The Summer of Us - Cecilia Vinesse - E-Book

The Summer of Us E-Book

Cecilia Vinesse

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Beschreibung

Fünf Freunde, fünf Städte … und mehr als eine Lovestory Aubrey und Rae planen seit der Mittelschule ihren Interrail-Trip, bevor sie nach dem Abschluss auf unterschiedliche Universitäten gehen. Diesen Sommer ist es endlich so weit, zwei Wochen und fünf Metropolen Europas liegen vor ihnen. Allerdings reisen sie nicht wie ursprünglich geplant alleine: Zum einen ist da Jonah, Aubreys perfekter Freund, und Gabe, den Aubrey vor ein paar Wochen geküsst hat. Dazu kommt Clara, die Freundin, in die Rae verknallt ist, obwohl sie keine Chance hat, weil Clara nicht auf Mädchen steht. Nachdem in Amsterdam die ersten Geheimnisse ans Licht kommen, ist es erstmal aus mit der gemeinsamen Reise. Ist dies wirklich ihr letzter gemeinsamer Sommer, an dessen Ende sie getrennte Wege gehen?

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Seitenzahl: 316

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Über das Buch

Diesen Sommer ist es endlich soweit, zwei Wochen und fünf Metropolen Europas liegen vor ihnen. Allerdings reisen Aubrey und Rae nicht wie ursprünglich geplant alleine:

Nicht nur Jonah, Aubreys perfekter Freund, sondern auch Gabe, den Aubrey vor ein paar Wochen geküsst hat, begleiten sie. Dazu Clara, in die Rae verknallt ist – so richtig –, obwohl sie keine Chance hat, weil Clara nicht auf Mädchen steht. Als es schon in Amsterdam zum Streit kommt, reisen die fünf nicht mehr gemeinsam weiter. Werden sie wieder zusammenfinden oder ist dies wirklich der Sommer, an dessen Ende sie getrennte Wege gehen?

 

 

 

 

Für Rachel, erneut und für immer

1

Aubrey

Donnerstag, 30. Juni, bis Freitag, 1. JuliLondon

Aubrey dachte an die Reise und stellte sich vor, wie ihr gesamtes Leben weiter wurde.

Sie stellte sich vor, wie sie ihr winziges Zimmer in London hinter sich zurückließ und die Highschool und alles, was ihr als Kind so wichtig gewesen war. Sie sah sich selbst im Zug sitzen und die Welt am Fenster vorbeirauschen. Sie hatte das Gefühl, dass alles, worauf sie gewartet hatte, nun beginnen würde.

Doch das hieß nicht, dass sie bereit dafür war.

»Natürlich bist du das«, sagte Rae am Telefon. »Du bist so bereit dafür, dass es schon fast nervig ist.«

»Inwiefern?« Aubrey hockte auf der Bettkante. In einer Ecke des Raumes standen die Sachen, die sie für morgen gepackt hatte: ihr neuer Rucksack voller T-Shirts, Shorts und Sonnencreme. Daneben lagen ein Stapel Taschenbücher – ihre Leseliste für den Sommer – und eine Mappe mit allen Zugfahrplänen, die sie in den vergangenen Wochen ausgedruckt hatte. In der gegenüberliegenden Ecke lagen zwei offene Koffer, in denen sich ein paar Pullover befanden sowie ein zweiter Schwung Bücher. Es waren ihre Lieblingsbücher, die sie seit März sorgfältig ausgesucht hatte und nach New York mitnehmen würde.

Aubrey wandte den Blick ab.

»Du hast die organisatorischen Fähigkeiten eines Roboters«, sagte Rae. »Du willst schon seit Ewigkeiten an die Columbia University und du hast ein Jahr lang diese Reise geplant und – Au! Mist! Aua!«

»Was denn? Was ist passiert?«

»Nichts. Ich toaste gerade Marshmallows fürs Abendessen und habe mich verbrannt.«

»Rae Tara Preston. Was deine Mutter wohl dazu sagen würde?«

»Sie steht direkt neben mir und sagt: ›Gib her, ich habe Hunger!‹«

Aubrey machte es sich auf dem Bett gemütlich. Aus dem Zimmer ihres Bruders Chris am anderen Ende des Flurs tönte der Sound von Indiana Jones und der letzte Kreuzzug. Unten in der Küche spülten ihre Eltern das Geschirr vom Abendessen. Durch das offene Fenster drang das Lachen der Nachbarskinder, die im Garten spielten. Alles schien so normal und vertraut. Aubrey war sicher, nur die Augen schließen zu müssen, um das Gefühl zu haben, dass dies ein ganz normaler Sommerabend sei. Dass sie in ein paar Wochen wieder auf die London American School gehen und dort all ihre Freunde wiedersehen würde.

»Weißt du was?«, durchbrach Rae die Stille. »In weniger als vierundzwanzig Stunden sind wir in Paris!«

Seufzend streckte Aubrey sich aus. »Ist das wirklich eine gute Idee? Ich meine, wir werden doch nicht von einem Axtmörder gekillt, oder?«

»Fahren Axtmörder mit dem Zug?«

»In diesem einen Horrorfilm schon. Ich meine den, den wir mit Jonah und Gabe anschauen mussten.«

»O Gott. Dieser Film war dermaßen schlecht und sexistisch.«

»Okay. Aber was ist mit Der Fremde im Zug oder Mord im Orientexpress? Da geht es auch um Mörder und Züge.«

»Auby«, seufzte Rae. »Es geht darum, Spaß zu haben. Wir sind jung und frei und dürfen fast zwei Wochen lang durch Europa reisen. Du kannst in fünf europäischen Großstädten mit deinem Freund rumknutschen.«

»Hey«, sagte Aubrey, »sprich nicht vor deiner Mom darüber, wie ich mit Jonah knutsche.«

»Sie zeichnet gerade ganz konzentriert. Sie hört mich kaum. Außerdem ist ihr bestimmt klar, dass ihr beiden euch küsst. Sie weiß ja auch, dass ihr nächstes Jahr zusammenzieht.«

»Wir werden nichtzusammen wohnen. Die Columbia University und die NYU liegen nicht mal im selben Teil von Manhattan.«

