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Superstars bekommt die Bundesliga nicht aller Tage zu Gesicht. Seit dem Sommer 2023 darf sie sich aber wieder über eine echte Bereicherung freuen, weil der FC Bayern das getan hat, was der FC Bayern nie tun wollte: 100 Millionen Euro für einen Fußballspieler auszugeben. Dieses Buch begleitet Harry Kanes erstes Jahr in Deutschland, sein erstes Jahr außerhalb der Komfortzone Nordlondon. Auf der Jagd nach Titeln, national und international. Mario Krischel ist hauptberuflich als FC-Bayern-Reporter für den kicker unterwegs: Er war bei Kanes Debüt dabei, bei jeder Pressekonferenz, bei nahezu jedem Spiel und kann Insides liefern wie sonst wohl kein Zweiter. Er hat den englischen Top-Torjäger ein Jahr lang hautnah begleitet, mit Trainern und Teamkollegen gesprochen, mit ehemaligen und gegenwärtigen Weggefährten. Um dieses besondere Jahr für den FC Bayern maximal detailreich wiederzugeben.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
The Torjäger
Mario Krischel, Jahrgang 1995, wuchs in Ostwestfalen auf und studierte Sportjournalismus. Über Praktika bei Borussia Mönchengladbach und Schalke 04 landete er 2017 als fester Redakteur beim kicker und ist dort für die Berichterstattung über denFC Bayern zuständig. Sein erstes Buch Träumen lohnt sich – mein etwas anderer Weg zum Fußballprofi, die Bestseller-Biografie des Nationalspielers Robin Gosens, erschien im April 2021. Er lebt in München.
Superstars bekommt die Bundesliga nicht aller Tage zu Gesicht. Seit dem Sommer 2023 darf sie sich aber wieder über eine echte Bereicherung freuen, weil der FC Bayern das getan hat, was der FC Bayern nie tun wollte: 100 Millionen Euro für einen Fußball-spieler auszugeben.Dieses Buch begleitet Harry Kanes erstes Jahr in Deutschland, sein erstes Jahr außerhalb der Komfortzone Nordlondon. Mario Krischel ist hauptberuflich als FC-Bayern-Reporter für den kicker unterwegs: Er war auf Spurensuche in England, bei Kanes Debüt in München dabei, bei zahlreichen Pressekonferenzen und bei nahezu jedem Spiel. Er hat den englischen Top-Torjäger ein Jahr lang hautnah begleitet, mit Trainern und Teamkollegen gesprochen, mit ehemaligen und gegenwärtigen Weggefährten.
Mario Krischel
Harry Kane beim FC Bayern
Ullstein
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© 2024 der deutschen Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: © Daniel Kopatsch / GettyImagesAutorenfoto: © Martin HanebeckE-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3238-3
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
1 Schweiß
2 Beginnings
3 Posterboy
4 Mia san …?
5 Mind Games
6 Desire
7 Frustration
8 Isolation
9 Würdelos
10 Erbe
11 Schallmauern
12 Flugverspätung
13 Service
14 Spielmacher
15 Deadline
16 Anschnallen
17 Fluch
18 Lehrstunde
19 Diskrepanzen
20 Einvernehmlich
21 Zuckerschlecken
22 Kinderfehler
23 Nachruf
24 Eruption
25 Entschuldigung
Epilog
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Es war weit nach Mitternacht. Und ein Ende des Wartens nicht in Sicht.
»Wenigstens kann ich morgen ausschlafen«, sagte einer der Aushaltenden scherzhaft. Wie sonst hätte er sich und seinen Nebenleuten erklären können, was er hier eigentlich noch trieb?
Nüchtern betrachtet war es absurd, dass er hier stand und wartete. Und wartete. Auf einen Moment, der vielleicht gar nicht kommen würde. Aber vielleicht ja doch, sagte er sich. Eine Argumentationskette brauchte es ohnehin nicht.
Die Hoffnung allein genügte. Hoffnung darauf, ihn einmal zu sehen, bevor es alle anderen taten. Damit er es erzählen, auf Instagram posten und angeben konnte. Seht her, würde er dann vielleicht schreiben: Da ist Harry Kane, der neue Bayern-Stürmer, der teuerste Bundesliga-Spieler aller Zeiten, der Superstar aus England. Und ich war live dabei!
Mittlerweile war es nach 1 Uhr, als ein Schatten sich bewegte. Mehrere Schatten, noch mehr Bewegung. War er das etwa? Doch, das musste er sein!
Es war immer noch so warm auf dem Bürgersteig, zwischen all den Bäumen und Blättern, dass die meisten T-Shirts festklebten an den Rücken ihrer Träger. Die Sonnenbrillen waren längst in den Taschen verschwunden, dafür hier und da ein Leuchten zu sehen, vermutlich von einer mobilen Handy-Ladestation.
Dieser Freitagabend war anders als die anderen Freitagabende zuvor. Nicht nur, weil es nicht mehr regnete, oder weil es dreimal so warm war wie noch vor einer Woche. Was eigentlich auch normal war, wenn man darüber nachdachte. Es war schließlich Mitte August und nicht Anfang April.
An der Säbener Straße, wo der FC Bayern seine Büros hält, spendeten nur die Straßenlaternen einen halbwegs klaren Blick auf die silber-rote Hausfassade. Und dieses eine Licht da oben, im zweiten Stock. Es ließ sich nur vermuten, wer oder was sich dahinter verbarg.
Doch die, die hier standen, waren sich sicher: Es konnte nur Harry Kane sein, vielleicht noch sein Bruder, der auch sein Berater war; ganz sicher noch zusätzliche Entourage und auf jeden Fall die Bayern-Verantwortlichen. Jan-Christian Dreesen bestimmt, der CEO, wie man ihn heute nannte. Der Boss sozusagen.
Irgendwann mussten sie doch jetzt mal diese Verträge unterschreiben, damit Harry Kane neuer Bayern-Stürmer werden und die vielleicht zwei Dutzend Schaulustigen endlich nach Hause ins Bett gehen konnten.
Dieser Tag, der schon so absurd begonnen hatte, musste jetzt endlich ein Ende haben. Doch er war, wie sich keine 24 Stunden später zeigen sollte, nur ein Vorgeschmack.
Da oben, im zweiten Stock, öffnete sich nun tatsächlich ein Fenster. Unten, auf dem Bürgersteig, stieg die Nervosität, stieg die Lautstärke, nahm das Kribbeln wieder überhand.
Das Fenster ging auf, und er steckte seinen Kopf heraus. »Harryyyyyy«, riefen sie, die ausgehalten hatten, so laut es um fast 2 Uhr noch möglich war. Hastig entfernten sie die Ladekabel von ihren Handys, öffneten die Videofunktion und betätigten die Aufnahme-Taste.
Er da oben, im zweiten Stock, antwortete grinsend und winkte. Harry Kane, da stand er. Der neue Bayern-Stürmer, der teuerste Bundesliga-Spieler aller Zeiten. Da stand er, und sie alle waren live dabei gewesen.
Höchste Zeit, es der Außenwelt mitzuteilen.
Der Hype und das Debüt
Die äußere Fassade des fünfstöckigen Gebäudes glänzte etwas weniger als am Vortag, als starke Sonnenstrahlen die rosa-beige Optik noch heller hatten erstrahlen lassen. Die Sonne versteckte sich an diesem Samstag hinter einer Wolkendecke, was den heißen Temperaturen in München trotzdem keinen Abbruch tat.
Schwül war es schon um 9.30 Uhr morgens, als der Fanshop des FC Bayern am Münchner Marienplatz seine Tore öffnete, eine halbe Stunde früher als üblich. Den Dutzenden Mitarbeitern, die bereitstanden, war sehr wohl bewusst, was an diesem Tag auf sie zukommen würde. Es war nicht nur der Tag des ersten Pflichtspiels der Saison – Meister Bayern traf im Supercup auf Pokalsieger Leipzig –, es war zudem nur noch eine Frage von Minuten, bis der FC Bayern Harry Kane endlich als neuen Rekordtransfer der Bundesliga vorstellen würde und gleichzeitig das dritte, hauptsächlich in der Champions League zum Einsatz kommende Trikot präsentierte. All das in der Kombination mit einem Augusttag in einer der beliebtesten Städte Europas, an einem der meistbesuchten Orte Deutschlands würde ziemlich sicher einen selten da gewesenen Ansturm auf die Verkaufsregale bedeuten.
