The Twin - Geliebtes Schwesterlein - Natasha Preston - E-Book

The Twin - Geliebtes Schwesterlein E-Book

Natasha Preston

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Beschreibung

Was, wenn dein Ebenbild dir dein Leben nehmen möchte …

Die 16-jährigen Zwillingsschwestern Ivy und Iris leben seit der Trennung ihrer Eltern vor 6 Jahren getrennt, eine bei jedem Elternteil. Doch dann verunglückt ihre Mutter tödlich und Iris zieht wieder bei Ivy und ihrem Dad ein. Die beiden Schwestern gleichen sich äußerlich bis aufs Haar, doch sind so verschieden wie zwei Menschen nur sein können. Die vernunftgesteuerte Ivy versucht der emotionalen Iris zu helfen, ist bereit, mit ihr alles zu teilen, schließlich sind sie Schwestern. Zwillinge.
Iris nimmt das Angebot an. Mehr als nur gerne ... Und innerhalb kürzester Zeit sind alle Iris‘ Charme erlegen. Ivys Freunde, ihre Teamkollegen, ihr Freund, sogar ihr Vater. Und Ivy beginnt sich zu fragen, wie weit Iris gehen würde, um ihren Platz endgültig einzunehmen …

Der atemberaubende Psychothriller der New York Times-Bestseller-Autorin

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Seitenzahl: 453

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Aus dem Amerikanischen von Gabriele Haefs

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© 2020 Natasha Preston

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Twin« bei Delacorte Press, einem Imprint von Random House Children’s Books, einem Verlag von Penguin Random House LLC, New York

© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Gabriele Haefs

Lektorat: Andreas Rode

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin unter Verwendung eines Fotos von © Trevillion Images (Magdalena Wasiczek)

MP · Herstellung: AS

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26811-4V001

www.cbj-verlag.de

Für Jon und RosaDanke für alles

1

Ich bohre die Spitzen meiner gelb lackierten Fingernägel inden festen Ledersitz, als Dad auf der Heimfahrt kurz davor ist, die Geschwindigkeitsbegrenzung zu brechen. Er will unbedingt nach Hause, aber mir wäre es doch lieber, er würde langsamer fahren. Mein Magen hüpft auf und ab, und ich halte den Atem an und kneife die Augen zu, als Dad eine scharfe Kurve nimmt.

Alle meine Muskeln sind verkrampft, als ich danach den Blick zum Rückspiegel hebe. Glücklicherweise sieht Dad konzentriert auf die Straße, aber seine Augen sind auf eine Weise starr, die mich nervös macht. Er ist ein guter Fahrer, und ich habe absolutes Vertrauen zu ihm, aber dieses Tempo ist nicht mein Fall.

Der Wagen, ein schwarzer Mercedes, ist tadellos in Schuss und riecht auch nach einem Jahr noch nagelneu, deshalb überrascht es mich, dass Dad auf einer Landstraße dermaßen rast.

Alles wird von jetzt ab anders sein und offenbar will er unser neues Leben so schnell wie möglich anfangen lassen.

Das ist nicht richtig. Wir brauchen Entschleunigung, müssen noch einmal unser Leben auskosten, so wie es war, denn das neue, das uns in nur fünf Minuten erwartet, das will ich nicht. Vorher war nicht alles perfekt, aber ich will trotzdem mein altes Leben zurückhaben.

Das alte Leben, als Mom noch lebte.

Es ist Frühling, ihre Lieblingsjahreszeit. Die ersten Blumen blühen bei uns in der Stadt und verwandeln die Landschaft von einem trüben Grün in alle Regenbogenfarben. Es ist auch meine Lieblingsjahreszeit, wenn sich die Sonne blicken lässt und es so warm wird, dass du keinen Mantel brauchst.

Im Frühling bin ich immer glücklicher. Aber im Moment könnte es genauso gut auch wieder Winter sein. Ich merke überhaupt nicht, dass sich meine Stimmung hebt, und es ist mir absolut egal, dass ich keinen blöden Mantel anziehen muss.

Vorn neben Dad sitzt meine Zwillingsschwester Iris. Sie starrt aus dem Fenster und beginnt ab und zu eine kurze Unterhaltung. Das ist mehr, als ich getan habe. Von mir gibt es nur Schweigen. Nicht weil mir alles egal ist, sondern weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Es gibt keine Worte für das, was passiert ist.

Alles, woran ich denken kann, kommt mir leer und belanglos vor. Nichts ist groß genug, um die gewaltige Leere zu füllen, die unsere Mom hinterlassen hat.

Die warme Frühlingssonne scheint ins Auto, aber sie ist nicht grell genug, um meinen Augen wehzutun. Ich will meine Augen auch gar nicht wieder zukneifen. Immer, wenn ich das tue, sehe ich Moms bleiches Gesicht vor mir. So bleich, dass sie nicht echt aussieht. Die Farbe ihrer ehemals rosigen Wangen – für immer verschwunden. Es war, wie eine lebensgroße Porzellanpuppe anzustarren.

Ich wünschte, ich wäre nicht mit zum Bestattungsunternehmen gegangen, um sie noch einmal zu sehen. Mein letztes Bild von ihr wird ihr lebloser Leichnam sein.

Wenn ich wieder in die Schule kann, wird alles gut. Dann werde ich schwimmen und büffeln, bis es nicht mehr wehtut.

Ich werde arbeiten müssen, aber ich weiß, dass es mehr als ein bisschen Ablenkung braucht, um den Schmerz verschwinden zu lassen.

Wir biegen in unsere Straße ein und meine Zehen krümmen sich in meinen Tennisschuhen.

Ich schlucke einen Kloß hinunter und danach ist meine Kehle knochentrocken.

Dad fährt langsamer, biegt in unsere Auffahrt ab und hält vor dem Haus. Unser Haus kommt mir vor wie in der Mitte von Nirgendwo, aber in der Nähe gibt es noch ungefähr ein Dutzend weitere Häuser, und es sind nur fünf Minuten bis in die Stadt. Ich liebe die Ruhe und den Frieden meines Heimatortes, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass sie mich in den Wahnsinn treiben werden. Im Moment brauche ich es laut und temporeich. Ich brauche Ablenkung, und zwar jede Menge.

Iris steigt zuerst aus und ihre hinternlangen, seidigen blonden Haare wehen im warmen Wind. Sie ist für immer mit mir und Dad nach Hause gekommen.

Unsere Mom ist vor zwei Wochen gestorben, sie ist beim Joggen von einer Brücke gestürzt. Das war bei einem Bauernhof und das Gelände war uneben und hügelig. Es hatte geregnet, der Boden war schlammig. Das Geländer an der kurzen Brücke war niedrig, es diente eher als Richtungsanweisung denn als Sicherheit, und Mom rutschte aus. Die Brücke war nicht sehr hoch, aber Mom schlug mit dem Kopf auf und war sofort tot. Das hat die Polizei uns gesagt.

Mom joggte, um fit und gesund zu bleiben, damit sie länger für mich und Iris da sein könnte, aber am Ende hat es ihr den Tod gebracht.

Ich kann ihren Tod noch immer nicht verarbeiten. Ich wohne seit sechs Jahren nicht mehr mit Mom und Iris zusammen, damals haben Mom und Dad sich scheiden lassen, aber ihr endgültiges Fehlen liegt mir jetzt wie Blei im Magen.

Als ich zehn war und unsere Eltern mir und Iris erklären wollten, warum sie sich trennten, war ich erleichtert. Die Trennung hatte sich schon seit Langem angekündigt, und ich hatte es so satt, ihre Streitereien zu hören, während ich mich oben schlafend stellte. Die Atmosphäre war bestenfalls kalt, unsere Eltern sagten kaum etwas, aber sie lächelten, als ob ich ihre blöde Maske nicht durchschauen könnte.

Iris und ich haben nie darüber gesprochen, aber für sie war die Trennung eine Überraschung. Sie brüllte, und dann weinte sie, während ich stumm danebensaß und im Stillen plante, wie ich ihnen beibringen würde, dass ich bei Dad bleiben wollte. Eine solche Entscheidung ist nie einfach, aber wir mussten sie ja treffen. Dad und ich hatten uns immer nahegestanden, wir haben eine Menge gemeinsame Vorlieben, von Filmen und Musik bis zu Hobbys und Essen. Er ist derjenige, der klare Regeln aufstellt, ohne die ich nicht zurechtkommen würde. Mom war locker, manchmal zu locker, bei ihr hätte ich niemals etwas geschafft.

