The Run 1: Die Prüfung der Götter - Dana Müller-Braun - E-Book
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Dana Müller-Braun

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Beschreibung

**Ein Lauf um Leben und Liebe** Vier Götter wurden einst auf die Erde gesandt, um das Zeitalter der Menschen einzuläuten. Aus schwarzem Sand schufen sie das Reich des Kampfes. Aus goldenem Staub erwuchs die Weisheit. Aus roter Asche wurde der Tod geboren. Und aus blauem Eis das Leben. So die Legende, die noch heute Saris Schicksal bestimmt. Wie alle Achtzehnjährigen muss sie den gefährlichen Lauf durch die vier Reiche der Götter bestehen, bevor sie ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden kann. Dabei ist sie auf die Hilfe eines mächtigen Schattenbringers angewiesen, der ihr Herz ungewöhnlich tief berührt. Aber seine Treue gilt nicht ihr ... Eine epische Liebesgeschichte voller überraschender Twists! //Textauszug: Was, wenn ich mich nach dir sehne, auch wenn du nicht mein Schicksal bist? Wenn ich entscheide, dass ich dich liebe?// Leserstimmen: »Ich feiere, was diese Autorin hier erschaffen hat.« »Spektakel der Extraklasse« »The Run ist atemberaubend, intensiv, beeindruckend, unvorhersehbar.« »WOW! Ich denke nicht, dass ich die passenden Worte für dieses großartige Werk finden werde.«   //Dies ist der erste Band der »The Run«-Dilogie. Alle Romane der Fantasy-Liebesgeschichte:  -- The Run 1. Die Prüfung der Götter -- The Run 2. Die Gaben der Götter -- Die E-Box mit der gesamten »The Run«-Dilogie// Diese Reihe ist abgeschlossen.

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Dana Müller-Braun

The Run. Die Prüfung der Götter

**Ein Lauf um Leben und Liebe**Vier Götter wurden einst auf die Erde gesandt, um das Zeitalter der Menschen einzuläuten. Aus schwarzem Sand schufen sie das Reich des Kampfes. Aus goldenem Staub erwuchs die Weisheit. Aus roter Asche wurde der Tod geboren. Und aus blauem Eis das Leben. So die Legende, die noch heute Saris Schicksal bestimmt. Wie alle Achtzehnjährigen muss sie den gefährlichen Lauf durch die vier Reiche der Götter bestehen, bevor sie ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden kann. Dabei ist sie auf die Hilfe eines mächtigen Schattenbringers angewiesen, der ihr Herz ungewöhnlich tief berührt. Aber seine Treue gilt nicht ihr  …

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Vita

Danksagung

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© privat

Dana Müller-Braun wurde Silvester ’89 in Bad Soden im Taunus geboren. Geschichten erfunden hat sie schon immer – Mit 14 Jahren fing sie schließlich an ihre Fantasie in Worte zu fassen. Als das Schreiben immer mehr zur Leidenschaft wurde, begann sie Germanistik, Geschichte und Philosophie zu studieren. Wenn sie mal nicht schreibt, baut sie Möbel aus alten Bohlen, spielt Gitarre oder verbringt Zeit mit Freunden und ihrem Hund.

Für meinen kleinen Bruder Niklas

Weil ich für dich jeden »Run« bestreiten würde.

P R O L O G

Einst wurden vier mächtige Götter aus den ewigen Hallen Nachnyls geschickt, um das Zeitalter der Menschen auf Erden einzuläuten. Sie vertrieben die herrschenden und mächtigen Alben, die sich mit den Sauriern und Drachen verbündet hatten, und beraubten sie ihrer Mächte.

Kalipar, der Gott des gerechten Kampfes, war der Erste auf Erden. Mit seiner Macht erschuf er schwarzen Sand, baute daraus sein Königreich und formte Menschen aus ihm und seiner schwarzen Magie. Er verlieh einigen von ihnen eine besondere Macht und schenkte ihnen die Gabe, den Sand zu beherrschen.

Als Zweite betrat Arasá die Erde. Als Göttin des Lichts der Weisheit schuf sie das Königreich des goldenen Staubes und schenkte den Menschen das Leben und die Erkenntnis. Sie öffnete ihnen das Tor zur göttlichen Welt und bot einigen von ihnen all ihr Gold, sodass sie mehr und weiter sehen konnten, als jeder andere Mensch es vermochte.

Der dritte Gott, der die Erde betrat, trug den Namen Tunis. Er erweckte als Wächter der Unterwelt Menschen zum Leben, denen er Flügel gab, sodass sie ins andere Reich gelangen konnten. Sein Königreich erbaute er aus roter Asche, dem verbrannten Blut ihrer Vorfahren, um sie auf ewig an sich zu binden.

Zuletzt betrat Emza die Erde. Sie sandte Eis über die Welt und fror alles ein. Doch sie erschuf Menschen, die ihre Kälte überleben konnten, und schenkte ihnen das Königreich des blauen Eises, umgeben von Leben, das zum Stillstand gebracht worden war.

Die Alben verschwanden aus den Königreichen und besiedelten die unendlichen Wildlande außerhalb der Königreiche. Doch sie einten ihre Kräfte und erschufen vier übernatürliche Masken der Sterblichkeit, die ihre Träger in den Augen der Götter zu Menschen machten.

Die Götter vereinten sich mit den Menschen, um die Barrieren zwischen Himmel und Erde hinter sich zu lassen. Sie kreierten ein göttliches Geschlecht, dessen Nachfahren dazu bestimmt sein sollten, bis zum Ende der Zeit zu herrschen. Ihr edles Blut würde sie auf ewig unsterblich machen. Denn herrschen kann nur, wer die Erde bis in alle Ewigkeit verteidigen kann und so der uneingeschränkte Gebieter ist.

Allerdings sahen die Götter die wahren Gesichter ihrer Feinde nicht, die sie liebten und deren Blut sie unsterblich machten.

Hamza, Die heilige Schrift der vier Lande

K A P I T E L   1

»Das Licht des blauen Eises

kämpft nun am Firmament.

Es strahlt bis in die Wüste

aus schwarzem Turmalin.

Der Dämon war gekommen

und nahm sie mit zu sich.

Vier Völker sind gespalten

und finden nicht zurück.«

Das Lied gleitet mir wie selbstverständlich über die Lippen, während ich mir die schwarze, lederbesetzte Hose überstreife.

»Arasá, lasse mich ziehen durch das Reich des Lichts, der Liebe und Heilung. Sei mein Schutzschild mit deinem goldenen Staub«, flüstere ich das Gebet, das ich so oft zusammen mit meiner Mutter gebetet habe, und verbinde mir meine Brüste mit der schwarzen Bandage, bevor ich das enge, dunkle Oberteil darüberziehe.

»Kalipar, gib mir die Kraft, ein Krieger auf deinem Pfad zu sein. Lege mir die Waffen deines schwarzen Sandes in die Hände.« Es sind beruhigende Worte, die ich gern sage, während ich meinen Körper verschleiere. Ich lege das goldene Korsett an, das kurz unter meinen Brüsten endet und sie nach oben drückt. Die Bandagen helfen schon seit Monaten nicht mehr. Ich bin erwachsen geworden.

»Tunis, erlaube mir, an deinem Tisch des unendlichen Todes und der Unterwelt zu speisen, bis ich zu roter Asche vergehe.« Nachdem ich die Schnallen festgezogen habe, nehme ich die schwarze Sturmhaube und stülpe sie über meinen Kopf, bis nur noch mein Gesicht zu sehen ist. Keine einzige meiner goldenen Haarsträhnen darf hervorschauen. Während ich die schwarze Kapuze darüberziehe und das schwarze Tuch, das alles bis auf meine Augen verdeckt, an der linken Seite feststecke, atme ich schwer ein und aus. Ich hasse es, mich derart verhüllen zu müssen. Aber das ist nicht nur mein Schicksal. Jeder, der the Run noch nicht bestanden hat, lebt als Phantom in unserer Gesellschaft und muss ein Tahill tragen. Als Namenloser, der sich verhüllen muss und niemanden berühren darf, weil er noch kein Mitglied der Gesellschaft ist.

»Emza, gib mir die Kraft deines blauen Eises. Lass mich eintreten in ein Reich, in dem alles Leben erstarrt ist, und die Hektik des Tages vergessen.«

Ich kenne das Gebet nur bis hierhin. Marra hat damals viel mehr gesagt, aber ich habe mir nur den Anfang gemerkt und jetzt kann ich sie nicht mehr danach fragen. Ich schiebe den Gedanken beiseite, bücke mich und binde meine schwarzen Stiefel fest, bevor ich aus meinem Zimmer trete. Eigentlich ist es eher so etwas wie ein Dachboden, mit einer alten Leiter. Es gibt keine Türen, keine Privatsphäre. Nur Stroh, auf dem ich nachts unruhig schlafe.