Im Dezember 2020 hatte der FC Bayern seinen neuen Flagship-Store in der Weinstraße eröffnet; aufgrund der Corona-Pandemie im kleinen Rahmen und ohne großen Fan-Ansturm. Der neue »Multikomplex« erstreckt sich über fünf Etagen und 3500 Quadratmeter, beinhaltet neben dem bisher größten Fanshop der Bayern außerdem ein Hotel, einen Lounge-Bereich sowie zwei Restaurants, eins davon eine bayerische Gastwirtschaft.
Als »FC Bayern-like« stufte Karl-Heinz Rummenigge, damals noch Vorstandsvorsitzender, das umgesetzte Langzeitprojekt ein. Sollte heißen: das Beste vom Besten, der Vorreiter in Deutschland und Europa. Die Mannschaft befand sich zu diesem Zeitpunkt schließlich als amtierender deutscher Meister, Pokalsieger und Champions-League-Sieger auf dem Thron des deutschen und europäischen Fußballs. Alles lief perfekt.
Rund drei Jahre später war von Corona-Schutzmasken nicht mehr viel zu sehen, stattdessen streiften sich Besucher die Sonnenbrillen von der Nase, bevor sie sich auf den rund 1000 Quadratmetern des Fanshops verteilten und um genau 10 Uhr eine Push-Mitteilung auf ihrem Handy erhielten. »FC Bayern nimmt Harry Kane unter Vertrag«, schrieb der Verein nüchtern in seiner Mitteilung, die ein Foto von Harry Kane mit Bayern-Vorstandschef Jan-Christian Dreesen zeigte. Beide strahlten im dunkelblauen Anzug, Dreesen im weißen und Kane im hellblauen Hemd mit offenem Kragen. Dreesen hielt die rechte und Kane die linke Hand am jeweils anderen Eck des Trikots, auf dem Kanes Name und die Zahl 2027 abgedruckt war. Nicht die Nummer 9, die schon im Fanshop präsentiert wurde, sondern die Vertragslaufzeit. »Der FC Bayern hat Harry Kane (30) von Tottenham Hotspur verpflichtet«, erklärte der FCB in seinem offiziellen Schreiben. »Der englische Nationalstürmer erhält beim deutschen Rekordmeister einen Vertrag bis 30. Juni 2027. Er wird für die Münchner mit der Rückennummer 9 auflaufen.« Gleich darunter setzten die Bayern einen Link und schrieben: »Sichert Euch jetzt das Trikot von Harry Kane mit der Nummer 9!« Und damit war der Wahnsinn eröffnet.
Für Harry Kane ging der 12. August nicht weniger rasant los, als der 11. August geendet hatte. Obwohl er das Vereinsgelände des FC Bayern nach der Vertragsunterschrift erst um kurz vor 2 Uhr verlassen hatte, kehrte er am Samstagmorgen bereits früh zurück. Der Alltag rief.
Im schlichten beigen T-Shirt, mit dunkelblauen Shorts, weißen Sneakers und einer schwarzen Sporttasche stieg er in der Tiefgarage aus dem roten Audi, der ihn am Vortag vom Flughafen in Oberpfaffenhofen abgeholt hatte. Mit einem Bayern-Mitarbeiter und einem kleinen Kamerateam machte sich der Engländer auf den Weg hinauf, an den Trainingsplätzen vorbei, zum Kabinentrakt. In der Umkleide begrüßten ihn erstmals seine neuen Mitspieler, der eine mehr, der andere weniger bekleidet. »You good?«, fragte Kane immer wieder höflich, stellte seine Tasche an den für ihn bereits vorgesehenen Platz und zog weiter auf der Vorstellungsrunde. Im Leistungszentrum, wo Kraftsport und Reha-Räume für individuelle Aufbauarbeit zur Verfügung stehen, begegnete Kane Thomas Müller, der seinen neuen Offensivpartner gleich umarmte und grinste. »Ich hatte schon eine Trainingseinheit«, erzählte der Urbayer auf Englisch und stellte Kane die Reha-Trainer und Physiotherapeuten vor.
Müller hatte wegen Hüftproblemen fast die gesamte Vorbereitung nicht mit der Mannschaft verbringen können und würde auch am Abend gegen Leipzig nicht zur Verfügung stehen. »Der Trainer hat gesagt, wir brauchen einen Platz für Harry im Kader«, sagte Müller, fuchtelte ein bisschen mit den Armen und fing an zu lachen, während Kane einen Arm um seinen neuen Partner legte. Müllers unnachahmlicher Humor hatte sich wohl bis nach London rumgesprochen. »Ich ziehe mich also zurück«, lachte Müller weiter.
Weiter ging es auch für Kane. Über Serge Gnabry, Teammanagerin Kathleen Krüger und weitere Mitarbeiter landete er wieder in der Kabine, wo jetzt auch der Rest der Mannschaft eingetrudelt war. Leon Goretzka begrüßte ihn oberkörperfrei, Joshua Kimmich hatte sich gerade mit frisch rasiertem Kopf das schwarze Trainingsshirt übergezogen. »Finally, he?«, fragte der Mittelfeldspieler und fing ebenfalls an zu lachen. Natürlich war niemandem in der Mannschaft die Transfersaga entgangen, die sich über die gesamte Vorbereitung erstreckt hatte. Und außerdem hatten Kimmich und Co. in der Vorsaison feststellen müssen, wie eine Bayern-Mannschaft ohne einen Topstürmer funktionierte – deutlich schlechter. Kanes zukünftige Zulieferer waren dementsprechend heilfroh, dass sie wieder einen Abnehmer von Weltklasse-Format in ihren Reihen hatten. Und das zeigte sich schon an Tag eins. »Bist du bereit für heute?«, fragte Kimmich. »Ich bin bereit«, antwortete Kane. »Let’s go!«
Während die Mitspieler die Fußballschuhe zuschnürten, durfte der Neuzugang noch eine weitere Runde drehen, dieses Mal zum Trainerteam.
Zwei Monate hatte Thomas Tuchel nach seiner Amtsübernahme von Julian Nagelsmann gebraucht, um zwei offensichtliche Planstellen im Aufgebot des FC Bayern anzusprechen. Er wünschte sich für die neue Saison, seine erste mit richtiger Vorbereitung, einen Sechser, einen defensiv denkenden Mittelfeldspieler. Dieses Profil erfüllten Joshua Kimmich und Leon Goretzka nach Ansicht des Trainers nicht. Und vorn fehlte, für alle offensichtlich, ein Topstürmer, eine Nummer 9 mit Vollstrecker-Qualitäten, die Eric Maxim Choupo-Moting nicht und Youngster Mathys Tel noch nicht mitbrachten. Monatelang hatte Tuchel sich um Kane bemüht, Telefonate geführt, ihn in Nordlondon besucht. Und jetzt stand der ersehnte Heilsbringer in der Tür des Büros, wo das Trainerteam gerade eine letzte Besprechung vor dem Abschlusstraining gehalten hatte.
»Er ist hier, er ist hier«, strahlte Tuchel über beide Ohren. Er nahm Kane in den Arm, klopfte ihm mehrfach auf den Rücken und verteilte dann noch ein paar lieb gemeinte »Watschn«. »Ich kann es nicht glauben. Das ist so gut, das ist so gut«, sagte er. Glücklicher hatte man Tuchel in mittlerweile vier Monaten beim FC Bayern selten erlebt. Weil dem Trainer klar wurde, dass ein essenzielles Puzzleteil in seinem Idealbild einer Mannschaft nun da war. Ein Puzzleteil, das andere Lücken notfalls auch mal abdecken könnte. Dass mindestens ein weiteres Teil allerdings fehlte, sollte Tuchel in den kommenden Monaten viel zu oft vor Augen geführt werden.
Nachdem Kane auch Tuchels Co-Trainer in den Arm geschlossen und ein paar Nettigkeiten ausgetauscht hatte, fragte der Chefcoach seine Nummer 9 nach deren Befinden. Immerhin hatte Kane einen bemerkenswert aufreibenden Freitag hinter sich. »Wir schauen mal«, meinte der Stürmer und fragte sicherheitshalber noch mal nach. »Wir trainieren jetzt, oder?«
Um 11.30 Uhr joggte Kane als letzter Bayern-Profi in schwarzen Shorts und schwarzem Trainingsshirt auf den grünen Rasen, auf dem seine Kollegen bereits beim Ballhochhalten warteten. Begrüßt wurde der Neuzugang standesgemäß mit einer kurzen Rede des Trainers, Applaus von der Mannschaft und einem Spalier inklusive zusätzlicher Watschn. Mehr als ein lockerer Aufgalopp war das Training derweil nicht, das sogenannte »Anschwitzen« am Tag des Pflichtspiels, das zugleich ein Finale war, diente wie immer nur dazu, die Muskeln schon mal aufzuwärmen, den Körper hochzufahren.