Außerdem wollte Mom immer in der Stadt leben, und mir hat es nie gefallen, wie dicht da alles bebaut ist.

Mom und Iris zogen bei uns aus; sie zogen in die Stadt. Ich habe die Schulferien damit verbracht, zwischen den Häusern hin- und herzurennen. Manchmal war unsere Tagesplanung unterschiedlich, sodass ich wegen unterschiedlicher Pläne nicht mit meiner Schwester zusammen sein konnte. Sie war dann bei Dad und ich bei Mom.

Niemand in unserer Familie oder von unseren Freunden oder sogar Nachbarn konnte das verstehen. Zwillinge darf man doch nicht trennen. Ich weiß ja – wir müssten wortlos miteinander kommunizieren können, und die eine müsste die Schmerzen der anderen am eigenen Leib spüren. Aber Iris und ich waren nie so. Wir sind zu unterschiedlich.

Wir stehen einander nicht nah, und obwohl sie meine Schwester ist, habe ich eher das Gefühl, dass eine entfernte Cousine bei uns einzieht.

Sie hat noch immer ihr Zimmer bei uns im Haus, und sie und Dad haben es voriges Jahr neu eingerichtet, als sie im Sommer hier war. Aber sie hat eine Menge Kram aus Moms Haus mitgebracht. Der Kofferraum ist voll davon.

Ich sehe zu, wie sie zur Haustür geht, während Dad den Motor ausschaltet. Sie hat einen Hausschlüssel, natürlich, also macht sie die Tür auf.

Dad kratzt sich in seinen dunklen Bartstoppeln. Sonst rasiert er sich jeden Morgen. »Alles in Ordnung mit dir, Ivy? Du hast fast die ganze Fahrt über nichts gesagt.«

»Alles gut«, erwidere ich, meine Stimme ist leise und gepresst.

Alles gut, die moderne Definition von »geht schon irgendwie«, so meine ich das hier. Von einem Augenblick zum anderen hat sich alles verändert. Nur zwei Wochen waren nötig, um meine Welt auf den Kopf zu stellen. Und was ist mit Iris? Sie hat Mom näher gestanden als irgendwer sonst. Mit welchem Recht breche ich zusammen, wo sie doch mehr verloren hat als ich?

»Du kannst darüber reden. Jederzeit, wenn du willst.«

»Ich weiß, Dad. Danke.«

Seine Blicke gleiten zum Haus hinüber. »Gehen wir rein.«

Ich hole tief Luft und starre die Vordertür an.

Ich will nicht reingehen. Wenn ich wieder hineingehe, fängt unsere neue Normalität an. Ich bin aber noch nicht ganz bereit, die alte zu verlassen. Bis ich durch diese Tür trete, ist alles, wie es war. Doch sobald ich durch diese Tür trete, wohnt meine Zwillingsschwester wieder bei uns, weil unsere Mom tot ist.

Das ist natürlich alles purer Blödsinn. Nichts ändert sich, ob ich durch diese Tür gehe oder nicht, aber ich kann so tun als ob. Ich brauche mehr Zeit.

»Ivy?«, fragt Dad auffordernd und sieht mich im Rückspiegel mit Besorgnis in seinen blauen Augen an, er scheint sich fast davor zu fürchten, mich noch einmal zu fragen, ob alles in Ordnung ist, für den Fall, dass ich dann zusammenbreche.

»Kann ich zuerst zu Ty? Ich bleib nicht lange.«

Dad runzelt die Stirn. »Wir sind doch gerade erst nach Hause gekommen …«

»Ich bin bald wieder da. Ich möchte dir die Gelegenheit geben, dich zuerst mit Iris allein zurechtzufinden. Sie wird dich sehr viel brauchen, manchmal auch ohne mich.«

Er öffnet seine Tür. »Eine Stunde.«

Ich steige aus, mein Herz ist leichter, jetzt, wo ich weiß, dass ich noch sechzig Minuten habe, die ich zu siebzig ausdehnen kann, ehe er anruft. »Danke, Dad.«

Ich schließe die Autotür und blicke mich dabei zum Haus um.

Was?

An meinen Armen sträuben sich die Haare. Iris beobachtet mich durch ein Fenster im ersten Stock.

Aber sie ist nicht in ihrem Zimmer.

Sondern in meinem.

2

Tyler wohnt ein Stück die Straße runter und deshalb bin ich in weniger als einer Minute dort und klopfe an die Tür.

Er macht auf und seine blattgrünen Augen werden groß. »Ivy!« Er streckt die Arme aus und zieht mich so fest an sich, wie das überhaupt nur möglich ist. »He«, flüstert er. »Alles in Ordnung?«

»Nicht so ganz«, murmele ich in sein Ramones-T-Shirt.

»Komm rein.« Seine Umarmung lockert sich, aber er lässt mich nicht ganz los, seine Finger verschränken sich mit meinen, als er mich ins Haus zieht. »Wann bist du nach Hause gekommen?«

»Vor zwei Minuten. Ich war noch gar nicht drinnen.«

Er mustert mich neugierig, als wir nach oben in sein Zimmer gehen, und bei jedem zweiten Schritt schaut er sich um. Obwohl seine Eltern bei der Arbeit sind, lässt er die Zimmertür offen. Regel Nr. 1. Falls wir dagegen verstoßen, dürfen wir nie wieder ohne Anstandswauwau zusammen sein.

Wir wollen absolut nicht dagegen verstoßen.

Ich lasse seine Hand los und falle auf sein Bett. Das Kissen ist so weich und es riecht nach ihm. Es ist tröstlich und genau das, was ich jetzt brauche.

Das Bett sinkt ein bisschen ein, als Ty sich hinsetzt. Er fährt sich mit der Hand durch die kastanienbraune Surferfrisur und fragt: »Willst du reden?«

Ich wehre mich gegen den Schmerz in meiner Brust. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Ich bin nicht dein Dad oder deine Schwester. Ich suche nicht nach tröstlichen Worten. Du brauchst bei mir nicht so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre. Erzähl einfach, wie dir zumute ist.«

Ich drehe mich auf den Rücken, damit ich ihn besser sehen kann. »Ich fühle mich wie verloren, und ich komme mir blöd vor, weil ich so ein Wrack bin.«

»Babe, deine Mom ist gestorben. Warum kommst du dir da blöd vor?«

Ich zucke mit den Schultern, schüttele den Kopf und schlucke, um nicht weinen zu müssen. »Ich weiß nicht. Ich müsste mich besser zusammenreißen. Ich steh doch in dem Ruf, ein kaltes Herz zu haben, oder was?«

»Nein, es ist nur so, dass du nicht direkt losheulst, wenn sich irgendeine Boyband trennt, nicht, dass du aus Stein bist und nicht um deine Mom weinst.«

Ich finde es wunderbar, dass er keinen Namen von wichtigen Boybands weiß.

Iris war immer die Emotionalere von uns. Ich bin die Logische. Deshalb weine ich auch nicht so schnell. Es sei denn, irgendwas spielt wirklich für mein eigenes Leben eine Rolle. Worin ich groß bin, ist allerdings, mir Stress zu machen und alles in Stücke zu zerdenken.

»Iris hat meines Wissens kein einziges Mal geweint«, erzähle ich ihm. »Und ich die ganze Zeit. Als ob wir die Rollen getauscht hätten.« Dad und ich sind vor elf Tagen zu ihr gefahren, sofort an dem Tag, an dem Mom starb. Iris war wie ein Roboter. Sie stand auf, duschte, zog sich an und aß. Sie räumte auf und saß vor dem Fernseher. Iris machte mit ihrer normalen Routine weiter, aber sie schwieg die ganze Zeit, als ob Dad und ich nicht da wären. Erst seit heute Morgen redet sie wieder normal.

