The Twenty - Sam Holland - E-Book
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The Twenty E-Book

Sam Holland

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Beschreibung

30 Jahre sind vergangen, doch er ist noch längst nicht am Ziel … So etwas hat DCI Adam Bishop noch nie gesehen: einen Tatort mit fünf ausgebluteten Leichen. Und was er als Nächstes bemerkt, erschüttert ihn zutiefst. Die Toten wurden durchnummeriert und offenbaren eine grausame Tatsache: Der Killer zählt von Zwanzig herunter. Aber mit welchem Ziel? Adam ist ratlos – bis Dr. Romilly Cole mit belastenden Beweisen an seine Tür klopft, die auf eine dreißig Jahre zurückliegende Mordserie hindeuten. Die Ermittler müssen schnell handeln, denn jeden Tag gibt es neue Opfer. Und während sich der Countdown des Täters der Null nähert, kommt der Killer auch ihnen immer näher ... Der Countdown läuft! Wer stirbt als Nächstes? »Heftig, beängstigend, voller überraschender Twists und süchtig machend.« Chris Whitaker »Eine fesselnde Lektüre. Spannend, erschreckend und hypnotisierend.« Daily Mail »Wirklich verstörend und fesselnd. Viel Spaß auf eine sehr albtraumhafte Art und Weise.« Harriet Tyce Die Meisterin der Serienkiller-Thriller erstmalig auf Deutsch!

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Seitenzahl: 529

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über das Buch

Eines Nachts werden auf einer Mülldeponie am Rande von London fünf Leichen entdeckt. DCI Adam Bishop wird mit seinem Partner und besten Freund DI Jamie Hoxton an den Tatort gerufen. Die Leichen befinden sich in verschiedenen Stadien der Verwesung und sind mit römischen Ziffern von 12 bis 16 durchnummeriert. Gemeinsam haben sie nur eines: Tod durch Ausbluten. Die Ermittler erkennen darin das Muster einer Mordserie – einer Serie, die vor dreißig Jahren ihren Anfang nahm. Doch wie ist das möglich, wenn der damalige Killer längst hinter Gittern sitzt? Sicher ist nur eins: Er will die Zwanzig vollmachen.

Sam Holland

The Twenty

Thriller

Aus dem Englischen von Susanne Just

Für Mat

Prolog

Als Erstes spürt er den kalten Beton unter seinen nackten Füßen, körniger Staub zwischen den Zehen. Es ist dunkel. So dunkel.

Er bewegt den Kopf. Alles dreht sich. Er blinzelt. Umrisse, Ecken, die Kante eines Tisches kommen in Sicht: schemenhafte Konturen in der Finsternis.

Er ist verwirrt. Ihm ist schwindlig. Er versucht, tief einzuatmen, aber da ist etwas über seinem Mund. Klebrig, erstickend. Er will es berühren, doch seine Hand bewegt sich nicht – er kann sie nicht bewegen –, und er verspannt sich. Er reißt an beiden Händen, sein Atem geht schneller.

Bei den Beinen dasselbe. Fest verschnürt. Er sitzt aufrecht, wahrscheinlich auf einem Stuhl. Doch seine Füße sind eiskalt, er hat keine Schuhe oder Socken mehr an. Die Luft ist feucht, kalter Nebel kriecht unter sein Hemd, legt sich auf seine Haut und bringt ihn zum Zittern.

Hinter seiner Stirn pocht es, ein Wumm, Wumm im Takt seines hektischen Herzschlags. Aber sonst nichts. Keine anderen Schmerzen.

Was ist passiert? Wie ist er hierhergekommen? Denk nach. Denk nach. Aber ihm fällt nichts ein. Bloß Dunkelheit, bloß Panik. Jetzt wird ihm schwummrig. Er bekommt nicht genug Sauerstoff. Er zwingt sich, innezuhalten und sich auf seine Atmung zu konzentrieren. Wie man es ihm beigebracht hat. Sechs Sekunden lang einatmen. Sechs Sekunden lang ausatmen. Zittrige Stöße durch die Nase. Zu schnell. Funktioniert nicht. Er versucht es noch einmal, schließt die Augen und zählt langsam.

Sein Herzschlag beruhigt sich, seine Atmung pendelt sich wieder ein. Wenn er das tut, wenn er ruhig bleibt, wird bald alles wieder gut. Ganz sicher.

Doch dann spürt er es. Seine Hand fühlt sich komisch an, da ist etwas. Da steckt etwas drin. Kaltes, hartes Metall. Er wackelt mit den Fingern und versucht, nicht darüber nachzudenken, was er gerade spürt. Da ist es wieder. Etwas in der einen Hand, etwas in beiden Händen. Oh Gott. Nein. Nein.

Und in seinen Füßen. Da auch. Er kann dieses Gefühl einfach nicht ausblenden. Wie der Fremdköper seine Haut durchbohrt und in seinen Adern ruht. Er spürt, wie die vertraute Panik wieder hochkommt. Das Zittern. Die Schweißausbrüche.

Werd jetzt nicht ohnmächtig, beschwört er sich selbst. Nicht jetzt. Nicht hier. Werd nicht ohnmächtig. Wer weiß, was sonst passiert.

Doch sein Kopf fühlt sich leicht an, das Blut strömt nach unten. Die wenigen Dinge, die er sehen kann, verschwimmen.

Bevor er das Bewusstsein verliert, hört er Schritte. Ein Türknauf dreht sich. Und eine Tür geht auf.

Teil 1

Ha! Mir juckt der Daumen schon, Sicher naht ein Sündensohn.

William Shakespeare, Macbeth, 1606

Tag 1 Samstag

1

Als er ankommt, ist es spät und die Bar schon voll. Er bahnt sich einen Weg durch die Menge und nimmt einen Platz ganz hinten im Raum, an die Wand gedrückt. Es ist laut, überfüllt. Genau, wie er es mag. So kann er anonym bleiben. Niemand beachtet ihn – er verschmilzt mit dem Hintergrund aus ähnlich gekleideten Männern.

Mit einer Bierflasche an den Lippen beobachtet er. Geschniegelte Typen an der Bar, wild herumgrölende Betrunkene, ein Junggesellinnenabschied, besoffen und laut. Das Schlimmste, was die Gesellschaft zu bieten hat, im Angesicht solcher Verkommenheit erscheinen seine eigenen Makel nichtig.

Eine Blondine torkelt auf die Toiletten zu. Kurzer Rock, Ehering – ein Mann sieht ihr lüstern nach, wahrscheinlich nicht ihr Ehemann. Auf der anderen Seite des Raums zappelt ein Speed-Junkie unablässig. Jemand nähert sich ihm, schaut sich um, eine schnelle Übergabe – ein Fingerschnippen und Geld wechselt im Tausch gegen eine gute Nacht den Besitzer. Noch jemand, der versucht zu vergessen.

Ihm fallen die winzigen Details auf. So bahnt er sich seinen Weg durchs Leben. Er nimmt einen großen Schluck von seinem Bier. Widersteht dem Drang, einzugreifen, deswegen ist er heute Abend nicht hier.

Er sucht den Raum ab. Etwas anderes fällt ihm ins Auge, lässt ihn stutzen. Eine schwarz-weiße Uniform, beim Eintreten machen ihr die Leute Platz. Der Bulle fängt seinen Blick auf und senkt dann den Kopf, um in das Funkgerät an seiner Schulter zu sprechen.

Er wartet. Trinkt sein Bier aus. Ein weiterer Mann betritt die Bar. Ein bulliger Kerl, in Zivil gekleidet, über dessen Bauch das Hemd spannt. Der Streifenpolizist zeigt auf ihn. Er seufzt, ergibt sich seinem Schicksal. Es war auch zu schön, um wahr zu sein. Noch ein verdorbener Abend.

Der Mann kämpft sich durch die Menge und kommt auf ihn zu.

»Wie viele hattest du schon?«, fragt er und deutet auf die Flasche.

»Nicht genug. Dachte, du wärst in den Flitterwochen?«

»Heute Morgen zurückgeflogen.« Der Mann schaut finster drein. »Hätte mein Handy auslassen sollen. Marsh hat mir befohlen, dich zu holen.«

»Hättest du nicht vorher anrufen können, Jamie?«

»Kein Empfang hier drin. Das weißt du doch, Boss.«

Er nickt langsam. Natürlich weiß er das. Er wollte am Samstagabend nicht gestört werden. Feierabend, andere Detectives stehen auf Abruf bereit. Warum brauchen sie ihn also?

Doch ein Grummeln in seinem Magen verrät ihm, warum. Etwas Ernstes. Außergewöhnliches. Er stellt die leere Flasche ab und folgt seinem Detective Sergeant aus der Bar.

 

»Detective Chief Inspector Adam Bishop«, sagt er und zeigt dem Wachmann am Tatort seinen Polizeiausweis. Er deutet auf seinen Kollegen. »Detective Sergeant Jamie Hoxton.«

Jamie hält ihm seinen Ausweis hin und beide werden durch die Absperrung gewunken. Die Nacht ist bitterkalt. Adam zieht seinen Mantel enger um sich.

Die zwei Männer bleiben stehen und lassen die Szene auf sich wirken. Der Wind peitscht angriffslustig über das Ödland. Eine Brücke dominiert den weitläufigen Blick und sie stellen sich darunter, vor ihnen fließt der schwarz eingefärbte Fluss vorbei. Eine Baustelle, halbherzig mit einer Stahlkette und Holzbrettern abgesperrt, an einer Ecke hängt ein Schild mit einem zähnefletschenden Schäferhund. Aber hier gibt es keinen Sicherheitsdienst. Zumindest keinen funktionierenden.

Adam kennt die Gegend gut. Sie wurde einst als Bauland zur Neugestaltung gehandelt, bis das Geld ausging und dem Stadtrat auffiel, dass Gentrifizierung nur klappt, wenn die Reichen tatsächlich investieren. Hier will niemand wohnen. Der Ausblick über das Wasser ist deprimierend. Die einzigen Boote, die hier vorbeifahren, sind dieselspuckende Containerschiffe. Daher ist das Gelände verlassen, illegale Müllentsorger sehen hier ihre Gelegenheit und Obdachlose suchen in dem Unrat Unterschlupf.