»Ja, okay, aber – au! Diese verdammten Marshmallows!«

Aubrey musste lachen. Draußen wurde es langsam dunkel. Sie schaltete ihre Nachttischlampe ein. Der Lichtstrahl fiel auf ihren altmodischen Wecker und die beiden gerahmten Fotos daneben. Eins zeigte sie mit Chris vorm Haus ihrer Großeltern in Shelton, Connecticut. Das andere war vorher ganz sicher nicht da gewesen – ihre Mom musste es im Schrank gefunden haben, als sie Aubrey beim Packen half. Es war nur wenige Wochen alt und bei der letzten Vorstellung des Sommer-Musicals aufgenommen worden. Und doch schien dieser Abend schon so lange her zu sein – als stamme er aus einem ganz anderen Teil von Aubreys Leben. Das Bild zeigte ihre Freundinnen und Freunde mit zerzausten Haaren und verschmierter Theaterschminke. Im Hintergrund hing ein Poster des Musicals Du sollst mein Glücksstern sein. Clara winkte gerade mit einem Strauß roter Blumen. Aubrey stand neben Gabe und lachte über etwas, was er gerade gesagt hatte.

Instinktiv schaltete sie das Licht wieder aus und ließ so das Bild ihrer Freunde verschwinden. Als habe sich ein Vorhang vor ihnen gesenkt.

Im Zimmer war es jetzt dunkel. Draußen leuchtete der Himmel dunkelviolett. Aubrey stand auf und spähte nach draußen. Zwischen den Bäumen konnte sie fast den kurzen Weg erkennen, der zu Gabes Haus führte – vorbei an Pubs, Geschäften und Fahrradständern entlang der Themse bis zu seiner Tür.

»Auby?« Rae hatte den Mund voller Marshmallows. »Bist du noch da?«

Aubrey ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl plumpsen. »Ja, bin ich.« Sie spielte auf der Tastatur ihres Laptops herum und wechselte zwischen verschiedenen offenen Tabs hin und her. »Wusstest du schon, dass wir morgen in Paris sind?«

»Ja, Mann. Ich freue mich total.«

»Ich mich auch«, sagte Aubrey.

Sie versuchte, das tatsächlich zu glauben und die Reise als Neuanfang zu sehen. Als den Moment, in dem ihr Leben größer und aufregender würde. Doch wenn sie sich vorstellte, wie sie im Zug saß, sah sie nur, wie dieser sich schnell entfernte und hinter ihr alles kleiner und kleiner wurde – bis nichts mehr zu sehen war.

»Ich habe Kaffee gemacht«, sagte Raes Mom Lucy, als sie Aubrey die Tür öffnete.

»Danke.« Aubrey stellte ihren Rucksack an der Garderobe ab und nahm den lila Becher entgegen.

»Mom«, rief Rae von oben. Ihr breiter amerikanischer Akzent stand in starkem Kontrast zu Lucys gestochenem britischem Englisch. »Wir haben keine Zeit für Kaffee. Sonst verpassen wir den Zug.«

»Es ist fast ein Uhr«, bemerkte Aubrey. »Bist du gerade erst aufgestanden?«

Rae stand mit verwuschelten Haaren oben an der Treppe und trug noch ihre mit Fröschen bedruckte Schlafanzughose. »Du merkst auch alles.« Sie verschwand wieder in ihrem Zimmer, ihren Hund Iorek dicht auf den Fersen. Aubrey und Lucy tauschten Blicke. Lucy zuckte die Schultern: »Nach dem Kaffee geht es ihr bestimmt besser.« Raes Mom trug die für sie typische Kleidung – ein schulterfreies Top, Jeans mit Farbspritzern und Federohrringe. Sie sah weniger wie eine Mutter aus als wie eine coole, ältere Cousine. Allerdings war sie für eine Mutter auch noch ziemlich jung – erst letzten Monat hatten sie gemeinsam ihren 37. Geburtstag gefeiert.

»Setz dich doch.« Lucy räumte eine Kiste mit Farbtuben von einem blauen Ohrensessel und bot Aubrey den Platz an. Das Wohnzimmer wirkte noch chaotischer als sonst. Neue Wanderschuhe und Regenjacken lagen auf dem Boden neben Einkaufstüten und geöffneten Paketen. Aubrey kannte dieses Haus, seit sie vor sieben Jahren nach London gezogen war, doch sie konnte immer noch kaum glauben, wie wenig das Äußere und das Innere zusammenpassten. Rae und ihre Mutter lebten in der Nähe des Hyde Parks in einem strahlend weißen Reihenhaus. Außen befanden sich große Säulen, hübsche Balkons und kunstvolle Stuckleisten, doch im Haus selbst lebten Rae und Lucy zwischen zusammengewürfelten antiken Möbeln, handgemachten Tonskulpturen und zahllosen aneinandergelehnten Leinwänden. Jede Zimmerwand war in einer anderen Farbe gestrichen, auf einige waren rosa Hortensien gemalt, andere waren mit weißen, hingetupften Wölkchen verziert.

»Wie geht es deinen Eltern?«, wollte Lucy wissen. »Bestimmt freuen sie sich für dich.«

Aubrey nippte an dem viel zu süßen Kaffee. »Ich glaube, sie hyperventilieren gerade. Aber es geht ihnen gut.« Sie erzählte nicht, dass ihr Vater sie heute früh die Telefonnummer jeder amerikanischen Botschaft abgefragt hatte, die sie auf ihrer Reise durch die verschiedenen Länder benötigen könnte.

»Lass dich von ihnen nicht verrückt machen«, meinte Lucy. »Ihr werdet einen Riesenspaß haben. Ihr seid im perfekten Alter, um euch treiben zu lassen. Ihr müsst noch keine großen Entscheidungen treffen.«

»Ich weiß schon längst, was ich studieren will«, sagte Aubrey.

Lucy hielt sich den Kaffeebecher vor den Mund, um ihr Grinsen zu verbergen. Alles klar, dachte Aubrey. Sie meint wahrscheinlich andere Entscheidungen. Wichtigere Entscheidungen. Allerdings konnte Aubrey sich keine Entscheidung vorstellen, die wichtiger war. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr wusste sie, dass sie Englische Literatur studieren würde, und hatte seitdem gehofft, dass sie es auf die Columbia University schaffen würde. Nach dem College wollte sie ihren Master und später ihren Doktor machen. Und dann würde sie sich entweder als Lektorin oder als Literaturprofessorin bewerben. Sie hatte schon alles bis ins Kleinste geplant.