»Es geht eben jeder anders mit seiner Trauer um.«

Ich schaue zur Zimmerdecke empor. Natürlich gehen alle mit allen möglichen Dingen anders um; ich hatte bloß nicht damit gerechnet, dass Iris und ich uns in dieser Situation so total untypisch aufführen würden. Wir sehen vielleicht gleich aus, wenn man einmal davon absieht, dass ihre Haare fünfzehn Zentimeter länger sind als meine, aber innerlich haben wir überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander. Tauschen wir jetzt Teile unserer Persönlichkeit?

Ich seufze, dann starre ich Ty in die Augen und flüstere: »Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen soll. Ich kenne sie ja kaum noch.«

»Du kannst das nicht in Ordnung bringen. Du brauchst nur für sie da zu sein. Niemand kann irgendetwas tun, um den Trauerprozess zu beschleunigen; du musst ihn geschehen lassen.«

Das gefällt mir nicht. Ich will die Kontrolle haben. Wenn es ein Problem gibt, dann finde ich eine Lösung. Ich kann nicht gut damit umgehen, irgendwo tatenlos zusehen zu müssen.

Er grinst. »Das wirst du schon noch lernen, das verspreche ich dir.«

Ich seufze und blinzele hektisch, als Tränen hinter meinen Augenlidern brennen. »Meine Mom ist nicht mehr da.«

»Ich weiß und es tut mir so leid.«

Reiß dich zusammen.

»Mom hatte mich letzten Monat übers Wochenende eingeladen«, sage ich.

»Ivy, lass das.«

»Und ich habe gesagt, das ginge nicht, weil ich mich an dem Wochenende auf einen Schwimmwettkampf vorbereiten wollte, den ich dann verpasst habe, weil sie gestorben ist.«

»Ivy«, stöhnt er. »Du hattest etwas zu erledigen, und es ist ja nicht so, als ob das vorher noch nie passiert wäre.«

Ich seufze, während sich mein Bauch zusammenkrampft. »Vom Verstand her kapiere ich das ja auch.«

»Du konntest einfach nicht wissen, was passieren würde, Babe.«

Ich bin nicht gut darin, mir selbst zu verzeihen. Allen anderen, klar, aber nicht mir selbst.

Ty schüttelt den Kopf. »Du kannst nicht nach den Maßstäben leben, die du dir selbst setzt. Niemand ist perfekt.«

Er hat recht, das muss ich ihm lassen. Aber ich strebe eben immer Perfektion an. Die besten Noten, die schnellste Schwimmerin, solider Freundeskreis, echte Beziehungen. Ich habe Erwartungen an mich selbst, denen ich einfach nicht gerecht werden kann, das verstehe ich, und ich würde damit aufhören, wenn ich könnte.

»Es kommt mir so vor, als wäre Iris nur zu Besuch gekommen. Wir wohnen seit sechs Jahren nicht mehr zusammen.«

Seine Fingerspitzen streifen meine blonden Haare. »Ihr werdet euch alle daran gewöhnen, das verspreche ich dir.«

Das werden wir, aber es ist nicht richtig, dass wir das müssen. Mom war zu jung, um zu sterben. Iris und ich sind zu jung, um ohne sie zurechtzukommen. »Ich will, dass alles wieder so wird, wie es war.«

»Du willst Iris nicht hierhaben?«, fragt er leise.

»Nein, so ist das nicht. Natürlich will ich sie bei uns haben. Ich wünschte nur, sie müsste nicht hier sein, verstehst du? Es hat sich so viel geändert und ich bin auf gar nichts davon vorbereitet. Mom müsste hier sein. Wer soll mit mir mein Kleid für den Schulball kaufen gehen? Sie hätte bei meiner Abschlussfeier hysterisch werden müssen und wäre mir wahnsinnig peinlich gewesen. Wer soll weinen, wenn ich Hochzeitskleider anprobiere oder wenn ich ein Baby bekomme? Es gibt so vieles, was sie verpassen wird. Ich weiß nicht, wie ich ohne sie zurechtkommen soll.«

Natürlich habe ich Dad, aber dennoch wird nichts von alldem dasselbe sein – ohne Mom.

»Ivy«, sagt Ty und lässt seine Finger über mein Gesicht und meine Wange hinunterwandern. »Sie wird bei allem und noch mehr da sein.«

Klar, nur wird sie das eben nicht. Nicht so, wie ich das brauche.

»Iris war in meinem Zimmer«, sage ich und ändere das Thema, ehe ich die Beherrschung verlieren kann, die ich nach dem gestrigen Tag gerade erst mühsam zurückgewonnen habe.

»Okay …«

»Sie hat mich von meinem Fenster aus beobachtet, als ich losgegangen bin.«

»Hast du ihr gesagt, dass du weggehen wolltest?«

»Nein.«

»Vielleicht war sie neugierig.«

Ich beiße mir in die Unterlippe. Kann sein, aber was hatte sie überhaupt in meinem Zimmer zu suchen? Ihres liegt gleich nebenan, da hätte sie mich auch von ihrem Fenster aus sehen können.

»Hm«, erwidere ich, denn ich weiß nicht so recht, worauf ich eigentlich hinauswill. Ich war auch schon in ihrem Zimmer, ein Grund zur Aufregung ist das also nicht. »Ja, vielleicht. Es kommt mir nur komisch vor.«

Ty legt sich neben mich. »Es ist gar nicht komisch, dass sie in deiner Nähe sein will. Für sie gibt es eine Menge Veränderungen, und sie ist diejenige, die umziehen und alle ihre Freunde verlassen musste.«

Ich zucke zusammen, als er das sagt. »Ja, weiß ich.«

Iris hat so viel verloren, und wenn es ihr ein bisschen hilft, bei mir und meinem Kram zu sein, dann bitte sehr. O Gott, und ich bin hier. Wahrscheinlich war sie in meinem Zimmer, um in meiner Nähe zu sein, und ich bin gegangen.

Ich bin von ihr weggegangen!

Mein Herz sinkt mir in den Bauch. »Ich muss wohl los.«

Seine Hand erstarrt auf meiner Wange. »Schon?«

»Ich habe eine Stunde, aber …« Ich habe mich schon ausreichend als Rabenschwester erwiesen, ich muss damit nicht auch noch weitermachen.

Er nickt. »Du musst bei deinem Dad und Iris zu Hause sein.«

»Danke, dass du das verstehst, Ty.«

Na, das hier war kurz, aber es war die Sache wert. Wir stehen vom Bett auf und gehen nach unten, vorbei an den vielen Bildern von Ty in allen Lebensaltern. Das letzte zeigt uns beide, wir haben beim vorigen Weihnachtsball in der Schule die Arme umeinandergelegt und lächeln.

Ty hat für mich alles ins richtige Licht gerückt. Ich habe die ganze Zeit in meiner Blase gehockt. Dad, Iris und Moms Seite der Familie – ich habe noch nicht genug Distanz, um alles klar zu sehen.

Ich gehe hinter ihm her aus dem Haus und nage unterwegs an meiner Lippe. Ich war so sehr auf mich und meine Gefühle fokussiert, dass ich gar nicht richtig an Iris gedacht habe. Vielleicht werden wir einander näherkommen, und das kann das eine Gute sein, das bei dieser Tragödie herauskommt.

»Ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst«, sagt er und hält sich am Türrahmen fest.

Ich beuge mich vor und küsse ihn ganz schnell. »Mach ich. Danke.« Dann drehe ich mich um und renne den Bürgersteig entlang zu meinem Haus.

Meine Füße knallen so hart auf den Asphalt, dass Funken von Schmerz durch meine Schienbeine jagen, aber ich werde nicht langsamer. Ich sehe die Häuser der Nachbarn nur verschwommen, ihre beschnittenen Hecken und Rosensträucher jagen vorüber. Ich sauge brennende Luft in mich hinein, strecke die Hand aus und knalle fast gegen die Haustür. Ich senke den Kopf, packe die Türklinke, meine Lunge schreit nach dem Sauerstoff, um den ich sie während meines Sprints betrogen habe.

»Dad? Iris?«, rufe ich, als ich das Haus betrete.

»In der Küche«, antwortet Dad.

Ich gehe nach links und da sitzt Dad allein am Tisch.

»Wo ist Iris?«, frage ich atemlos.