Ihnen wird ihre persönliche Schutzausrüstung gereicht und sie ziehen sich die weißen Ganzkörperanzüge, Handschuhe und Masken an. Sie durchqueren den abgesperrten Bereich, gehen auf die Flutlichter und das Gedränge zu, ihre Schuhsohlen versinken im Schlamm. Er muss gar nicht erst fragen. Er weiß, was sie hier finden werden. Alles deutet auf eine Leiche hin.

Sie ist von Gerümpel umgeben. Links von ihr liegt ein alter Kühlschrank auf der Seite, rechts eine Matratze, durchnässt und voller Flecken. Außerdem ist die Stelle noch mit anderem Schrott übersät – leere Farbeimer, Plastikmüll, eine alte Haustür. Die Leiche liegt auf dem Rücken, Überbleibsel von Kleidung haften an ihr. Es gibt keinen Hinweis auf das Geschlecht, nichts identifiziert mehr den ehemaligen Menschen.

Das Gesicht ist halb verwest, blutige Fleischfetzen hängen herab, gleißend weißer Knochen ist sichtbar. Daraus starren die dunklen Löcher der Augenhöhlen hervor. Verschorft, dreckig, nass. Die Augäpfel waren vermutlich als Erstes weg, einfache Beute. Der Oberkörper ist vollkommen ausgeweidet – Adam erkennt Gedärme, Rippen, Organe. Und wegen der vielen Maden, die sich am verrottenden Fleisch gütlich tun, sieht es aus, als würde sie sich bewegen.

»Die Tiere haben ihn vor uns aufgespürt«, kommentiert Jamie. Unter dem Unrat kann Adam Geraschel hören. Er leuchtet mit seiner Taschenlampe, woraufhin ihn mehrere gelbe Augenpaare anstarren.

Er erschaudert. Scheißratten. »Wer hat sie gemeldet?«

»Ein Obdachloser.« Jamie deutet auf eine bunt zusammengewürfelte Gruppe in einiger Entfernung. »Meinte, der würde hier alles vollstinken und dass sie ihn weghaben wollten.«

»Zum Glück haben sie klare Prioritäten«, antwortet Adam resigniert. »Wissen wir schon, wer der Pathologe ist?«

»Wir warten noch.«

Wie auf Befehl hören sie hinter sich Stimmengewirr, als ein Mann ankommt. Adam seufzt innerlich auf. Alle, aber bitte nicht Dr. Greg Ross.

Obwohl Dr. Ross in voller Tatortmontur steckt, kann Adam erkennen, dass er das genauso sieht.

»Haben Sie die Leiche angefasst, DCI Bishop?«, fragt der Arzt, seine Worte triefen nur so vor Missbilligung.

»Natürlich nicht.« Das ist nicht Adams erster Fall, nicht seine erste Leiche. »Wann wissen wir mehr?«

Die Antwort des Pathologen ist kurz und bündig. »Wenn ich fertig bin.«

Er verkneift sich einen Konter und bedeutet Jamie, ihm zu folgen. Sie stellen sich etwas weiter abseits hin und beginnen mit der Einschätzung des Tatorts.

Der Blick seines DS gleitet über den Schrott. »Keine Security, keine Überwachungskameras.«

»Sind wir uns da sicher?« Adam zeigt auf die Kamera, ein kleines schwarzes Gehäuse, wo Jamie sein Auto geparkt hat. »Schau lieber nach.«

Jamie nickt und marschiert davon. Adams Aufmerksamkeit wird von jemandem angezogen, der sich einen Weg zu ihm bahnt. Eine junge Frau. Im Gegensatz zum Rest der Mannschaft federn ihre Schritte und ihr Enthusiasmus steht in krassem Kontrast zur unheimlichen Umgebung. Neugierig geht er auf sie zu, duckt sich unter dem Absperrband durch und zieht sich dann Kapuze und Maske vom Gesicht, die Handschuhe von den Händen.

Beim Entgegenkommen lächelt sie ihn voller Tatendrang an, ihre Wangen sind gerötet. Er hat sie noch nie zuvor gesehen.

»Detective Constable Ellie Quinn«, stellt sie sich vor, sobald sie bei ihm angelangt ist. Mit einem Ruck streckt sie ihm ganz offiziell die Hand entgegen und Adam schüttelt sie amüsiert. Ihre Handfläche ist schwitzig.

»Was machen Sie hier, DC Ellie Quinn?«

»Bin neu bei den Schwerverbrechen. Hätte eigentlich erst am Montag anfangen sollen, hab aber gehört, dass was los ist. Vielleicht kann ich helfen.«

Adam erinnert sich dunkel: Vor ein paar Wochen hatte Jamie ein neues Teammitglied erwähnt. »Woher kommen Sie?«, fragt er.

»Betrugsdezernat, Boss. Aber ich wollte etwas, das ein wenig … aufregender ist.«

»Na ja, das haben Sie geschafft.« Er lächelt sie an. Sie ist zierlich, hat rotblondes Haar, zu einem Bob geschnitten, blasse Haut und Sommersprossen auf der Nase. Große Bambi-Augen, mit denen sie aussieht wie eine Disneyfigur.

Mehr fehl am Platz könnte sie gar nicht wirken. Hier, mitten in der Nacht, wo ihr der Wind durchs Haar fegt und die Wangen rötet. Ein unschuldiges Rehkitz, das noch nie von den kürzlich Verstorbenen heimgesucht wurde.

Hinter sich hört Adam Geräusche und schaut noch mal zu den Obdachlosen. Die meisten haben sich bereits entfernt, aber einer ist stehen geblieben. Die Chance auf einen Zeugen will er sich nicht entgehen lassen.

»Melden Sie sich bei DS Hoxton«, sagt er zu Quinn und deutet zu dem Parkplatz, wo Jamie sich gerade umsieht. »Er wird Sie einweisen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.«

»Ja, natürlich«, stimmt die junge Frau hastig zu und Adam widmet seine Aufmerksamkeit dem Mann in seiner Nähe.

Der Obdachlose zögert, als er Adam sieht. Adam geht langsam auf ihn zu, den Blick abgewandt. Der Mann ist so scheu wie ein ängstlicher Hund, trägt einen langen, schmutzigen Mantel, löchrige Stiefel und hat sich eine schwarze Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Adam zückt seine Zigaretten, steckt sich eine in den Mund und bietet dem Mann die Schachtel an.

Immer noch halb abgewandt, schnappt sich der Obdachlose eine mit dreckigen Fingern. Adam zündet sich seine eigene an und gibt das Feuerzeug weiter, den Arm muss er ganz ausstrecken, bis der Mann es nimmt.

»Haben Sie uns angerufen?«, fragt Adam. Er nimmt einen langen Zug und stößt den Rauch in die kalte Nachtluft aus.

»Ja.« Der Mann steht leicht von Adam abgewandt da und späht zum Obdachlosenlager aus Kartons und schlaffen Zelten unter der Brücke. Sein sicherer Unterschlupf. Er gibt das Feuerzeug zurück und zieht dann gierig an der Zigarette.

Adam stellt sich vor und hält ihm die Hand hin.

Argwöhnisch beäugt der Mann sie, steckt sich dann die Zigarette zwischen die Lippen und erwidert die Geste. Schnell macht er zwei Schritte zurück.

»Harry«, antwortet er.

»Wann ist dir die Leiche aufgefallen?«, fragt Adam.

»Erst vor ein paar Stunden. Jim hat was gesagt.« Der Mann nickt zu der Gruppe, die unter der Brücke Schutz sucht. »Will ihm aber keinen Ärger machen.«

»Nein, gar nicht«, entgegnet Adam, obwohl er sich gedanklich die Namen notiert. »Hat er irgendwen gesehen? Lungert hier ab und zu jemand rum?«

»Nee.« Harry weicht noch weiter vor Adam zurück.

»Keine Lieferwägen? Lkws, die Müll abladen?«

»Ein paar.«

Er verstummt, aber Adam merkt, dass er etwas verschweigt. »Bitte, alles könnte hilfreich sein.«

Harry nimmt noch einen Zug und bekommt dann einen Hustenanfall, der seinen ganzen Körper schüttelt. Als er fertig ist, schaut er Adam aus blutunterlaufenen Augen an.

»Ist er …«, fängt er an. Er schaut nach unten, scharrt mit dem Stiefel im Schlamm. »Ist er tot? Sollten wir … ein Arzt …«

»Nein, Mann. Der ist sehr tot.«

»Aber …« Er deutet hinter sich zu der Mülldeponie. »Ein Arzt …«

»Tut mir leid. Ein Arzt kann ihm jetzt auch nicht mehr helfen.«

Der Obdachlose schüttelt den Kopf und richtet seinen Blick wieder auf den Boden.

»Nein. Hab gar nix gesehen«, stellt er abschließend fest.

Adam akzeptiert seine Niederlage. Selbst wenn der obdachlose Typ ihm etwas Nützliches mitgeteilt hätte, wäre er trotzdem ein lausiger Zeuge. Ein Strafverteidiger würde seine Aussage in Sekundenschnelle zerschießen.

Der Mann zeigt auf seine Zigarette, die jetzt bis zum Filter heruntergebrannt ist. »Kann ich noch eine haben?«

Adam gibt ihm das ganze Päckchen samt Feuerzeug. »Hier«, sagt er und kramt in seiner Jackentasche. Er holt das bisschen Bargeld heraus, das er dabeihat – ein paar Scheine und Münzen –, und gibt es ihm ebenfalls. »Für deine Hilfe.«

Der Mann schnappt es sich und eilt davon, schaut noch mal nervös zurück. Adam raucht seine Zigarette zu Ende, während Jamie auf ihn zukommt.

»Hat er irgendwas gesehen?«, will Jamie wissen.