In mehr als einem Jahrzehnt bei Tottenham Hotspur hatte Kane trotz diverser Auszeichnungen als Spieler des Jahres oder mehrfacher Torschützenkönig nicht einen einzigen Vereinstitel gewonnen. Nun bot sich ihm in München gleich am ersten Tag die Gelegenheit, den Fluch des Titellosen zu beenden. Auch wenn es nur der etwas weniger bedeutende Supercup war.
Jenen Supercup hatten die Bayern in sechs der vergangenen sieben Jahre gewonnen, 2022 ebenfalls gegen Leipzig. Damals, unter Julian Nagelsmann, hatte die Bundesliga nur staunen können, wie spektakulär die Bayern den Abgang von Robert Lewandowski aufzufangen schienen. Mit Sadio Mané, dem als »Weltstar« angepriesenen Neuzugang aus Liverpool, und einer variablen Offensive war Nagelsmanns Mannschaft erst mit 5:3 über RB hinweggefegt und eine Woche später zum Ligaauftakt mit 6:1 über Eintracht Frankfurt. Bis der Motor schnell ins Stocken geriet.
Dieses Mal, vor heimischer Kulisse, war Thomas Tuchel ebenfalls optimistisch nach einer gelungenen Vorbereitung am Tegernsee, in Tokio, Singapur und München. Die Bayern hatten sich gut verkauft in Testspielen gegen Champions-League-Sieger Manchester City, Liverpool oder Monaco. Das Training, stellte Tuchel erstmals und bei Weitem nicht letztmals fest, lief nahezu perfekt. Seine Mannschaft schien ideal vorbereitet, um mit einem Titel und neuem Schwung in die Saison zu starten und die alte vergessen zu machen. Die Last-Minute-Meisterschaft in Köln, ein Geschenk scheiternder Dortmunder, hatte die Defizite der Mannschaft nur schwer kaschieren können. Aber: Hatte sich wirklich genug verändert, um nun neu zu starten unter Tuchel?
Immerhin Kane war neu.
Während die Profis des FC Bayern sich zurückzogen und nach dem gemeinsamen Mittagessen noch mal durchschnaufen durften, brachen am Marienplatz nahezu alle Dämme.
Die Mittagshitze verwandelte die Münchner Innenstadt in eine Sauna und im klimatisierten Flagship-Store der Bayern blieben kaum zwei Meter Platz, um sich von links nach rechts zu bewegen. Aus dem Schaufenster grinste ein überdimensionaler Harry Kane in die Fußgängerzone. Der Neuzugang präsentierte das neue Champions-League-Trikot des deutschen Meisters, in »off-white«, also leicht beige gehalten und mit einem gestickten Blumenmuster und V-Ausschnitt versehen. Wer sich nach dem Eingang rechts hielt, bekam die ganze Facette offeriert: zunächst das neue, weiß-rote Heimtrikot, daneben das neue, schwarz-lila-grüne Auswärtstrikot und anschließend auch das neue, beige Champions-League-Trikot. Und überall stach die Nummer 9 hervor und stellte ehemalige Verkaufsschlager wie die 42 von Jamal Musiala oder die 6 von Joshua Kimmich schnell in den Schatten.
Die Treppe, die gleich hinter dem Eingang 23 Stufen ins Untergeschoss zur Kasse führte, war voll besetzt. Über hundert Meter erstreckte sich die Warteschlange. Nicht nur für die Kasse, sondern auch für die Flock-Station. Alle vorab präparierten Kane-Trikots mit der Nummer 9 waren so schnell vergriffen, dass Besucher sich nun extra eins bedrucken lassen mussten. Und weil das teilweise über eine Stunde Geduld erforderte, gaben manche ihr Trikot einfach an der Flock-Station ab und baten darum, es am nächsten Tag abholen zu können.
Allein an diesem Wochenende würde der FC Bayern rund 20 000 Kane-Trikots verkaufen und damit alle vorherigen Rekorde brechen. Abzüglich der Kosten und Anteile für Ausrüster Adidas blieben dem deutschen Meister pro verkauftem Trikot rund zehn Euro. Das ergab also am Samstag und Sonntag bereits einen Umsatz von rund 200 000 Euro. Inklusive aller verkauften Fanartikel löste der Supercup-Samstag damit auch den Sonntag nach dem gewonnenen Champions-League-Finale 2020 als verkaufsstärksten Tag der Vereinsgeschichte ab. München verlor sich im Kane-Fieber.
Ob die Mannschaft dieses Feuer abends am Leben halten könnte?
Im und um das Stadtzentrum leerten sich die Wirtshäuser am Spätnachmittag allmählich, und der Tross des FC Bayern machte sich auf den Weg zur Allianz-Arena. Am Marienplatz, Odeonsplatz oder an der Münchner Freiheit wurden die U-Bahn-Stationen ähnlich stark überlaufen wie zur selben Zeit der Fanshop. Weil keiner auch nur irgendwas vom Kane-Spektakel verpassen wollte, blieb bereits drei Stunden vor Spielbeginn kaum noch Luft zum Atmen in der U6 Richtung Garching-Forschungszentrum. Manche hielten eine Bierflasche in der Hand, andere eine Jacke, nur für den Fall. Und unter all die anderen Bayern-Shirts mischten sich jetzt schon zahlreiche Trikots mit der Nummer 9. Dass wirklich jedem Einzelnen dabei der Schweiß den Rücken herunterlief, schien den Großteil der Bahnfahrer kaum zu stören. Sie sangen, hüpften und waren bereit für eine neue Saison, für den ersten Titel der Spielzeit und ein großes Feuerwerk des FC Bayern. Ein Finale im eigenen Stadion, bei mehr als 30 Grad an einem Samstagabend im frühen August, dazu noch Harry Kanes Premiere. Der erste 100-Millionen-Euro-Spieler der Bundesliga-Geschichte. Und sie alle durften live dabei sein. Was konnte da schon schiefgehen?
Die Luft in der U-Bahn wurde drückender, doch die Laune immer besser. Die, die es sich irgendwie erträglich machten, steckten ihre schwitzenden Mitfahrer nahezu an. Als sich die Türen an der Endstation Fröttmaning öffneten, strömten die Massen aus den Waggons, nach frischer Luft hechelnd. Und die Fangesänge dröhnten lautstark durch den U-Bahnhof.
Der Mannschaftsbus des FC Bayern erreichte derweil ebenfalls frühzeitig die Arena, die an diesem Supercup-Abend ausnahmsweise neutral in Weiß leuchtete statt des obligatorischen Bayern-Rot. Bei den Zuschauern im Stadion dominierte dann wieder das Rot, auch wenn beiden Vereinen offiziell die gleichen Kartenkontingente zugestanden hatten.
Kane stieg aus dem Bus, überhörte die ersten Namensrufe dank der schwarzen Kopfhörer und begab sich im lockeren Spieltagsoutfit und mit rotem Bayern-Rucksack, begleitet von mehreren Kamerateams, erstmals auf den Weg in Richtung Heimkabine. Serge Gnabry, einst ausgebildet bei Tottenhams Erzrivalen FC Arsenal, begleitete Kane auf dem kurzen Weg in Richtung Arena-Rasen, einige Treppenstufen hinunter und dann wieder rauf. Schon jetzt hatten sich Abertausende Fans auf ihren Plätzen eingefunden, um bloß dabei zu sein, wenn der neue Superstar der Bundesliga zum allerersten Mal das grüne Geläuf der Allianz-Arena betrat.
Neuland war die Arena für Kane nicht, er hatte mit Tottenham einst ein von Audi gesponsertes Vorbereitungsturnier in München gewonnen und dafür im Laufe der Jahre ab und zu Lacher geerntet. Die Audi-Cup-Trophäe, die sich die Spurs im Endspiel des Mini-Turniers gegen Gastgeber Bayern sicherten, war bis dahin Kanes einziger »Titel« als Fußballprofi. Ob sich das gegen Leipzig ändern würde? An seinem ersten Tag beim FC Bayern?
