The Wife - Alafair Burke - E-Book

The Wife E-Book

Alafair Burke

0,0

Beschreibung

Sein Skandal – ihr Geheimnis.

»Von einem Moment auf den anderen verwandelte ich mich in die Frau, die alles für ihren Mann tun würde – wirklich alles.«

Als Angela den attraktiven Jason Powell trifft, denkt sie nicht, dass der renommierte Wirtschaftsprofessor sich für sie interessieren könnte, doch zu ihrer Überraschung verliebt sich Jason in sie. Er heiratet sie und nimmt ihren Sohn auf, als wäre es sein eigener. Endlich glaubt Angela, ihre dunkle Vergangenheit hinter sich lassen zu können.

Sechs Jahre später ist Jason dank eines Buches zu einem Star geworden – und eine junge Studentin wirft ihm vor, sie sexuell belästigt zu haben. Jason behauptet, unschuldig zu sein, aber dann verschwindet die Studentin spurlos, und Angela wird in einen Strudel aus Schuld und Verdächtigungen gezogen ...

Ein Thriller, der Maßstäbe setzt. „Burkes weibliche Figuren nehmen den Leser sofort für sich ein.“ Gillian Flynn.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 458

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über Alafair Burke

Alafair Burke studierte Psychologie am Reed College in Portland/Oregon und machte einen Abschluss an der Stanford Law School. Danach war sie lange für die Staatsanwaltschaft in Portland tätig. Sie ist die Tochter von James Lee Burke und lebt mit ihrem Ehemann in New York.

Kathrin Bielfeldt ist Texterin und Übersetzerin und spricht fünf Sprachen. Sie hat unter anderem Romane von Elisabeth Elo, Pete Dexter und James Sallis ins Deutsche übertragen.

Informationen zum Buch

Sein Skandal – ihr Geheimnis

Als Angela sich in den attraktiven Wirtschaftsprofessor Jason verliebt, glaubt sie nicht, dass die Sache gut ausgehen würde. Doch er heiratet sie und bietet ihr und ihrem Sohn ein sicheres Heim. Bis eine Studentin ihn des Missbrauchs anklagt. Plötzlich bricht alles über Angela herein. Ist ihr Mann schuldig? Könnte ihre dunkle Vergangenheit ans Licht kommen? Sie beschließt, ihren Mann und sich zu schützen – und alles dafür zu tun.

Ein Thriller, der Maßstäbe setzt.

»Burkes weibliche Figuren nehmen den Leser sofort für sich ein.« Gillian Flynn

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Alafair Burke

The Wife

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kathrin Bielfeldt

Inhaltsübersicht

Über Alafair Burke

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

I – Rachel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

II – Kerry

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

III – Das Volk gegen Jason Powell

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

IV – Angela

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Über die Autorin

The Wife – Fragen für Lesekreise

Impressum

Für die Puzzle-Gilde Freundschaft und Marotten, auf ewig

Von einem Moment zum nächsten wurde ich zu der Frau, für die sie mich ohnehin die ganze Zeit hielten: die Ehefrau, die log, um ihren Mann zu schützen.

Fast hätte ich das Pochen an der Haustür nicht gehört. Ich hatte den Türklopfer aus Messing vor zwölf Tagen entfernt, als ob das auch nur einen weiteren Reporter davon abhalten würde, unangemeldet aufzukreuzen. Als ich das Geräusch verortet hatte, setzte ich mich im Bett auf und schaltete den Fernseher stumm. Ich kämpfte gegen den spontanen Impuls an zu erstarren und zwang mich nachzusehen, teilte die zugezogenen Vorhänge und blinzelte gegen die Nachmittagssonne.

Unten auf den Eingangsstufen sah ich die kurz geschnittenen schwarzen Haare eines Menschen. Der Impala vor dem Hydranten auf der anderen Straßenseite schrie förmlich »ziviles Polizeifahrzeug«. Es war dieselbe Polizistin, schon wieder. Ihre Visitenkarte steckte immer noch in meinem Portemonnaie, wo Jason sie nicht sehen würde. Sie klopfte weiter an, und ich beobachtete sie, bis sie sich schließlich auf die Stufen setzte und anfing, meine Zeitung zu lesen.

Ich zog ein Sweatshirt über mein Tanktop und die Schlafanzughose und ging zur Haustür.

»Habe ich Sie geweckt?« Ihr Tonfall war eindeutig abschätzig. »Es ist drei Uhr nachmittags.«

Ich wollte sagen, ich sei niemandem eine Erklärung dafür schuldig, was ich in meinem eigenen Haus tun würde, doch stattdessen murmelte ich etwas von einer Migräne. Lüge Nummer eins – klein, aber dennoch eine Lüge.