»Oben. Sie wollte nicht reden.«

Oh. Es war selbstsüchtig von mir, wegzulaufen, sowie wir angekommen waren. »Ich seh mal nach ihr.«

Dad nickt. »Und ich kümmer mich um das Essen. Was möchtest du gern?«

Ich zuckte mit den Schultern. Die letzten elf Tage waren nicht gerade nahrhaft. Wir haben das gegessen, was wir zur Hand hatten, meistens Sandwiches und Sachen vom Imbiss. Ich habe Hunger, aber wenn mir dann Essen hingestellt wird, bringe ich kaum einen Bissen runter.

»Egal was«, antworte ich und laufe die Treppe hoch.

Iris muss sich so verloren fühlen. Ich weiß nicht, ob sie Kontakt zu ihren Freunden hatte, aber ich habe sie kein einziges Mal telefonieren sehen. Sie braucht ihre Freunde jetzt, wahrscheinlich mehr als mich und Dad.

Ich steige die Treppe hoch, befestige meine Haare oben auf meinem Kopf und klopfe an ihre Tür. »Iris, ich bin das. Kann ich reinkommen?«

»Klar«, antwortet sie.

Okay, ich hatte mit Widerstand gerechnet.

Ich öffne die Tür und versuche es mit einem kleinen Lächeln, als ich das Zimmer betrete. Sie sitzt auf ihrer Bettkante und tut nichts. Ihre langen Haare hüllen ihren Körper ein wie ein Umhang.

»Blöde Frage, aber … wie fühlst du dich?«, frage ich.

Sie zuckt mit einer Schulter. »Ich bin nicht sicher, ob es dafür ein Wort gibt.«

Ihre Augen sind eingesunken, umgeben von dunklen Ringen, die sie viel älter aussehen lassen, als sie ist. Ich glaube, auch sie schläft nicht gut.

Wir haben die gleiche dunkelblonde Haarfarbe und die gleichen blassblauen Augen.

»Also, brauchst du etwas?« Abgesehen von dem Offensichtlichen.

»Ist schon gut.«

Ich hebe die Augenbrauen und gehe weiter in ihr Zimmer. »Echt?«

Sie erwidert meinen Blick. »Und bei dir?«

»Nein, nicht gut.« Ich ringe die Hände. »Wir können reden … wenn du willst.«

Wir reden nicht, jedenfalls nicht über wirkliche, tiefgreifende Dinge. Dafür hat sie ihre Freunde und ich habe meine. Es ist irgendwie traurig, dass wir diese enge Zwillingsbindung verpasst haben. Das ist das Einzige, was ich daran bedauere, dass ich bei Dad geblieben bin, als Iris mit Mom weggezogen ist.

Sie legt den Kopf schräg. »Können wir reden?«

»Na ja, ich weiß, das ist nicht gerade unsere Stärke, aber das kann es doch noch werden. Ich möchte gern … und wir sind schließlich Zwillinge.«

»Wir haben eine Gebärmutter geteilt, teilen einen Geburtstag und die DNA, aber ich hab mich nie gefühlt wie ein Zwilling. Wir reden ja nie.«

Okay, Treffer. Wir haben geredet, als wir klein waren. Ich weiß noch, wie wir fünf waren und uns abends zueinander geschlichen haben. Wir hatten getrennte Zimmer, weil wir zu unterschiedlich waren – ihr Zimmer war bonbonrosa und meins meerblau. Aber wenn es dunkel war, spielte das keine Rolle; wir bauten uns eine Höhle aus Decken, schnappten uns unsere Taschenlampen und redeten über irgendetwas aus einem Märchen, das unsere Fantasie uns eingab.

Iris wollte einen britischen Prinzen heiraten und später Königin werden, und ich wollte um die Welt reisen, in einem alten Mustang, wie unser Opa einen hatte.

Irgendwann im Laufe der Zeit und durch die Trennung unserer Eltern nahmen unsere albernen Träume ein Ende und neue teilten wir dann nicht mehr.

»Willst du reden, Iris?«

Ihre gejagten Augen blicken durch mich hindurch. »Ich will so viel mehr.«

3

Keine von uns sagt etwas, gefühlte Stunden lang. Das Schweigen dehnt sich aus und ich ziehe meine Unterlippe zwischen die Zähne.

Das hier dürfte nicht so peinlich sein.

»Wie meinst du das, dass du so viel mehr willst?«

Was kann sie denn noch wollen, außer mit mir zu reden?

Endlich bewegt sie sich und lässt sich auf dem Bett zurücksinken, bis ihr Rücken gegen die Wand trifft. Sie räuspert sich und sagt: »Natürlich will ich, dass wir Schwestern sind. Richtige Schwestern. Wir haben nie aufgehört, Zwillinge zu sein, aber wir haben aufgehört, Freundinnen zu sein.«

Ich blinzele zweimal, ehe ich antworte. »Das will ich auch. Es hat mir gar nicht gefallen, nur während der Schulferien Geschwister zu sein.« Iris und ich müssen zusammenhalten. Uns trennen vielleicht Welten, aber wir haben dieselbe Mom verloren.

Sie lächelt mich flüchtig an. »Dann solltest du dich vielleicht setzen.«

»Okay.« Ich öffne meine Hände und setze mich auf ihr Bett. Aber dann weiß ich nicht weiter. Mir fehlen noch immer die Worte. Die richtigen Worte jedenfalls. Ich könnte tausend verschiedene Unterhaltungen über Serien auf Netflix, Bücher und Schwimmen führen. Ich weiß aber nicht, ob irgendetwas davon mir jetzt weiterhelfen würde.

»Kannst du mir etwas über die Schule hier und über deine Freunde erzählen? Da gehe ich doch wohl bald hin.«

»Oh. Ja, okay.« Natürlich wird sie bald auf meine Highschool gehen. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, aber auf ihre alte Schule kann sie natürlich nicht mehr, die liegt über eine Stunde weit weg. »Haley und Sophie kennst du ja schon. Den beiden vertraue ich völlig.«

Iris lächelt. »Ich erinnere mich vom letzten Sommer her an Haley und Sophie. Die wirken sympathisch.«

»Sind sie auch.« Wir haben uns kennengelernt, als wir im ersten Highschooljahr ins Schwimmteam eingetreten sind, und seitdem sind wir beste Freundinnen.

»Meinst du, es wird sie stören, wenn ich dann auch dabei bin?«

»Du bist meine Schwester. Natürlich wird sie das nicht stören.«

»Danke, Ivy. Was ist mit deinem Freund?«

Ich muss erst einmal nach einer passenden Antwort suchen. »Ty. Mit dem wirst du dich auch verstehen.«

»Mach dir keine Sorgen, ich werde nicht das fünfte Rad am Wagen spielen. Es wäre nur nett, ab und zu mit dir zusammen zu sein. Ich … ich will jetzt nicht allein sein.«

Ich schüttele den Kopf. »Da mach ich mir keine Sorgen, Iris. Du kannst mit mir zusammen sein, wann immer du willst.«

Seit dem ersten Tag an der Highschool sind Haley, Sophie und ich unzertrennlich. Ich habe nichts dagegen, eine Vierte in unsere Gruppe aufzunehmen, und ich glaube, sie werden das auch so sehen. Iris wird ohnehin schnell genug eigene Freunde finden; sie ist Cheerleaderin, keine Schwimmerin wie meine Freundinnen und ich. Wir haben eine Cheerleadergruppe an unserer Schule, bei der Iris sicher Mitglied werden kann. Ty spielt Football, da wird er sie dem Team vorstellen, und das wird es ihr hoffentlich leichter machen, einzutreten. Wenn sie also mit dem Cheerleaderkram weitermachen will.

»Ist da irgendwer an der Schule, vor dem ich mich hüten muss? Ich meine, irgendeins von diesen fiesen Mädchen?«

Ich rümpfe die Nase. »Ellie, unser Cheer Captain, hat sich so viele blonde Strähnchen machen lassen, dass es mich wundert, dass sie überhaupt noch Haare hat. Sie kann ein bisschen ein Snob sein, aber sie ist harmlos.«

Warum will sie über Leute in der Schule reden und nicht über Mom? Ich stelle mir vor, dass sie sich den Übergang so glatt wie möglich machen will – es führt ja auch kein Weg daran vorbei –, aber wir sind doch erst seit zwanzig Minuten zu Hause.