»Aubrey!«, rief Rae. »Kannst du mal kommen?«

Aubrey nahm ihren Kaffee und ging nach oben. Rae hatte inzwischen eine zerrissene Jeans und ein Sleater-Kinney-T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln angezogen. Ihre langen, lockigen Haare hatte sie zu einem Knoten hochgebunden. Sie stand mitten in ihrem Zimmer, das Bett war ungemacht und überall lag Kleidung herum. »Was soll ich mitnehmen?«, wollte sie wissen.

»Du hast noch nicht gepackt?« Aubrey knallte die Tür hinter sich zu.

»Doch, habe ich. Das hier ist nur Performancekunst.«

Aubrey gab Rae den Kaffeebecher. »Trink das. Deine Mom sagt, das hilft. Und schmeiß einfach irgendwelche Sachen in die Tasche. Sortieren können wir sie dann in Paris.«

Die Mädchen knieten auf dem Boden und stopften Schlafanzughosen und abgeschnittene Jeans in Raes Rucksack. Der riesige Iorek machte es sich zwischen ihnen gemütlich und klopfte mit seinem weißen Schwanz auf den Boden. Aubrey freute sich beinahe darüber, noch ein paar Minuten hier verbringen zu dürfen. Sie fühlte sich bei Rae genauso zu Hause wie in ihrem eigenen Zimmer. Sie kannte jede von Raes Zeichnungen an der Wand und jedes Foto, das an der quer durch das Zimmer gespannten Wäscheleine hing. Sie wusste, dass sich unter dem Sitzsack in der Ecke ein Stück verbrannter Teppich versteckte, seit damals, als Rae ihre Haare unbedingt mit dem Bügeleisen hatte glätten wollen. Und sie war hier gewesen, als Rae ihre erste Kamera bekommen hatte. Die beiden hüpften stundenlang auf dem Bett auf und ab, hörten Tegan and Sara und machten verwackelte Fotos voneinander.

»Deine Kamera!«, rief Aubrey plötzlich. »Und dein Skizzenheft! Die Sachen darfst du nicht vergessen.«

»Ach nee«, sagte Rae. »Die habe ich schon vor Tagen eingepackt.«

»Keine Klamotten, kein Zahnputzzeug, aber an deine Kamera hast du natürlich gedacht.«

»Genau.« Rae hielt kurz inne und schlürfte den Kaffee. »Dir geht es inzwischen besser, oder?«

»Inwiefern?« Aubrey faltete ein weißes Tanktop zusammen.

Rae sah sie erstaunt an. »Na, in Bezug auf das College. Und das Wegziehen von hier. Und alles, worüber du dir gestern Abend sonst noch Sorgen gemacht hast.«

»Mir geht’s gut«, sagte Aubrey. »Ich war ein bisschen nervös wegen der Reise, das ist alles.«

»Okay. Du bist also gar nicht nervös, die nächsten dreizehn Tage …«

»Mit Gabe zu verbringen?«, beendete Aubrey für sie den Satz. Sie hielt inne. Beim bloßen Aussprechen seines Namens wurde ihr schwindlig, als stünde sie am Rand eines Abgrunds und blickte nach unten. »Natürlich nicht. Damit kann ich umgehen. Schließlich bin ich jetzt erwachsen.«

»Du bist achtzehn.«

»Genau! Ich darf wählen. Und in den meisten europäischen Ländern darf ich Alkohol trinken.«

»Im Ernst?«, fragte Rae. »Ich glaube ja, inzwischen ist er über die Sache hinweg. Ich meine, er ist hetero! Heteromänner können sich immer nur an das erinnern, was in den letzten fünf Minuten passiert ist, oder?«

»Sie sind doch keine Goldfische!«

»Damit kenne ich mich nicht aus. Mist! Mein Reisepass! Kannst du ihn von meinem Schreibtisch holen?«

»Du hättest beinahe deinen Reisepass vergessen?« Aubrey sprang auf. Der Pass lag unter einem unordentlichen Stapel Unterlagen. Die meisten stammten von der Universität in Melbourne. Aubrey sah Hochglanzbroschüren, Kopien von Visa-Anträgen und Flugbuchungen und fühlte sich wieder wie am Rand jenes Abgrunds. In zwei Wochen, gleich nach ihrer Rückkehr von der Reise, würden Rae und Lucy in ein Flugzeug nach Australien steigen. Raes Uni begann zwar erst im Januar, sodass sie eigentlich nicht so früh aufbrechen müssten, aber sie wollten noch etwas Zeit haben, um eine Weile herumzureisen. Im letzten Winter und Frühling hatten Lucy und Rae Aubrey Fotos der Orte gezeigt, wo sie hinwollten – Bilder von endlosen goldenen Stränden und Küstenstraßen, die in den Himmel zu führen schienen. Bald würde Rae dort sein, eine halbe Welt weit weg.

Und Aubrey würde ganz woanders sein.

»Puh.« Rae wuchtete ihren Rucksack auf den Rücken. »Ich glaube, wir sind fertig.«

»Definitiv.« Aubrey schob ihre klebrigen Sorgen beiseite und reichte Rae den Reisepass.

Sie stopfte ihn in die Hosentasche und nahm Aubreys Handgelenke. Ihre grünen Augen leuchteten. »Gut«, sagte sie. »Dann lass uns endlich hier verschwinden.«

2

Rae

Freitag, 1. JuliVon London nach Paris

Von London nach Paris, nach Amsterdam. Von Prag nach Florenz, nach Barcelona.

Rae wusste, wo sie wann sein würden, aber sie zählte die Stationen ihrer Reise trotzdem im Kopf auf, während sie mit Aubrey in der U-Bahn Richtung King’s Cross fuhr.

Von London nach Paris, nach Amsterdam.

Von Prag nach Florenz, nach Barcelona.

Sie wusste genau, welche Route sie nehmen würden – eine Linie, die sich von Land zu Land zog, in Städten haltmachte und entlang von Gewässern verlief. Aubrey hatte diese Reise das ganze Jahr hindurch geplant und die Freundinnen hatten seit der Mittelstufe davon geträumt. Und nun passierte es endlich.