»Nichts. Ich bin überrascht, dass sie überhaupt angerufen haben. Was hast du mit unserer neuen Rekrutin gemacht?«

»Ellie Quinn? Hab sie mit ein paar Leuten von der Streifenpolizei an Türen klopfen lassen.« Jamies Blick kehrt wieder zum Tatort zurück. »Das muss sie nicht sehen«, führt er seinen Gedanken zu Ende. »Nicht an ihrem ersten Tag.«

Adam gibt ihm stumm recht. Er hat gern frischen Wind im Team. Wie Ellie wollen sie sich alle verzweifelt einen Namen machen. Aber sie sieht so unschuldig aus. Mental gibt er ihr drei Monate, bevor sie eine Versetzung beantragt. Maximal sechs.

Adam folgt Jamies Blick zur Leiche. Der Schutt wirft gestaltlose Formen auf den Boden. Instinktiv lässt ihn etwas daran zurückschrecken, sogar aus dieser Entfernung.

Nein, heute wollen sie Ellie Quinn noch nicht kaputtmachen.

»Glück gehabt mit der Kamera?«, fragt er stattdessen.

»Fake«, antwortet Jamie. »Und nicht mal ein guter, das konnte ich schon beim Hochschauen erkennen. Das ist die perfekte Mülldeponie. Keine zuverlässigen Zeugen, keine Nachbarn. Leicht zugänglich.«

Adam nickt und schaut über das Ödland. Das Flutlicht trifft auf Glasscherben, Spiegel der Zerstörung im Schlamm. Die Spurensicherung fertigt von den wenigen erkennbaren Reifenspuren, die sie bereits auf Fotos festgehalten haben, Gipsabdrücke an. Er wendet sich Jamie zu: »Wie war’s denn so in den Flitterwochen?«

»Wunderbar. Kalifornischer Sonnenschein, weiße Sandstrände, blauer Himmel.« Jamie verstummt und schaut zurück zu der Stelle neben der Leiche, wo Dr. Ross gerade aufsteht. »Ein bisschen anders als heute Abend.«

Dr. Ross dreht sich zu ihnen und winkt sie zu sich.

»Männlich, zwischen dreißig und vierzig«, sagt er und kommt gleich zur Sache. »Vielleicht. Höchstens ein paar Tage tot, wobei ich mehr weiß, sobald ich ihn morgen in der Leichenhalle habe und der Bericht aus der Entomologie vorliegt. Beträchtlicher Schaden am Weichteilgewebe durch Fleischfresser, die haben sich sein Gesicht und seine Bauchhöhle ordentlich vorgenommen.«

»Verdächtiger Tod?«, fragt Jamie.

»Allein ist er hier jedenfalls nicht hergekommen, DS Hoxton«, spottet der Arzt. »Die Autopsie mache ich morgen. Seien Sie pünktlich um zehn da.«

Und damit geht er ohne ein weiteres Wort.

»Kurz und knackig«, murmelt Jamie. Adam atmet tief ein.

Die Spurensicherung versammelt sich wieder, Kameras fangen den Tatort ein, bevor die Leiche weggebracht wird. Eine scheußliche letzte Ruhestätte: Ratten und Füchse in Hülle und Fülle, den Elementen ausgesetzt.

»Hat sich nicht bemüht, ihn zu vergraben«, kommentiert Adam.

»Vielleicht hat der Mörder geglaubt, dass die Leiche aufgefressen und in alle Himmelsrichtungen zerstreut sein würde, bis irgendjemand sie findet«, antwortet Jamie.

»Oder vielleicht war es ihm egal.«

Doch dann fällt ihm etwas ins Auge. Vorher hat er nicht allzu sehr darauf geachtet, doch jetzt, wegen der Blitzlichter der Kameras, dem grellen Licht der Scheinwerfer, sticht es aus dem schmutzigen Chaos heraus. Auf die Seite des entsorgten Kühlschranks wurden mit grüner Farbe drei Symbole gesprayt: XII.

Er blinzelt sie an. Sie kommen ihm fehl am Platz vor: vollkommen geradlinig, auf einem umgekippten Kühlschrank. Direkt über dem Kopf des Opfers. Eine Markierung.

»Was hältst du davon?«, fragt er Jamie.

Doch er wartet gar nicht erst auf eine Antwort. Er geht darauf zu, sucht das Ödland ab, der Lichtstrahl der Taschenlampe zuckt über den Müll. Er hört das Rascheln von Ratten, Bewegungen unter dem Schutt. Jamie folgt ihm und lässt den Blick über das Durcheinander schweifen.

»Da«, sagt Jamie plötzlich. »Leuchte noch mal zurück.«

Adam richtet die Taschenlampe auf die Stelle, auf die Jamie zeigt. Sie erhellt drei weitere Buchstaben.

Langsam lässt er den Lichtstrahl auf den Müll darunter sinken. Trümmer einer Baustelle. Holzpaletten, Ziegelsteine, Zementbrocken. Doch die Ziffern sind dieselben. Grüne Sprühfarbe. XIV.

»Oh, Scheiße«, murmelt Jamie neben ihm. »Du glaubst aber nicht …«

Adam dreht sich wieder zum Tatort um, zum geschäftig umhereilenden Spurensicherungsteam, der Streifenpolizei, der Kriminaltechnik, die alle ihre Arbeit erledigen.

»Hey!«, ruft er. Köpfe drehen sich. Adam winkt, bis ihm alle ihre ungeteilte Aufmerksamkeit widmen.

»Hier.« Er zeigt in die Richtung der aufgesprühten Markierung. »Sichert diesen Bereich hier ab. Fangt an zu graben. Und alle anderen schwärmen aus, über das gesamte Gelände. Kontrolliert den ganzen Müll. Ihr haltet nach mehr von diesen Zeichen hier Ausschau.« Keiner bewegt sich, alle starren ihn an.

»Und zwar jetzt!«, ruft Adam, und die Leute erwachen wieder zum Leben, dann wendet er sich Jamie zu. Dessen Augen huschen unruhig über seiner Maske hin und her.

»Nummer vierzehn«, sagt er. Dann deutet er auf die erste Leiche. »Und Nummer zwölf.«

»Du glaubst aber nicht …«, beginnt Jamie erneut.

»Und wie ich das glaube«, antwortet Adam. »Da sind noch mehr.«

2

Die Leiche kommt zum Vorschein. Eine Gestalt, vollständig unter Ziegelsteinen und Schotter begraben, wo die Ratten sie nicht finden konnten. In eine Decke eingewickelt. Babyblau kariert. Nachdem sie vollständig ausgegraben wurde, ruft die Tatortleiterin Adam zu sich und zieht langsam eine Ecke des Stoffs zurück. Darunter erscheint ein Gesicht. Lange schwarze Locken. Geschlossene Augen, intaktes Gesicht.

»Ein ziemlicher Kontrast zu der anderen«, kommentiert sie.

Adam hat schon früher mit Maggie Clarke zusammengearbeitet. Eine effiziente Frau, klug, perfekt organisiert. In einem anderen Leben wäre sie Vorsitzende des Elternbeirats, würde Spendensammlungen und Dorffeste planen, doch stattdessen kommandiert sie ihre Kriminaltechnikmeute herum, Blut und Matsch statt Kuchen und Hundeshows. Sie ist zwar schroff, aber schnell und genau. Adam mag sie. Nicht jeder tut das.

»Sie sieht beinahe friedlich aus«, antwortet Adam.

Maggie wirft einen kurzen Blick auf den Müll. »Wenn du das sagst.« Sie lächelt ihn kurz an und geht, da ihre Aufmerksamkeit von etwas anderem in Anspruch genommen wird.

Die Hundeeinheit kommt an. Die schwarz-weißen Spaniels laufen in Kreisen, scheinbar verwirrt.

»Können sie denn nichts finden?«, fragt Jamie.

»Das ist es nicht«, erwidert der Hundeführer mit grimmigem Gesicht. »Sie wissen nicht, wo sie anfangen sollen.«

Eine weitere Leiche wird gefunden. Kaum noch mehr als Knochen: verstreute Gliedmaßen. XVI darübergesprayt. Als dann die vierte auftaucht, ist Adams Boss schließlich auch am Tatort. Detective Chief Superintendent Marsh steht hinter dem Absperrband und bedeutet ihm mit langem Finger herzukommen.

»Ist das eine Serie?«, fragt Marsh, als sich Adam unter dem Absperrband hinwegduckt. In dem harten Schein der Flutlichter sehen Marshs Wangen eingefallener aus als sonst, sein Teint ist grau. Adam nickt, während er sich die Kapuze des Overalls vom Kopf und die Atemschutzmaske vom Gesicht zieht. »Und ich dachte, diese Tage wären vorbei«, schließt Marsh mit einem Seufzer.

Adam tastet seine Hosentaschen ab und flucht, weil er seine Zigaretten ja verschenkt hat. So lang, wie die Nacht werden wird, bereut er seine altruistische Geste jetzt. Neben ihm zieht Marsh sein eigenes Päckchen hervor und bietet Adam eine an.

»Danke«, murmelt Adam mit der Zigarette zwischen den Lippen und lehnt sich nach vorn, als Marsh ihm Feuer gibt.

Für einen Augenblick stehen beide Männer einfach nur da, stumm bis auf das Knistern des brennenden Tabaks und die Seufzer, als Rauchwolken ausgestoßen werden.

»Nicht ganz der Samstagabend, den ich geplant hatte«, kommentiert Adam.

Marsh klopft etwas Zigarettenasche in den Matsch. »Wenn du dich außer Dienst verstecken willst, musst du dir schon einen anderen Ort suchen, Bishop. Du bist kein mysteriöser Schattenmann, sondern genauso vorhersehbar wie der Rest von uns. Warum gehst du überhaupt immer dorthin?« Marsh nimmt einen weiteren langen Zug. »In irgendeiner schmierigen Bar voller Zwanzigjähriger wirst du wohl kaum deine Traumfrau finden.«

»So ist es gar nicht.«

Marsh schnaubt. »Na ja, wie auch immer. Schön für dich, Bishop. Lebst dein bestes Leben.«

Dr. Ross kommt zurück. Im Vorbeigehen nickt er Marsh zu, ignoriert Adam. »Schließt also immer noch überall neue Freundschaften«, bemerkt Marsh sarkastisch, schnippt seine Kippe auf den Boden und folgt dem Pathologen.