Mein Blick fällt auf meinen kleinen Bruder Jarrusch und meine Hände ballen sich automatisch zu Fäusten, während ich den letzten Meter hinabspringe und vor dem Esstisch lande.

»Was machst du hier?«, frage ich ihn.

Dann sehe ich zu unserem Vater hinüber, der in sich gekehrt neben Jarrusch sitzt. Er zuckt immer wieder und sein Kopf wippt hin und her. Seit Marras Tod ist es, als würde er Gespenster sehen. Dunkle Wesen. Nur uns sieht er seitdem nicht mehr.

»Ich hatte Hunger«, brummt Jarrusch in einem für ihn eher aufmüpfigen Ton.

Ich schlucke schwer, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Sein Leben ist auch so schon schwarz genug. Ständig in diesem Loch eingesperrt zu sein und nie nach draußen gehen zu dürfen.

»Warum hast du wieder dieses Gebet gesprochen?«, fragt er mit erhobenen Brauen, als ich mich neben ihn setze und mir die Kruste des Brotes nehme, die er nicht mag.

»Weil man das eben so macht«, gebe ich zurück.

Sein Gesichtsausdruck wird noch skeptischer. »Aha.«

»Weil es mir hilft, zu mir zu finden und zu Marra. Und weil die Götter es dann vielleicht gut mit dir und mir meinen.« Beschwingt kneife ich ihm in seine rosige Wange.

»Sie werden es nie gut mit uns meinen. Außerdem sind sie unsere Feinde, Sari.«

»Du bist zu jung, um mir das zu erklären«, sage ich streng und deute auf das Brot auf seinem Teller. »Iss auf, und dann …«

»… ab in deine Kammer«, führt er den Satz wütend zu Ende.

Ja, heute stimmt etwas nicht. Er ist nie begeistert davon, dass er fast den ganzen Tag in einem kleinen Loch unter unseren Dielen leben muss. Aber heute ist er besonders zornig.

»Was ist los?« Ich lege meine Hand behutsam auf eines seiner Beine und sehe in sein deformiertes Gesicht. Seine Augen wirken klein und unsymmetrisch hinter seinen geschwollenen Lidern, und doch sieht man in einen Ozean aus Liebe, wenn man hineinblickt. Seine Lippen sind schmal und kaum zu erkennen und eine Narbe zieht sich bis zu seiner Nase, die viel schmaler ist als die anderer Menschen, aber für mich gibt es keinen schöneren Anblick. Vor allem dann nicht, wenn seine Augen vor Begeisterung aufleuchten, während er ein Buch liest oder unsere heilige Schrift, die ihm den Glauben an die Götter zurückgibt. Trotzdem ist sein Leben anders als das all der anderen. Ein Versteckspiel, denn Mutanten wie er müssen eigentlich gemeldet werden. Angeblich haben sie starke übersinnliche Fähigkeiten, die für die Gesellschaft nützlich sind. Doch ich glaube ihnen kein Wort. Genauso wenig, wie Marra es tat. Sie hat Jarrusch von Anfang an versteckt und behauptet, ihr Kind sei bei der Geburt gestorben. Ja, sie, Varra und ich standen vor einem Grab und haben es beerdigt. Und nur wir wussten, dass der in dem goldenen Leintuch unseres Königreichs eingewickelte Leichnam nicht das Baby Jarrusch, sondern ein Schwein war, das Varra an dem Tag getötet hatte.

Marra hat Jarrusch jahrelang vor unserem Monarchen und seiner Armee versteckt. Und als sie starb, übernahm ich das für sie. In all den Jahren habe ich mich Jarrusch nie ohne meine Verhüllung gezeigt. Möglicherweise würde es ihn nicht einmal stören, aber ich will nicht, dass er denkt, er sei anders als ich. Denn das ist er nicht.

»Auch wenn ich in einem Loch lebe, weiß ich, was morgen passiert, Sari«, zischt Jarrusch jetzt und klingt dabei reifer als ein Achtjähriger. Wahrscheinlich ist er mit seinem Schicksal erwachsener als Gleichaltrige. Genau wie ich.

»Wir haben darüber geredet. Varra wird sich um dich kümmern und ich werde ganz schnell wieder hier sein.« Ich streiche ihm eine goldene Strähne aus seinem dreckigen Gesicht.

»Du lügst! Du weißt nicht, ob du überhaupt wiederkommst!«

»Zweifelst du etwa an meinen Fähigkeiten?«, frage ich lachend, obwohl mir selbst übel wird, wenn ich an das denke, was mir morgen bevorsteht. Ich weiß nicht viel über den Lauf, weil niemand darüber sprechen darf, aber ich werde mich allein durchschlagen und die Prüfungen der Götter bestehen müssen.

»Nein, aber …«

»Nichts aber. Ab mit dir in deine Kammer. Nur bis die Arasás die Hausdurchsuchungen erledigt haben.« Ich schlucke schwer. Ich hasse es, dass die Armee des Monarchen, die hier in unserem Königreich für Ordnung sorgt, den gleichen Namen trägt wie unsere Göttin. Die Hausdurchsuchungen sollen verhindern, dass wir illegale Sachen wie Tabak bei uns haben oder eben Mutanten, die nicht gemeldet wurden. Mein Blick fällt auf Jarruschs Handgelenk. Sein leeres Handgelenk.

»Wo ist deine Münze, Jarrusch?« Ich schließe kurz die Augen, weil ich keine Lust habe, ihn ständig ermahnen zu müssen. Aber er macht es mir nicht leicht.

»In meiner Kammer«, gibt er kleinlaut zurück.

»Leg sie an, wenn du unten bist.«

Ich sage nichts weiter. Jarrusch weiß genau, wie wichtig diese Goldmünze ist, die an unseren Armbändern hängt. Ich hätte lebensnotwendige Dinge damit kaufen können, doch stattdessen habe ich Lederbänder gekauft und die Münzen daran befestigt. Wir tragen sie als Armbänder und Obolus für Tunis, den Gott des Todes. Falls uns etwas passiert, werden wir sicher in das Reich der Unterwelt übergehen können. Zumindest besagt das die Hamza, unsere heilige Schrift.

»Und was machst du?«, fragt Jarrusch mit hoher, bissiger Stimme und steht auf, damit ich den Tisch zur Seite ziehen kann.

»Ich gehe in die Stadt, um weiteres Essen zu sammeln.«

Seit Monaten versuche ich so viel Essen wie möglich zu beschaffen. Der Lauf kann fünfzig Tage dauern. Wenn ich nicht dafür sorge, dass mein Varra und Jarrusch genug Vorräte haben, werden sie verhungern.

Ich öffne die Luke im Boden und blicke noch einmal zu Jarrusch. Die geschwollene vernarbte Haut an seinen hervorstehenden Wangenknochen ist rot und wund.

»Du sollst dich nicht kratzen, Jarrusch. Es hat mich fast das Leben gekostet, dir diese antibiotische Salbe zu besorgen. Also verschwende sie nicht.«

»Aber es juckt und es ist hässlich!« Tränen steigen ihm in die Augen und sofort senkt er den Blick, damit ich es nicht sehe.

»Sag das nie wieder!«, fahre ich ihn an und fasse ihn unter das Kinn, um seinen Kopf leicht anzuheben. »Nie wieder, verstanden?« Es bricht mir das Herz, seine großen goldenen Augen so voller Trauer zu sehen. »Du bist wunderschön!«

Jarrusch zieht die Luft ein, dann nickt er mit zusammengepressten Lippen, drückt mir einen Kuss auf die Wange und verschwindet in seinem kleinen Loch.

Als ich die Klappe schließe, merke ich, wie eine Träne in den schwarzen Stoff tropft, der meine untere Gesichtshälfte bedeckt. Ich hasse es, meinen kleinen Bruder einsperren zu müssen. Viel lieber würde ich ihn mitnehmen. Ihn durch die Wälder bis in die Stadt bringen, damit auch er die Welt sehen kann. Aber das darf ich nicht. Sie könnten ihn entdecken und mir wegnehmen.

»Ich gehe jetzt«, sage ich, an meinen Vater gerichtet, und sehe ihn auffordernd an.

Doch er reagiert nicht, also drehe ich mich, ohne zu zögern, um, nehme meine Waffen und verlasse die kleine Hütte. Ich habe es versucht. Mehr als einmal habe ich versucht, ihn aus seiner Trance zu holen. Ich habe vor ihm gestanden, ihn angeschrien und geschüttelt. Ich habe ihn an den Schultern gepackt, obwohl es Phantomen wie mir untersagt ist, andere Menschen zu berühren. Ich habe geweint und gefleht. Aber er ist kein Teil dieser Welt mehr. Mit meiner Mutter ist auch er verschwunden und wird nie zurückkehren. Zumindest glaube ich das.