»Iris, du weißt, dass alles in Ordnung kommt, oder?«

Sie presst die Lippen aufeinander und schaut weg.

»Du kannst mir sagen, wie dir zumute ist. Du musst das hier nicht allein durchmachen.«

Iris bewegt sich nicht einen Fingerbreit, ihr Körper ist so still, dass ich dichter an sie heranrücke, um zu sehen, ob sie noch atmet. Ihre Brust hebt sich.

»Sie fehlt mir«, sage ich. »Ich habe sie wochenlang nicht gesehen, manchmal monatelang, aber sie fehlt mir schon so sehr, ich weiß nicht, ob ich jemals darüber hinwegkomme.«

»Ivy«, flüstert sie, und ihre Stimme klingt gelassen und kalt. »Können wir das bitte im Moment lassen?«

Ich hole Luft und schließe die Augen. »Sicher, klar.«

»Es tut mir leid. Wenn du über sie sprechen willst, dann sprich mit Dad.«

Dad ist ein guter Zuhörer. Aber er kann das nicht so verstehen, wie Iris es kann.

Ich öffne die Augen und lächele sie an. »Wann immer du bereit bist.«

Ihre blassen Augen beobachten mich, als ob wir Schach spielten und sie ihren nächsten Zug plante. Sie ist für mich ziemlich undurchschaubar. In den vergangenen sechs Jahren waren wir viel zu selten zusammen, als dass ich wissen könnte, was ihre Miene jeweils bedeutet.

»Danke, Ivy«, antwortet sie ein bisschen zu förmlich, um höflich zu sein.

Halt dich zurück, sie braucht Zeit. »Dann lass ich dich erst mal in Ruhe«, sage ich.

Iris bewegt sich nicht und antwortet auch nicht, deshalb stehe ich auf. Gut, dann gehe ich. Ich drehe mich um, verlasse ihr Zimmer und ziehe die Tür hinter mir zu.

Was ist da eben passiert?

»Ivy, Iris«, ruft Dad, »gleich gibt es Pizza!«

»Okay, Dad«, antworte ich und laufe die Treppe hinunter.

»Ich mache mir Sorgen um sie«, sage ich zu ihm.

Er schaut mich über seine Schulter um, als er Teller aus dem Schrank nimmt. »Iris?«

Klar. »Ja, sie verhält sich seltsam.«

»Ivy …«

»Nein, ich weiß schon, wie sich das anhört, und ich kapier ja, was los ist. Aber sie wollte lieber über die Schule und meine Freunde reden. Sie redet darüber, dazuzugehören und hier ein neues Leben zu haben. Findest du nicht, dass das zu früh ist?«

Er zuckt mit den Schultern. »Das hier ist für uns alle neu, Ivy. Wenn ihr das gerade eine Hilfe ist, warum sollte das schlecht sein?«

»Vielleicht hast du recht. Trotzdem: Ich kann mir nicht vorstellen, jetzt schon wieder zur Schule zu gehen, von einer neuen Schule ganz zu schweigen.« Mir bleibt allerdings nicht viel übrig. Die Talentsucher der Colleges müssen mich in Hochform sehen. Ich muss wieder ins Schwimmbad, wenn ich in Stanford angenommen werden will. Dad kann mir das Studium dort nicht finanzieren, also brauche ich unbedingt ein Stipendium. Und um beim Schwimmen perfekt zu werden, kann ich mir keine Auszeiten mehr leisten.

Er legt den Kopf schräg. »Herzchen, jetzt übertreib nicht. Wir tun alle unser Bestes. Lass sie versuchen, auf ihre Weise damit fertigzuwerden.«

»Indem sie so tut, als ob nichts wäre?«

»Wenn sie das braucht. Ich finde, wir könnten ihr etwas mehr Zeit lassen. Warum macht dir das so zu schaffen? Es ist doch noch sehr früh.«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich habe wohl gedacht, wir könnten darüber reden, weißt du? Wir machen doch dasselbe durch.« Ich muss über Mom sprechen. Obwohl es nur wenige Wochen in jedem Jahr waren, die ich bei ihr verbracht habe.

»Du versuchst, die Sache in Ordnung zu bringen«, sagt er. »Du siehst alles so schwarz-weiß. Ich finde es wunderbar, dass du schon immer so gut Probleme lösen konntest, manchmal, noch ehe sie Probleme geworden waren, aber hier gibt es nichts zu lösen. Du kannst erst dann etwas für Iris tun, wenn sie das will. Also konzentrier dich darauf, was du brauchst. Soll ich eine Trauerberatung organisieren? Ich glaube, das könnte dir guttun.«

Mir. Nicht mir und Iris. Er macht sich Sorgen, dass ich versuchen könnte, meine Trauer zu schnell zu verarbeiten, und dass ich dadurch alles schlimmer mache. Ich habe es so eilig, weil ich es nicht ertragen kann, wenn mein Leben nicht im Gleichgewicht ist. Iris ist noch nicht einmal bereit, mit der Trauerarbeit anzufangen.

»Ja«, antworte ich. Ich bin sehr dafür, über Probleme zu reden, aber ich glaube nicht, dass ein Plausch mit Ty oder meinen Freundinnen mir hier weiterhelfen könnte. Therapie mit einer Fachkraft ist die Lösung, also will ich eine machen. Je eher ich nicht mehr das Gefühl habe, auf der Stelle zu treten, umso besser.

»Es gibt bei Trauer keine Schnellspur, Ivy«, sagt Dad, der meine Gedanken gelesen hat.

Das stimmt nicht. Alles lässt sich beschleunigen, wenn es richtig gemacht wird. Ich will mich an Mom ohne tiefe Trauer und bitteren Zorn erinnern. Es ist nicht fair, dass sie nicht mehr da ist.

»Das versuche ich doch gar nicht«, lüge ich.

Er glaubt mir nicht, aber das kann er nicht mehr sagen, denn in diesem Moment klingelt es an der Tür.

Von der Pizza gerettet.

4

Am Ende aßen wir nicht viel von den beiden großen Pizzen, die Dad bestellt hatte. Er nahm vielleicht vier Stücke – was längst nicht an seinen Rekord heranreicht – und Iris und ich jede eins.

Ich bin von mir enttäuscht, denn ich liebe Pizza, aber mein Magen wies jeden Bissen zurück. Früher aßen Iris und ich immer zwei Stücke und dann gab es zwei weitere zum Frühstück. Wir waren damals vielleicht vier und fanden uns total cool. Wir verputzten zusammen eine ganze Pizza, und die Tatsache, dass wir dafür zwei Tage brauchten, konnte nichts an unserem Staunen darüber ändern, dass wir es schafften, obwohl wir so klein waren.

Essen wirkt so seltsam, wenn deine ganze Welt ins Wanken geraten ist. Genauso wie andere alltägliche Dinge, wie Hausarbeiten. Es ist alles so sinnlos. Ich möchte jetzt gleich zur Therapie, um halb elf Uhr abends, damit ich die Sache hinter mich bringen kann und alles wieder halbwegs normal aussieht.

Ich stehe im Badezimmer und betrachte mein erschöpftes Spiegelbild. Trübe blaue Augen starren mich an. Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich zuletzt mehr als fünf Stunden am Stück geschlafen habe, und seit Moms Tod ist es noch schlimmer geworden. Ich kann nicht so leicht abschalten; ich denke dauernd an das, was ich machen muss. Ich kann das meistens herunterdrehen, wenn ich zwei Stunden Extratraining einlege oder lange laufe.

Schwimmen ist meine erste Liebe. Wenn ich im Pool bin, bin ich frei. Dann gibt es nur mich und das Wasser.

Wenn jetzt ein Schwimmbad offen hätte, wäre ich dort. Eigentlich wirkt es wie eine gute Idee, wieder zur Schule zu gehen, schon alleine weil ich da Zugang zum Pool habe. Aber Dad will, dass ich mir für den Rest der Woche freinehme und warte, bis Iris dort anfängt. Ich wollte das auch, aber die Vorstellung, die nächsten fünf Tage im Haus zu verbringen, vorzutäuschen, dass alles gar nicht so schlimm ist, und über Freunde zu reden, verschlägt mir den Atem.