»Sie sollten Essig und Honig nehmen. Funktioniert immer.«

»Ich glaube, da bleibe ich lieber bei meinen Kopfschmerzen. Falls Sie mit Jason sprechen müssen, können Sie unsere Anwältin anrufen.«

»Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, Olivia Randall ist nicht Ihre Anwältin, sondern die von Jason.«

Ich begann, die Tür zu schließen, aber sie drückte sie wieder auf. »Und Sie denken vielleicht, der Fall Ihres Mannes läge sozusagen auf Eis, aber ich kann immer noch ermitteln, vor allem, wenn es um eine vollkommen neue Beschuldigung geht.«

Ich hätte die Tür zuknallen sollen.

»Um was geht es jetzt schon wieder?«

»Ich muss wissen, wo Ihr Mann gestern Abend war.«

Warum musste sie ausgerechnet diese Frage stellen? Für jedes andere Datum unserer sechsjährigen Ehe hätte ich wahrheitsgemäß Rechenschaft ablegen können.

Ich wusste bereits von Jasons Anwältin, dass diese Dinge nicht unter das eheliche Zeugnisverweigerungsrecht fielen. Sie konnten mich vor eine Grand Jury zitieren. Sie konnten meine Aussageverweigerung als Beweis werten, dass ich etwas verheimlichte. Und vor meiner Tür stand jetzt ein Detective mit einer scheinbar simplen Frage: Wo war mein Mann am vorangegangenen Abend gewesen?

»Er war hier bei mir.« Es war zwölf Jahre her, seit ein Polizeibeamter mir das letzte Mal eine Frage gestellt hatte, aber instinktiv kam immer noch eine Lüge heraus.

»Die ganze Nacht?«

»Ja, unser Freund hat genug zu essen für den ganzen Tag vorbeigebracht. Es macht derzeit nicht gerade Spaß, in der Öffentlichkeit gesehen zu werden.«

»Welcher Freund?«

»Colin Harris. Er hat Essen von Gotham vorbeigebracht. Sie können das Restaurant bei Bedarf gern anrufen.«

»Kann sonst noch jemand bestätigen, dass Ihr Mann hier bei Ihnen war?«

»Mein Sohn Spencer. Er hat gegen halb acht aus dem Camp angerufen und mit uns beiden gesprochen. Holen Sie sich doch unsere Telefonunterlagen, wenn Sie mir nicht glauben. Worum geht es hier überhaupt?«

»Kerry Lynch wird vermisst.«

Diese Worte klangen irgendwie seltsam.

Kerry Lynch wird vermisst.

Diese Frau, die uns so zugesetzt hatte, war plötzlich nicht mehr da, wie eine Socke, die es nie mehr aus dem Wäschetrockner schafft.

Natürlich ging es um diese Frau. Unser gesamtes Leben kreiste die letzten zwei Wochen um sie. Ich erzählte der Polizistin, dass wir vor dem Einschlafen La La Land gestreamt hatten, obwohl ich den Film allein gesehen hatte. So viele Details purzelten einfach aus mir heraus.

Ich beschloss, in die Offensive zu gehen und unmissverständlich klarzustellen, wie sehr es mich empörte, dass die Polizei ausgerechnet zu uns kam, wo Kerry doch überall sein konnte. Ich schlug sogar indigniert vor, dass die Polizistin hereinkommen und sich umsehen könne, während meine Gedanken sich in Wirklichkeit überschlugen. Ich redete mir ein, dass Jason Fragen über den Film beantworten könnte. Er hatte ihn im Flieger gesehen, als er das letzte Mal von London nach Hause geflogen war. Aber was, wenn sie Spencer nach dem Anruf fragten?

Meine Verärgerung ließ die Beamtin offensichtlich ungerührt. »Wie gut kennen Sie Ihren Mann wirklich, Angela?«

»Ich weiß, dass er unschuldig ist.«

»Sie sind mehr als eine unbeteiligte Zuschauerin. Sie verschaffen ihm Freiräume, was bedeutet, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Lassen Sie nicht zu, dass Jason Sie und Ihren Jungen mit in den Abgrund reißt.«

Ich wartete, bis der Impala fort war, bevor ich nach meinem Telefon griff. Jason war in einer Besprechung, nahm meinen Anruf aber an. Ich hatte ihm am Abend zuvor gesagt, dass ich erst wieder mit ihm reden wollte, wenn ich einige Entscheidungen gefällt hatte.