Als ich in die warme Luft vor unserer Hütte trete, wünscht ein Teil von mir, ich könnte sie auf meiner Haut spüren. Die Sonne fühlen, wie sie daraufscheint. Aber bald wird es so sein. Ja, in naher Zukunft bin ich kein Phantom mehr und muss mich nicht länger verhüllen. Dann gehöre ich zur Gesellschaft und darf anziehen, was ich will. Und ich darf auch berühren, wen ich will, ohne Angst haben zu müssen. Denn dann bin ich keine Namenlose mehr, sondern durch die Prüfungen der Götter ein vollwertiges Mitglied der Königreiche.

Ich schließe kurz meine Augen und atme tief ein und aus.

Bevor ich den Lauf antrete, habe ich noch etwas zu erledigen. Jarrusch darf es nicht erfahren. Niemand darf das.

Ich gehe weiter über den goldglänzenden Weg durch den Wald, der in die Stadt führt. Und obwohl ich mein Ziel genau kenne, bleibe ich immer wieder auf den kleinen Waldwegen stehen, mustere die uralten Biraks um mich herum und denke nach. Wäge das ab, was mich schon seit Langem beschäftigt. Immer wieder. Jedes Jahr in dieser Jahreszeit findet der Lauf statt. Alle Phantome, die in den vergangenen zwölf Monaten achtzehn geworden sind, müssen daran teilnehmen. Wenn sie es innerhalb von fünfzig Tagen durch die vier Lande schaffen, sich ihren Prüfungen stellen und sie erfolgreich abschließen, werden sie als echte Mitglieder in eines der vier Königtümer aufgenommen und müssen nicht länger Phantome sein. Doch die vier Lande, die sogenannten Utlands unserer Königreiche, beherbergen Monster – mörderische Tiere und dunkle Gestalten – und unseren schlimmsten Feind. Das abscheulichste aller Wesen. Uns selbst. Aber wenn ich diesen Lauf und alle seine Prüfungen bewältige, wird alles anders sein.

Ich weiß noch, wie es war, als ich das erste Mal diese Verhüllung tragen musste. Marra hat sie mir angezogen und dabei das Gebet gesprochen. Sie hat nie an die Vereinigung der Königreiche geglaubt, aber gelernt, mit ihr zu leben. Mit dem Monarchen, der die Herrschaft aller göttlichen Königreiche übernommen hat und sie zu einem machte.

Damals durfte ich zum ersten Mal vor unsere Tür treten. Bis wir fünf Jahre alt sind, müssen wir zu Hause bleiben. Danach dürfen wir das Haus zwar verlassen, aber nur wenn wir komplett verhüllt sind.

Als ich die Stadt von Weitem sehe, bleibe ich stehen. Wenn ich den goldenen Staub sehe, der den Boden bedeckt und aus dem die Häuser gebaut sind, träume ich jedes Mal von einer anderen Welt, einer Welt, in der unser Monarch Marruk Karis und seine Leute nicht existieren. In der er die Königsfamilien nicht abgeschlachtet und damit bewiesen hat, dass sie keine wahren Nachfahren sind. Laut unserer heiligen Schrift, der Hamza, müssten die wahren Herrscher unsterblich sein. Die Königsfamilien waren es nicht, denn sie starben an jenem Tag vor neunzehn Jahren. Marruk Karis siegte, schloss alle Königreiche zum Vereinten Königreich zusammen und ernannte sich selbst zum alleinigen Herrscher.

Mein Mund wird trocken, als ich an Marruk Karis denke, und vor allem an seinen Sohn Jeri. Jerimias Karis war der ganze Stolz seines Vaters, bis er bei dem Run vor zwei Jahren starb. Und mit ihm starb damals auch ein Teil von mir. Jeri war für mich nicht nur der Sohn des Monarchen gewesen. Er war mein Freund gewesen. Mein Verbündeter. Mein Geliebter. Er war der Einzige gewesen, der von Jarrusch wusste.

Immer wieder stahl er Essen und Medikamente aus dem Palast seines Vaters und brachte sie uns. Und er half, als Jarrusch eine gefährliche Infektion bekam. Nur seinetwegen lebt mein kleiner Bruder noch. Nur seinetwegen wurde auch ich geheilt, als die große Grippewelle das Königreich des goldenen Staubes heimsuchte. Den Teil des Königreichs, in dem wir leben. Jeri war nie wie sein Vater gewesen. Er war besser, und wahrscheinlich hat ihn genau das sein Leben gekostet.

Unter meinen Schuhen raschelt der goldene Staub von Arasá. Mein Königreich ist nach der Göttin benannt. Ich wünschte, ich hätte sie und ihre Nachfahren noch sehen können. Die Könige und Königinnen, die der Monarch umbringen ließ. Aber das war vor meiner Zeit. Und sie werden nie zurückkehren.

»Sari!«

Ich drehe meinen Kopf und verenge meine Augen zu Schlitzen, als ich Kerim erkenne, meinen besten Freund, wenn man das in dieser Welt so nennen kann.

»Ruf mich nicht bei meinem Namen!«, zische ich, während er in seiner schwarzen Verhüllung neben mich tritt. Sari ist der Name, den Marra mir gab. Und das, obwohl wir keinen tragen dürfen. Erst wenn wir in die Gesellschaft aufgenommen wurden.

Kerims grüne Augen glänzen. Grün ist eine ungewöhnliche Augenfarbe für einen Bewohner des Königreichs des goldenen Staubes. Aber es ist nicht unmöglich. Meine sind so wie die der meisten unseres Volkes – golden. Und trotzdem würde Kerim mich aus hundert Meter Entfernung erkennen. Wir alle erkennen uns. Wenn man jahrelang nur verhüllt herumläuft, lernt man, Menschen anders wahrzunehmen. Details ihrer Haltung und Besonderheiten an ihrem Gang zu sehen.

»Warum denn nicht?«, lacht er und geht neben mir den Weg entlang.

»Weil wir genau genommen keine Namen haben, Kerim!«

»Wenn wir den Lauf hinter uns haben, dürfen wir uns einen Namen geben. Und deiner wird Sari sein. Er gehört einfach zu dir. Also kann ich dich auch jetzt schon so nennen.«

Ich schüttele nur den Kopf. Kerim weiß besser als ich, dass man hart bestraft wird, wenn man sich schon vor der Aufnahme in die Gesellschaft einen Namen gibt. Wir sind nur Phantome. Er wurde aus diesem Grund schon zweimal ausgepeitscht. Aber vielleicht ist es seine Art, sich dagegen zu wehren.

»Hast du Angst vor dem Lauf?«, fragt er, als wir am Marktplatz unserer Hauptstadt Golassa ankommen. Viele Menschen laufen hektisch hin und her, um bei den verschiedenen Händlern ihre Waren zu kaufen oder zu tauschen. Einst war der Platz prunkvoll und die Kaufleute reisten mit ihren goldenen Wagen an. Marra hat mir viele Geschichten darüber erzählt. Jetzt sind die Häuserwände aus Sandstein brüchig und farblos, und die kunstvollen Malereien, die unsere Historie darauf darstellen, sind kaum mehr zu erkennen. Der goldene Staub am Boden lässt nur noch erahnen, wie glanzvoll die Gebäude einst gewesen waren, bevor er von den Wänden und Dächern, von den Bäumen und selbst von den Menschen hier gerieselt ist. Man hat ihn weggefegt und uns damit einen Teil unseres Erbes, unserer Geschichte genommen. Die Stände der Händler bestehen jetzt nur noch aus brüchigem Holz und zerrissenen Leinentüchern, die ihre Waren vor der sengenden Sonne schützen sollen.

»Nein«, schwindle ich. Wobei es keine echte Lüge ist, denn Angst habe ich nur davor, nicht zurückzukommen und Jarrusch damit dem Tod zu überlassen.

»Ich habe auch keine Angst«, sagt Kerim mit geschwellter Brust und ich weiß, dass er es ernst meint.

Aber ich weiß auch, dass er die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte, sonst wird es ihn eines Tages mehr kosten als ein paar Narben auf dem Rücken.