Gelassen nahm Kane das erste Rumoren in der Arena auf, scherzte mit Jamal Musiala und schlich gemütlich zurück zur Kabine, die Treppenstufen wieder runter und rauf. Im roten, meterhohen Holzkasten hing sein Trikot in der Kabine bereits auf dem Bügel.
Und draußen machten erste Spekulationen die Runde. Dass Kane im Kader stand, war bereits klar. Aber würde er nach gerade mal rund 24 Stunden in seiner neuen Wahlheimat schon von Beginn an auflaufen? Ohne ein richtiges Training mit der Mannschaft? Möglich wäre es gewesen, das sollte Thomas Tuchel wenige Stunden später nur allzu deutlich und knatschig klarstellen.
Doch der Trainer entschied sich für den jungen Mathys Tel als alleinige Spitze. Das französische Talent war im Jahr zuvor für 20 Millionen Euro von Stade Rennes verpflichtet worden und hatte in seinem Debütjahr bereits erste Spuren hinterlassen. Nun bekam er seine Chance von Anfang an, auch wenn klar war, dass er seinen Platz ganz vorn schnell wieder räumen würde.
Während Tuchel seine Mannschaft ein erstes Mal einschwor, bevor diese sich zum Warmmachen auf den Rasen begab, machte sich wenige Meter weiter eine gewisse Anspannung auf den Tribünen breit. Längst waren bei den Fans die Handy-Kameras auf Abruf bereit, um möglichst schnell ein Foto schießen zu können vom Neuen, vom Hoffnungsträger.
Als die Mannschaft um kurz vor 20 Uhr endlich rauskam, schallte es in der Allianz-Arena bereits fast so laut, als hätten die Bayern schon das 1:0 erzielt. Das Interesse galt nicht so sehr dem 50 Millionen Euro teuren Abwehr-Neuzugang Min-Jae Kim aus Neapel, auch nicht so sehr dem einst 70 Millionen Euro teuren Abwehr-Neuzugang Matthijs de Ligt aus Turin oder dem Meistermacher der Vorsaison, Jamal Musiala. Alles schaute auf Harry Kane, der sich artig in alle Richtungen drehte und winkte, während der Stadion-DJ wohl nicht ganz zufällig »Rock you like a Hurricane« laufen ließ. Der 100-Millionen-Mann durfte sich etwas gemächlicher im Kreis der Ersatzspieler aufwärmen, die Atmosphäre aufsaugen und dann erst mal zuschauen, wie sich die neuen Kollegen so schlugen im ersten Do-or-Die-Spiel der Saison.
In 16 von 17 Bundesliga-Heimspielen der Saison beim FC Bayern wurden die letzten Plätze auf der Tribüne erst unmittelbar vor Anpfiff besetzt. Bei vielen Dauerkartenbesitzern löste ein Samstagnachmittag gegen Mainz oder Darmstadt schließlich nicht die Begeisterung aus, wie es beispielsweise ein Champions-League-Abend gegen Manchester United konnte.
Dieser Supercup-Abend gegen Leipzig dagegen fühlte sich beinahe an wie ein Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid, so sehr kribbelte es. So sehr war die Neugierde auf die Bayern nach Tuchels erster Vorbereitung zu spüren, vor allem aber die Vorfreude auf Harry Kane. Was wohl passieren würde, wenn er die Bayern an seinem ersten Tag zu seinem ersten Titel schoss?
Fürs Erste klatschte er mit ein paar Fans ab, die ihre Arme aus der ersten Reihe über die Ersatzbank der Bayern streckten. Kane, mit dem Trikot in der Hand, grinste, winkte weiter und nahm Platz. Er durfte sich erst mal anschauen, wozu der FC Bayern, sein neuer Arbeitgeber, ohne ihn in der Lage war. Oder wozu er eben nicht in der Lage war. Es gab ja einen Grund, warum dieser Verein 100 Millionen Euro auf den Tisch gelegt hatte, um Kane seinem Jugendverein zu entreißen.
Und die Gründe für diese Investition lieferte das Spiel gegen Leipzig. Leipzig führte früh nach einer Standardsituation, der Spanier Dani Olmo verpasste der Kane-Mania einen ersten Dämpfer. Die Bayern reagierten gut, spielten überlegen und erspielten sich Chancen. Nur nutzten sie sie nicht. Mathys Tel vergab frei stehend, auch Serge Gnabry verpasste aus aussichtsreicher Position. Und nachdem Kane unter dem nächsten, großen Jubel der Fans mit dem Aufwärmprogramm an der Seitenlinie begonnen hatte, schlug kurz vor dem Halbzeitpfiff Dani Olmo ein zweites Mal zu, dieses Mal wunderschön gegen den 70-Millionen-Verteidiger de Ligt und den frisch aus Leipzig verpflichteten Österreicher Konrad Laimer. Es schien alles so weiterzugehen wie in der Saison zuvor.
Gegen ebenjenes RB Leipzig hatten die Bayern im letzten Heimspiel der Vorsaison 1:3 verloren und Borussia Dortmund eine Runde vor Schluss an der Tabellenspitze vorbeiziehen lassen. Nur weil der BVB am Wochenende darauf überraschend und peinlich gegen Mainz gepatzt hatte, durften sich die Bayern in Köln zum elften Mal in Folge als deutscher Meister feiern lassen.
Jetzt, nur drei Monate später, entpuppte sich Leipzig schon wieder als Dorn im Auge, als Partycrasher und möglicher Titelverderber.
Tuchel reagierte in der Halbzeitpause dreimal, nahm de Ligt, Laimer und den wechselwilligen Benjamin Pavard vom Feld und brachte dafür den 50-Millionen-Mann Kim, den Flügelflitzer Kingsley Coman und den Rechtsverteidiger Noussair Mazraoui. Kane musste sich weiter gedulden und beim weiteren Aufwärmprogramm mit ansehen, wie die Kollegen eine Fahrkarte nach der anderen schossen. Gnabry, Musiala, Sané, Tel – sie alle trafen entweder den Ball oder das Tor nicht. Kane, der sich wie gerufen fühlen musste, griff sich mit den Händen durch die gegelten Haare. Was macht ihr denn da?, schien er sich zu fragen und erhielt dann das Signal von Fitnesstrainer Holger Broich: Los, Junge. Der Trainer ruft, du darfst ran!
58 Minuten hatte er beobachtet, wie es nicht ging. Jetzt sollte er dafür sorgen, dass es besser wurde. Alle standen sie auf, klatschten und jubelten ihrem Messias zu. »Ladies and Gentlemen«, setzte der Stadionsprecher Stephan Lehmann an und kostete diesen leinwand-mäßigen Moment genüsslich aus, »a magic moment«, sagte er und zog Kanes Vornamen möglichst in die Länge. Und alle brüllten sie aus tiefster Seele: »KAAAANE!«
Wen kümmerte es schon, ob der Supercup jetzt gut lief oder nicht. Im schlimmsten Fall würde Leipzig den eben gewinnen. Aber sie, die es mit Bayern hielten, sie hatten jetzt Harry Kane. Den Stürmer, der all diese zuvor vermasselten Chancen genutzt hätte und in Zukunft nutzen würde. Und dann würden sie halt einfach alles andere gewinnen und sowieso wieder Meister werden.
Ein bisschen Abklatschen und Anlaufen war noch drin für Kane, dann wurde schnell klar, dass dieser Leinwand-Moment vorerst kein Happy End haben würde. Vier Minuten stand Kane auf dem Feld, da verursachte der Rechtsverteidiger Mazraoui im eigenen Strafraum einen Handelfmeter. Kane gesellte sich zu den Münchner Protestanten, nur um dann schnell festzustellen, dass sich von denen keiner auf Englisch beim Schiedsrichter beschwerte, er also nichts von all dem Gesagten verstehen konnte. Dani Olmo war das sowieso alles egal, er versenkte den Elfmeter wuchtig zu seinem dritten Tor und zog der Party in Fröttmaning endgültig den Stecker.
Kane, der titellose Torjäger, würde vorerst ohne Titel bleiben. Und die Bayern fanden sich nach Wochen der Vorbereitung genau da wieder, wo sie vorher gewesen waren. Inmitten vieler Rätsel und Fragezeichen. Reichte der Wunderstürmer Kane noch nicht aus? Wie ernst musste Tuchels Gesuch nach einem defensiven Mittelfeldspieler nun genommen werden? Und wann würde diese hochbezahlte Truppe endlich mal wieder ein halbwegs fehlerfreies Spiel bringen?