»Ich bin ja so froh, dass du anrufst.«

»Jason, Kerry Lynch wird vermisst. Bitte sag mir, dass du das nicht meinetwegen getan hast.«

I Rachel

1

Der erste Ärger kam mit einem Mädchen namens Rachel. Sorry, kein Mädchen. Einer Frau namens Rachel.

Sogar Teenager werden heutzutage schon als Frauen bezeichnet, als wäre die Tatsache, ein Mädchen zu sein, schrecklich banal. Ich muss mich immer noch korrigieren. In der Zeit, in der ich mich irgendwann von einem Mädchen in eine Frau verwandelt hatte und mir der Unterschied womöglich etwas bedeutet hätte, hatte ich andere Sorgen.

Jason erzählte mir noch am selben Tag von dem Zwischenfall mit Rachel. Wir waren im Lupa und saßen an unserem Lieblingstisch, einer Insel der Ruhe, in der hinteren Ecke des überfüllten Restaurants.

Ich hatte von meinem Tag nur zwei Dinge zu berichten. Mein Handwerker und Mädchen für alles hatte das Scharnier des Schranks im Gästebad repariert, sagte aber, das Holz verziehe sich und werde früher oder später ersetzt werden müssen. Und der Leiter des Auktions-Komitees an Spencers Schule rief an, um nachzuhören, ob Jason ein Dinner stiften würde.

»Haben wir das nicht gerade erst gemacht?«, fragte er. »Du wolltest doch für irgendwen kochen.«

Spencer besucht die siebte Klasse am Friends Seminary. Jedes Jahr bittet die Schule nicht nur um eine Geldspende, zusätzlich zu dem ohnehin schon außerordentlichen Schulgeld, sondern auch noch um eine Gabe für die alljährliche Versteigerung. Sechs Wochen zuvor entschied ich mich für unseren üblichen Beitrag zur diesjährigen Veranstaltung: Ich würde ein Dinner für sechs Personen im Haus des Meistbietenden ausrichten. Nur wenige Leute in der Stadt brachten mich noch mit den Sommerpartys in Verbindung, die ich früher in den Hamptons ausgerichtet hatte, also streichelte Jason mein Ego, indem er den Preis hochtrieb. Ich überzeugte ihn, aufzuhören, wenn mein Dinner für eintausend Dollar einen Bieter gefunden hatte.

»Nächstes Jahr wird der Vorsitz des Komitees neu besetzt«, erklärte ich. »Die Kandidatin möchte sich einen Vorsprung verschaffen. Die Frau hat einfach zu viel Zeit.«

»Mit jemandem zu tun haben, der mit peinlicher Genauigkeit jedes kleinste Detail Monate im Voraus plant? Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie furchtbar das für dich sein muss.«

Er sah mich mit einem zufriedenen Lächeln an. Ich war der Planer der Familie, der mit den täglichen Routinen und einer langen Liste von, wie Jason und Spencer es nannten, Mama-Regeln alles darauf auslegt, unser Leben vorhersehbar zu halten – angenehm und langweilig, wie ich es gern nenne.

»Vertrau mir. Neben dieser Frau bin ich richtig cool.«

Er täuschte ein Schaudern vor und trank einen Schluck Wein. »Willst du wissen, was diese Meute wirklich für eine Versteigerung braucht? Eine Woche in der Wüste, ohne Wasser. Eine Pritsche in einem Obdachlosenasyl. Oder wie wär’s mit einem anständigen Fick? Wir würden Millionen zusammenbekommen.«

Ich sagte ihm, das Komitee habe andere Pläne. »Anscheinend bist du inzwischen ein so großer Fisch, dass die Leute ihre Brieftaschen öffnen, nur um die Chance zu bekommen, die gleiche Luft zu atmen wie du. Sie haben ein Dinner mit drei Gästen in einem – Zitat – ›sozial verantwortungsbewussten Restaurant deiner Wahl‹ vorgeschlagen.«

Er hatte den Mund voll, aber ich konnte seine Gedanken hinter dem Augenrollen lesen. Als ich Jason kennenlernte, hatte außer seinen Studenten, Kollegen und ein paar Dutzend Akademikern, die seine intellektuellen Passionen teilten, noch niemand von ihm gehört. Ich hätte niemals vorhergesagt, dass meine hübsche, kleine Intelligenzbestie einmal eine politische und kulturelle Ikone werden würde.