»Ich habe gehört, dass die Achtzehner aus dem Königreich Kalipar schon zwei Jahre vor dem Lauf trainiert werden, um ihn zu überleben.« Kerim sieht sich um, als würde er womöglich mitten in Golassa einen Kalipar entdecken. Golassa ist die Hauptstadt des Königreichs Arasá, benannt nach der Göttin des Lichtes, die unser Königreich des goldenen Staubes erbaut hat. Arasá liegt im Süden, und nur der blutrote Fluss, der Sanguis, der durch alle vier Königreiche fließt, verbindet uns mit Kalipar im Südosten. Man sagt, dass dieser Fluss selbst oben im Norden, wo das Königreich Emza liegt, seine Bahnen zieht. Mitten durch die eisernen Berge und das blaue Eis, das Ezmas gesamtes Land bedeckt. Er fließt durch das Königreich Tunis im Westen und in den dunklen Wald hinein, in dem unser Lauf bald beginnen wird.

»Sollen sie doch. Die aus Kalipar haben nur ihre Stärke. Wir haben unseren Verstand.« Ich tippe mir gegen die schwarze Kapuze und lächle Kerim an. Zwar kann er meinen Mund nicht sehen, aber er wird mein Lächeln an meinen Augen erkennen.

Als ich auf einen Stand mit Fischen zugehe, stöhnt Kerim neben mir.

»Was genau willst du mit all dem Essen, Sari? Gib deine Münzen lieber als Tribut ab.«

Ich verenge meinen Blick. Kerim war in letzter Zeit immer dabei, wenn ich Essen gekauft habe. Aber auf die Idee, dass ich zu Hause jemanden ernähren muss, ist er bisher noch nicht gekommen. Wir kennen uns zu lange, sind zusammen aufgewachsen und zur Schule gegangen. Er würde niemals glauben, dass ich einen Bruder habe.

»Der Fisch ist in Salz eingelegt. Er hält sich lange und wir können ihn nach dem Lauf noch essen«, brumme ich schulterzuckend.

»Es wäre besser, du würdest dir durch einen Tribut etwas Kraft verschaffen. Jetzt hast du noch die Chance.«

Ich presse meine Lippen aufeinander. Wir Phantome können unser Leben lang Tribute zollen. Je nachdem, wie viele Münzen man im Laufe der Zeit gesammelt hat, kann man sie kurz vor dem Lauf einsetzen, um mehr Kraft zu erhalten. Wenn man nichts abgibt, bekommt man sie entzogen. Aber all die Münzen, die ich in den letzten Jahren hart erarbeitet habe, sind für Essen oder Bücher für Jarrusch draufgegangen.

Es ist nur eine der Gaben des Monarchen, Menschen Kraft zu geben oder sie ihnen zu entziehen. Eine von vielen grundlegenden Fähigkeiten, die ihn so mächtig machen.

»Es ist meine Entscheidung, Kerim.« Die Härte meiner Worte bringt ihn endlich dazu, zu schweigen.

Ich nestle in dem kleinen Geldbeutel an meiner Hüfte herum. Noch drei Goldmünzen. Ich muss sie klug einsetzen. Und dieser Fisch könnte schneller verderben, als mir lieb ist. Was, wenn Jarrusch ihn isst, während ich beim Run bin, und eine Vergiftung erleidet? Wer sollte ihm dann helfen?

Ich lecke mir über meine spröden Lippen und wende mich von dem Stand ab. Mein Blick wandert zur Sonne, die tief am Horizont steht. Die Wintersonnenwende steht kurz bevor. Der Tag, an dem wir loslaufen werden. Morgen. Mein Herz wird schwer und ich suche verzweifelt nach dem besten Essen, das ich für Varra und Jarrusch kaufen kann. Am Ende entscheide ich mich für Getreide. Wir haben eine kleine Mühle zu Hause und Jarrusch weiß, wie er das Getreide mahlen muss, um Teig daraus zu machen, den er zu Brot verarbeiten kann. Ohne Salz ist es zwar geschmacklos, aber sie werden davon leben können. Salz ist so teuer, dass es sich nur die obere Schicht leisten kann.

»Wie viel Weizen bekomme ich hierfür?«

Ich strecke dem Händler mit meinen behandschuhten Fingern einen Goldtaler entgegen. Er wirft mir einen abfälligen Blick zu und hebt dann einen Sack in die Höhe. Das wird für Jarrusch und Varra nicht reichen. Schweren Herzens hole ich noch einen weiteren Taler heraus und gebe ihm beide für einen zweiten Sack.

»Ich hole die Säcke auf dem Rückweg ab«, sage ich und gehe weiter.

Kerim folgt mir nach einer kurzen Pause, in der er das Geld anstarrt, das ich dem Händler gegeben habe.

»Woher hast du das?«

Ich atme genervt ein und hebe meine Brauen, auch wenn er das kaum sehen kann. »Arbeit.«

»Phantome dürfen nicht arbeiten«, entgegnet er skeptisch. Mein Herz pocht laut gegen meine Rippen.

»Es gibt Menschen, die es mir trotzdem erlaubt haben, für sie zu arbeiten.«

»Du hast gekämpft!«, knurrt er, fast schon zornig.

Ich entgegne nichts. Es geht ihn nichts an, womit ich mein Geld verdiene, wenn Varra es schon nicht tut.

Kämpfe sind verboten. Und trotzdem gibt es genug Männer, die ihre Söhne durch einen Kampf trainieren und abhärten lassen wollen. Sie sind ihre einzigen Erben, also zahlen sie viel Geld dafür, dass starke Phantome wie ich ihre Söhne zusammenschlagen. Ob sie dadurch tatsächlich etwas für den Lauf lernen, wage ich zu bezweifeln. Die Tiere im Wald, die Kälte und der Hunger werden viel stärkere Gegner sein als andere Achtzehner. Außerdem die vier großen Prüfungen der Königreiche. Niemand weiß genau, was bei diesem Lauf passieren wird und was wir tun müssen. Keins der Phantome. Und die Mitglieder der Gesellschaft tragen ein Mal auf ihrer Haut, das ihnen verbietet, darüber zu sprechen. Selbst wenn sie es wollten. Sie könnten es nicht.

»Es ist unter deiner Würde, Jungs zu verprügeln, weil ihre Väter es wollen.«

»Die Kalipar kämpfen ihr Leben lang. Nur weil ich eine Arasá bin, heißt das nicht, dass Kämpfen unter meiner Würde ist, Kerim.«

Er schnauft und ich nehme mein letztes Goldstück in die Hand. Ich sollte Essen dafür kaufen, aber ich kann nicht. Jarrusch ist allein zu Hause, und solange ich weg bin, wird ihm auch noch langweilig sein. Er braucht etwas, womit er sich die Zeit vertreiben kann.

Ich steuere auf eine kleine Buchhandlung in einer Seitengasse am Ende des Marktes zu und suche unter den Titeln einen, der ihn interessieren könnte. Kinderbücher mag er nicht, dafür ist er viel zu intelligent. Also entscheide ich mich für eines über die Geschichte unserer Königreiche, mit Passagen aus unserer heiligen Schrift.

Kerim schweigt die ganze Zeit, bis ich der Verkäuferin meinen letzten Taler gebe und das Buch in meiner schwarzen Umhängetasche verschwinden lasse.

Aufgebrachte Rufe und Schreie ertönen, als meine Füße wieder in den goldenen Staub unserer Stadt treten. Ich hasse das raschelnde Geräusch, denn es fühlt sich an, als würden wir mit jedem Schritt das Königreich hinter uns lassen und die Macht unserer Göttin zertrampeln.

Einst hat das Königreich im Licht des goldenen Staubes gefunkelt. Die Gebäude und die Schlösser wurden aus diesem glänzenden Puder erbaut und schenkten der ganzen Stadt Licht. Jetzt stehen die Paläste nicht mehr, ihr goldener Staub weht durch unsere Straßen und verliert jeden Tag an Glanz.

Wir haben gerade wieder den Markplatz erreicht, als sich vor uns eine Menschenmenge bildet.

»Schon wieder eine Steinigung?«, brummt Kerim neben mir. Mein Blick wandert zur Mitte des Platzes, wo ein Pranger steht, an dem ein Phantom festgebunden wurde. Es ist ein Arasá wie wir, und obwohl nur seine Augen zu sehen sind, kann ich seine Panik erkennen.

»Wir sollten es uns nicht ansehen«, sage ich, an Kerim gerichtet, und wende mich ab, doch da hält er mich am Arm fest und deutet zu dem Jungen am Pranger.

»Das passiert, wenn sie dich beim Kämpfen erwischen, Sari«, sagt er leise.

»Das ist es mir wert«, zische ich und beiße die Zähne zusammen, als der erste Stein geworfen wird.