»Es ist die komplette Fortsetzung unseres letzten Heimspiels gegen Leipzig«, schimpfte der Trainer unmittelbar nach dem 0:3-Debakel in jedes verfügbare TV-Mikrofon und kratzte sich immer wieder demonstrativ am Kopf. Was war hier nur los? Ging das alles so unruhig und ungut weiter? »Es fühlt sich an, als hätten wir vier Wochen … gar nichts gemacht, als hätten wir uns gerade erst getroffen und würden komplett so weitermachen. Ich hab uns gesehen gegen ManCity, ich hab uns gesehen gegen Liverpool und Monaco. Und äh … es ist einfach … ich kann’s nicht erklären. Es ist in allen Bereichen auf jeden Fall zu wenig«, sagte Tuchel ratlos und monierte »Hunderte Fehlerbilder«.
Viel deutlicher konnte ein Trainer eine Woche vor dem Start in eine neue Bundesliga-Saison nicht gegen seine eigene Mannschaft wüten. Die Mannschaft wohlgemerkt, die er in den Monaten zuvor schon oft genug verbal zerpflückt hatte. Dass er beispielsweise einen defensiven Mittelfeldspieler suchte, war ja keine Vermutung der Münchner Medien, sondern genauso deutlich von Tuchel ausgesprochen worden. Während der Vorbereitungstour in Asien hatte er seinen defensiven Mittelfeldspielern Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Konrad Laimer und Ryan Gravenberch damit indirekt die Tauglichkeit fürs defensive Mittelfeld abgesprochen. Auf der anderen Seite gab es Spieler wie Manuel Neuer oder fortan Harry Kane, vor die sich Tuchel immer wieder schützend stellen sollte.
An diesem Abend jedenfalls, der eine Party werden sollte, aber keine wurde, redete sich Tuchel so sehr in Rage, dass kurzzeitig der Eindruck entstand, er würde mit dem FC Bayern um den Klassenerhalt kämpfen und nicht etwa darum, zum zwölften Mal in Folge deutscher Meister zu werden. »Es gibt keine Verbindung im Moment zwischen dem Zustand, in dem wir ankommen in einem Spiel, und dem, was wir abliefern«, schimpfte der Trainer weiter, kratzte sich am Kinn und am Kopf. »Es gibt null Prozent Zusammenhang. Das ist nicht gut. Das ist erschreckend. Das ist das Schlechteste, das es gibt, weil … ja.« Ja, weil? »Es ist so eine große Diskrepanz, dass es schwer ist, Erklärungen zu finden.«
Auch die hatte es in der Vorsaison schon gegeben, besonders in Mainz: die »Ja«- und »Ähm«- und »Keine-Ahnung«-Ausrufe. Tuchel schien ernsthaft besorgt zu sein um den Zustand dieser Mannschaft. Besorgt aber auch darüber, was das für ihn bedeutete. Hatte er diese Mannschaft, mit der er eigentlich alles gewinnen wollte, überschätzt?
Und was war eigentlich mit Kane, dem angedachten Star des Abends? »Für ihn tut’s mir einfach nur leid«, sagte Tuchel etwas ruhiger und verpasste der restlichen Mannschaft gleich die nächste schallende Ohrfeige. »Er denkt wahrscheinlich, wir haben hier vier Wochen nicht trainiert. Ein sehr bitterer Abend für ihn, tut mir leid.«
Kane hielt sich an diesem Abend noch bedeckt, er würde am Sonntagmittag an Ort und Stelle Rede und Antwort stehen im Rahmen der offiziellen Vorstellungspressekonferenz. Für den Moment verschwand er, begleitet von seiner Entourage, aus den Katakomben und machte sich auf den Weg Richtung Hotel.
Tuchel, gefragt nach den nächsten Schritten für Kane und wie er ihn nach diesen stressigen Tagen aufbauen wolle, schnitt dem Reporter das Wort ab und guckte grimmig: »Gibt keinen Aufbau«, motzte er. »Gibt keinen Aufbau. Der hat vor ein paar Tagen gespielt, der hat die komplette Vorbereitung gemacht. Gibt keinen Aufbau. Der trainiert mit uns und startet gegen Werder Bremen. Was für Aufbau?«
Ob er denn die Mannschaft vielleicht noch kennenlernen müsse, schob der Reporter hinterher, und Tuchel feuerte einfach weiter. »Mannschaft kennenlernen … Wir müssen ihn kennenlernen, der muss nicht uns kennenlernen. Wir brauchen exakt … Gibt keinen Aufbau! Sollen wir Harry Kane aufbauen? Und dann was? 25 Minuten, dann 28 Minuten? Ja … Der spielt. Der spielt jedes Spiel. Fertig, aus. Er ist unsere Nummer 9.« Fertig, aus.
Ob das so gut ging?
Vier Transfers und die Verbindung zu Beckham
Eine halbe Stunde fährt die orange Overground-Linie aus Londons Mitte raus in den Norden, nach Chingford. Dort geht es weiter mit dem Bus und zu Fuß, bis man schließlich vor grünen Wiesen und einem blauen Container steht.
Er ist etwa vier Meter breit und vier Meter lang, und nur ein aufgeklebtes Schild verrät, wo man sich hier befindet. »Ridgeway Rovers FC« steht in blauen Großbuchstaben auf dem kleinen weißen Blatt, darüber das blaue Vereinswappen, das einen Rosenstrauß zeigt, darunter ein Link zur Vereinswebseite und die jeweiligen Facebook- und Twitter-Kanäle. Es scheint so, als hätten Instagram oder TikTok noch keine Rolle gespielt, als dieser Container zum letzten Mal aufgeschlossen wurde.
Erst Hunderte Meter im Hintergrund erstreckt sich ein zu erahnender Sportkomplex, der zu einer Schule gehört, links spielen auf einem der unzähligen Fußballplätze ein paar Kinder. Und noch etwas weiter dahinter trainiert gerade die U9 des FC Arsenal auf ihrem Campus.
Genau hier beginnt die Geschichte von Harry Kane.
Nach neun Jahren, 156 Toren und fünf deutschen Meisterschaften verabschiedete sich Roland Wohlfarth Ende Juli 1993 aus München und wechselte für umgerechnet 1,25 Millionen Euro vom FC Bayern nach Frankreich zur AS Saint-Etienne. Der »Beständige«, wie er im Verein noch heute genannt wird, hatte über die Jahre immer wieder neue Stürmer vor die Nase gesetzt bekommen, ob es Michael Sternkopf oder Brian Laudrup waren, und sich doch immer wieder behauptet.
Wohlfarth verewigte sich mit seinen Toren in den Geschichtsbüchern der Bayern, landete im internen Torjägerranking auf Platz vier hinter – dem uneinholbaren – Gerd Müller, Karl-Heinz Rummenigge und Rainer Ohlhauser.
Und während Wohlfarth im Sommer 1993 weiterzog nach Frankreich, erblickte in England ein baldiger Bayern-Torjäger das Licht der Welt. Am 28. Juli wurde Harry Edward Kane in Walthamstow im Norden Londons geboren, bereits vier Jahre zuvor hatten Vater Patrick und Mutter Kim den kleinen Charlie begrüßt.
Als Harry gerade das Sprechen lernte, zog die Familie noch ein Stück weiter nordöstlich nach Chingford, wo Englands zukünftiger Kapitän und Rekordtorschütze als Fünfjähriger eine Notiz auf seinen Schreibtisch kritzelte: »Ich will Fußball spielen.«
Also spielte er Fußball, gemeinsam mit Papa Pat und Bruder Charlie verbrachte Harry die Nachmittage im benachbarten Ridgeway Park. Entweder mussten Bäume als Torpfosten herhalten, oder die Tore wurden vom Fußballplatz nebenan über den Zaun geschleppt und stundenlang zerschossen.
Etwas anders sah es an der »Larkswood Primary School«, Kanes Grundschule, aus. Fußbälle waren verboten, also benutzten die Jungs ganz einfach Tennisbälle zum Kicken. Vielleicht, sollte Kane Jahre später zurückdenken, schadete es nicht, sich gleich im frühen Alter auf einen so kleinen Ball zu fokussieren, Präzision zu üben und Geduld zu haben. Auf dem Fußballplatz lief es anschließend nämlich gleich viel besser. Plötzlich waren die Bälle so groß und einfach zu treffen. Und zu halten.