»Hey, sieh’s doch mal von der positiven Seite. Du bist ganz offiziell ein Promi. Währenddessen kann ich mich nicht mal verschenken, ohne abgewiesen zu werden.«

»Du bist nicht abgewiesen worden.«

»Nein, aber sie haben unmissverständlich klargestellt, dass du das Mitglied der Familie Powell bist, dessen Namen sie in der Broschüre für das nächste Jahr lesen wollen.«

Schließlich einigten wir uns auf ein Mittagessen, nicht Abendessen, mit zwei Gästen, nicht drei, in einem Restaurant – und Punkt, keine Erwähnung seines sozialen Bewusstseins. Ich willigte ein, eine der anderen Mütter zu überreden, das Essen zu ersteigern, wenn es soweit war, und zur Not unser eigenes Geld dafür einzusetzen. Jason war bereit, viel dafür zu zahlen, nicht mit Fremden essen zu müssen.

Nachdem wir unsere Bedingungen ausgehandelt hatten, erinnerte er mich, dass er am nächsten Nachmittag zu einem Treffen mit einem in Philadelphia ansässigen Energieunternehmen abreisen würde. Er würde zwei Nächte fort sein.

Natürlich musste er mich gar nicht daran erinnern. Ich hatte den Termin bereits in meinen Kalender eingetragen – auch bekannt als Familienbibel –, als er es das erste Mal erwähnt hatte.

»Möchtest du mitkommen?« Wollte Jason wirklich, dass ich ihn begleitete, oder hatte mein Gesichtsausdruck mich verraten? »Wir könnten einen Sitter für Spencer kommen lassen. Oder er könnte auch mitkommen.«

Schon bei dem Gedanken, jemals wieder in den Bundesstaat Pennsylvania zurückzukehren, drehte sich mir der Magen um. »Das Schachturnier morgen – du erinnerst dich?«

Ich sah, dass er sich tatsächlich nicht daran erinnerte. Spencer hatte nur wenige Hobbys. Er war kein geborener Sportler und teilte Jasons Abneigungen gegen Gruppenaktivitäten. Bislang jedoch blieb er im Schachklub.

Das Gespräch kam erst auf seine Praktikantin Rachel, als der Kellner unsere Pasta servierte: eine Portion cacio e pepe aufgeteilt auf zwei Teller.

Jason erwähnte es ganz beiläufig. »Ach, heute ist mir bei der Arbeit etwas passiert, das ein wenig merkwürdig war.«

»Im Seminar?« Jason lehrte während des Sommersemesters noch an der NYU, hatte aber seine eigene Unternehmensberatung und häufige Auftritte im Kabelfernsehen. Zudem hatte er einen beliebten Podcast. Mein Ehemann hatte eine Menge Jobs.

»Nein, im Büro. Ich habe dir von den Praktikanten erzählt?« Da die Universität zunehmend verstimmt auf seine außeruniversitären Aktivitäten reagierte, hatte Jason eingewilligt, ein Programm für Praktikanten aufzulegen, bei dem er und sein Beratungsunternehmen jedes Semester eine Handvoll Studenten betreuten. »Eine von ihnen scheint mich für ein sexistisches Schwein zu halten.«

Er lächelte, als wäre das witzig, aber in dieser Hinsicht waren wir sehr anders. Für Jason waren Konflikte amüsant oder doch zumindest kurios. Ich ging jedem Konflikt am liebsten aus dem Weg. Ich legte abrupt meine Gabel auf dem Rand meines Tellers ab.

»Bitte«, sagte er und winkte ab. »Es ist lächerlich und zugleich der Beweis, dass Praktikanten mehr Arbeit verursachen, als sie leisten.«

Er lächelte die ganze Zeit, während er den Zwischenfall schilderte. Rachel war im ersten oder zweiten Jahr ihres Master-Studienganges. Er war nicht sicher. Sie war eine der schwächeren Studenten. Er vermutete, dass Zack – der Kollege, dem er den Job der Bewerberauswahl übertragen hatte – sie aus Quotierungsgründen angenommen hatte. Sie betrat Jasons Büro, um ein Memo abzuliefern, das sie über einen Lebensmittelfilialisten verfasst hatte. Sie platzte damit heraus, dass ihr Freund ihr am Wochenende einen Heiratsantrag gemacht hatte, und hob die linke Hand, um einen riesigen Diamanten zu zeigen.