Eine Frau aus der Gesellschaft schreit vor Freude, und dann folgen weitere Steine. Es will nicht in meinen Kopf oder mein Herz hinein, wie man so grausam sein kann. Wie man dort stehen kann als einer von uns und einen Jungen aus dem eigenen Königreich mit Steinen bewerfen kann. Sie werden ihn nicht töten, aber er wird wochenlang Schmerzen haben. Zum Glück ist er noch kein Achtzehner. Den Lauf hätte er so nicht durchgestanden.

»Ich muss noch etwas erledigen«, sage ich, als ich endlich meinen Blick von dem schreienden Jungen abgewendet habe, und sehe Kerim ernst an. »Allein.«

Er mustert mich und ich schweige.

»Bitte sei vorsichtig, Sari«, sagt er schließlich und ich nicke.

Dann gehe ich die kleinen, steilen Gassen von Golassa hinauf bis zur Kathedrale. Es ist heiß unter den schwarzen Klamotten. Aber nur, weil das hier die Stadt des Lichts ist. Morgen, wenn ich in den Wald gehe, wird es eisig sein. Tiefster Winter.

Ich presse meine Lippen aufeinander, als ich an der heiligen Kathedrale ankomme. So schnell ich kann, öffne ich die riesigen Flügeltüren und trete hastig ein.

Im Inneren erkenne ich ein paar Menschen der Gesellschaft, aber auch Phantome. Vor allem zwei von ihnen ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie sind komplett in Schwarz gehüllt, ohne goldene Ornamente. Es ist die Verhüllung der Kalipar.

Während ich an den Sitzreihen entlanggehe, hallen meine Schritte von den wunderschön bemalten Wänden wider. Das Geräusch lässt mich innerlich erstarren.

Trotzdem setze ich weiter einen Fuß vor den anderen, bis ich zu den Vorhängen komme, die die Kapelle der Wahrheitsbringerinnen vom Hauptschiff der Kirche trennen.

»Tritt ein!«, sagt eine warme, liebevolle Stimme dahinter.

Panik macht sich in mir breit. Mein Blut rauscht und mein Puls überschlägt sich. Ich muss es tun. Ich bin stark, doch ich brauche eine Gabe, um den Lauf auf jeden Fall überleben zu können.

Tief atmend trete ich ein. Vor mir erstreckt sich ein langer, leerer Gang. Kurz frage ich mich, woher die Stimme gekommen ist, doch dann gehe ich vorwärts, bis weitere Vorhänge meinen Weg versperren. Diesmal warte ich nicht auf die Stimme, sondern hebe eine Hand, streiche den Stoff zur Seite und trete dahinter. Mein Blick fällt auf einen goldenen Thron. Darauf sitzt eine Frau mit glänzenden hellen Haaren. An ihrer Stirn hat sie goldene Hörner, und ihre Nase und ihr Mund sind von einem perlenbesetzten Netz verdeckt. Sie trägt ein goldenes bauchfreies Oberteil, das nur ihre Brüste kaschiert. Ihr Blick scheint mich zu durchbohren, während ich sie stumm mustere. Ein weißes Tattoo windet sich wie ein Baum von ihrem Herzen bis zu ihrem Gesicht hinauf und auf ihrem ganzen Körper sind unzählige Namen in der Schrift der Götter eintätowiert.

Neben ihr knien zwei weitere Frauen, die aussehen wie sie, aber keine Tätowierungen tragen.

Ohne ein Wort bedeutet sie mir mit einer leichten, majestätischen Geste, vor ihr niederzuknien.

Ich gehorche sofort.

»Du willst also eine Gabe von mir«, haucht sie.

Ich nicke stumm. Meine Stimme ist nicht greifbar. Ich kenne unzählige Geschichten über die Wahrheitsbringerinnen, über ihr Aussehen und ihre geruhsame, friedvolle Art. Aber auch darüber, dass sie dir mehr nehmen können, als dir lieb ist. Und trotzdem bin ich überwältigt von ihrer Aura, die so düster und warm zugleich ist.

Sie wird mir eine Gabe schenken, falls ich mit magischen Fähigkeiten gesegnet bin. Aber im Gegenzug wird sie mir eine Erinnerung nehmen, die eng mit meinen Gefühlen verknüpft ist. Vielleicht bin ich danach nicht mehr dieselbe. Aber ich werde eine größere Chance haben, zu Jarrusch zurückzukehren. Es wird eine Gabe sein, die mir hilft, den Lauf zu überleben.

Die Wahrheitsbringerin erhebt sich, schickt die beiden anderen weg und kommt dann auf mich zu. Sie legt ihre Hand ganz vorsichtig an meine Wange und hebt mein Gesicht ein wenig an.

»Du bist sehr stark«, haucht sie und legt den Kopf kaum merklich schief. »Bist du dir sicher, dass du die Gabe haben möchtest?«

»Ja!«, presse ich endlich hervor, doch tief in mir schreit alles Nein. Ich wollte das hier nie. Wollte nie gezeichnet werden und auch niemals eine Gabe nutzen. Genau das war es, was meine Marra getötet hat. Aber jetzt habe ich keine andere Wahl. Ich muss es tun. Für Jarrusch. Ich muss noch stärker werden, als ich es gegenwärtig bin.

Die Frau lächelt liebevoll und umfasst mit beiden Händen mein Gesicht. Für einen winzigen Moment fühle ich mich so geborgen wie seit Ewigkeiten nicht mehr.

Sie schließt ihre Augen, und auch meine Lider werden plötzlich schwer und sinken hinab. In mir wird alles warm und leicht. So leicht, dass ich beinahe all meine Sorgen vergesse und mich am liebsten in ihre Arme fallen lassen würde. In die der Wahrheitsbringerin, die meine Rettung und mein Untergang zugleich sein kann.

Vor mir erscheint meine Marra. Ihre Augen sind vor Schreck weit aufgerissen und aus einer Wunde in ihrer Brust tropft Blut. Viel zu viel Blut und auch viel zu schnell.

»Du musst auf Jarrusch aufpassen, Sari!«, presst sie atemlos hervor. »Er ist mächtiger, als du glaubst. Du musst …«

»Was muss ich?«, frage ich panisch und presse meine Hände auf ihre Wunde. Sie brennt wie Feuer. Es waren die Tunis, die Wächter der Unterwelt, die meine Mutter zu sich holen wollen.

»Marra!«, flehe ich sie an. Sie muss bei mir bleiben. Ich kann das nicht allein bewältigen. Ich bin nicht stark genug.

»Doch, das schaffst du«, flüstert sie. Ihre Gabe ist Gedankenlesen. Am stärksten ist sie, wenn es sehr emotionale Gedanken sind.

»Der Monarch wird dich töten. Deine Gabe … er darf nicht … nicht sehen, wer …«

»Ich habe keine Gaben«, widerspreche ich ihr.

Sie lächelt leicht und sinkt in meine Arme. »Du hast viele Gaben. Du darfst es auch Jeri nicht sagen. Versprich es mir!«

Ich nicke, weil ich nicht imstande bin, etwas zu erwidern. Tränen fluten meine Augen und rinnen über meine Wangen.

»Ich …« Ihr versagt die Stimme, und bevor sie ihre Augen für immer schließt, küsst sie mich auf die Stirn, wie sie es schon getan hat, als ich noch ganz klein war. »Ich liebe dich, Sari.«

Die Erinnerung wird immer schwächer. Ich will sie festhalten. Will sie wieder zurück in mein Herz sperren, aber da ist sie bereits verschwunden und ich öffne meine Augen.

Die Wahrheitsbringerin führt ganz langsam ihre Hand an ihre Schläfe und öffnet das Perlennetz, das ihren Mund verhüllt. Als sie es zur Seite schiebt, erkenne ich ihre wunderschönen Lippen, die mit zwei goldenen Strichen bemalt sind. Sie öffnet sie und kommt näher. So nah, dass ich ihren Atem an meinem Ohr spüren kann.

»Auch du bist eine Wahrheitsbringerin, Sari Lakar.«

Bevor die Worte bei mir ankommen, spüre ich einen glühenden Schmerz an meinem linken Arm. Das Symbol meiner Gabe brennt sich in meine Haut und zeichnet mich für immer. Es besiegelt auf ewig mein Schicksal, denn wenn ich den Lauf überlebe, bin ich gezwungen von nun an eine Wahrheitsbringerin zu sein.