Harry Kanes Geschichte könnte heute eine ganz andere sein, wenn Dave Bricknell damals nicht auf Patrick und Kim Kane gehört hätte.
Beim Ridgeway Rovers FC, dem nächstgelegenen Fußballklub für die Familie Kane, merkte Harry schnell, wie viel Freude ihm das Spielen mit und gegen andere Kinder seines Alters bereitete. Das war noch mal ein ganz anderer Spaß, als im Park auf ein paar Bäume zu schießen. Plötzlich waren Trainer da, jubelnde und fluchende Eltern. Und Tore, die gezählt wurden.
Natürlich schoss auch Harry gern Tore, welches Kind tat das nicht? Doch als Trainer Dave Bricknell bei einem Training fragte, ob noch jemand als Torhüter zwischen die Pfosten gehen wolle, hob Harry die Hand und hielt alles, was auf seinen Kasten geflogen kam.
Patrick und Kim hatten andere Vorstellungen und baten Bricknell, Harry wieder aufs Feld zu stellen, am besten nach vorn. Bricknell gehorchte und holte Harry aus dem Tor.
Bei den Ridgeway Rovers, zwischen blauen Containern und Schulkomplexen, hatte Jahre zuvor bereits jemand das Kicken gelehrt, der dem kleinen Harry jetzt als Idol diente. Von Chingford aus brach ein gewisser David Beckham einst in die weite Fußballwelt auf und gewann, als Kane gerade anfing zu spielen, mit Manchester United in Barcelona gegen den FC Bayern die Champions League.
England hatte einen neuen Superstar und Harry schon früh einen Ansporn. Dorthin, nach ganz oben, wollte er auch.
Kane schoss Tore wie am Fließband, begeisterte und wurde gemeinsam mit seinem Kumpel und Teamkollegen Nico Yennaris bei einem Ridgeway-Spiel von einem Scout des FC Arsenal beobachtet. Die Gunners, wie man Londons wohl bekanntesten Fußballklub nennt, hatten ihre Jugendakademie nur eine Straßenecke weiter errichtet, also sollten Kane und Yennaris mal vorbeischauen und sich empfehlen.
Selbst beim FC Arsenal, dem sich Kane als Siebenjähriger anschloss, wusste niemand so richtig, ob dieser Junge mit den kurz geschorenen Haaren und den etwas aufgeplusterten Backen nun ein Stürmer war, ein Mittelfeldspieler oder nicht doch ein Torwart. Harry war schon damals ein höflicher, zurückhaltender Junge, er spielte und trainierte und ließ andere entscheiden. In seinem Inneren wusste er gleich, dass er lieber Tore erzielte als Tore verhinderte, und wurde letztlich zu seinem Glück gezwungen.
Ganz so glücklich verlief die Zeit beim örtlichen XXL-Klub allerdings nicht.
Schon damals schickten die Topvereine Europas ihre Scouts durch die Welt und zu benachbarten Sportklubs, um die Toptalente früh an sich zu binden und auszubilden, statt sie später für teures Geld kaufen zu müssen. Und schon damals hatte dieses System seine durchaus dunklen Seiten. Jedes Jahr wurden nach und nach talentierte Spieler dazugeholt, und die Spieler, die nicht übermäßig überzeugt hatten, wieder ausgesiebt, »hire and fire« wie im Berufsleben. Fair war und ist das nicht, wie wollte man bei Sieben- bis Dreizehnjährigen denn schon sagen, wer sich wie entwickelte?
Harry Kane jedenfalls wurde zu wenig zugetraut.
In seinem Jahrgang trafen Benik Afobe und Chuks Aneke nach Belieben für die U9 des FC Arsenal, Harry musste währenddessen mit den Spielern, die nicht fürs Spiel nominiert worden waren, am Vereinsgelände trainieren. Afobe und Aneke waren besser, entwickelten sich schneller. »Harry hatte eine gute Technik, aber er war in diesem Alter nicht besonders athletisch«, sollte Aneke, der selbst nie ein Premier-League-Spiel absolvierte, später »The Athletic« sagen. »Er war klein, nicht besonders schnell, ein bisschen pummelig. Es war schwer für ihn, seine Eigenschaften wirklich zur Geltung zu bringen.«
Als »etwas pummelig« und »nicht sehr sportlich« stufte auch Liam Brady, Arsenals damaliger Akademieleiter, Kane ein und teilte dessen Eltern mit, dass es für ihren Sohn nicht reichte. Also schickte Patrick seinen Sohn zurück zu den Ridgeway Rovers. Harry schoss Tor um Tor und fand die Freude am Spiel wieder. Hier, nebenan, war es kein Hauen und Stechen, kein ständiges »Wer ist besser, wer ist schlechter«. Hier konnte er mit seinen Freunden Fußball spielen, so wie es ein paar Jahre zuvor auch begonnen hatte. Auch wenn der Traum, es nach ganz oben zu schaffen, längst noch nicht begraben war.
Der nächste Versuch ließ nicht lange auf sich warten. Etwa anderthalb Jahre später stand ein inzwischen elfjähriger Kane beim anderen örtlichen XXL-Klub vor der Tür, den Tottenham Hotspur. Viele seiner Familie waren glühende Anhänger der Spurs, schließlich waren es von der White Hart Lane, Tottenhams Stadion, gerade mal fünfzehn Minuten bis zur Grundschule. Genauso wie zur »Chingford Foundation School«, der weiterführenden Schule, die Kane später besuchte, eine weitere Parallele zu seinem Idol David Beckham.
Auch Tottenham schickte Kane nach einem sechswöchigen Probetraining wieder weg, er war immer noch nicht gut genug. Also ließ er sich eine halbe Stunde weiter westlich zur Vicarage Road fahren und klopfte beim FC Watford an. Und endlich klappte es.
Den Verantwortlichen gefiel, was dieser »pummelige« Junge zeigte. Wie er mit dem Ball umging, was er für eine Schusstechnik und für einen Abschluss mitbrachte. Watford bot Kane einen Vertrag an, es stand jedoch noch ein Testspiel gegen Tottenham auf dem Programm, den Klub, den seine Familie unterstützte und der ihn nicht wollte.
Kane schoss drei Tore und erhielt noch an Ort und Stelle ein Angebot der Spurs. Jetzt also doch. Eine harte Entscheidung sei das damals gewesen, wie Kane später verriet. Aber Tottenham war der größere Klub, und die Familie würde sich sowieso mehr freuen.
Also unterschrieb Kane bei Tottenham, blieb in Nordlondon und unterschied sich schon damals von einem Großteil anderer Spieler. Dass ein Kind aus einem Nachwuchsleistungszentrum entlassen wird, zurück zu seinem örtlichen Verein geht und es dann noch mal in ein anderes Nachwuchsleistungszentrum schafft, war höchst ungewöhnlich.
So wie vieles im Laufe der Jahre bei einem Fußballer, der ein Torwart hätte sein können, ein Stürmer sein wollte und nun erst mal ein Mittelfeldspieler war. Und nicht mal ein offensiver.
Kane, immer noch recht klein und nicht sehr schlank, begann bei den Spurs als defensiver Mittelfeldspieler. Als Balleroberer und Ballverteiler. Eigenschaften, die ihm im Verlauf der Karriere helfen sollten.
Erst etwas später wanderte Kane eine Position weiter nach vorn, doch war, anders als es seine Rückennummer 10 in diesem Alter eigentlich aussagte, nicht der Beste. Die besondere Schusstechnik fiel auf, ansonsten eher wenig. John McDermott, damals Akademieleiter bei Tottenham, erkannte, dass Kane kein außergewöhnliches Talent von Haus aus mitbrachte; dass er nicht schneller war oder höher sprang. »Ihm wurde nie etwas geschenkt, er musste immer für sein Trikot kämpfen«, wie er in einem Interview mit Sky Sport sagte.
Kane legte Extraschichten ein, um den Rückstand zu Mitspielern aufzuholen. Einen kleinen Motivationsschub verlieh ihm im November 2005 erneut Idol Beckham, der Monate zuvor noch mit einem Fehlschuss im Elfmeterschießen seinen Teil dazu beigetragen hatte, dass England im Viertelfinale der Europameisterschaft an Gastgeber Portugal gescheitert war.