Adam raucht seine Zigarette bis zum Filter herunter und schaut seinem Boss nach. Die zwei älteren Männer sind beinahe nicht zu unterscheiden, als sie in ihre Tatortoveralls schlüpfen, Ross nun zum zweiten Mal. Beide sind groß und dünn – wobei Adam weiß, dass Marshs Figur einem Mangel an Essen und einer Übermenge an Nikotin und Koffein geschuldet ist, während Ross das Paradebeispiel von Fitness darstellt, sich gesund ernährt und trainiert. In einiger Entfernung erkennt Adam Jamie an seiner insgesamt viel größeren Silhouette, seinen Detective Sergeant, der seit zwei Wochen glücklich verheiratet ist. Adam weiß noch, wie das ist, wenn man fröhlich seine Prinzipien schleifen lässt. Gemütliche Abende auf dem Sofa mit einem hausgemachten Braten zum Abendessen und einer Tafel Schokolade in Familiengröße.

Jamies Rufe reißen Adam aus seinen Gedanken. Er schnippt seine Kippe von dem Absperrband weg und geht zu ihm.

»Das ist Nummer fünf«, sagt sein DS. Die Hundeführer machen sich auf den Heimweg, in Erwartung ihrer Belohnung wedeln die Spürhunde mit dem Schwanz.

»Und wir sind uns sicher, dass das alle sind?«

»Reicht doch, oder nicht?«, gibt Jamie zurück.

Adam nickt grimmig. Jetzt werden verschiedene Zelte aufgebaut: individuelle Tatorte für jede hässliche Entdeckung. Flutlichter und Beschriftungen markieren jeden einzelnen, um bloß zu vermeiden, dass sie sich gegenseitig kontaminieren. Fünf Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung. Fünf Menschen, die einmal jemand waren, die geliebt haben und geliebt wurden, um die man sich gesorgt hat.

Doch trotz allem spürt Adam, wie ihn eine Woge der Aufregung erfasst. Ein leichter Nervenkitzel angesichts der bevorstehenden Herausforderung. Er hat schon mit mehr Morden zu tun gehabt, als er zählen kann. Häusliche Streitigkeiten, die aus dem Ruder gelaufen sind, Schlägereien in Pubs, die ein böses Ende genommen haben, sogar ein tragischer Kindsmord. Aber so etwas noch nie.

Nichts so Großes.

Denn über allen Leichen stehen Ziffern geschrieben, in derselben Sprühfarbe. Um das zu verstehen, braucht Adam keinen Pathologen. Nummer sechzehn ist fast komplett verwest, wurde von den sich gütlich tuenden Ratten bis auf das Mark abgenagt, einige Knochen sind verschwunden, fortgetragen in irgendein Loch, wo ihnen weitere Aufmerksamkeit zuteilwurde. Nummer zwölf – die Leiche, die heute zuerst gefunden wurde – ist noch in einem frühen Verwesungsstadium.

Adam weiß es, Jamie weiß es. Und DCS Marsh weiß es auch, sonst wäre er nicht hier.

Der Killer zählt herunter.

Und das ist bloß der Anfang.

3

Bevor sie ins Bett geht, spult sie die immergleiche Routine ab. Sie kontrolliert beide Türen – die Kette vor der Eingangstür, das doppelte Schloss an der Hintertür. Die Fenster sind alle geschlossen. Die Lichter macht sie auch alle aus, eins nach dem anderen, aber nicht, bevor sie das Zimmer verlassen hat, immer im Schein der nächsten Lampe. Zuletzt überprüft sie, dass die LED-Lichter in den Steckdosen alle an sind. Beruhigend und hell.

Bis sie es ins Schlafzimmer schafft, liegt Phil normalerweise schon unter der Decke. Sie beneidet ihn darum, wie einfach sein Leben ist. Heute Abend hört sie an seiner Atmung, dass er schon fast schläft. Langsam, sicher, gleichmäßig. Sie schaltet das Nachtlicht neben ihrem Bett ein. Es ist ein Kindernachtlicht, aber sie braucht es. Es wirft Sterne an die Decke und taucht das Schlafzimmer in einen kühlen blauen Schein.

Sie macht die Deckenlampe aus und legt sich neben ihren Freund. Der dreht sich um und zieht sie an sich, den Arm um ihre Mitte gelegt, ein Bein mit ihrem verschränkt. In Sicherheit.

 

Beim Aufwachen weiß sie sofort, dass irgendwas nicht stimmt. Sie kann die Dunkelheit spüren, sie hat sich über alles gelegt, undurchdringlich und erstickend. Sie öffnet die Augen. Da ist nichts. Ihre Atmung wird schneller. Das Nachtlicht ist aus; das Zimmer stockdunkel. Mit den Händen tastet sie grob um sich und sucht nach Phil, doch sie spürt bloß das kalte Laken.

Und dann, innerhalb eines Sekundenbruchteils, ist sie wieder dort. Allein in der Dunkelheit. Geräusche dringen von draußen durch das Fenster: der Ruf einer Eule, das Kreischen eines Fuchses. Dann noch etwas. Ein tierischer, doch zweifelsfrei menschlicher Laut. Ein Schrei, ein Schmerzensschrei. Gequält und verängstigt.

Erstarrt liegt sie im Bett. Ihre Hände umklammern die Decke. Sie blinzelt, versucht, ihre Augen zu zwingen, etwas in der Dunkelheit zu erkennen, irgendetwas. Schließlich bringt sie die Kraft auf, die Hand zum Nachtkästchen auszustrecken. Ihre Finger berühren das Kabel der Lampe, dann den Plastikschalter. Aber nichts. Nichts. Sie fängt an zu wimmern. Zuerst leise, dann immer lauter, bis sie schreit. Sie saugt den Sauerstoff in großen Schlucken ein und schreit dann wieder.

Plötzlich spürt sie einen Körper neben sich. Starke Hände auf ihren Armen. Eine Taschenlampe geht an und wird durch den Raum geschwenkt.

»Rom! Romilly«, sagt die Stimme. »Ich bin jetzt hier, entschuldige. Der Strom ist ausgefallen. Es tut mir leid.«

Hektisch greift sie nach dem Arm ihres Freundes und das Licht, ihre Erlösung, kommt mit ihm. Er umschlingt sie mit seinen Armen und hält sie fest.

»Es tut mir leid«, wiederholt Phil. »Ich hätte dich nicht allein lassen sollen. Ich wollte nur die Taschenlampe holen.« Er drückt sie noch fester an sich und zieht die Decke über sie beide, verpuppt sie im Kokon ihres Bettes. »So ist es doch schon besser, oder?«, sagt er zärtlich, und sie schmiegt sich an seine Brust, während sein T-Shirt ihre Tränen aufsaugt.

Sie behält die Taschenlampe in der Hand, diesen starken Strahl aus Licht, der das Schlafzimmer erhellt. Ihr Schlafzimmer. Nicht damals, sondern jetzt.

Und langsam, viel zu langsam, spürt sie, wie die Panik wieder verebbt. Sie ist in Sicherheit. Sie sind beide in Sicherheit, sagt sie sich selbst, als sie in einen rastlosen, unruhigen Schlaf fällt.

Tag 2 Sonntag

4

Über dem Ödland geht die Sonne auf und das Spurensicherungsteam ist immer noch zugange. Fünf Leichen. Das muss man erst mal verarbeiten.

Marsh ist schon Stunden zuvor gegangen, zurück in sein warmes Zuhause und sein gemütliches Bett. Dr. Ross kurz danach.

Adam sitzt in Jamies Auto, den Kaffee, den ihm ein netter Police Constable gebracht hat, hat er kalt getrunken, aber Adam klammert sich immer noch an dem leeren Becher fest. Neben ihm lümmelt Jamies über eins neunzig große Gestalt ungemütlich im Fahrersitz. Sein Doppelkinn ruht in zwei Falten auf seiner Brust. Er schläft tief und fest, atmet schwer durch die Nase. Adam ist auch müde, fühlt sich jedoch durch die konstante Koffeinzufuhr und die Vorstellung, was da auf ihn zukommt, wie unter Strom.

Er hat seine Gedanken geordnet, um sich mental auf den Ermittlungsbeginn eines Mehrfachmords vorzubereiten.

Ein leises Klopfen am Autofenster lässt ihn hochfahren. Er öffnet dem müden Gesicht von Maggie Clarke die Tür. Ohne Kapuze auf dem Kopf, jedoch immer noch in ihrem Spurensicherungsanzug, geht sie neben ihm in die Hocke und lächelt erschöpft.

»Hält der immer noch Schönheitsschlaf?«

Adam schielt hinüber; Jamie hat sich noch nicht geregt. »Hab ihn immer darum beneidet, überall pennen zu können«, kommentiert er. »Hast du irgendwas für mich, Mags?«

»Nein, und das wird auch noch stundenlang so bleiben. Hier liegt einfach so viel rum, man muss den ganzen Schrott durchwühlen.«

»Kannst du mir denn gar nichts sagen?«, drängt er.

Sie wirft einen kurzen Blick zurück auf die Tatorte und legt dann die Stirn in Falten. »Inoffiziell?«

Er grinst. »Inoffiziell.«

»Das ist bloß ein erster Eindruck, aber ich habe das Gefühl, dass das alles sehr durchdacht ist.«

»Wie kommst du darauf?« Genau wie Adam ist Maggie ein alter Hase. Maggie ist in ihrem Gebiet belesen und mit Tatorten vertraut, jahrelange Erfahrung hat sie gelehrt, was normal ist und was nicht. Zumindest, was unter solchen Umständen normal ist.

»Die Leichen wurden auf dem Rücken abgelegt«, fährt Maggie fort. »Mit den Köpfen neben den …« Mit den Fingern malt sie ein Rechteck in die Luft.

»Grabsteinen?«

»Wenn du sie so nennen willst, ja. Wer auch immer die Leichen hier abgelegt hat, wollte damit etwas kommunizieren.« Sie legt ihm die Hand auf den Arm und stemmt sich dann mit einem kleinen Schmerzenslaut aus der Hocke. »Ich ruf dich an, sobald ich mit Sicherheit etwas sagen kann. Schlaf ein bisschen.«

Er schaut ihr nach, während sie zum Tatort zurückgeht, ihre widerspenstigen Locken zu einem Pferdeschwanz zusammenbindet und sich die Kapuze wieder aufsetzt.