Die U-Bahn kam am Russell Square zum Stehen. Menschen stiegen ein und aus. Zwei Frauen in Businessanzügen schoben sich an Rae vorbei und zwangen sie, ihren Rucksack fest an die Brust zu pressen. Aubrey studierte die Karte von Paris, die sie auf ihr Handy geladen hatte, und flüsterte dabei Straßennamen. Rae durchwühlte ihre Tasche nach Erdbeerkaugummi.

Die U-Bahn setzte sich wieder in Bewegung. Noch eine Haltestelle.

Rae war nicht nervös. Zumindest nicht so richtig. Und auf keinen Fall so sehr wie Aubrey. Sie hatte mit ihrer Mom schon Rucksacktouren unternommen und reiste insgesamt gern mit dem Zug.

Weil es immer vorwärtsging.

Weil man nie das Gefühl hatte, langsamer zu werden.

»Geschafft!«, freute Aubrey sich ein paar Minuten später. Sie liefen durch die belebte Fußgängerzone von King’s Cross zum Bahnhof St Pancras International, wo sie in den Eurostar nach Paris steigen würden.

»Wir sind doch nur U-Bahn gefahren.« Rae strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre Armreifen klimperten. »Das machen wir jeden Tag.«

»Du willst ja nur angeben, weil du britischer bist als wir«, gab Aubrey zurück.

»Nur theoretisch«, widersprach Rae. Sie hatte sich selbst tatsächlich nie als Britin wahrgenommen. Ihre Mom war Britin. Lucy war in London aufgewachsen, aber Rae war in Georgia geboren, als ihre Mom dort gerade mit dem Studium begonnen hatte. Bis Rae neun war, hatten sie in den USA gelebt. Dann war ihre Großmutter gestorben und hatte den beiden ein riesiges Haus und eine Menge Geld hinterlassen.

Am Anfang hatte Rae London gehasst. Ihr fehlte die Wärme Georgias, das kleine Holzhaus, in dem sie mit ihrer Mom gewohnt hatte, und die Wochenenden am Strand. Alles an England erschien ihr so grau: die feuchte Luft, der Nebel und der flache, metallische Himmel.

London schien ein Ort zu sein, zu dem sie nie passen und an dem sie sich immer gelangweilt und einsam fühlen würde. Doch zwei Jahre nach dem Umzug tauchte Aubrey an der St. Catherine’s International School auf. Sie kamen in eine Klasse. Schon am ersten Tag sah Rae, wie Aubrey die Augen verdrehte, als Sophie French hartnäckig behauptete, sie werde im nächsten Harry-Potter-Film mitspielen. Damals hatte Rae es gewusst: Die Neue würde ihre beste Freundin werden.

Jetzt gingen sie gemeinsam Richtung St Pancras. Rae atmete die herbe Stadtluft ein und strich sich wieder die Haare aus dem Gesicht, um die milchige Glasdecke zu betrachten. Der Bahnhof hallte von Schritten und Stimmen wider. Die Menschen bewegten sich, als seien sie diesem Rhythmus angepasst und Teil einer Gezeitenbewegung, die alle – auch Rae – mitnahm. Sie senkte den Blick wieder und entdeckte Clara, die beim Check-in-Schalter für den Eurostar an der Wand lehnte.

In diesem Moment kollabierte Raes Herz – und wahrscheinlich auch ihre Lungen und alles andere in ihr. Für einen Moment war alles ganz ruhig. Selbst die Luft in ihren Lungen kam zum Stillstand.

»Deine Haare!«, rief Aubrey und der Bahnhof erwachte wieder zum Leben. Jemand rempelte Rae von hinten an und schob sie nach vorn.

»Wann hast du das denn gemacht?«, fragte Aubrey Clara.

»Sieht es doof aus?« Clara ging auf die beiden zu und fuhr sich mit den Fingern durch die nun kirschroten Haare. »Ich habe gestern Abend darüber nachgedacht und beschlossen, dass ich für die Kunsthochschule einen ganz neuen Look haben möchte. Aber sagt ruhig, wenn es ätzend aussieht.«

»Es sieht nicht ätzend aus«, sagte Rae.

»Nein«, bekräftigte Aubrey. »Aber dramatisch.«

»Dramatisch im guten Sinn«, erklärte Rae. »Wie Lola rennt. Da bekomme ich richtig Lust, mit meinen Haaren auch irgendwas Radikales zu machen.«

»Auf keinen Fall!«, rief Aubrey. »Du hast seit der Mittelstufe die gleiche Frisur. Du würdest dann gar nicht mehr wie Rae aussehen.«

Rae schnaubte. Sie verzichtete auf den Hinweis, dass ihr Aussehen in der Mittelstufe vielleicht nicht so großartig gewesen war.

Aubrey wandte sich wieder an Clara: »Sind deine Eltern ausgerastet?«

»Die Ärzte waren sehr vernünftig«, antwortete Clara. »Ich glaube, sie verstehen, dass ich jetzt frei und unabhängig bin.« Sie rückte ihren selbst genähten Rock zurecht, der mit einer Landkarte von Europa bedruckt war. Außerdem trug sie ein zerknautschtes gelbes Tanktop und an jedem Finger einen Ring. Alles an ihr war knallig und bunt. Alles an ihr ließ Raes Herz schneller schlagen. »Was stehen wir noch hier rum?«, fragte Clara. »Wir müssen zum Zug.«

Sie schoben ihr Gepäck durch einen Röntgenscanner und ein Sicherheitsbeamter in blauer Uniform winkte sie durch einen Metalldetektor. Rae nahm langsam ihre Tasche vom Band und redete sich ein, alles sei in Ordnung. Immerhin waren Clara und sie Freundinnen und hatten seit der Oberstufe fast jeden Tag Zeit miteinander verbracht.

Aber sie hatten noch nie stundenlang in ein und demselben engen Zugabteil gesessen, waren noch nie jeden Morgen im selben Zimmer im Hostel aufgewacht oder hatten einen Kontinent gemeinsam bereist. All das war Neuland – das Reisen, das Überqueren von Grenzen und das Einschlafen an der Schulter der jeweils anderen. Dafür besaß Rae keine Karte. Sie wusste nicht, wie sie diese Reise überleben und ihr größtes Geheimnis geheim halten sollte.