K A P I T E L   2

Hamza, Passus II Arasá, Vers 151

Und Arasá sprach: »Jene von Euch, deren Geist rein ist, werden Gaben des goldenen Staubes besitzen. Doch nur wenige davon sind Heilsbringerinnen. Ich nenne sie die Wahrheitsbringer, und sie werden sich und ihr Leben opfern, um Euch das Wissen und die Weisheit zu schenken und Euch die Gabe zu nennen, die tief in Euch verborgen liegt.«

Arasá prüfte die ersten Menschen auf ihre Gaben. Sie fand zwei Wahrheitsbringerinnen unter ihnen und brachte sie in den großen Tempel des goldenen Staubes zu ihrer Reinigung. Als sie nackt und sauber vor ihr standen und Diener ihnen ihre Gewänder anzogen, formte sie erneut Worte mit ihren Lippen, aber in der Sprache der Götter: »Yos ha te stangest gif. Pero remembar, se es alo a burder.«

Eine der Wahrheitsbringerinnen verstand die Sprache der Götter und übersetzte die Worte der Göttin des Lichts mit leiser Stimme: »Ihr habt die mächtigste aller Gaben, aber wisset stets, sie ist auch eine Bürde.«

Ich renne den steilen, schmalen Weg von der Kathedrale zum Marktplatz hinunter. Was, zu den vier Göttern, habe ich getan? Wie konnte ich nur so leichtsinnig sein? Die Gabe der Wahrheitsbringerin wird mir im Wald nicht helfen. Nein, sie wird eher dafür sorgen, dass ich nach dem Lauf bei den anderen Wahrheitsbringerinnen arbeiten und leben muss. Natürlich werde ich Geld verdienen. Aber wie soll ich es zu Jarrusch bringen, wenn ich an den Orden der Wahrheitsbringerinnen gebunden bin?

Ich schlucke schwer und renne weiter über den Marktplatz, wo der Junge, nach dem sie mit Steinen geworfen haben, gerade auf eine Trage gehoben wird. Ich werde das schaffen. Ich werde Boten bezahlen, damit sie meinem Vater Geld bringen, und er wird … er muss dann für sich selbst und für Jarrusch sorgen.

Der Wind peitscht in meine Augen, während ich über den Waldweg zu unserer Hütte renne. Die zwei Säcke Getreide verlangsamen meine Schritte.

Die Gabe hat mir etwas weggenommen. Ich spüre es. Es ist, als wäre plötzlich ein Loch in mir, dort, wo vorher Liebe war. Es fühlt sich an, als hätte ich etwas Wichtiges vergessen. Etwas von so großer Bedeutung, dass es mich mein Leben kosten könnte.

Als ich bei der Hütte ankomme, erstarrt mein Körper. Die Armee durchsucht gerade unser Haus. Die Tür steht offen und ganz hinten erkenne ich Varra, der im Stuhl hin und her wippt und dabei schreckliche heulende Töne von sich gibt.

Kontrollen sind normal. Sie finden fast täglich statt, damit wir keine illegalen Substanzen bei uns aufbewahren oder Putsche aushecken. Ich glaube kaum, dass sie nach all den Jahren, die Marra schon tot ist, einen Mutanten bei uns vermuten. Aber vielleicht einen flüchtigen Achtzehner, der es nicht rechtzeitig nach Hause geschafft hat. Würden sie aber Jarrusch finden, würde er mitgenommen und Varra eingesperrt werden.

Ohne noch weiter darüber nachzudenken, stürme ich hinein und stelle die beiden Säcke ab, während ich die Arasás ignoriere, die gerade unseren Heuboden inspizieren. Ich fülle ein Tongefäß mit Wasser, um es Varra an den trockenen Mund zu halten. In mir breitet sich Panik aus. Angst, dass sie Jarrusch entdecken könnten. Aber ich bleibe ganz ruhig und riskiere nicht einmal einen Blick zu der Klappe im Boden.

Als Varra mich erkennt und ich ihm vorsichtig und unbeobachtet einige Strähnen aus dem Gesicht streiche, um sie in seinen grauen Knoten am Hinterkopf zu stecken, beruhigt er sich langsam.

»Dauert das noch lange?«, frage ich die Wachen. Angriff ist die beste Verteidigung. Das hat Marra mir beigebracht. Ich drehe mich wutschnaubend um, verschränke die Arme vor der Brust und starre die Männer an.

»Wir tun hier nur unsere Arbeit«, brummt der Jüngere der beiden. Ich erkenne ihn sofort. An seinen Augen, seinem Gang und seiner Haltung. Er hat den Lauf im vergangenen Jahr nur knapp überlebt. Am letzten Tag, als man die Restlichen schon für verloren hielt, humpelte er schwer verletzt zur Bibliothek der Hamza, um die letzte Prüfung zu bewältigen. Es gelang ihm, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden.

Damals, vor dem Lauf, als er noch genau wie ich ein Phantom war, fand ich immer, dass er gütige Augen hat. Aber diesen Ausdruck hat er in den Utlands zurückgelassen. Jetzt sehe ich nur Dunkelheit und Kälte.

»Mein Varra ist schwach und krank. Es wäre schön, wenn …«

»Wag es nicht, einem Mitglied der Gesellschaft etwas vorzuschreiben, namenloses Phantom!«, knurrt der andere. Er ist älter und grausamer. Sein Gesicht ist übersät von Narben. Wahrscheinlich hat er sich diese Wunden bei seinem Lauf zugezogen.

»Bitte«, gebe ich nach und hebe beschwichtigend meine Hände, bevor ich mir ebenfalls ein Gefäß mit Wasser nehme und mich setze. Mein Arm brennt und juckt fürchterlich, aber ich kann mich jetzt nicht darum kümmern. Ich will ihnen keinen Hinweis darauf geben, dass ich bei einer Wahrheitsbringerin war. Das würde die Sache nur verkomplizieren. Vor allem, wenn sie mir meinen Ärmel hochreißen und das Symbol erkennen würden. Erkennen, dass ich jetzt auch eine Wahrheitsbringerin bin.

»Wir sind hier fertig«, sagt der Alte und geht Richtung Tür.

Und gerade als auch der Junge sich zum Gehen wendet, ertönt unter mir ein knarrendes Geräusch. Ich erstarre vor Schreck, aber mein Körper reagiert. Ich drehe mein Bein leicht und streiche dann mit meiner Hand darüber.

»Verletzt?«, fragt der Junge und mustert mich genau. Doch er betrachtet auch die Diele unter meinem Fuß. Eigentlich war das Geräusch zu laut, um nur von einer kleinen Bewegung meines Beines ausgelöst worden zu sein.

»Ein Krampf«, lüge ich und sofort verengen sich seine Augen. »Ich trainiere seit ein paar Wochen für the Run. Aber wir haben nicht genug Geld, um Vitamine für mich zu kaufen.«

Ich deute auf das Innere unserer kärglichen Hütte. Es ist bekannt, dass viele von uns mit Übersäuerung zu kämpfen haben. Uns allen fehlt Magnesium, das viel zu teuer ist, als dass es ein Normalsterblicher erwerben könnte.

»Na, dann werden wir ja bald sehen, ob sich das Training gelohnt hat«, sagt der Wachmann und dreht sich endlich um.

Erst als die Tür hinter ihm krachend ins Schloss fällt, wage ich wieder zu atmen. Meine Lunge brennt und meine Kehle fühlt sich an, als wäre sie mit ätzender Säure gefüllt.

Ich lege mein Gesicht in meine Hände und bin kurz davor, zu weinen. Zu heulen und zu schluchzen. Aber ich muss stark bleiben. Vor allem für Jarrusch. Er hockt jetzt unter mir in seinem Loch und steht sicher Todesängste aus. Da kann ich ihm nicht noch zeigen, wie sehr ich selbst von der Furcht gepackt wurde. Nein.

Ich warte fast eine Stunde, in der ich keinen Ton von mir gebe, bis ich die Wachen draußen nicht mehr höre. Dann schiebe ich endlich den Stuhl und den Tisch zur Seite und befreie Jarrusch aus seinem düsteren Loch. Er springt mir freudig entgegen und klammert sich an mir fest, als würde er mich nie wieder loslassen wollen.

Er ist zu schlau für diese Welt und will nur ungern zugeben, dass er Ängste hat. Doch am meisten ängstigt er sich davor, dass ich nicht wiederkomme. Unsere Umarmung kann ihn ein kleines bisschen davon erlösen.

Nur mich erlöst sie nicht. Stattdessen versuche ich mein Herz zu verschließen. Meine Seele, die so grauenvoll schreit. Nicht aus Angst um mein Leben, sondern wegen Jarrusch. Ich würde alles für ihn geben. Und genau deshalb muss ich den Lauf überleben. Sein Leben steht an erster Stelle.

»Ich muss noch einmal los«, flüstere ich dann gegen meine innere Stimme an. Ich muss noch einen letzten Auftrag erledigen, für den ich bezahlt wurde. Dafür muss ich ausgerechnet in die Schenke, zu der ich als Phantom eigentlich keinen Zutritt habe. Das werde ich Jarrusch aber nicht sagen. Er würde sich nur unnötig Sorgen machen.