Schlafen ist unmöglich.

Denn jetzt ist er bereit.

Er streckt den Arm aus und zwickt Jamie in die Nase. Einen Augenblick später schnarcht Jamie auf und wird dann ruckartig wach. Mit verschwommenem Blick schaut er zu ihm.

»Du bist ein Arsch, Bishop«, murmelt er.

»Wir müssen los.«

Jamie schaut hinaus zu dem sich auftürmenden Schrott und Schmutz. »Los? Wohin denn los?«

»Zurück aufs Revier. Wir haben eine Mordermittlung vor uns.«

 

Obwohl Wochenende ist, bevölkern Detectives die Einsatzzentrale. Adam hatte bereits dazu aufgerufen, so viele wie möglich zusammenzutrommeln.

Keiner murrt, obwohl man sie an einem Sonntag herbestellt hat. Die meisten haben bereits die Nachrichten gesehen, in denen ausgiebig herumspekuliert wurde. Leichenfunde. Bisher nicht identifiziert. Einzelheiten folgen. Kein Detective verpasst gern die heißen Fälle, und alle von ihnen wissen, das hier könnte so einer sein.

Adam steht vor ihnen und startet das Briefing.

Eine schnell zusammengestellte Karte der illegalen Mülldeponie füllt den Bildschirm hinter ihm, während er ihnen alles mitteilt, was sie wissen. Fünf Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung, sowohl männlich als auch weiblich. Mit den Obduktionen soll schon heute Morgen begonnen werden, weshalb Adam den nächsten Beamten auf dem Dienstplan in die Leichenhalle schickt. Ein Detective Constable verlässt den Raum unter Pfiffen und Gejohle.

»Gut«, schließt Adam, nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist. »Dann lasst uns mal mit den Basics weitermachen. Auf dem Gelände selbst gibt es zwar keine Überwachungskameras, aber macht die ausfindig, die am nächsten sind, vor allem auf den Zufahrtsstraßen. Lasst uns auch die automatische Nummernschilderkennung auslesen, falls es dort eine gibt. Tim« – einer seiner DCs nickt –, »lass dich von Ellie Quinn updaten und setz dich mit der Streifenpolizei in Verbindung, die sich um die Haus-zu-Haus-Befragung kümmert. Ich will von jedem eine Aussage, der in den letzten Monaten auch nur einen Blick auf dieses Ödland geworfen hat. Protokolliert alles, auch wenn es euch irrelevant erscheint, und erstattet mir Bericht, wenn ihr etwas von besonderem Interesse bemerkt.«

Ein Team weist er an, die Opfer zu identifizieren, Jamie gibt er den Auftrag, die Einsatzkräfte zu koordinieren. Stimmen reden durcheinander, erpicht darauf, loszulegen.

Doch winkend bringt Adam sie wieder zum Schweigen. Er hält ihre Aufmerksamkeit fest, alle warten nur noch auf das finale Zeichen zum Aufbruch.

»Denkt in alle Richtungen«, fährt er fort. »Ihr wisst alle, wie entscheidend die ersten vierundzwanzig Stunden eines Mordfalls sein können. Menschen vergessen etwas, Beweise werden vom Regen weggespült, Daten werden aus Überwachungssystemen gelöscht. Wir sind sowieso klar im Nachteil. Einige dieser Leichen waren eine Zeit lang vergraben. Aber wenn da noch etwas ist, will ich es wissen.« Trotz der abscheulichen Natur der Verbrechen fühlt sich Adam elektrisiert, als er den Blick über sein Team schweifen lässt. »Und zwar jetzt.«

Mit einem letzten Nicken machen sie sich auf den Weg. Adam bahnt sich einen Weg zu Jamie und stellt sich neben seinen Stellvertreter.

»Zu dick aufgetragen?«, flüstert Adam ihm lächelnd zu.

Jamie lacht leise. »Genau richtig«, gibt er murmelnd zurück.

Adam hält inne und schaut dem Team beim Ausschwärmen zu. Das Gedränge, die Energie, der Tatendrang. Doch obwohl er den Anblick des Spektakels genießt, spürt er eine wachsende Unruhe. Eine düstere Vorahnung. Als wäre er in etwas gefangen, verstrickt, über das er keine Kontrolle hat. Er merkt, wie es ihn mitreißt.

Geradewegs in den Schlund der Hölle.

5

Jamie sitzt an seinem Computer, sein Kopf kippt leicht nach vorn und die Augen fallen ihm zu. Er hat schon seit über vierundzwanzig Stunden nicht mehr richtig geschlafen.

Er denkt daran, wo er jetzt eigentlich sein sollte. Sein letzter Urlaubstag. Er sollte jetzt mit Pippa auf dem Sofa liegen und DVDs schauen. Oder vielleicht wären sie am Sonntag auch zum Mittagessen und danach spazieren gegangen, Hand in Hand durch den Wald geschlendert.

Er schüttelt den Kopf und versucht, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Menschen sind tot. Ermordet. Er muss herausfinden, wer sie waren.

Er scrollt zu der nächsten vermissten Person auf dem Bildschirm. Er hat zwar Suchparameter eingegeben, aber es gibt einfach so viele Vermisste. Und mit so wenig Informationen kann er momentan kaum welche ausschließen.

Er sieht sich verstohlen um. Seine DCs sind voll bei der Sache. Bishop telefoniert gerade in seinem Büro, versucht zweifelsohne, mehr Leute zu bekommen, mehr Budget, mehr Überstunden. Jamie beobachtet ihn und verspürt dabei die vertraute Mischung aus Bewunderung und Respekt.

Adam ist eine Maschine. In seiner Haltung liegt keine Spur von Müdigkeit, kein Anzeichen von apathischer Abgestumpftheit, die jahrelange Arbeit in der Mordkommission mit sich bringt. Jamie wünschte, er könnte ein bisschen mehr so sein wie Adam. Diese Entschlossenheit und Zähigkeit.

Doch sein Enthusiasmus verfliegt; die Monotonie kommt ihm dazwischen. Jamie braucht eine Pause. Er wittert eine Gelegenheit und macht sich schnell davon.

Er schnappt sich seinen Mantel und geht zügig durch die Doppeltür hinaus auf den Parkplatz. Er braucht ein bisschen Raum. Ein bisschen Ruhe, für fünf Minuten.

Die Autos stehen weit auseinander, was ihn daran erinnert, dass Sonntag ist. Wind fegt durch die offenen Wände des mehrstöckigen Betongebäudes. Er holt seine Schlüssel aus der Hosentasche, setzt sich ins Auto und knallt die Tür fest hinter sich zu. Es riecht nach Zigaretten. Er verflucht Bishop. Trotz der Kälte macht er ein Fenster auf, dann ruft er seine Frau an.

Pippa geht beim ersten Klingeln ran. »Da bist du ja«, sagt sie mit sanfter Stimme. Er muss einfach lächeln.

»Hier bin ich«, antwortet er.

»Bist du immer noch bei der Arbeit?«

»Ja. Wird spät heute«, fügt er hinzu, sagt aber sonst nichts weiter. Die Details, womit er sich heute auseinandersetzt, muss sie nicht kennen. Die Gewalt, das Blut, die Morde.

Er liebt seinen Job. Die Herausforderung, das anfänglich heillose Durcheinander Stück für Stück zusammenzusetzen, die Ordnung im Chaos zu finden. Selbst die Schonungslosigkeit von Daten und Routineuntersuchungen haben ihm nie so zugesetzt wie anderen. Er weiß, dass er Gutes tut, doch an manchen Tagen wünscht er sich, er würde sich dabei nicht so schlecht fühlen.

Pippa ist die Reinheit in seinem Leben, der helle Sonnenstrahl, wenn er nach Hause kommt. Er stellt sich seine Frau vor, wie sie im Wohnzimmer sitzt, im Schneidersitz, mit einer Decke über den Knien, Musik im Hintergrund.

Sie haben sich vor sechseinhalb Jahren bei einem Grillabend am Strand kennengelernt, den Adam organisiert hat.

»Du bist also ein Bulle?«, hatte sie gefragt.

Es war ein brütend heißer Tag gewesen. Ein kühler Wind wehte vom Solent, einem Seitenarm des Ärmelkanals, und zerzauste ihr die Haare. Sie trug ein gelbes, ärmelloses Kleid. Ihre Schultern waren nackt und mit Sommersprossen übersät. Er konnte kaum die Augen von ihr lassen.

»Das sind die meisten von uns«, erwiderte er und deutete über die Gruppe von Leuten an dem sandigen Ufer. Ein Bekannter von Adam besaß eine Strandhütte. Der Mann selbst stand vor einem Grill und gestikulierte mit einer Zange, während er eine Geschichte erzählte. Die Brise trug den Duft von Würstchen und Burger zu ihnen herüber, der ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ.

»Aber du …«, fing sie an. »Wirkst zu nett.«

Er hatte nicht gewusst, ob er beleidigt oder erfreut sein sollte. Nach einer Stunde hatte sie ihn dazu überredet, am Karrieretag ihrer Schule einen Vortrag zu halten. Nach der zweiten Stunde war es um ihn geschehen. Warum er so verdammt lang gebraucht hatte, um sie zu fragen, ob sie ihn heiraten wolle, wusste er nicht. Mangelndes Selbstbewusstsein? Die Sorge, dass ein Hinweis auf die anhaltende Dauer ihrer Beziehung sie aufwachen ließe, um sich jemand Passenderen zu suchen? Vermutlich beides. Wie auch immer, sie hatte »Ja« gesagt, an diesem wunderschönen Abend vor fünf Jahren, während sie den Sonnenuntergang zu zweit betrachteten. Der Antrag war ihm nach drei Gläsern Wein herausgerutscht. Sie hatte ihn umarmt, auf die schwitzige Wange geküsst und gesagt: »Ich dachte schon, du würdest mich nie fragen, du Dummkopf.«

»Ich werde versuchen, zum Abendessen zu Hause zu sein«, sagt er jetzt.

