren Blick zuwarf, ehe es im Wald verschwand.
Sie schoben sich zwischen den Zweigen durch und stießen dabei auf einen plätschernden Bach.
»Schnell und wachsam, bitte schön,
wenn ich euch führ, könnt ihr sicher geh’n.«
Amy sah ruckartig auf. »Hast du das gehört? Da hat doch jemand gesungen!«
Liam starrte mit großen Augen auf den kleinen Bach. »Ich glaube, das war …« Er schluckte. »Ach, egal.«
Das Wasser tanzte und wirbelte vor ihnen und besprühte sie mit winzigen Wassertröpfchen. Je länger Liam den Bach ansah, desto heller leuchtete er. Als würde er von innen beleuchtet.
»Im finstersten Wald, dort leuchte ich.
Folgst du mir zu Fuß? Durchschwimmst du mich?«
Amy schnappte nach Luft. »Das kommt ja aus dem Bach!«
Liam war kurz davor, einfach umzukippen. »Aber das kann doch nicht sein«, murmelte er betreten.
Seine Schwester grinste. »Ich wette, von singenden Bächen war in deinen Dokus nie die Rede.«
»Da hast du recht«, gab er zu. Er hatte jede einzelne Natursendung auf Netflix geschaut und mehr Ausgaben des National Geographic gelesen als sein Dad. Aber auf das hier war er nicht vorbereitet.
Amy musste lächeln. Sie spürte, dass eine Veränderung mit ihrem Bruder vor sich ging. Er seufzte gedehnt und ließ die Schultern sinken. Sein Unglaube wich Neugierde.
»Okay«, sagte er nervös. »Lass uns weitergehen.«
Sie folgten dem gewundenen Bach tiefer in den Wald hinein. Nach einer Weile wich das Unterholz einem ausgetretenen Pfad voller Fußabdrücke. Überall lagen kleine Zweige und Beeren herum. Wieder stellten sich Amy die Nackenhaare auf.
Sie fuhr herum, suchte zwischen den Bäumen nach Gesichtern. Aber da war nur das rote Eichhörnchen, das sie von einem Ast aus beobachtete. Amy schnalzte mit der Zunge, um es zu sich zu locken. Aber daraufhin musterte es sie so empört, dass sie sofort wieder aufhörte. »Okay, du Motzgurke. Raus mit der Sprache, was ist los mit dir?«
Liam blieb ruckartig stehen. Auf einmal hatte er wieder Grans Worte im Kopf. Manche Orte wollen nicht gefunden werden. Und das sollten wir respektieren. »Moment mal. Meinte Gran nicht, dass Tír na nÓg nicht gefunden werden will?«
»Tja, offenbar hatten wir Glück, und es hat seine Meinung geändert«, antwortete Amy gut gelaunt.
Liams Stirnrunzeln vertiefte sich. »Aber wieso? Findest du das nicht verdächtig?«
Amy spürte, wie nervös ihr Bruder war. Die Luft um sie herum sirrte praktisch, weil er solche Angst hatte. Sie legte ihm den Arm um die Schultern. »Schau dich doch mal um, Liam. Wir sind hier im Paradies! Es gibt keinen Grund, sich in die Hosen zu machen.«
Liam knetete seine Hände. »Ich finde trotzdem, wir sollten vorsichtig sein. Nur für den Fall …«
»… dass wir Spaß haben könnten?«, zog Amy ihn auf. »Komm, wir sehen uns noch zehn Minuten um. Und dann kehren wir um. Abgemacht?«
»Okay, abgemacht.«
»Cool. Dann lass mich mal sehen, wo wir am besten langgehen.« Vor einem der riesigen Bäume blieb sie stehen und suchte nach einem Ast, der sich als Fußstütze eignete. »Ich klettere hoch und schaue mir die Umgebung an. Und du wartest hier unten und hältst Ausschau, falls jemand kommt.«
Fast wirkte es so, als würde der Baum ihr den Aufstieg mit Absicht leicht machen. Jedes Mal, wenn sie den Fuß hob, erschien eine passende Furche in der Rinde, oder ein Ast senkte sich gerade so weit herab, dass sie sich daran hochziehen konnte. Auf diese Weise gelangte sie höher und immer höher – als würde der Stamm sie schieben. Am Ende war ihr Bruder kaum mehr als ein kleiner Punkt, der am Boden hin und her lief.
»Das ist zu hoch!«, rief er ihr zu. »Komm wieder runter!«
Aber Amy dachte gar nicht daran aufzuhören, solange der Baum ihr beim Aufstieg half. »Ich bin doch fast oben!«
Schon hatte sie die Krone erreicht. Doch gerade als Amy sich nach dem nächsten Ast recken wollte, tauchte plötzlich das Eichhörnchen wieder auf und keckerte so aufgebracht, als würde es sie dafür ausschimpfen wollen, dass sie in sein Territorium eingedrungen war.
»Der Wald gehört dir nicht allein, du rote Plüschkugel.« Amy streckte ihm die Zunge raus. »Und die Bäume auch nicht.«
Das Eichhörnchen warf ihr eine Eichel gegen die Stirn.
»Hey!«, protestierte Amy.
Der Baum bebte, als würde er sich ein Lachen verkneifen.
Amy beschloss, nicht weiter auf das Eichhörnchen zu achten, und griff nach dem Ast, auf dem es saß. Nachdem sie sich hinaufgezogen hatte, stand sie auf und schlang zur Sicherheit beide Arme um den Stamm.
Hier oben war das Laub viel lichter. Über ihr spannte sich ein klarer blauer Himmel, darunter erstreckten sich die sanften Hügel von Tír na nÓg.