Ich fahre mir mit den Händen übers Gesicht. Nur noch ein paar Tage … das schaffst du.

Ich verlasse das Badezimmer und gehe durch den Flur. Iris muss noch wach sein, ich kann hören, wie sie sich in ihrem Zimmer bewegt. Doch es bringt nichts, noch einmal mit ihr reden zu wollen. Dad hat recht – sie muss bereit sein, auf Moms Tod einzugehen.

»Nacht«, sage ich über meine Schulter zu Iris, als ich meine Tür aufmache.

Etwas in ihrem Zimmer prallt heftig auf den Boden auf. »Nacht, Ivy!«, antwortet sie.

Ich runzele die Stirn und drehe mich zu ihrem Zimmer um. »Alles in Ordnung bei dir?«

»Mir ist bloß ein Buch hingefallen.«

Ich fasse nach der Türklinke. Ich glaube nicht, dass sie, seit wir fünf waren, freiwillig ein Buch angerührt hat. Falls sie sich nicht auch in diesem Punkt geändert hat.

Hat sie hier überhaupt Bücher? Mir sind keine aufgefallen, aber ich habe ja nicht gerade eine Inventarliste ihres Zimmers angelegt.

Es war jedenfalls ein ziemlicher Knall. Woraus sind ihre Bücher wohl hergestellt, aus Stein?

Was macht sie da eigentlich, und warum hat es sich wie eine Lüge angehört, als sie behauptet hat, dass ihr ein Buch hingefallen sei? Ich meine, falls sie es nicht von der Decke heruntergeworfen hat.

»Okay«, sage ich und schließe meine Zimmertür.

Ich habe Schmetterlinge im Magen. Ich presse mir die Handfläche mitten auf den Bauch und zucke zusammen. Irgendetwas stimmt überhaupt nicht, abgesehen von dem Offensichtlichen, und ich weiß nicht, was es sein könnte. Ich mag dieses Gefühl überhaupt nicht.

Ich habe im Moment kein Vertrauen zu meinen Instinkten, vielleicht weil das hier eine Situation ist, die ich nicht im Griff habe. Das macht mir Sorgen.

Okay, und jetzt brauchst du wirklich Schlaf.

Ich verjage so viele von den wirbelnden Gedanken, wie ich nur kann, und steige ins Bett. Das ist immer die Zeit, in der ich ewig wach liege und mir Millionen von Gedanken durch den Kopf huschen, von denen jeder um Aufmerksamkeit kämpft. Die Zeit, in der ich Pläne schmiede, um die Gedanken und Sorgen zum Schweigen zu bringen, einen nach dem anderen.

Ich rolle mich auf der Seite zusammen und ziehe mir die Decke ans Kinn.

Ich kneife die Augen ganz fest zu und sehe Moms Bild vor mir. Ich denke dauernd an sie, seit sie gestorben ist, aber daran kann ich nichts ändern. Ich kann normalerweise in Gedanken ein Problem so lange bearbeiten, bis es gelöst ist, und mich dann dem nächsten widmen. Mom aber bleibt. Ich würde alles tun, um sie zurückzuholen, aber das ist ja unmöglich. Wir sind hier nicht in einem Fantasyroman.

Jeden Abend sehe ich sie und denke an sie, bis ich schreien möchte, weil sie mir so sehr fehlt.

Ich drehe mich auf den Bauch, als ob eine Veränderung in der Stellung alles aus meinem Kopf fallen lassen und als ob ich dann schlafen könnte.

Nebenan bewegt sich Iris in ihrem Zimmer. Ihre Schritte sind nicht so leicht, wie sie sie zu machen versucht. Falls sie überhaupt versucht, leise zu sein. Etwas schrappt über den Teppich. Es ist fast elf. Wer räumt so spät Möbel um?

Falls sie nicht mit Yoga angefangen hat.

Aber wer macht Yoga, wenn er schon zu Bett gegangen ist? Vielleicht ist es Schlafyoga. Okay, ich bin albern.

Ich wünschte, ich könnte schlafen. Meine Gedanken wären danach viel rationaler.

Noch ein Knall trifft von ihrer Seite her meine Wand.

Echt? Ich habe schon zahllose Gedanken, die mich daran hindern, bald einzuschlafen. Da muss ich es nicht auch noch haben, dass Iris … macht, was sie da eben macht.

Ich will auch nicht aufstehen, weil ich jetzt endlich bequem liege, deshalb schnappe ich mir mein Handy und schreibe an Iris.

Alles okay?

Sie antwortet nach einer Minute.

Alles gut. Wieso?

Ach, so hättest du das wohl gern, ja?

Der Knall.

Tut mir leid. Wollte bloß was in Ordnung bringen. Bin jetzt still.

Was sie wohl um diese Zeit in Ordnung bringen wollte? Sie geht ja noch nicht zur Schule, und sie hat jede Menge Zeit, um ihr Zimmer umzuräumen.

Brauchst du Hilfe?

Ganz richtig, ich bin höflich. Ich werde so nervig sein, dass sie mein Angebot annimmt.

Nein danke. Ich hab mein Zimmer und meinen Kram lieber für mich.

Ich entspanne meine Muskeln und seufze. Gut, ich bin froh, dass ich nicht aufstehen muss. Mein Körper pocht vor Schmerzen, weil es ein harter Tag war und weil ich vorhin so unbequem gesessen habe.

Okay. Nacht.

Ich finde es sehr gut, dass sie ihre Intimsphäre bewacht und dass ihr Zimmer nicht betreten werden darf, aber sie hat in meinem auch nichts zu suchen. Oder messen wir hier mit zweierlei Maß?

Ich lege das Handy zurück auf meinen Nachttisch, schließe die Augen und warte.

Draußen setzt langsam der Regen ein und trifft meine Fensterscheibe. Es ist beruhigend, dieses dauernde, aber anhaltende Klopfen gegen das Glas. Der Regen ist immer das Beste, um mich abzulenken … von meinen Gedanken. Ich habe versucht, Regenwaldgeräusche zu hören, aber die bringen mir nichts.

Ich konzentriere mich auf den Regen und atme tief durch, bis ich dann endlich einschlafe.

5

Ich strecke die Arme über meinen Kopf und gähne. Es ist früh – 06:05. Der Regen hat mir beim Einschlafen geholfen, aber ich wurde um halb vier wach und nickte für den Rest der Nacht nur noch kurz ein – oder für den Rest des Morgens. Wie auch immer.

Ich bin müde. Zum Glück bin ich daran gewöhnt, müde zu sein.

Am frühen Morgen tauchte Mom immer wieder in meinen Gedanken auf und verdrängte alles andere. Einige meiner Gedanken entsprachen dem tatsächlichen Geschehen, andere schlugen einen Weg der Fantasie ein und brannten dabei durch. Ich weiß, wie sie gestorben ist, warum also hat meine Fantasie so viele Gedanken und Bilder heraufbeschworen, in denen sie erschlagen oder ertränkt wurde? Warum habe ich mir vorgestellt, wie sie sich von ihrem Sturz erholte und wegrannte? Das war eine der grausamsten Vorstellungen, denn es besteht doch keine Chance, dass sie wieder nach Hause kommt. Sie hat sich nicht erholt; ich habe ihren leblosen Leichnam gesehen. Was, im Nachhinein, nicht sehr klug ist für eine mit überaktiver Fantasie.

Sie hätte uns niemals freiwillig verlassen. Nichts hätte sie von ihrer Familie verjagen können.

Also warf ich mich die ganze Zeit von einer Seite auf die andere und hatte Angst, dass ich es niemals schaffen würde, nicht mehr dauernd an Mom zu denken. Ich will mir nicht vorstellen, wie sie blutend auf dem Boden liegt. Oder was ich mir sonst zusammenträume.

Der Trauerprozess muss jetzt einsetzen: Vielleicht finde ich dann ein bisschen Frieden. Oder wenigstens höre ich auf, Mom in verschiedenen Szenarien tot zu sehen. Damit wäre ich schon zufrieden.

Ich schwinge die Beine aus dem Bett. Als meine Füße auf den Teppich treffen, krümme ich die Zehen und spüre die dicken Fasern unter meinem nackten Fuß.