»Aber wohin gehst du?«

»Ich muss, Jarrusch. Frag nicht.« Mit diesen Worten erhebe ich mich und werfe einen Blick auf Varra, der sich immer noch panisch nach allen Seiten umsieht.

»Kannst du …?«, wende ich mich an Jarrusch.

»Nein! Ich geh da nicht wieder rein.«

Ich will nachgeben. Will ihm so gerne sagen, dass er machen darf, was auch immer er will. Dass er durch den Wald springen und spielen darf. Ich möchte nicht diejenige sein, die ihn ständig einsperrt. Aber ich muss es tun. Zu groß ist die Gefahr, dass man ihn entdeckt und einsperrt. Ein Mutant wird in unserer Gesellschaft nicht geduldet.

»Es reicht mir!«, schreie ich ihn zornig an und deute auf das Loch im Boden.

Er starrt mich verzweifelt an, als würde etwas in ihm zerbrechen, und im gleichen Moment zersplittert es auch in mir. Eines Tages wird er verstehen, warum ich das getan habe. Er muss. Wenn es dann nicht zu spät ist und seinen Charakter für immer geprägt hat.

Schließlich nickt Jarrusch und klettert ohne ein weiteres Wort in das Loch im Boden hinein. Mit zusammengebissenen Zähnen und schmerzendem Kiefer schließe ich die Klappe und schiebe Tisch und Stuhl darüber. Dann bücke ich mich und lege meine Hand auf das Holz. Eine Träne, die ich nicht aufhalten kann, tropft auf den Boden.

»Ich bin gleich zurück«, flüstere ich.

● ● ●

So schnell ich kann, laufe ich durch den Wald, ohne wirklich zu rennen. Das wäre zu auffällig, falls mich Wachleute hier sehen. Durch die Durchsuchung bin ich viel zu spät dran. Mein Herz schlägt unerbittlich gegen meine Rippen und der Wind kühlt mein heißes Gesicht.

Als ich endlich an der Schenke ankomme, atme ich einmal tief durch, bevor ich eintrete und mich umsehe.

Ich bin um einiges zu spät. Aber das Phantom, auf das ich heute angesetzt bin, ist nicht da. Vielleicht ist es schon wieder weggegangen, was sicher meinen Untergang bedeuten würde. Der Mann, der mich für diesen Kampf bezahlt hat, ist einflussreich und mächtig. Würde ich seinen Job nicht erledigen, wäre ich eine tote Frau. Nein, ein totes Phantom, eine Leiche ohne Namen. Das Gold hat er mir im Voraus bezahlt. Ich habe es heute für den Weizen und das Buch ausgegeben. Er würde mich töten lassen, wenn ich nicht liefere.

»Trinkt Ihr etwas mit mir?«

Die tiefe Stimme eines Mannes dringt an mein Ohr, als ich mich an einen der Tische setze. Ich wende ihm meinen Kopf zu und verenge die Augen. Er ist ein Phantom der Kalipar. Aber nicht irgendeins. Er trägt ein Netz über seiner Augenpartie. Er ist ein Schattenbringer. Mit all meiner Kraft bemühe ich mich, keine Angst zu zeigen. Schattenbringer sind das Gegenstück der Wahrheitsbringerinnen. Doch sie bringen keine natürlichen Gaben, sondern die finsteren und bösen. Sie bringen schwarze Magie, die schlimmsten Gaben, die es gibt. Lässt sich jemand eine Gabe von einem Schattenbringer nennen, verliert er keine gute Erinnerung, sondern eine schlechte. Etwas, das auf den ersten Blick vielleicht sogar verlockend klingt, aber dieser Kerl hier vor mir könnte mir die Erinnerung an meine Mutter nehmen, wenn sie auch nur mit einem einzigen negativen Attribut verbunden ist. Er könnte einen Schatten über mich legen. Ein Loch, das ich nie wieder füllen könnte. Ja, er wäre sogar in der Lage, mir die Erinnerung an Jarrusch zu nehmen, und niemand würde ihn je wieder aus seinem Versteck holen.

Die dunklen Gaben sind mächtiger als die guten, weshalb ihr Preis höher ist, und jedes Mal, wenn man eine solche Gabe erhält, wird auch die Seele dunkler, und am Unterarm sticht eine neue schwarze Ader hervor. Ein weiterer Grund, warum diese Gaben monumentaler sind. Es gibt keine Symbole, anhand derer man erkennen könnte, welche Magie das Gegenüber besitzt. Da sind nur diese schwarzen Tätowierungen. Ich könnte wetten, dass dieser Kerl hier einige schwarze Adern auf seiner Haut trägt.

»Ich habe keine Münzen«, gebe ich ehrlich zu und wende mich ab.

Einige Schattenbringer verdecken ihre Augen, weil sie durch die Augen ihre Gaben überbringen und Erinnerungen nehmen können. Im Gegensatz zu den Wahrheitsbringerinnen, die es durch ihre Stimme bewirken und deshalb den Mund verhüllen.

»Zwei Met«, bestellt der Schattenbringer.

Ich fixiere ihn.

»Macht zwei Soetbeer daraus, Obra«, rufe ich dem Wirt zu.

Ich kann die dunklen Augen des Kalipar glänzen sehen. Etwas an ihm ist anders als an seinen Gefährten. Ich kann ihn nicht so leicht durchschauen wie andere Menschen und ihre Beweggründe. Auch wenn mein Gefühl bei anderen nicht immer richtigliegt, habe ich doch meist eine vage Ahnung davon, wenn ich jemandem begegne. Bei ihm jedoch stoße ich gegen schwarze Mauern.

»Ein Phantom, das eine andere Meinung äußert … Sehr selten.«

»Ein Phantom, das bereits ein Schattenbringer ist, ebenfalls.«

Er zuckt mit den Schultern und nimmt das Bier entgegen. Dann reicht er mir den zweiten Krug und hebt seinen leicht an. »Ich trage viele Gaben.«

Das bezweifle ich nicht. Seine Aura ist so immens, dass ich mich nur schwerlich auf dem Stuhl halten kann.

Ich stoße mit ihm an und sehe dann zur Tür, durch die gerade mein Auftrag stolpert. Ich kann es kaum fassen, aber mir wird jetzt klar, warum sein Vater der Meinung ist, dass ich ihn schlagen soll, bis seine Vernunft zurückkehrt. Oder das erste Mal in seinem Leben auftaucht. Der Junge ist tatsächlich betrunken, obwohl morgen auch für ihn der Run beginnt

»Kennt Ihr das Phantom?«

Ich sehe wieder zu dem Fremden. »Ich denke, alle Phantome kennen sich hier. Vor allem die aus demselben Jahrgang.«

Mein Auftrag zieht wieder meine Aufmerksamkeit auf sich, als er laut nach dem Obra ruft.

»Das darf doch nicht wahr sein«, raune ich vor mich hin, während ich das Phantom beobachte, das ich schlagen soll. Er hat sich mit Freunden getroffen, die alle bereits Mitglieder der Gesellschaft sind, und bestellt einen Met. Dann beginnen sie ein Kartenspiel.

Der Kerl neben mir reagiert sofort. »Sollt Ihr dem etwa die Flausen aus dem Kopf prügeln?«

Ich schließe kurz meine Augen und trinke einen Schluck. »Ich rede nicht über meine Arbeit.«

»Arbeit …«, knurrt der Schattenbringer verächtlich. »Dabei dürfen Phantome doch gar keine Arbeit verrichten.«

Seine Stimme klingt gefährlich und langsam frage ich mich, ob er als Spion des Monarchen hier ist. Am Ende lande ich noch heute Nacht am Pranger. Nein. Dafür würden sie niemals einen Schattenbringer einsetzen.

»Ich würde es bevorzugen, wenn Ihr mich allein lassen würdet«, sage ich zu ihm.

»Um allein zu sein, ist das hier der falsche Ort, oder nicht?« Er legt den Kopf ein wenig schief.

Ich muss mich beeilen, also nehme ich meinen Becher und stoße dabei absichtlich gegen seinen. Er fällt um und das Bier läuft ihm über die Handschuhe. Mein Blick verengt sich und tatsächlich streicht er sie sich von den Fingern. Meine Augen verharren kurz auf seiner nackten, leicht gebräunten Haut, dann lächle ich unter meinem Tahill. Genau das, was ich brauche. Ich streiche meine Handschuhe von meinen Fingern, ziehe eiserne Ringe aus meiner Tasche und lege sie an, bevor ich die Handschuhe darüber streife.

»Ich habe keine Zeit für Eure Spielchen. Ich muss etwas erledigen, ehe ich den Lauf antrete. Also entschuldigt mich.« Ich trinke den Tonbecher aus, knalle ihn auf die Theke und stehe dann auf.