»Ich mache einfach was, das du dir später in der Mikrowelle aufwärmen kannst.« Jamie verzieht das Gesicht. Er hasst es, sie zu enttäuschen, obwohl Pippa genau weiß, dass er nur durch ein Wunder rechtzeitig zu Hause sein könnte. »Du solltest Adam nicht im Stich lassen, wenn er dich braucht«, fährt Pippa fort. »Du als sein treuer Stellvertreter und so weiter.«

Das sagt sie halb im Scherz, wobei sie beide wissen, dass es die Wahrheit ist. Jamie und Adam waren schon vor Bishops rasantem Aufstieg befreundet. Irgendwie haben sie es geschafft, das auch weiterhin zu bleiben.

»Der kommt schon klar«, antwortet Jamie. »Ich verbringe sowieso zu viel Zeit mit ihm.«

»Werd einfach nicht so wie er, okay?«, erwidert seine Frau.

Angesichts des hinkenden Vergleichs zwischen ihm und seinem Boss lacht Jamie, dann verabschiedet er sich und lässt seine Frau den restlichen Tag genießen. Die Vorstellung, dass er – dieser übergroße Teddybär von einem Mann, der den Leuten ständig gefallen will – je eine ernst zu nehmende Größe sein könnte wie Bishop? Undenkbar.

Jetzt ruft ihn sein neuer Grünschnabel an. Ellie Quinn. Jamie kommt sie wirklich wie ein winziges Vögelchen vor. Den ganzen Tag zwitschert und flattert sie um ihn herum. Er geht ans Handy.

»Wo sind Sie, Sarge?«, fragt sie. »Ich glaube, wir haben die Identität eines der Opfer.«

»Musste etwas aus dem Auto holen«, lügt er. Er drückt die Tür auf und klettert hinaus, das Handy immer noch am Ohr. »Glauben Sie oder wissen Sie es sicher?«

»Ziemlich sicher«, antwortet sie. »In der Leichenhalle haben sie eine Bankkarte in der Hintertasche der Überreste von Nummer zwölfs kurzer Hose gefunden. Einer der Vermissten: Stephen Carey. Wurde vor drei Tagen von seiner Frau als vermisst gemeldet.«

»Der Zeitpunkt passt also«, antwortet Jamie. Er verstummt, als er eine gedämpfte Diskussion hört, dann ist Ellie wieder zurück am Telefon.

»Der Boss sagt, Sie sollen bleiben, wo Sie sind. Er kommt.«

Mit einem Seufzen lässt er sich in den Fahrersitz zurückfallen.

6

Die Ehefrau fällt bereits im Türrahmen zusammen, als sie ihre Dienstausweise vorzeigen. Sie schlägt die Hände vor den Mund, in ihren Augen steht Furcht geschrieben.

»Sie sind wegen Stephen hier«, flüstert sie.

»Ja. Können wir reinkommen?«

Sie nickt langsam und führt sie ins Haus. Durch einen hell gestrichenen Flur gehen sie in das Wohnzimmer. Überall auf dem Fußboden liegen Spielsachen verstreut. Auf dem Teppich spielen zwei kleine Jungen lautstark mit Plastikautos. Als sie eintreten, steht eine ältere Frau mit ernstem Gesichtsausdruck vom Sofa auf.

Die Ehefrau stellt sie einander vor: ihre Mutter, hier, um während Stephens Abwesenheit zu helfen. Alle schütteln sich die Hände, formal und höflich. Abwartend.

Die ältere Frau scheucht die Jungen aus dem Zimmer. Die Ehefrau bietet ihnen Tee, Kaffee, Wasser an. Adam und Jamie lehnen alles ab. Das standardmäßige Vorwort, der Reigen sozialer Nettigkeiten, an den Adam gewöhnt ist. Alle drei lassen sich auf den Sofas nieder, die Ehefrau gegenüber von Adam und Jamie.

»Sie haben ihn gefunden, oder?«, platzt es aus ihr heraus.

Adam stählt sich, bringt ein gewisses Maß an Distanz auf, das ihm in den letzten Jahren gute Dienste erwiesen hat. »Gestern Abend wurde eine Leiche gefunden, in der Nähe der Northbrook Bridge. Obwohl wir zur Bestätigung weitere Tests durchführen müssen, glauben wir, es handelt sich um Ihren Mann, ja. Es tut uns leid.«

Sie nickt langsam, wahrt den Anstand für den Bruchteil einer Sekunde. Dann verzieht sie den Mund, vergräbt das Gesicht in den Händen und ihre Schultern beben stumm. Adam wartet. Neben sich hört er Jamie schniefen und wirft seinem DS einen Blick zu. Jamies Kinn zittert gefährlich. Da bemerkt er Adams Blick und presst entschlossen die Kiefer aufeinander.

Die Ehefrau sieht aus geröteten Augen zu ihnen auf. »Ich habe es heute Morgen in den Nachrichten gehört. Und da wusste ich es. Ich wusste, dass es Steve war.«

»Können Sie uns die Umstände seines Verschwindens erläutern, Mrs Carey?«

Sie tupft sich die Nase mit einem Taschentuch. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er ist Laufen gegangen, wie immer. Donnerstagabend. Aber diesmal ist er nicht nach Hause gekommen.«

Sie blickt auf und Adam nickt, eine Ermutigung, fortzufahren.

»Zuerst hatte ich angenommen, er wäre einfach ein bisschen weiter gelaufen als sonst. Hätte aus seinen drei Meilen vier gemacht. Aber dann ist eine Stunde vergangen und es wurde dunkel. Ich dachte, er hätte vielleicht einen Unfall gehabt, also habe ich meine Nachbarin angerufen, damit sie auf die Jungs aufpasst, während ich draußen auf die Suche gegangen bin. Aber auf seiner üblichen Strecke konnte ich ihn nicht finden. Ich habe sofort die Polizei angerufen. Da wusste ich es schon. Das sah Steve überhaupt nicht ähnlich, irgendwo hinzugehen, ohne mir vorher Bescheid zu sagen.«

Adam hatte die Vermisstenanzeige gelesen. Einfach verschwunden. Keine Zeugen, keine Ahnung, wo er hin sein könnte. Die Notrufzentrale und der Streifendienst hatten keine schlechte Arbeit geleistet, um ihn aufzuspüren. Mit Freunden, Familien und Krankenhäusern gesprochen, aber ohne Erfolg. Jetzt wissen sie, warum.

»War er sonst viel unterwegs? Hatte Stephen eine bestimmte Routine?«

»Nicht viel, nicht wirklich.« Sie geht das Leben ihres Mannes durch. Ein Familienmensch, das übliche banale Zeug. Er ging zur Arbeit – Jurist in einer nahe gelegenen Anwaltskanzlei –, in den Supermarkt. Fuhr mit den Kindern in den Park und am Wochenende zum Schwimmen.

»Aber er hat immer großen Wert auf seine Fitness gelegt«, fährt sie fort. »Ist jeden Tag Laufen gegangen.«

»Jeden Tag? Um welche Uhrzeit ist er ungefähr losgelaufen?«

»So um acht. Nachdem die Kinder im Bett waren. Dann war er nie länger als eine halbe Stunde weg. Deshalb wusste ich auch gleich, dass etwas nicht stimmte. Als er nicht nach Hause kam.«

»Ist in letzter Zeit sonst irgendetwas Seltsames vorgefallen? Irgendetwas Ungewöhnliches, dem sie zum damaligen Zeitpunkt vielleicht nicht viel Beachtung geschenkt haben?«

»Nein. Überhaupt nicht.« Doch sie verstummt, überlegt.

»Mrs Carey? Alles, egal wie klein oder unbedeutend, könnte für unsere Ermittlungen von Nutzen sein.«

»Es ist dumm. Aber es war merkwürdig. Vor ein paar Wochen bin ich eines Morgens runtergekommen und die Hintertür war nicht verschlossen. Steve schwor steif und fest, dass er sie abgeschlossen hätte, aber sie war offen. Und …«

»Und?«, bohrt Adam nach.

»Auf dem Küchenboden lag Sand. Nicht viel, aber doch genug, damit ich mich gefragt habe, wie er dort hingekommen ist.«

»Aber sonst nichts? Es wurde nichts gestohlen?«

»Das war alles. Ein bisschen Sand. Klingt wirklich albern, jetzt wo ich es laut ausspreche.«

»Nein, danke Ihnen. Das hilft uns weiter.« Adam wirft Jamie einen kurzen Blick zu, der alles auf seinem Notizblock aufschreibt. »Haben Sie vielleicht eine Haarbürste von ihm? Oder eine Zahnbürste? Wir werden Vergleichsmaterial für eine DNA-Analyse brauchen. Damit wir die Leiche offiziell identifizieren können.«

»Ich dachte, das müsste ich übernehmen«, erwidert die Frau. »Wie im Fernsehen.« Sie stößt den Atem in einem langen Zug aus. »Ehrlich gesagt bin ich erleichtert, dass ich das nicht machen muss. Ich will ihn nicht … so sehen. Ich will ihn so in Erinnerung behalten, wie er war«, bringt sie ihren Satz noch zu Ende und fängt dann erneut an zu weinen.

»Nein. So ist das vollkommen ausreichend«, sagt Adam. Er ist froh, dass er ihr nicht mitteilen muss, was ihrem Mann passiert ist. Ihr nicht die Ratten und Füchse und Maden verständlich machen muss. Dass er gar kein Gesicht mehr hat, das man identifizieren könnte.

Immer noch weinend, steht die Frau auf, um die Zahnbürste ihres Mannes zu holen, und lässt die beiden im Wohnzimmer zurück.

Adam sieht zu Jamie. »Meinst du, jemand ist ins Haus eingebrochen?«, flüstert er. »Und hat sich hier ein bisschen umgesehen?«

»Vielleicht. Aber warum?«, antwortet Jamie. »Und wo wurde er ermordet? Wenn man den Kerl nur umbringen wollte, wäre es einfacher gewesen, ihn dort liegen zu lassen, wo er tot umgefallen ist.«

Adam nickt. Er hat die Akte gelesen: eins achtzig, braune Haare, braune Augen. Aktiv. Ein großer Mann, nicht leicht zu bewegen.