Jetzt erreichten sie den Wartebereich und entdeckten Jonah, der ihnen zuwinkte. »Wie kann es sein, dass ich vor euch hier war?«, fragte er. »Ich bin sonst nie vor Aubrey da.«

»Wir sind wegen Rae zu spät«, erklärte Aubrey.

»Das stimmt«, gab Rae zu.

»Du Idiot.« Clara ließ ihre Tasche zu Boden fallen. »Hast du uns wirklich nur einen Platz reserviert?«

»Nö.« Jonah fuhr sich mit der Hand durch sein langes, dunkelblondes Haar. »Ich habe Aubrey einen Platz reserviert.« Er zog sie neben sich und küsste sie schnell auf die Wange. Clara stöhnte und setzte sich auf ihre Tasche. Rae tat es ihr gleich. Über ihnen leuchtete die Anzeigetafel mit den Abfahrtszeiten und Gleisnummern. Clara nestelte an dem rosa Plastikring auf ihrem Daumen herum und Rae bemerkte ein gepunktetes Pflaster an ihrem Zeigefinger. »Was ist mit deiner Hand passiert?«, fragte sie.

»Das?« Clara hob die Hand. »Ist vom Nähen.«

Rae hob den eigenen, tintenverschmierten Zeigefinger. »Ich habe mich mit acht Jahren mit einem Stift gestochen. Siehst du? Da ist sogar eine Narbe.«

»Künstler sind so krass«, grinste Clara. Die beiden legten die Fingerspitzen aneinander und Rae spürte eine Art Schockwelle bis hoch in ihren Arm. Wäre sie einfach nur normal verliebt, hätte sie jetzt geflirtet. Oder sie hätte Claras Finger länger berührt. Sie hätte ihr gesagt, wie beeindruckt sie von ihr war – von ihrem Talent, den unglaublichen Kostümen, die sie entwarf, und der renommierten Kunsthochschule in L. A., die sie besuchen würde. Auch Rae wollte Kunst studieren, aber sie strahlte das nicht so aus wie Clara. Sie war nicht einmal ansatzweise so ehrgeizig.

All das hätte sie Clara gesagt – hätte sie nicht gewusst, wie übertrieben und einfallslos es klingen würde. Denn in Clara war sie nicht einfach nur verliebt. Clara war eine ihrer besten Freundinnen.

Rae zog die Hand zurück.

»Habt ihr was von Gabe gehört?«, wollte Jonah wissen.

Rae und Aubrey tauschten nervöse Blicke. »Nö«, sagte Rae. »Wir dachten, du hättest mit ihm gesprochen.«

»Nein.« Jonah gähnte. »Hat er dir keine Nachricht geschickt?« Die Frage richtete sich an Aubrey und Aubrey wusste das. Entsprechend alarmiert war ihr Gesichtsausdruck. Rae musste irgendetwas tun, und zwar möglichst schnell. Sie sprang auf, zeigte auf die Anzeigetafel und rief: »Da steht, auf welchem Gleis unser Zug kommt!«

»Wow«, sagte Jonah. »Da freut sich aber jemand.«

»Das ist der Sommer vor dem College.« Rae baute sich vor Jonah auf. »Wenn ich mich jetzt nicht freuen darf, kann ich gleich eine feste Stelle annehmen und ein Haus auf Kredit kaufen.«

Aubrey sah sie erleichtert an. Sie nahmen ihr Gepäck und schoben sich durch das Menschengewühl Richtung Gleis. Rae suchte die Menge nach Gabes dunklen Haaren, seinem Hipster-Shirt oder den Kopfhörern ab, die er immer um den Hals trug. Doch sie sah nur Hüte mit Disneyland-Paris-Motiv, müde Erwachsene mit Kaffeebechern und unzählige Rollkoffer. Im Zug hob sie ihre Tasche auf eine überfüllte Gepäckablage und nahm neben Aubrey Platz. Clara, die vor Jonah saß, drehte sich zu ihm um: »Wenn Gabe nicht auftaucht, setze ich mich neben dich.«

»Der kommt schon«, sagte Jonah. »Und du setzt dich nicht neben mich. Deine Ellbogen sind viel zu spitz.«

»Meine Ellbogen sind nicht spitz.« Sie betrachtete eingehend ihren angewinkelten Arm. »Vielleicht sind deine stumpf. Zeig mal.«

Aubrey nestelte am Riegel des Klapptischs vor ihr herum. »Was ist, wenn er nicht kommt?«, flüsterte sie besorgt.

»Natürlich kommt er«, antwortete Rae leise. »Er würde uns nicht einfach sitzen lassen.«

Eine Frau in einem gemusterten Sommerkleid ging den Gang zwischen den Sitzreihen entlang, ihr starkes Parfum stieg Rae in die Nase. Rae zupfte an einem Riss in ihrer Jeans herum und überlegte, was sie als Nächstes sagen sollte. Sie könnte es ganz klassisch mit vielleicht hat er sich verlaufen probieren. Oder der Standardfloskel das hat nichts mit dir zu tun. Blöd nur, dass sie nicht wusste, ob das stimmte. Gabe könnte kalte Füße bekommen haben. Er könnte beschlossen haben, dass die Sache vielleicht zu unangenehm werden würde.

Und wenn das der Fall war, hatte es definitiv mit Aubrey zu tun.

Hinter ihnen öffnete sich die Waggontür.

»Verdammter Mist, Mann!« Jonah stand auf. »Warum hast du so lange gebraucht?«

Rae drehte sich um. Da stand Gabe mit seiner Reisetasche. Er sah gehetzt aus, ansonsten aber wie immer; er trug sein St.-Vincent-Shirt und die üblichen Kopfhörer. Kürzlich hatte er sich die Haare schneiden lassen, sodass es an den Seiten kurz, oben aber noch länger war. Rae fühlte sich nicht von Jungs angezogen, aber selbst sie konnte beurteilen, dass der Haarschnitt ihm sehr gut stand. Aubrey löste den Riegel des Tisches und er klappte vor ihr nach unten. Sie wurde rot und klappte ihn wieder hoch.