»Phantom!«, schreie ich wütend durch den Raum.

Mein Opfer weiß genau, dass es angesprochen ist, dreht sich um und sieht mich fragend an.

»Kann ich dir helfen?«

»Ich habe eine Botschaft für dich.« Ich sehe mich im Schankraum um. Keiner der Anwesenden würde mich verraten. Sie alle sind gerade in illegale Angelegenheiten verstrickt. Der Obra duldet, dass in seinem Gasthaus Glücksspiele ausgetragen werden, und schenkt Alkohol an Phantome aus. Dann gibt es einfache Leute, die Zigarren und Pfeifen rauchen, obwohl Tabak nur der oberen Schicht erlaubt ist. Und ganz hinten sitzt eine leichte Dame mit ihrem Freier, die ebenfalls gegen das Gesetz verstoßen. Und sogar gegen das Kalipar-Phantom habe ich etwas in der Hand. Er scheint ebenfalls Kämpfe auszutragen, denn ich habe gesehen, dass seine Knöchel blutig, verkrustet und blau sind – so wie meine. Mit diesen Informationen muss ich nicht warten, bis mein Phantom zurück zu seinem reichen Vater geht, und ihn im Wald abpassen. Ich kann ohne Bedenken meinen Auftrag ausführen.

»Was für eine Botschaft?«, lallt mein Opfer und beginnt zu lachen.

Ich recke meinen Hals, was sein Lachen sterben lässt. Dann gehe ich auf ihn zu und trete den Stuhl unter ihm weg. Der Junge knallt laut auf den Boden und starrt mich fassungslos an.

»Was …?«

»Du musst morgen den Lauf antreten!«, knurre ich ihn an. Ich beuge mich über ihn, packe ihn und ziehe ihn zu mir hoch. »Und du kleiner Bastard sitzt hier rum und betrinkst dich!« Ich balle meine Hand zur Faust und ramme sie ihm dreimal in den Magen. »Wehr dich gefälligst!«

»Nein«, wispert er und sinkt sofort zurück auf den Boden, als ich ihn loslasse. Er weint. Wimmert wie ein Baby oder ein verwundetes Tier, und in diesem Moment begreife ich, dass er keine Chance hat, den Lauf zu überleben. Aber mir geht es längst nicht mehr darum. Längst nicht mehr um einen Job. Ich bin wütend, weil er das alles nicht ernst nimmt. Weil er the Run nicht als bedrohlich wahrnimmt, während bei mir alles davon abhängt – mein Leben und das meines Bruders und meiner gesamten Familie.

Ich drehe mich um. Das hier hat keinen Sinn. Ich muss weg, zurück zu Jarrusch. Doch der Kalipar versperrt mir den Weg. Er ist riesig.

»Was?«, fauche ich und hebe meine Fäuste. Wenn er kämpfen will, werde ich Widerstand leisten.

»Ich habe ebenfalls eine Botschaft.«

Oh nein, er ist tatsächlich nicht nur ein Schattenbringer, sondern auch ein Zelot. Einer, der für Geld Leute schlägt, genau wie ich. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich sein Auftrag sein könnte.

Meine Augen werden zu Schlitzen. »Na, dann – los!«

Er zögert kurz, packt dann meine Schultern, zieht mich zu sich und rammt mir sein Knie in den Unterleib. Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu schreien, und kann meine Beine nicht daran hindern, nachzugeben. Ein lautes Klingen lässt meinen Kopf beinahe zerspringen und auf einmal spüre ich diesen grausam stechenden, pochenden Schmerz. Ich keuche auf.

»Du hast keine Tribute gezollt, Phantom«, sagt er, als würde diese Erklärung es besser machen. Als würde es damit gerechter sein. Aber das hier ist keine Gerechtigkeit. Nichts davon. Auch meine Aufträge sind es nicht. Doch dieser Kerl hier kommt vom Monarchen und hält alles, was er tut, für legitim.

Der Schattenbringer beugt sich zu mir und nimmt dann meine Hand, um mich ruckartig in die Senkrechte zu ziehen. Ich stehe auf wackligen Beinen und pralle gegen seine starke Brust.

»Ich hätte dir das Bein brechen sollen«, raunt er dicht neben meinem Ohr. Dann lässt er mich los und geht.

Keiner der Anwesenden bewegt sich. So wie auch keiner eine Regung gezeigt hat, als ich zugeschlagen habe.

Als ich endlich wieder atmen kann, humple ich aus der Schenke und den kleinen Waldweg zurück zu unserer Hütte. Ich will nicht weinen. Aber die Tränen kommen unweigerlich. Sie strömen über mein Gesicht und tränken mein Tahill, als hätte ich sie all die Jahre nur für diesen Moment angesammelt.

Als ich eine dunkle Gestalt vor mir im Wald erkenne, bricht plötzlich Zorn aus mir heraus. Es scheint wieder der Kalipar zu sein. Ein Teil in mir will gehört werden. Das Mädchen, das sich ungerecht behandelt fühlt. Die Frau, die viel zu früh erwachsen werden musste.

»Hey!«, knurre ich und sehe, dass er stehen bleibt. Ich gehe auf ihn zu, bis ich nur wenige Zentimeter vor ihm zum Stehen komme und in seine dunklen Augen blicke. Er hat sein Netz abgenommen und kurz verliere ich mich in seinen schwarzen Augen. Ein Feuer scheint darin zu brennen.

»Was wollt Ihr, Phantom?«

Er ist anders. Redet anders. Aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass er ein Kalipar ist. Ich bin noch nicht vielen von ihnen begegnet.

»Macht Euch das Spaß?«, frage ich bitter.

Er tritt aus dem Schatten der Bäume in die vom Mond erhellte Lichtung, auf deren Boden der goldene Staub der gefallenen Stadt glimmt.

»Was genau?«

»Phantomen einen Tag vor ihrem Run die Kraft zu nehmen.«

Ein raues Lachen ertönt hinter seinem Mundschutz.

»Genau das wolltet Ihr doch gerade bei dem Jungen in der Schenke tun. Und ich habe Euch keine Kraft genommen, sondern eine Lektion erteilt. Der Monarch selbst hätte keine Gnade walten lassen.«

Ich beiße die Zähne zusammen. »Das war etwas völlig anderes.«

Der Kalipar beugt sich vor und ich sehe, wie er neben meinem Gesicht seinen Mundschutz löst, damit ich jedes Wort seines leise geraunten Satzes genau verstehe.

»Selbstgerechtes Verhalten wird Euch nicht weit bringen. Im Gegenteil. Es wird Euch den Tod bringen.«

»Ist das eine Eurer Weisheiten, Schattenbringer? Muss ich dafür etwas bezahlen?«, entgegne ich verächtlich und lache höhnisch.

Er kommt noch ein Stück näher.

»Ich sage Euch eine wahre Weisheit«, raunt er, redet aber nicht weiter. Als wüsste er genau, dass er nur warten muss, um meine Neugier zu entfachen.

»Und die wäre?«

»Es wird Euch aber tatsächlich etwas kosten.«

»Ich soll für eine Weisheit zahlen, die wahrscheinlich nicht einmal eine ist?« Ich pruste und will mich umdrehen, doch er hält mich auf.

»Ich kann sie Euch nicht sagen, wenn Ihr nicht mit einer Bezahlung einverstanden seid.«

»Und was wollt Ihr dafür haben?« Ich hebe meine Brauen.

Er kommt mir wieder verdammt nah, hebt seine Hand und betastet meinen Mundschutz. Als er auch seinen lüftet und sich noch mehr nähert, weiche ich zurück.

»Was tut Ihr da?«

»Euch ein Geheimnis verraten«, flüstert er und berührt ganz sanft meine Lippen.

Mein Herz flattert. Ein Teil von mir spürt das Verlangen nach einer Berührung. Nach Nähe. Die einzigen Menschen, die ich je berührt habe, waren meine Marra und Jarrusch. Das hier ist etwas vollkommen anderes. Und es ist verboten. Aber es bewegt mich bis tief in meine Seele.

Er rückt näher und ich spüre nun deutlich seine kühlen Lippen auf meinen. Und dann sehe ich ein Licht. Ein schwaches blaues Licht. Ich spüre Emza, die Göttin und erste Herrscherin des Königreichs aus blauem Eis.

Als ich wieder zu mir komme und die Augen öffne, ist der Schattenbringer verschwunden.

Ich schnappe nach Luft und sehe atemlos in den Wald um mich herum. Habe ich mir diesen Kerl etwa nur eingebildet?

So schnell ich kann, laufe ich den restlichen Weg nach Hause und befreie Jarrusch aus seiner Kammer.