Ich schleife meine müden Beine geradezu nach unten, auf der Suche nach Koffein.

Das Haus ist still und ruhig. Um diese Zeit wirkt es immer leer, als ob niemand hier wohnte. Dad und ich haben nicht viele Sachen, also wirkt das Haus ein bisschen nackt, da Mom den ganzen »Hauskram« mitgenommen hat, wie sie das nannte.

Ich gehe in die Küche und hebe die Hand zum Lichtschalter.

»Morgen«, sagt Iris.

Ihre muntere Stimme lässt mich zusammenfahren. Ich mache Licht, während mein Herz hämmert und Iris lächelt. Die Fensterläden sind noch geschlossen, deshalb ist es ziemlich dunkel.

Sie lacht. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Was machst du hier?«, frage ich und hole tief Luft.

»Ich wohne jetzt hier, Ivy.«

Großer Gott, mein Herz hämmert noch immer. »Nein, ich meine, in der Küche. Und im Dunkeln.«

»Ich wurde wach und konnte nicht wieder einschlafen.«

»Aber warum sitzt du im Dunkeln?«

»Das gefällt mir.«

Es gefällt ihr, in tiefer Stille im Dunkeln zu sitzen.

»Äh, okay. Möchtest du Kaffee?«

Sie stützt die Arme auf die Anrichte und sieht mich an. »Bitte. Es ist nett, dass jemand Kaffee für mich macht. Mom hat das auch manchmal getan, ehe sie losgejoggt ist.«

»Hm. Ich jogge gern, aber jeden Tag könnte ich das nicht.«

»Ja, du und Mom hattet sicher mehr Gemeinsamkeiten als sie und ich. Ihr wart beide scharf auf Training.«

»Du gehst zum Cheerleadertraining«, sage ich und nehme zwei Becher aus dem Schrank, während der Kaffee durchläuft.

»Hab ich getan. Aber jetzt werde ich nichts mehr machen.«

Ich schaue mich über meine Schulter um. Was für eine düstere Aussicht. »Warum sagst du das?«

»Dad findet, ich soll in den nächsten beiden Wochen noch nicht in die Schule gehen.« Sie verdreht die Augen. »Aber du darfst in vier Tagen wieder hin. Das ist doch nicht fair!«

»Er macht sich Sorgen um dich, Iris. Du musst nicht nur mit Moms Tod fertigwerden, du bist auch von allem weggezogen, was du in den letzten sechs Jahren gekannt hast. Ich gehe zurück in eine Schule, die ich kenne. Du wirst die Neue sein.«

»Das ist mir schon klar, aber ich bin nicht aus Zucker. Ich kann mit einer neuen Schule fertigwerden. Außerdem ist mir das alles ja nicht ganz neu. Ich hab hier mal gewohnt. In diesem Haus sogar.«

Da sagt sie was Wahres. Iris war immer die Zuversichtliche, das Kind, das draußen war. Mom saß vor dem Haus und sah zu, wie Iris mit zwei Nachbarskindern spielte. Schade, dass die vor Jahren weggezogen sind, denn es wäre vermutlich gut für Iris, ein vertrautes Gesicht zu sehen – eins, das nicht genau das gleiche ist wie ihr eigenes.

»Sprich mit Dad. Der war immer schon ein guter Zuhörer. Wenn du früher anfangen willst, erlaubt er das bestimmt.«

Das glaube ich wenigstens. Er ist längst nicht so locker, wie Mom es war, aber er schafft es nicht sehr gut, seinen Töchtern etwas zu verbieten, was sie sich wünschen.

Ihre blauen Augen werden glasig, als ob sie nicht mehr zuhört oder als ob sie mir nicht glaubt. Sie tippt mit einem manikürten Fingernagel auf die Arbeitsfläche aus Marmor.

Die Kaffeemaschine schaltet sich aus und ich stelle Iris einen Becher hin. Ich nehme mir den anderen Hocker und setze mich zu ihr.

»Wie fühlst du dich?«, frage ich.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie die Lippen vorschiebt. Sie fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut, wenn ich über Mom spreche oder sie frage, wie es ihr geht. Das ist so, seit Mom gestorben ist. Iris hat diesen Teil ihres Lebens vollständig abgeriegelt.

»In Ordnung. Und du?«, gibt sie in scharfem Tonfall zurück.

Sie will nicht sprechen, und sie will nicht, dass ich etwas sage. »Ja, geht so. Ich habe heute eine Therapiestunde. Hast du schon überlegt, ob du mit jemandem sprechen möchtest?«

»Nö. Aber schön für dich.«

»Okay«, erwidere ich und lege die Hände um den heißen Becher. »Was möchtest du heute machen?«

»Ich möchte raus hier. Ich will ja nicht unhöflich sein, aber dieses Haus ist irgendwie deprimierend. Wenn ich jetzt fest hier leben soll, müssen wir renovieren.«

»Dann los.« Iris hat einen guten Geschmack, sie hat Moms Wohnung zusammen mit ihr eingerichtet. Es ist mir egal, ob sie Kunst aufhängen oder auf den Sofas Kissen verteilen will. Dad ist ein maximaler Minimalist und liebt seine technischen Spielereien, aber bestimmt hätte er nichts dagegen, dem Haus ein bisschen mehr Persönlichkeit zu geben.«

»Wieso seid ihr denn schon so früh auf?«

Iris und ich schauen zur Tür hinüber, wo Dad jetzt steht. Er hat die Arme verschränkt, als ob er kurz davor steht, uns einem Verhör dritten Grades zu unterziehen. Er ist misstrauisch, aber ich weiß nicht, warum.

»Wir konnten nicht schlafen«, antworte ich.

»Ihr hockt hier zusammen wie früher als Kinder, wenn ihr etwas wolltet. Gemeinsamkeit macht stark?«

Iris lacht und schleudert sich die Haare über die Schultern. »Wir wollen gar nichts, Dad.«

»Vielleicht nicht gerade jetzt. Was wollt ihr essen?«

»Habt ihr Pop-Tarts?«, fragt Iris. »Die hab ich schon jahrelang nicht mehr gegessen.«

Ich seufze. »Ich könnte nicht eine Woche ohne auskommen.«

Iris hebt die Augenbrauen. »Du hast den besseren Stoffwechsel. Ich muss hierfür genau aufpassen, was ich esse.« Sie zeigt auf ihren Körper.

Ich sehe keinen Unterschied, was unsere Figur angeht. Wir sind beide aktiv, aber Iris setzt sich unter größeren Druck.

»Keine von euch braucht sich irgendwie zu ändern«, sagt Dad. Er ist überaus diplomatisch. »Ich hole die Pop-Tarts.«

»Es ist noch Kaffee da, Dad«, sage ich zu ihm. »Also, ich würde gern heute zu dieser Therapeutin gehen. Du hast doch die Nummer noch, oder?«

Dad dreht sich langsam um. »Natürlich. Dann rufe ich Dr. Rajan nachher an. Sie wird sehr empfohlen. Iris?«

Iris schaut auf und blinzelt langsam. »Ja, Dad?«, fragt sie, als ob sie keine Ahnung hätte, worauf er hinauswill.

»Soll ich auch für dich einen Termin machen? Wir müssen ja nicht dieselbe Therapeutin nehmen.«

»Nein, danke.« Sie deutet ein Lächeln an und ihre Augen richten sich wieder auf ihren Becher.

6

Ich weiß nicht, was es über eine Therapeutin sagt, wenn sie erklärt, dass sie dich sofort sehen möchte. Oder vielleicht richtiger, was es über mich sagt, wenn sie mich sofort sehen möchte.

Jedenfalls stehe ich jetzt in meinem Zimmer und ziehe mich an, weil Dr. Rajan mich heute Morgen noch dazwischenschieben konnte.

Weiß Dad, dass ich seit Moms Tod nicht mehr gut geschlafen habe, und hat er sie deshalb um einen Nottermin gebeten? Das wäre unvorstellbar peinlich.

Dad hat ihre Fragen beantwortet, er hat eine Ewigkeit mit ihr telefoniert. In seinem Arbeitszimmer natürlich, deshalb weiß ich nicht, was er gesagt hat. Ich weiß nur, dass er um neun zurückgekommen ist, nachdem er mit ihr gesprochen hatte, und ich habe eine Stunde, um zu meinem Termin zu gehen.