Beckham, inzwischen bei Real Madrid und längst ein globaler Popstar, eröffnete im Londoner Stadtteil Greenwich, unweit der O2-Arena, seine eigene Fußballakademie. Zur Einweihungsfeier lud er Mädchen und Jungs seiner alten Schule, der Chingford Foundation School, ein, die Kane gerade besuchte. »Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war«, erinnerte sich Kane später. Die gesamte Truppe erhielt nicht nur ein Treffen mit Beckham, sondern auch ein Erinnerungsfoto.
Ein Foto, das fast zwei Jahrzehnte später um die Welt gehen sollte. Zu sehen ist darauf Beckham, mit stylischer Frisur und in weißer Trainingsjacke, wie er den rechten Arm um die Schultern eines jungen Mädchens legt, den linken um einen Jungen. Das Mädchen, mit geflochtenen Zöpfen, ist etwas größer als der Junge mit kurz geschorenen Haaren. Alle drei grinsen in die Kamera, der Junge, Kane, etwas schüchterner als Fotoprofi Beckham und das strahlende Mädchen.
Das Mädchen, Katie Goodland, würde zwölf Jahre später mit »Ja« auf die Frage von Harry Kane antworten, ob sie ihn heiraten wolle.
Das Foto hängt heute noch bei den Kanes zu Hause.
Mit 14 erhielt auch der kleine Harry endlich einen Wachstumsschub und war plötzlich der große Harry, einer der größten Spieler der Mannschaft. Kane wanderte hin und her, spielte zumeist als Zehner, in der U16 aber auch wieder als defensiver Mittelfeldspieler, entwickelte dadurch ein immer besseres Verständnis für seine Mitspieler. Vor allem für die Stürmer, für deren Laufwege und die richtigen Abspielmomente. Mit 16 unterschrieb Kane einen Scholarship-Vertrag bei den Spurs und belohnte sich damit für all die Extraschichten mit Jugendtrainern oder allein.
Er war noch immer kein »Standout«-Spieler. Keiner, der sofort ins Auge stach oder besonders herausragte. Auch heute erzählen ehemalige Akademietrainer eher ungern, dass sie Kane oft übersehen haben; dass sie dessen spätere Explosion nie erahnten.
Doch die Trainingsbereitschaft war immer sichtbar. Der unbedingte Wille, sich zu verbessern und notfalls zu quälen. Und es zahlte sich peu à peu aus.
18 Tore erzielte Kane in der Saison 2009/10 in lediglich 22 Einsätzen für Tottenhams U18, durfte zudem zweimal Profi-Luft schnuppern und bei der ersten Mannschaft auf der Bank sitzen. Erst bei einem Heimsieg im League Cup gegen Everton, als Robbie Keane und Tom Huddlestone zum 2:0-Sieg trafen und Kane mit der Nummer 37 immerhin Warmmachrunden drehte. Und anschließend bei einem Viertrunden-Wiederholungsspiel im FA Cup gegen die Bolton Wanderers, das Tottenham dank zwei Treffern von Roman Pavlyuchenko und zwei Eigentoren mit 4:0 gewann.
Kane war in Reichweite der ganz großen Bühne, auch wenn es für diese noch nicht reichte. Dem Debüt in der englischen U17-Nationalmannschaft folgten im Januar 2011 die ersten Schritte im Profi-Geschäft, im sogenannten »Herren-Fußball«.
Ein halbes Jahr nachdem Kane bei Tottenham seinen ersten Profi-Vertrag unterschrieben hatte, ließ er sich zu Drittligist Leyton Orient verleihen. Er konnte im Großraum London wohnen bleiben, musste nur einen längeren Arbeitsweg zurücklegen in den Nordosten der Hauptstadt.
Leyton kämpfte als 19. in einer Liga mit 24 Mannschaften gegen den Abstieg, hatte lediglich fünf Punkte Vorsprung auf die verbotene Zone und überschaubare 31 Tore in 21 Spielen erzielt. Trainer Russell Slade freute sich also auf Kane, der inzwischen nur noch als Stürmer agierte. »Ich bin sicher, dass er in den kommenden Monaten bei uns eine Rolle spielen wird«, prophezeite der englische Coach und lag nicht ganz weit daneben.
Eine Woche nach seinem Debüt als Einwechselspieler vor 2371 Fans in Rochdale, den ersten Minuten im bezahlten Profifußball, traf Kane bei seiner Startelfpremiere gleich zum allerersten Mal »ganz oben«, also zumindest bei den Erwachsenen, wenn auch noch nicht in der Premier League. In der 57. Minute stand der Teenager, der mit seinem inzwischen schlaksigen Körper und einem jungenhaften Gesicht auch wie einer aussah, nach einem Freistoß von Dean Cox genau richtig. Kane lauerte am zweiten Pfosten auf die Flanke, hielt den rechten Fuß hin und bugsierte den Ball aus der Luft unter die Latte.
Parallel schob sich der FC Bayern dank der Tore von Thomas Müller, Arjen Robben und Mario Gomez durch ein 5:1 gegen Kaiserslautern vorbei an Mainz 05 und hinter Hannover 96 auf Platz vier der Bundesliga-Tabelle. Tabellenführer Borussia Dortmund war bereits auf vierzehn Punkte enteilt.
Tottenham, Kanes Stammverein, holte gleichzeitig durch einen Treffer von Aaron Lennon in der Nachspielzeit immerhin noch einen Punkt bei Newcastle United und blieb Fünfter, dreizehn Zähler hinter Primus Manchester United.
»Delighted«, also begeistert, zeigte sich Trainer Slade nach Kanes erstem Tor beim ersten Startelf-Einsatz. Es dauerte drei Wochen, bis Kane wieder jubeln durfte. Dieses Mal als Joker, aber dafür gleich doppelt mit dem 3:1 und 4:1-Endstand gegen die Bristol Rovers. Die »O’s« hatten sich längst aus dem Tabellenkeller befreit und klopften stattdessen nun an die Play-off-Plätze an. Nur drei Zähler trennten den Tabellenzehnten von Platz sechs, der zur Teilnahme an Aufstiegsspielen berechtigen würde.
Zwei weitere Male traf der 17-jährige Kane in seiner ersten Profi-Saison, blieb, auch weil er jetzt ab und zu wieder als Zehner gefragt war, in den letzten zwei Monaten der Leihe jedoch ohne Torerfolg und sah zudem einmal die Gelb-Rote Karte. Leyton Orient verpasste Play-off-Platz sechs um einen Zähler und wurde nur Siebter.
Scott McGleish, damals bereits 37 und auf seiner achten Profi-Station, spielte die meiste Zeit neben Kane im Sturm. »Man konnte seine Fähigkeiten sehen«, erinnerte er sich mal im »Bleacher Report«. »Die Sorge war, und ich bin ein älterer Mann, der mit Tottenham und Arsenal aufgewachsen ist, dass er wie ein typischer Tottenham-Spieler aus den 1980er-Jahren aussah. Technisch sehr gut, körperlich in Ordnung, aber von der Spielweise her ein wenig langsam. Wie Glenn Hoddle, sehr elegant, aber mit dem Ball in einem ziemlich lässigen Tempo.«
Wäre dieser Spieler schnell genug für die Premier League? »Alles, was die Premier League je getan hat, ist, jedes Jahr schneller und schneller und schneller zu werden«, fand McGleish. »Als Harry mit 17 Jahren zu uns kam, war es schwer abzusehen, dass er einmal ein Megastar werden würde. Er war ein junger Bursche, und es ging mehr um die Frage, ob er einen weiteren Vertrag bekommen würde. Aber er war gewillt, und er ging zu anderen Vereinen und wurde gebeten, Spiele zu bestreiten, anstatt nur dazusitzen und in der U18 oder U21 zu spielen. Er wollte die physische Seite des Männerfußballs kennenlernen, und ich glaube, das hat ihm geholfen.«
Kane hatte sich untergeordnet, hatte sich zurückgehalten und einfach gearbeitet. Eigenschaften, die für einen 17-Jährigen alles andere als normal waren.
Gestärkt von den Erfahrungen im Herrenbereich, kehrte er zurück an den Hotspur Way nach Tottenham, wohin er ohnehin an den meisten Tagen seiner Leihe gefahren war, um noch eine Extraeinheit zu absolvieren.