»Meine Familie aus Madrid ist immer noch da«, sagte Gabe. »Und meine Schwester fliegt heute zurück nach Barcelona, deshalb wollten meine Tanten und Onkel Fotos machen. Und dann wurde meine Großmutter wütend, weil Zaidas Gesicht schon wehtat vor lauter Lächeln und sie keine Lust mehr hatte.«

Clara flocht gedankenverloren ihre Haare zum Zopf. »Veranstaltet deine Schwester eine Party für uns, wenn wir in Barcelona sind?«

»Nein.« Gabe wuchtete seine Tasche auf die Gepäckablage. »Warum sollte sie das tun?«

»Weil Partys Spaß machen«, antwortete Clara. »Weil wir gerade den Highschoolabschluss gemacht und uns ein bisschen Spaß verdient haben.«

»Du meinst, du hast eine Party verdient?«, hakte Jonah nach.

»Halt die Klappe, Ellbogen.«

Der Zug zischte und ruckte an.

Gabe setzte sich und starrte geradeaus, als versuche er mit allen Mitteln, Aubrey zu ignorieren. Auch Aubrey sah ihn nicht an – sie pulte an einer Sommersprosse auf ihrem Knie herum oder an ihrem frisch aufgetragenen Nagellack. Rae wäre am liebsten aufgestanden. Sie hätte den beiden gern gesagt, wie auffällig unauffällig dieses gegenseitige Ignorieren war.

Aber das war es vielleicht gar nicht, sondern es schien Rae nur so, weil sie wusste, was vor drei Wochen geschehen war.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Clara jubelte; Jonah klatschte in die Hände. Rae spürte ein Flattern in der Magengegend. Jetzt waren sie endlich unterwegs.

Sie nahm Aubreys Hand. »Los geht’s«, flüsterte sie ihr zu.

Aubrey erwiderte den Händedruck. Das erinnerte Rae daran, wie sie sich an den Händen gehalten hatten, als sie gemeinsam vom Fünfmeterbrett gesprungen waren. Und wie sie unter Wasser versucht hatten, gleich lang den Atem anzuhalten. Sie sah aus dem Fenster. Die graubraunen Gebäude Londons wurden immer kleiner. Als sei die Welt auf fast forward gestellt.

3

Aubrey

Freitag, 1. JuliVon London nach Paris

Der Zug fuhr in einen Tunnel. In den Fenstern sahen sie nun ihre Spiegelbilder. Aubreys Unterhaltung mit Rae schien beendet. Also setzte sie ihre Kopfhörer auf und suchte nach der Playlist, die Rae ihr zum Schulabschluss zusammengestellt hatte. Sie hieß »Soundtrack zu Aubrey Bryces traurigem, immerwährendem Abschied«. Das passte irgendwie. Der schnelle elektronische Sound von Chvrches überlagerte das Zuggeräusch. Die Musik klang dynamisch, aber gleichzeitig ein bisschen angstvoll. Das passte zu dem Gefühl in Aubreys Magen. Dem Gefühl, dass alles extrem angespannt war und jeden Augenblick zerreißen könnte.

Aubrey machte die Musik lauter.

Der Zug näherte sich dem Eurotunnel – dem Tunnel unter dem Meer, der England mit Frankreich verbindet. Die Waggons ratterten. Aubrey betrachtete ihr Spiegelbild – ihren strengen Pferdeschwanz und die herabhängenden Mundwinkel. Sie betrachtete Raes zerrissene Jeans und den Stift, mit dem sie gegen ihr Knie trommelte. Und sie betrachtete Gabe, der ihr gegenübersaß und sich mit Jonah unterhielt. Sie studierte sein Profil – die gerade Nase, die Wölbung seines Kinns, die Haare, die ihm in die Stirn fielen.

Aubrey bekam Schuldgefühle, aber sie war dennoch froh, dass Gabe hier war. Der Gedanke daran, mit ihr so lange auf so engem Raum zu sein, hatte ihn also nicht abgeschreckt. Vielleicht bestand noch Hoffnung, dass sie wieder Freunde wurden.

Sie schloss die Augen und glitt tiefer hinein in den Sog der Musik und der Zuggeräusche. Was sie als Sechstklässlerin wohl gedacht hätte, wenn sie sich selbst so hätte sehen können? Wenn sie die achtzehnjährige Aubrey gesehen hätte, die jetzt alle ihre Vorhaben in die Tat umsetzen konnte?

Damals blieben Rae und sie lange wach, schauten ihre Lieblingsfilme und malten sich atemberaubende Abenteuer aus, die sie erleben würden, sobald sie erwachsen waren. Damals hatte Aubrey angenommen, dass Rae und sie diese Reise allein machen würden. Sie hatte nicht gewusst, dass Jonah, Clara und Gabe mitfahren würden. Sie war ihnen noch nicht einmal begegnet.

Zu dieser Begegnung kam es erst in der zehnten Klasse. Gabe lernte sie damals zuerst kennen. Sie hatten sich beide für das Backstage-Team aufstellen lassen, das beim Theaterstück im Herbst helfen sollte. Zufällig sollten sie gemeinsam ein Bühnenbild malen – eine schmutzige Stadt als Hintergrund. Aubrey erinnerte sich, wie sie jeden Nachmittag mit Gabe in einem leeren Klassenzimmer verbracht und Schicht um Schicht graue Farbe auf eine kratzige Leinwand aufgetragen hatte. Dabei unterhielten sie sich stundenlang – darüber, wo sie aufgewachsen waren und wie es sich anfühlte, in England zu leben. Gabe stammte aus Madrid, hatte aber den größten Teil seines Lebens in Rhode Island verbracht, weil sein Dad dort an der Uni Wirtschaftswissenschaften lehrte. Jetzt lebte seine Familie in London, da der Vater einen neuen Job am dortigen University College hatte.

Aubrey war überzeugt, dass ihre eigene Geschichte im Vergleich dazu langweilig klang (mein Dad ist Buchhalter, ich komme aus Connecticut), aber Gabe schien sich gern mit ihr zu unterhalten. Er setzte sich in Geometrie neben sie und rief sie beim Mittagessen an seinen Tisch, um sie seinen anderen neuen Freunden vorzustellen: Jonah, der in dem Theaterstück mitspielte, und Clara, die die Kostüme entwarf. Als Aubrey von Rae erzählte, berichtete Clara, dass die beiden zusammen Kunstunterricht hatten. So fügte sich alles. Aus Aubrey und Rae wurden Aubrey und Rae und Gabe und Jonah und Clara.