Ich übertreibe bestimmt. Sicher wurde bei ihr ein Termin abgesagt. Ich habe schon jede Menge Friseurtermine in letzter Minute bekommen, weil irgendwer abgesagt hatte.

Ich ziehe den Reißverschluss meiner Röhrenjeans hoch und streife mir ein dunkelgraues Trägerhemd über den Kopf. Ich habe Tys Kapuzenpulli, falls es kühler wird. Ich habe eigentlich eine Menge von Tys Kapuzenpullis hier. Also, jetzt von meinen Kapuzenpullis. Die Sonne hat jede Spur vom Regen der vergangenen Nacht weggebrannt, deshalb nehme ich an, dass es heiß werden wird.

Mein Telefon klingelt und Tys Name blitzt im Display auf. Ich habe ihm vor ungefähr drei Minuten geschrieben, dass ich jetzt losgehe, um meinen Kopf untersuchen zu lassen.

Mein Gespräch mit Dr. Rajan wird sich vor allem um Verlust drehen, aber ich bin nicht naiv genug, um zu glauben, dass es dabei auch bleiben wird. Nicht, wenn ich eine Zwillingsschwester habe, die zu uns gezogen ist. Ich glaube, Dr. Rajan wird Dinge sagen und Fragen stellen, die weit über den Tod meiner Mom hinausreichen. Vielleicht hängen viele davon miteinander zusammen. Vielleicht übertreibe ich. Schon wieder.

Wenn ich einen Schalter bekommen könnte, um mein Gehirn stillzulegen, das wäre super.

»Hallo, Ty«, sage ich in mein Telefon.

»Jetzt sofort? Du hast diesen Termin jetzt sofort?«

Seine Stimme klingt gehetzt und als ob er unter Strom steht. Er macht sich Sorgen. Ty weiß, dass mir das Abschalten schwerfällt, und er weiß auch, dass ich nicht gut schlafe. Aber das ist nichts Neues. So war ich immer schon. Er macht sich Sorgen, dass diese überstürzte Therapiesitzung mehr bedeutet, als dass Dr. Rajan eben jetzt schon Zeit für mich hat.

Ich glaube, ich will das gar nicht wissen. Unwissenheit kann ein Segen sein, und überhaupt.

»Ja, so ungefähr jetzt sofort. Ich ziehe mir gerade die Schuhe an. Was soll ich zu ihr sagen?«

»Äh … keine Ahnung. Lass sie die Fragen stellen, wenn du nicht genau weißt, wo du anfangen sollst. Was ist gestern Abend oder heute Morgen passiert, dass das jetzt sofort sein muss?«

»Eigentlich nichts. Sie hatte einfach heute Morgen noch eine Lücke, glaube ich.«

Ich will ihm keine Sorgen machen. Vor der Zeit mit mir hat er sich nie besonders viele Sorgen gemacht. Ty ist total locker, außer wenn es um mich geht. Das ist niedlich, aber ich finde es schrecklich, ihm Stress zu bereiten.

»Okay«, sagt er zögernd. »Du kannst auch mit mir sprechen, weißt du? Ich kann ja verstehen, dass du zu einem Profi willst und so, aber ich bin jedenfalls hier.«

»Das weiß ich, Ty, und das finde ich wunderbar.«

Aber ich will vor deinen Augen nicht total in Stücke gehen. Ty ist immer so hilfsbereit und verständnisvoll, aber wir sind Teenager an der Highschool, und unser Leben sollte nicht düster und schwer sein.

Ich kann mit den schlaflosen Nächten umgehen. Tagsüber ist es nicht so schlimm. Ich kann immer noch ich selbst sein und schwimmen gehen und mit meinen Freundinnen abhängen. Erst am frühen Abend beginnt meine muntere Haltung zu verblassen, aber dann bin ich meistens zu Hause. Ich werde mich daran gewöhnen, dass ich auf die Dauer vielleicht noch weniger schlafen kann.

»Rufst du mich an, wenn du fertig bist?«

»Sicher. Hab dich lieb«, sage ich.

»Ich dich auch, Babe.«

Ich beende das Gespräch und stecke das Handy in die Tasche, zusammen mit der Wasserflasche. Dann schnappe ich mir meine Autoschlüssel von der Kommode. Zeit, mich der Therapie zu stellen.

Ich gehe mit hämmerndem Herzen und schweißnassen Handflächen nach unten. Das hier ist etwas, das ich will, weshalb habe ich also solche Angst? Wenn ich eine Stunde lang schweigend dasitzen möchte, dann kann ich das. Es gibt keinen Druck. Das hoffe ich wenigstens.

Meine Vorstellungen von Therapie sind von dem geprägt, was ich im Fernsehen gesehen habe, dennoch weiß ich, dass niemand gezwungen wird zu reden.

Aber wenn ich mit dem Gedanken spiele, schweigend dazusitzen, warum gehe ich dann überhaupt hin?

Ich weiß, dass ich reden werde. So wirst du gesund, so gehst du weiter, weg von dem, was dir Kummer macht. Wenn ich etwas wunderbar finde, dann eine Lösung, die ich um mein Problem wickeln kann wie eine hübsche kleine Schleife.

»Dad, ich geh jetzt«, rufe ich, als ich unten ankomme.

Auf der anderen Seite der Diele geht die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf und dann höre ich seine Schritte auf dem Holzboden. Dad arbeitet mit Versicherungen und hat meistens mit großen Gesellschaften zu tun. Oder so. Er scheint die ganze Zeit beschäftigt zu sein und musste sich zu Hause ein Büro einrichten, um von hier aus arbeiten zu können. In diesem Büro verbringt er seine meiste Zeit.

»Bist du sicher, dass ich dich nicht fahren soll?«

»Danke, ich schaff das schon.«

Er kommt auf mich zu und zieht mich an sich. Seine Arme drücken ein bisschen zu fest zu und ich wimmere.

»Du zerquetschst mich«, presse ich hervor.

»Entschuldigung.« Er lässt mich los und tritt einen Schritt zurück. »Ich bin stolz auf dich, Ivy.«

»Danke, Dad. Sag mal, wo ist Iris?«

»Sie ist in ihr Zimmer gegangen, und da wollte ich ein bisschen arbeiten«, sagt er. »Geh jetzt lieber, sonst kommst du noch zu spät.«

Vielleicht möchte ich zu spät kommen. So sehr zu spät, dass der Termin verlegt werden muss. Aber das ist eine blöde Idee, denn wenn ich den Termin verschiebe, werde ich immer wieder diese Angst vor dem ersten Mal haben. Wenn ich das erst hinter mich gebracht habe, wird alles leichter.

»Bis nachher, Dad.«

Ich drehe mich um und gehe im Schneckentempo aus dem Haus. Heute habe ich es überhaupt nicht eilig damit, irgendwohin zu gelangen.

Mein Daumen rutscht auf dem Türöffnungskopf an meinen Autoschlüsseln aus. Ich schüttele meine Hand und drücke noch einmal auf den Knopf. Diesmal klickt die Autotür und ich steige ein.

Du schaffst das, Ivy.

Mom würde wollen, dass ich das hier tue. Sie würde gleich hinter mir stehen, würde mich anfeuern. Sie und Dad waren immer meine größten Cheerleader, und obwohl ich fast das ganze Jahr nicht mit ihr zusammengewohnt habe, war ich immer sicher, dass sie hinter mir stand.

Ich spüre, dass sie jetzt bei mir ist. In diesem Auto, sie will, dass ich den Motor anlasse und den ersten Schritt zur Selbsthilfe mache.

Das tue ich also. Ich drehe den Schlüssel im Zündschloss um und fahre aus der Auffahrt.

Dr. Rajans Praxis ist etwa eine halbe Stunde entfernt, deshalb drehe ich das Radio auf und lasse meine ausgefransten Nerven von der Musik beruhigen.

Sechsunddreißig Minuten später, dem Verkehr sei Dank, fahre ich auf den Parkplatz, und meine Nerven schlagen erbarmungslos wieder zu.

7

Dr. Rajan wartet in der Praxis auf mich. Ich habe noch vier