Sie verstummen, als die Frau mit einer roten Zahnbürste zurückkommt. Adam hält ihr einen durchsichtigen Beweisbeutel hin und sie lässt sie hineinfallen.

»Wie ist er gestorben?«, fragt sie mit flehendem Blick. Adam kennt das bereits. Die verzweifelte Suche nach einem Fünkchen Hoffnung, dass die eigenen Lieben nicht leiden mussten, keine Schmerzen hatten.

»Dafür ist es noch recht früh«, erwidert er. »Bald werden wir mehr wissen. Wir werden Ihnen jemanden vom Opferschutz zuweisen, der bei Ihnen bleibt. Diese Person wird Sie auch über die Ermittlungen auf dem Laufenden halten können.«

»Aber wurde er ermordet?«

»Das glauben wir, ja.«

»Oh Gott.« Sie sackt erneut in sich zusammen, das Gesicht in den Händen.

Da kommt die ältere Frau zurück ins Zimmer, die zwei kleinen Jungen im Schlepptau, die beim Anblick ihrer in Tränen aufgelösten Mutter verstummen. Adam nimmt das als Zeichen zum Aufbruch.

 

Sie gehen zu Jamies Auto und steigen ein.

»Zwei Kinder«, sagt Jamie und schnallt sich an. »Hast du sie gesehen? Zwei wunderschöne, kleine Jungen, die jetzt ohne Vater aufwachsen werden.« Adam sieht zu, wie Jamie schnieft und sich mit dem Jackenärmel die Nase abwischt.

»Benutz wenigstens ein Taschentuch«, sagt Adam. Jamie kramt in seiner Hosentasche herum und zieht eines heraus: eine alte, zusammengeknüllte Papierkugel.

»Tut mir leid«, murmelt Jamie. »Aber es ist einfach so scheißtraurig. Ich weiß nicht, wie du das machst. So ruhig zu bleiben.«

Adam lächelt grimmig. »Hart wie Stahl.«

»Na ja, ich wünschte, davon würde ein bisschen was auf mich abfärben. Man würde doch meinen, dass ich nach über fünfzehn Jahren im Dienst eine Todesnachricht überbringen kann, ohne losheulen zu wollen.« Jamie schaut durch die Windschutzscheibe zum Haus des toten Mannes. »Ich kann einfach nicht aufhören, mir vorzustellen, wie sich das anfühlen muss. Wenn die Bullen vor deiner Haustür auftauchen.«

»Verdammt schlimm«, stimmt Adam zu. Jamie zieht noch mal die Nase hoch und Adam schmunzelt leise. »Bleib so, wie du bist, Jamie«, sagt er und tätschelt ihm den Arm.

»Hör auf, mich zu verarschen!«

»Mach ich nicht! Versprochen«, sagt er, als Jamie ihn ungläubig ansieht. »Du bist mein Gewissen. Du bist der Typ, der mich weiterhin Mensch bleiben lässt. Wie würde es mir nur ohne dich gehen?«

»Gut. Sehr gut«, antwortet Jamie. »Mit deinem Selbstvertrauen. Und deiner Arroganz. Vollkommen sorglos.«

»Danke vielmals«, lacht Adam, doch Jamie sieht ihn unerschrocken an. »Aber ernsthaft jetzt, Jamie«, fährt Adam fort, »du bist ein guter Mensch. Und deshalb auch ein guter Bulle. Wenn das Losheulen bei ein paar Todesnachrichten der Preis ist, den man dafür zahlen muss, dann ist das eben so.«

Jamie starrt ihn einen Moment lang an. »Du bist auch ein anständiger Kerl, Adam«, antwortet er, doch Adam blickt finster drein, die Worte scheinen ihm unstimmig zu klingen.

»Können wir los?«, fragt er stattdessen und Jamie lässt den Motor an.

 

Schweigend fahren sie zurück, das Radio füllt die Leere, während Adams Gedanken um den Fall kreisen.

Er zieht die Vermisstenakte des Mannes aus seiner Tasche und sieht sich noch mal die Fotos an. Rasch blättert er sie durch. Ein Porträtfoto, er sieht gut aus und lächelt. Eines von ihm mit den Jungs. Zwei weitere von ihm, nachdem er zehn Kilometer gelaufen ist: fit und stark. Jamie hatte recht. Es wäre nicht leicht gewesen, ihn zu überwältigen und wegzuschleifen. Tot oder lebendig.

»Meinst du, er wurde gestalkt?«, fragt Adam. Für einen Augenblick nimmt Jamie den Blick von der Straße. »Jemand ist ihm gefolgt, hat seine Routine herausgefunden? Hat die Gelegenheit einer offenen Hintertür ausgenutzt, um sich mal umzusehen?«

»Könnte sein. So hätte der Mörder genau gewusst, wann er ihn ohne Zeugen entführen kann. Aber warum? Was macht ihn so besonders?«

»Na ja. Genau das müssen wir herausfinden.«

Wurde Stephen Carey bewusst als Ziel ausgesucht?, fragt sich Adam stumm. Er weiß, dass die Opfer eines Serienmörders meistens die Verwundbarsten sind: Sexarbeitende, schwule Männer, Kinder und Kleinkinder, Ausreißer und Ausreißerinnen, ältere Menschen. Stephen Carey fiel in keine dieser Kategorien. Oder vielleicht doch? Vielleicht hatte er ja Geheimnisse? Er wäre nicht der erste schwule Mann, der mit einer Frau verheiratet wäre.

Sein Handy klingelt und unterbricht seine Überlegungen. Es ist der DC aus der Leichenhalle.

»Er macht bald Schluss hier«, platzt es aus ihm heraus. »Kommen Sie jetzt sofort runter, Boss, sonst macht der sich noch aus dem Staub, ohne Ihnen irgendwas zu sagen.«

Adam gestikuliert wild zu Jamie hinüber, der wendet schnell und macht sich auf den Weg zum Krankenhaus.

7

Als Adam und Jamie ankommen, ist Ross zwar da, allerdings gerade noch so: Er hat seinen Mantel an und die Aktentasche schon in der Hand.

»Wie liebenswürdig von Ihnen, zu uns zu stoßen, Bishop. Ich nehme an, Sie erwarten von mir, mein restliches Wochenende noch länger hinauszuzögern?«

»Ja. Bitte«, verlangt Adam und versucht, den Sarkasmus aus seiner Stimme herauszuhalten.

Ross schenkt ihm ein herablassendes Lächeln und bedeutet ihnen allen dann, sich in den hinteren Teil des Raums zu begeben. Dort liegen fünf Leichen auf Tischen aus rostfreiem Stahl. Einige sind von einem Laken bedeckt, bereit für den Umzug in ihre Leichensäcke und Kühlzellen, andere werden gerade von den Pathologie-Fachkräften wieder zusammengeflickt, die deren Organe wieder an ihre angestammten Plätze setzen.

Ross deutet auf die ihnen am nächsten liegende Leiche. »Also, von links nach rechts: Nummer sechzehn ist am längsten tot.« Ross schaut sie mit einer hochgezogenen Augenbraue über die Schulter an. »Ich nehme an, außer Stephen Carey wurde sonst noch kein weiteres Opfer identifiziert?«

»Wir arbeiten daran.«

»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, fügt er geringschätzig hinzu. »Für den Augenblick haben wir sie also ihrer Nummer entsprechend benannt. Nummer sechzehn wurde hauptsächlich unter dem Unrat vergraben gefunden. Frei liegende Körperteile, wie zum Beispiel ihre Arme und ihr Kopf, sind komplett skelettiert, andere Teile fehlen, vermutlich wurden sie von Aasfressern fortgetragen. Ihr Rumpf war zwar besser geschützt, doch sogar nach der Arbeit meiner begabten Teammitglieder hier ist sie ein ziemliches Schlachtfeld.«

Adam sieht sich die Leiche genauer an. Eine dicke schwarze Naht teilt die Brust in zwei Hälften, verläuft dann seitlich und verwandelt ihre Körpermitte zu Brei. Graue Knochen wurden ausgelegt, ein kieferloser Schädelknochen starrt Richtung Himmel.

Ross fährt fort: »Der Rumpf war gänzlich ausgeweidet. Die Todesursache war Blutungsschock wegen mehrerer Stichwunden von einem Messer.« Mit grimmiger Miene hält er inne. »Und davon gab es ziemlich viele, meiner Schätzung nach über zwanzig. Ihr Herz und ihre Lunge waren kaum noch mehr als Matsch.«

»Wie lang wird es da gedauert haben, bis sie tot war?«, keucht Jamie.

»Nicht lange, DS Hoxton«, erwidert Ross. »Wegen des Volumenmangelschocks wird sie schnell ohnmächtig geworden sein. Weiter zur nächsten.«

Er macht einen Schritt nach rechts und bedeutet dem Techniker, das Laken wegzunehmen. Als er es zurückzieht, kommt ein Mann zum Vorschein, diesmal jünger. Schwarze Haare, breit gebaut.

»Nummer fünfzehn ist glimpflicher davongekommen«, sagt Ross. »Aber auch nicht viel. Drei Stichverletzungen in das Abdomen. Direkt ins Herz.«

Adam sieht hin. Und tatsächlich, drei blutige Schlitze prangen auf der Brust des Mannes.

»Aber immer noch ein gewalttätiger Angriff?«, fragt Adam.

Ross nickt. »Die Hiebe müssen mit einem wahnsinnigen Kraftaufwand ausgeführt worden sein, um ihn so zu töten. Ihr Täter ist fest entschlossen.«

Adam fängt Jamies Blick auf. Die Augenbrauen nach unten gezogen, die Stirn tief in Falten gelegt. Ein unausgesprochener Gedanke zwischen ihnen: Das hier verheißt nichts Gutes.

»Nummer vierzehn kennen Sie bereits«, sagt Ross und deutet auf die nächste Leiche. Ein komplett anderer Körper liegt vor ihnen. An diesen hier erinnert sich Adam noch von der Mülldeponie, die Frau, die in eine Decke gewickelt war.