Und so war es seitdem geblieben.

Aubrey musste eingeschlafen sein, denn als sie die Augen wieder öffnete, stand der Zug. Helles gelbes Licht strömte durch die Fenster und draußen auf dem Gleis gingen Menschen auf und ab.

»Schau mal.« Rae streckte sich Richtung Fenster und ließ eine Kaugummiblase platzen. »Wir sind in Paris.«

Sie stiegen aus und gingen den Bahnsteig entlang. Tauben flatterten umher. Sie betrachteten die Bahnhofshalle mit den halbrunden Fenstern. Aus den Lautsprechern tönten Durchsagen in hochnäsigem, musikalischem Französisch.

Jonah ging neben Aubrey her. »Das sieht aus wie ein altes Filmset oder so«, sagte er beinahe ehrfürchtig.

»Wenn Paris eine Person wäre«, sagte Aubrey, »dann wäre sie sehr elegant.«

»Aber irgendwie auch bescheuert«, sagte Jonah.

Aubrey war geschockt. »Paris ist nicht bescheuert! Wie kannst du so was sagen?«

»Weil es unnahbar und wunderschön und arrogant ist. Total bescheuert.«

»Na gut. Wenn du eine Stadt wärst, dann wärst du Paris.«

»Und du wärst London«, gab er zurück. »Fleißig. Praktisch. Und öde.«

»Hallo, geht’s noch?Du bist so unromantisch!« Sie gingen an einem Baguettestand am Ende des Gleises vorbei. Es roch nach heißem Kaffee und frischem Brot.

»Jedenfalls wäre ich gar nicht Paris«, meinte Jonah. »Sondern New York.«

»Weil du von dort stammst?«

»Nein.« Er versuchte, verrucht dreinzublicken. »Weil ich sexy und gefährlich bin.«

Sie betraten eine Rolltreppe, die zur Metro hinunterführte.

Kurz nach sechs stiegen sie aus der Bahn aus und gingen zu ihrem Hotel. Elegante Glastüren führten in die mit schwarz-weißem Marmorboden und Kristallleuchtern ausgestattete Lobby. Jonah stieß einen leisen Pfiff aus. Die Reise war teuer und die meiste Zeit wären sie per Interrail unterwegs und würden in billigen, versifften Hostels übernachten. Aber als Geschenk zum Schulabschluss hatten Aubreys Eltern ihnen zwei Nächte in einem – anscheinend unglaublich noblen – Hotel spendiert.

Sie checkten ein und fuhren mit dem Aufzug in den achten Stock. Die Gänge waren mit dickem Teppich ausgelegt; an den Wänden glitzerten Leuchter.

»Was für ein krasses Hotel«, sagte Rae. »Auby, was haben sich deine Eltern dabei gedacht?«

»Irgendwie passen wir hier nicht rein«, stellte Aubrey fest. »Hat sonst noch jemand das Gefühl, dass wir hier nicht reinpassen?«

»Zu spät.« Clara nahm Aubrey den Schlüssel weg und öffnete die Tür. Sie rannte ins Zimmer und schob die durchsichtigen Vorhänge beiseite. Durch die riesigen Fenster blickte man auf große, pompöse Gebäude. »Seht euch nur diese Aussicht an!«

»Und das Badezimmer!«, rief Rae. »Leute. Es gibt gute Neuigkeiten. Das Bad ist so groß wie eine ganze Wohnung.«

»Was ist mit Essen?«, fragte Jonah, der hinter ihnen ins Zimmer kam. »Gibt es hier gratis irgendwas zu essen?«

Aubrey wollte auch das Zimmer betreten, als sie Gabes Stimme hörte: »Mann, Bryce, die kriegst du hier vielleicht nie wieder raus.«

»Oh.« Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. »Ich glaube, sie müssen spätestens raus, wenn wir auschecken.«

Ein merkwürdiges Schweigen entstand. Aubrey wünschte, ihr fiele noch etwas ein. Etwas, das nichts mit dem Hotelaufenthalt zu tun hatte. Etwas, das diese aufkeimende Unterhaltung am Leben erhalten würde. Im Flur schien es noch dunkler zu werden und die Wände schienen sich auf sie zuzubewegen. Es fühlte sich alles so steif und formell an, als seien sie Figuren aus einem viktorianischen Roman. Als seien sie einander nie nahe gewesen. Obwohl sie sich doch so nahe gewesen waren. Vor ein paar Wochen sogar viel näher als jetzt – seine Hände in ihrem Haar, ihre Lippen miteinander verschmolzen.

Gabe bewegte sich von ihr weg.

»Erinnert dich das nicht an Jane Eyre?«, fragte sie schnell.

Er drehte sich zu ihr um. »Was?«

»Jane Eyre.« Rae und Clara hatten jetzt laute Musik eingeschaltet. Aubrey machte einen Schritt auf Gabe zu. So leicht würde sie nicht aufgeben. »Es fühlt sich so nach Gothic Novel an, findest du nicht? Als seien wir alle Jane Eyre, gingen in dieses riesige Haus und rechneten gar nicht mit der –«

»Ehefrau auf dem Dachboden?«, beendete Gabe ihren Satz. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte seine Lippen.

»Genau!« Aubrey schöpfte Hoffnung. Jetzt unterhielten sie sich. Sie standen einander gegenüber und führten tatsächlich ein Gespräch. »Die Ehefrau auf dem Dachboden. Was keinen Sinn ergibt. Für meinen Vergleich, meine ich.«

Plötzlich tauchte Jonah neben ihr auf. »Die Mädels haben mich rausgeschmissen«, beschwerte er sich. »Sie sagen, Jungs seien hier nicht erlaubt.«

»Genau!«, rief Clara aus dem Zimmer. »Zutritt verboten für Jungs!«

Jonah legte Aubrey den Arm um die Schultern. Gabes Miene wurde starr. Aubreys Hoffnung verpuffte. Sie wollte nicht, dass Gabe sich unwohl fühlte, und rückte ein Stück ab. Durch die offene Zimmertür sah sie, wie Rae sich einen flauschigen Bademantel über ihre Sachen zog und Clara auf eins der Betten kletterte. Jonah ließ sie los und sagte: »Wir gehen auf unser Zimmer. Treffen wir uns später?«

»Ja. Bis nachher.« Sie wartete kurz und drehte sich dann noch einmal um. Das Flurlicht schien zu flackern.