Die Saison 2011/12 verbrachte der nun 18-jährige Kane zum Großteil auf der Bank, durfte dafür aber in der Europa League seine große Premiere im Tottenham-Trikot feiern. Wobei »feiern« zunächst nicht der richtige Ausdruck war. Gegen den schottischen Klub Heart of Midlothian hatten die Spurs das Qualifikations-Hinspiel mit 5:0 gewonnen und dementsprechend wenig Sorge im zweiten Duell. Trainer Harry Redknapp wechselte komplett durch und warf auch Kane in die Startelf, zum allerersten Mal und dann auch noch zu Hause an der White Hart Lane, mit Familie und Freunden auf der Tribüne. Eine halbe Stunde war gespielt, als Kane vom gegnerischen Torhüter gefoult wurde, den fälligen Elfmeter selbst ausführte und vor einem lauten Gästeblock an Keeper Jamie MacDonald scheiterte.
Es blieb beim 0:0, doch Kane sollte auf europäischer Bühne weitere Chancen bekommen. In Irland, bei den Shamrock Rovers, erzielte der schmächtige Kane am 15. Dezember 2011 sein erstes Tor im Tottenham-Trikot zum 4:0-Endstand in der 90. Minute, nachdem er zuvor für Jermaine Defoe eingewechselt worden war. Mit dem damaligen Nationalspieler hatte Kane bereits als Elfjähriger auf einem Bolzplatz in Chingford gekickt, nun waren sie Teamkollegen. Auch wenn Kane noch immer ein gutes Stück fehlte, um ein fester Bestandteil der Mannschaft zu werden.
Zwei Wochen nach der Torpremiere schickte Tottenham Kane zusammen mit Teamkollege Ryan Mason vorerst wieder weg, dieses Mal nur eine Liga tiefer zum FC Millwall nach Südlondon.
Millwall kämpfte, ähnlich wie Leyton Orient ein Jahr zuvor, um den Klassenerhalt in der Championship. Und Kane sollte dabei helfen, den Abstieg zu verhindern.
»Er war sehr reif für sein Alter«, erinnerte sich Andy Keogh im Gespräch mit dem »Bleacher Report«. Der sieben Jahre ältere Keogh stürmte damals zusammen mit Kane, und nach fast zwei Monaten Anlaufzeit lief es langsam. »Sein Verständnis für das Spiel war ausgezeichnet. Man hätte nie gedacht, dass ich mit einem 18-Jährigen spiele.«
Nachdem Kane die ersten acht Spiele ohne Tor geblieben war, traf er in den verbleibenden 14 Partien der Ligasaison siebenmal, dazu doppelt im FA Cup und wurde als Millwalls Jungspieler der Saison ausgezeichnet. Die »Lions« beendeten die Saison auf Platz 16, 17 Punkte vor einem Abstiegsplatz.
»Jeder bei Millwall wusste, dass er ein Topspieler werden würde«, so Keogh. »Ich erinnere mich, dass einige der Jungs sagten, er würde für England spielen.«
Würde er auch, doch der Weg dahin beinhaltete noch ein bis zwei Barrieren.
Während der FC Bayern in Deutschland nach zwei Meisterschaften von Borussia Dortmund und einer 2:5-Demütigung im Pokalfinale gegen Jürgen Klopps BVB zum Großangriff ansetzte, präsentierte Tottenham mit André Villas-Boas einen neuen Trainer. Der Portugiese war drei Monate zuvor, nachdem er mit dem FC Porto das Triple aus Meisterschaft, Pokal und Europa League gewonnen hatte, beim FC Chelsea entlassen worden und sollte nun Tottenham um Schlüsselspieler Gareth Bale aufs nächste Level hieven. Die Spurs waren unter Harry Redknapp zwar Vierter geworden, jedoch wieder nur in der Europa League gelandet. Zu wenig für Vereinsboss Daniel Levy, der diesen chronisch erfolglosen Verein ans Maximum bringen wollte.
Kane, jetzt 19, nahm an der Vorbereitung teil, erzielte in einem Testspiel gegen den unterklassigen Verein Southend United einen Dreierpack beim 6:0-Sieg, und am 1. Spieltag war es endlich so weit, wenn auch nur kurz. In Newcastle lagen die Spurs fünf Minuten vor Schluss 1:2 zurück, als Trainer Villas-Boas den Mittelfeldspieler Sandro aus- und den Stürmer Kane einwechselte. Zu spät. Kane, reingeworfen in eine undankbare Situation in einem der lautesten Stadien Englands, richtete nichts mehr aus. Und durfte bald danach die Koffer packen.
Weil Villas-Boas im Sturm auf Jermaine Defoe und Emmanuel Adebayor setzte, schickte Tottenham Kane ein weiteres Mal auf Leihbasis weg, dieses Mal innerhalb der Premier League, zu Norwich City. Zum ersten Mal überhaupt verließ Kane London, sein Zuhause und sein gewohntes Umfeld, zog stattdessen vorübergehend in den Osten Englands ins beschauliche County Norfolk.
Das weiße Trikot wich einem kanariengelben Oberteil, und am 4. Spieltag, bei Norwichs 0:0 gegen West Ham, kam Kane zu seinem zweiten Premier-League-Einsatz, wieder als Einwechselspieler ohne Torerfolg. Es sollte lange so bleiben.
Elf Tage später traf Norwich im League Cup auf Drittligist Doncaster Rovers, Kane begann und legte Alexander Tettey das Tor des Tages auf, musste allerdings in der 50. Minute verletzt ausgewechselt werden und erhielt tags darauf die niederschmetternde Diagnose: Mittelfußbruch und Operation.
Gerade erst waren die Koffer ausgepackt, da kehrte Kane schon wieder zurück nach London, absolvierte das Reha-Programm bei den Spurs und kämpfte sich Stück für Stück zurück.
Zwei Tage vor dem Jahreswechsel brachte Trainer Chris Hughton Kane gegen Manchester City kurz vor der Pause beim Stand von 1:2 für den verletzten Steve Morison, doch Norwich verlor trotz langer Überzahl mit 3:4.
Der erste Startelf-Einsatz folgte drei Tage später, am Neujahrstag beim 1:1 gegen West Ham. Kane, immer noch ein schlaksiger Teenager, spielte als alleiniger Stürmer, blieb aber erneut ohne Scorerpunkt und verabschiedete sich wieder aus Norwich.
Weil Tottenham es, in der Liga auf Tuchfühlung mit Champions-League-Platz drei, nicht schaffte, auf dem Januar-Transfermarkt nachzulegen und einen neuen Stürmer zu verpflichten, holte Villas-Boas Kane frühzeitig von seiner Leihe zurück.
Les Ferdinand, langjähriger Tottenham-Stürmer und mittlerweile als Techniktrainer bei den Spurs angestellt, rief Norwich-Trainer Hughton an und holte sich ein Feedback ein. Kane, meinte Hughton, sei kein Neuner wie Ferdinand seinerzeit, aber auch kein Zehner. »Er ist eine Neuneinhalb«, befand Hughton. Ein Hybrid aus Stürmer und Spielmacher. Einer, der jeden Tag an seinem Torabschluss arbeite, aber trotzdem mehr und mehr am Spiel beteiligt sein musste.
Tottenham verlängerte Kanes Vertrag vorzeitig bis 2017, um ihn dann doch erneut zu verleihen, jetzt wieder in die zweite Liga zu Aufstiegsaspirant Leicester City.
Was folgte, war der »low moment« in Kanes Karriere, wie er es später erzählte. Er war gleich gesetzt und traf bei seinem zweiten Einsatz, einem 3:0-Sieg gegen die Blackburn Rovers. Anschließend blieb die Mannschaft von Trainer Nigel Pearson neun Spiele in Folge ohne Sieg und verlor die Aufstiegsplätze aus den Augen.
Kane war der Misere zum Opfer gefallen und spielte nur noch als Joker eine Rolle. Tottenhams Techniktrainer Ferdinand sah sich ein Spiel im Stadion an und telefonierte anschließend mit Kane. Ihm war aufgefallen, dass das Publikum durchaus gereizt auf das Abwehrverhalten der Spurs-Leihgabe reagiert hatte. »Wenn du zurückläufst«, sagte er ihm, »sprinte oder gehe, aber nicht joggen!« Wenn er joggte, erinnerte sich Ferdinand, »sah es immer so aus, als würde er traben, als würde er nach Luft schnappen«.
Kane traf immerhin am vorletzten Spieltag gegen Watford, konnte die 1:2-Niederlage aber auch nicht abwenden. Für Leicester reichte es zwar noch für Platz sechs und die damit verbundene Teilnahme an den Play-offs, hier war jedoch gegen Watford sofort Schluss.