»Diese Frau und Nummer dreizehn hier, männlich, waren gleich. Todesursache jeweils Verblutung aufgrund von Wunden, die ihnen hier zugefügt wurden.« Ross gibt dem Techniker ein Zeichen. Der hebt einen der Arme des toten Mannes an: Er ist mit Schlitzen und Schnitten überzogen. Adam verzieht das Gesicht. »Dasselbe auf beiden Seiten. Bei beiden Opfern.«

»Daran sind sie verblutet?«

»Teilweise.« Ross’ Gesichtsausdruck verfinstert sich. »Doch aufgrund der Durchblutung der Schnitte kann ich davon ausgehen, dass einige post mortem zugefügt wurden.«

»Zu welchem Zweck?«, fragt Adam überrascht.

»Kann ich nicht sagen. Um etwas zu verbergen?«

»Ein Tattoo? Ein Identifizierungsmerkmal?«, schlägt Jamie vor.

»Und das ist noch nicht alles«, fügt Ross hinzu. »Diese zwei hier waren gefesselt. Beide Hand- und Fußgelenke weisen eindeutig Fesselmale auf. Und das für ungefähr vierundzwanzig Stunden, angesichts des Mangels an Mageninhalt und der Dehydrierung. Der Blutverlust war schleichend. Es wird eine Weile gedauert haben, bis sie tot waren. Vielleicht ein paar Stunden. Die Decken, in die sie eingewickelt waren, habe ich ins Labor geschickt.«

»Der Tatort wird also offensichtlich sein«, sagt Adam zu Jamie.

»Sobald wir ihn gefunden haben.«

Ross ignoriert sie. »Und zu guter Letzt. Nummer zwölf. Stephen Carey. Nicht mehr viel übrig von dem Kerl. Erinnern Sie sich an ihn?«

»Wie könnte ich ihn vergessen?«

»Wurde den Elementen überlassen. Beträchtliche Tier- und Insektenaktivität. Ich warte noch auf die Bestätigung des Entomologen, doch meine wohlbegründete Vermutung lautet, dass er seit ungefähr drei Tagen tot ist. Passt das zu Ihrer Vermisstenanzeige?«

»Donnerstagabend verschwunden. Todesursache?«

»Dieselbe wie bei den anderen. Verblutung. Auch wenn schwierig zu sagen ist, wo genau. In seinem Körper war nicht mehr viel Blut übrig, als sich die Tiere über ihn hergemacht haben. Es war überhaupt nicht mehr viel vom Körper übrig, Punkt. Und bestimmt wollen Sie auch den jeweiligen Todeszeitpunkt wissen?« Adam nickt. »Von links nach rechts«, deutet Ross, »sind die Opfer immer jüngeren Datums, wobei das älteste ungefähr ein halbes Jahr lang unter der Erde war. Wir haben Blutproben für Tests genommen, außerdem Abstriche von allen betroffenen Stellen.«

»Danke«, sagt Adam und muss sich zusammenreißen, seine Dankbarkeit nicht gezwungen erscheinen zu lassen. »Auch weil Sie all das an einem Sonntag gemacht haben.«

Der Pathologe seufzt. »Wohl kaum meine Entscheidung.« Er sieht Adam lang an. »Das ist ein guter Fall für Sie, nicht, Bishop?«

»Gut? Ich weiß nicht so recht …«

»Für Ihre Karriere. Alle Augen sind auf Sie gerichtet. Wie es Ihnen gefällt. Letztes Mal haben Sie’s ja verpasst, jetzt ist Ihr Moment also gekommen.«

Mit aller Macht zwingt er den aufsteigenden Kloß aus Ärger in seinem Hals nach unten. »Ich will das, was alle wollen«, sagt er nach einem kurzen Schweigen. »Diesen Typen schnappen.«

Ross schnaubt verächtlich, Adam funkelt ihn böse an.

Doch Ross hat recht. Diese Ermittlung wird Aufmerksamkeit von allen Seiten auf ihn ziehen: von seinen Vorgesetzten, der Presse, anderen Polizeitruppen. Sie könnte seine Karriere voranbringen: seinen Weg zum Detective Superintendent pflastern.

»Die Todesursache ist also bei allen gleich?«, fragt Jamie, um die zwei Männer möglichst von ihrer gegenseitigen Abneigung abzulenken.

»Verletzungen, die zur Verblutung geführt haben, ja.«

»Und alle in den letzten sechs Monaten«, sagt Adam. Er besieht sich die Reihe der Leichen und denkt laut nach. »Vom Fundort abgesehen, haben sie wenig miteinander gemein. Männer und Frauen. Altersspanne von ungefähr zwanzig bis sechzig, richtig?«

Der Pathologe nickt.

»Und Aussehen, Ethnizität und Körpertypen bunt gemischt.«

»Die Opferforschung wird also ein Albtraum werden«, murmelt Jamie Adam zu.

Dieser ganze Fall ist ein verdammter Albtraum, denkt Adam beim Gehen. Nichts ergibt Sinn. Fünf Opfer, die Zahlen über den Leichen. Die ersten zwei schnell getötet, im Rausch. Dann die anderen: gefesselt und, wie Adam den Schnitten an ihren Handgelenken entnimmt, gefoltert. Einem langsamen Tod überlassen. Um ihre letzten Momente in die Länge zu ziehen.

Die Vorgehensweise zeichnet sich langsam ab. Außerdem wurden alle Leichen nach dem Tod fortbewegt, in das Fleckchen des Ödlands. Warum? Zu welchem Zweck? Das kann keiner sagen. Doch von einer Sache kann Adam bei diesem Mörder ausgehen: Egal was seine Gründe sind, egal was sein Motiv ist, er hat nicht vor, bald damit aufzuhören.

8

Der Tag beginnt wie jeder normale Sonntag für Romilly. Sie wacht auf, blinzelt in das Licht hinter den Vorhängen und weiß, dass sie viel zu lang geschlafen haben. Sie spürt die vage Verschwommenheit einer unruhigen Nacht, warme Beine neben ihr. Sie ist überrascht, dass ihr Freund noch nicht auf und unterwegs beim Laufen ist.

Sie rollt sich auf den Rücken und streckt sich langsam. Bei der Bewegung regt sich Phil. Sein schwerer Arm landet über ihrem Bauch und stiehlt sich dann langsam unter ihr Top. Liebevoll schiebt sie ihn weg und drückt ihm einen Kuss auf die Stirn, als sie sich aufsetzt.

Er sieht sie hinter schweren Lidern an.

»Kannst du den Wasserkocher aufsetzen?«, fragt er mit einem müden Lächeln. »Bitte?«

»Wenn du schon so nett fragst.«

Sie steht auf. Im Zimmer ist es kühl, also schnappt sie sich das Erstbeste in ihrer Nähe – Phils Sweatshirt – und zieht es an. Wieder nichts Ungewöhnliches.

Sie geht auf die Toilette. Sie wäscht sich die Hände, mustert ihr Spiegelbild. Sie versucht, die Wimperntusche abzuwischen, die auf ihrer Wange gelandet ist. Mit einem schnellen Griff bindet sie sich mit dem Haargummi von ihrem Handgelenk die Haare aus dem Gesicht.

Der Strom ist wieder da. Die Hysterie von letzter Nacht versetzt ihr einen Stich, die heiße Scham für etwas, das jetzt im dunstigen Sonnenschein eines Wintertages nichtig wirkt. Nichts kann ihr etwas anhaben, nicht jetzt. Warum denkt sie es dann immer?

Sie trottet die Stufen hinunter in die Küche. Sie hält den Wasserkocher unter den Hahn, füllt ihn auf und legt dann mit einem Klicken den Schalter um. Während er zischend zum Leben erwacht, nimmt sie zwei Tassen aus dem Küchenschrank und wirft Teebeutel hinein. Ein Löffel Zucker in ihre – eine Gewohnheit, für die sie ihr sich gesund ernährender Freund rügt, was sie aber ignoriert.

Sie nimmt ihr Handy vom Küchentisch, wo sie es aufgeladen hat. Faul scrollt sie durch die Apps. Ihr Team aus dem Krankenhaus war wohl aus, ohne sie eingeladen zu haben. Das ist aber nicht weiter interessant, nichts Neues. Die Zurückweisung macht ihr nichts mehr aus; ihre Schläge hinterlassen keine Male auf ihrer Haut.

Ein ziemlich bekannter Autor wird gerade auf Twitter zum neuen Trend, etwas Kontroverses wurde gesagt. Ein lang gehegter Glaube, versehentlich geteilt, oder ein überlegter Zug, um Bücher zu verkaufen? Das wird sie nie erfahren. Und es ist ihr auch egal. Der letzte Roman hat ihr sowieso nicht gefallen.

Sinnlose, ziellose Grübeleien. Ihr Gehirn ist noch nicht ganz wach.

Der Schalter am Wasserkocher springt klickend zurück. Sie legt ihr Handy hin und gießt den Tee auf. Denkt über das Frühstück nach. Toast? Müsli? Sie steckt zwei Scheiben in den Toaster.

Sie klickt auf die Nachrichten von BBC. Probeweise nippt sie an ihrem Tee. Und dann sieht sie es. Die Überschrift weckt ihre Aufmerksamkeit. Sie weiß, dass sie es nicht tun sollte, doch sie wird angezogen wie eine Motte vom Licht. Von der grellen Flamme, die ihr die Flügel verbrennen, sie zu Fall bringen wird.

Sie klickt darauf. Die Fotos laden. Ein verlassenes Ödland bei Nacht. Eine Kobaltbrücke, unter der das tiefe Wasser hindurchfließt, tintenschwarz. Sie hat bereits zuvor Nachrichtenartikel von Mordfällen gesehen und jedes Mal den schwarzweißen Text abgesucht. Und nie etwas gefunden. Nichts Außergewöhnliches – für einen Mordfall.

Aber dieser hier …

Etwas zieht sie in den Bann. Ein blitzartiges Wiedererkennen. Ein Feuer aus Synapsen, bei dem sich ihr Magen instinktiv zusammenzieht, sich eine Faust um ihr Inneres schließt.