Gabe und Jonah waren verschwunden.

»Wir singen zu Beyoncé!« Clara drehte die Lautstärke ihres Telefons hoch.

»O Gott!«, rief Rae aus dem begehbaren Kleiderschrank. »Warum ist dieser Schrank so groß wie mein Haus? Ist das eins von diesen Quidditch-Zelten aus Harry Potter?«

Clara hüpfte auf dem Bett herum und schrie den Liedtext eher, als dass sie ihn sang. Aubrey öffnete ihre Reisetasche. Sie dachte daran, wie Gabe und sie für einen Moment so getan hatten, als sei zwischen ihnen alles wieder normal. Das hieß, dass er sich vielleicht heute Abend auch so verhalten würde. Und morgen. Und das hieß hoffentlich, dass sie diesen blöden Kuss von vor drei Wochen ungeschehen machen konnten. Dass sie vergessen konnten, dass er je passiert war.

Ihr Outfit für heute Abend lag zuoberst in der Tasche: ein fließender Rock, ein rotes Tanktop und schwarze Sandalen. Sie löste ihren Pferdeschwanz und ließ ihre dunklen Haare über die Schultern fallen.

Rae kam aus dem begehbaren Schrank. Sie trug noch immer den Bademantel und jetzt auch noch ein paar Frotteeslipper. »Dieses Album erinnert mich dermaßen an die Zehnte. Wisst ihr noch, als Erin Maguire während der Bioklausur Drunk in Love gesungen und es nicht mal gemerkt hat?«

»War das, als du in sie verliebt warst?«

»Was? Nein. Ich war nie in sie verliebt.«

Clara hörte auf zu hüpfen und strich sich ihre elektrostatisch aufgeladenen Haare aus dem Gesicht. »Aubrey! Stimmt das? War Rae in Erin verliebt oder nicht?«

Aubrey zog das Tanktop über und ging währenddessen im Kopf die Liste aller Mädchen durch, in die Rae schon einmal verliebt war. »Weiß nicht mehr.«

»Das bedeutet, dass ich es nicht war!« Rae kletterte auf das andere Bett und hob die Fäuste. »Weil! Aubrey! Nichts! Vergisst!«

Aubreys Telefon piepte. Sie dachte, es seien ihre Eltern, die wissen wollten, ob mit dem Hotel alles geklappt hatte. Aber es war Jonah: Aubrey Bryce, dieses Zimmer ist alles andere als klein. Außerdem hab ich unten eine Bar gesehen. Wollen wir runtergehen und was trinken??

»Jonah will sich noch ein bisschen umschauen.« Sie nahm einen der Schlüssel. »Wollt ihr mitkommen?«

»Aubrey«, sagte Rae. »Du weißt, dass ich dich liebe und für dich wahrscheinlich sogar einen Mord – oder wenigstens versuchten Mord – begehen würde. Aber ich werde auf keinen Fall Zeit allein mit Jonah und dir verbringen.«

»Ich auch nicht«, stimmte Clara zu. »Aber viel Spaß beim Rumknutschen.«

Aubrey zeigte den beiden den Mittelfinger und hörte sie noch hinter sich kichern, als sie das Zimmer verließ. Sie ging Richtung Aufzug. Die Musik aus ihrem Zimmer wurde immer leiser.

Die Bar lag direkt neben der Lobby, war ziemlich groß und mit rotem Teppich ausgelegt. Pärchen saßen an Tischen, die mit Votivkerzen dekoriert waren. An die Wände wurden tonlos Szenen aus verschiedenen Schwarz-Weiß-Filmen projiziert, die von allen Oberflächen als Licht und Schatten reflektiert wurden. Aubrey setzte sich an einen Tisch im hinteren Teil des Raums. Sie strich über den Samtbezug des Stuhls und sah zu, wie Charlie Chaplin einem Mädchen mit großem Hut eine Blume überreichte. Sie war nie zuvor allein an einem Ort wie diesem gewesen und fühlte sich seltsam – wie ein Kind, das sich als Erwachsene verkleidet.

Jonah setzte sich neben sie. »Sind die umsonst?« Er zeigte auf eine Schüssel mit Crackern, die auf dem Tisch stand.

»Ich glaube schon«, meinte Aubrey.

»Hier gefällt es mir.« Er steckte sich ein paar Cracker in den Mund. »Glaubst du, wir kriegen auch diese kleinen Minzbonbons?«

Aubrey wandte den Blick von den Filmszenen ab, doch die Projektionen blieben noch ein paar Sekunden hinter ihren Augenlidern wie ein sanftes Nachglimmen. Jonah hatte das blaue Hemd angezogen, das sie ihm letztes Jahr zu Chanukka, dem jüdischen Lichterfest, geschenkt hatte, und er roch nach dem Zitronenwaschmittel, dessen Geruch sie immer mit seinem Zuhause in Verbindung brachte. Die beiden waren zwar schon seit der elften Klasse zusammen, aber manchmal konnte Aubrey immer noch nicht glauben, dass er ihr Freund war. Ihr richtiger Freund, wie ihre Mom gerne sagte. Als er sie zum ersten Mal nach einem Date gefragt hatte, dachte sie, das sei ein Witz. Rae stand neben ihr und musste antworten: »Ja, sie möchte gern mit dir ausgehen«, während Aubreys Gehirn zu begreifen versuchte, was los war. Sie hatte Jonah immer gemocht, aber nie daran gedacht, ihn auf diese Art zu mögen. Aubrey hielt sich für ein Mädchen, mit dem die Jungs nur flirteten, damit sie die Hausaufgaben bei ihr abschreiben konnten. Sie trug T-Shirts mit nerdigen Literaturzitaten, missbilligte Mitschüler, die während des Unterrichts schwatzten, und bevorzugte gemütliche, praktische Schuhe.

Jonah hingegen war launisch, ein Künstlertyp und wirklich süß. Als Lucy zum ersten Mal ein Bild von ihm sah, verglich sie ihn mit Ethan Hawke in Voll das Leben. (Als Rae und Aubrey den Film später auf der IMDB nachschlugen, stellten sie fest, dass es stimmte.)