»Wer bin ich denn?«, fragte Jason. »Ihre Verbindungsschwester?«

»Bitte sag mir, dass du das nicht gesagt hast.«

Ein weiteres Augenrollen, diesmal allerdings nicht ganz so übertrieben. »Natürlich nicht. Ich kann mich ehrlich nicht erinnern, was ich gesagt habe.«

»Und doch …?«

»Sie sagt, ich wäre sexistisch.«

»Das hat sie wem gegenüber gesagt?« Ich war ziemlich sicher, dass es wem gegenüber hieß. »Warum sollte sie so was sagen?«

»Sie ist zu Zack gegangen. Solche Studenten nehmen wir heutzutage auf – eine Magisterstudentin, die keine Ahnung von der Hierarchie des Unternehmens hat, in dem sie arbeitet. Sie nimmt an, Zack besäße Macht, weil er derjenige war, der sie eingestellt hat.«

»Aber warum hat sie sich beschwert?« Ich bemerkte eine Frau am Nachbartisch, die in unsere Richtung blickte, und senkte sofort meine Stimme. »Was, sagt sie, wäre passiert?«

»Ich weiß es nicht. Sie hat weiter von ihrer Verlobung geredet. Sie hat zu Zack gesagt, ich hätte gesagt, sie sei noch zu jung, um zu heiraten. Dass sie zuerst ein bisschen leben, Erfahrungen sammeln müsse.«

War damit irgendwas nicht in Ordnung? Ich hatte nie einen normalen Angestelltenjob gehabt. Es klang unhöflich, aber doch keinesfalls beleidigend. Ich sagte Jason, es müsse noch mehr dahinter stecken, wenn sie sich beschwere.

Wieder ein Abwinken. »Diese jungen Studenten sind seltsam. Es ist schon sexuelle Belästigung, wenn man jemanden nach seinem Privatleben fragt. Aber wenn sie in mein Büro hereingeplatzt kommt und anfängt, mir von ihrer Verlobung zu erzählen, kann ich nichts sagen, ohne dass dieses zarte Schneeflöckchen zu schmelzen beginnt.«

»Dann hast du das gesagt? Dass sie zu jung sei und erst mal ein bisschen leben solle? Oder hast du sie zartes Schneeflöckchen genannt?« Ich kannte Jasons rigorose Ansichten über seine Studenten.

»Natürlich nicht. Ich weiß nicht. Ehrlich, mich hat die ganze Unterhaltung genervt. Ich glaube, ich habe irgendwas Scherzhaftes gesagt. Zum Beispiel ›Bist du sicher, dass du schon bereit bist, eingetütet zu werden?‹ Ja, wahrscheinlich so etwas.«

Es war eine Redensart, die ich schon häufiger bei ihm gehört hatte, nicht nur über die Ehe, sondern über alles, was so gut war, dass man es für immer festhalten wollte. »Tüt’s ein.«

Ich konnte ihn mir in seinem Büro vorstellen, gestört von einer Praktikantin, mit der er vorzugsweise nichts zu tun haben wollte. Sie plapperte von ihrer Verlobung. Ihm war’s vollkommen schnuppe. Du bist noch in der Ausbildung, bist du sicher, dass du schon bereit bist, eingetütet zu werden? Jason hatte diese Angewohnheit, stichelnde Bemerkungen zu machen.

Ich fragte ihn wieder, ob das alles sei, ob er sicher sei, dass da nicht noch etwas gewesen sei, das hätte missdeutet werden können.

»Du machst dir keine Vorstellung, wie empfindlich diese Collegestudenten sind.« Die Worte taten weh, selbst wenn er es nicht so meinte. Ich war nie auf dem College gewesen. »Falls Spencer so wird wie diese mikroaggressiven Heulsusen, kriegt er Stubenarrest, bis er vierzig ist.«

Als er meinen Gesichtsausdruck sah, griff er nach meiner Hand. Spencer ist tatsächlich besonders, allerdings kein zartes Schneeflöckchen. Er war nicht wie diese Kids, die in dem Bewusstsein aufwuchsen, außergewöhnlich zu sein, obwohl sie eigentlich nur ganz gewöhnlich waren. Jason sagte, er mache nur Spaß, und ich wusste, dass er es so meinte. Ich hatte gleich ein schlechtes Gewissen, weil ich begriff, dass ich – genau wie Rachel, die Praktikantin – viel zu empfindlich war, mich viel zu besonders fühlte.

»Und was passiert nun?«, fragte ich.

Jason zuckte die Achseln, als hätte ich gefragt, was er für die Versteigerung beisteuern würde. »Zack wird sich damit befassen. Zum Glück ist das Semester fast vorbei. Aber zum Teufel damit, falls sie denkt, sie würde eine Empfehlung bekommen.«

Als ich mir Wein nachschenkte, dachte ich wirklich, dass es bei Jasons Interaktion mit Rachel um nicht mehr ging als das – ob eine Studentin im Magisterstudium eine Empfehlung erhielt oder nicht.

Es würde vier Tage dauern, bis ich begriff, wie naiv ich gewesen war.

2

New York City Police Department

Omniform System– Strafanzeigen

14.Mai

Tatort: 1057, Avenue of the Americas

Ortsbezeichnung / Firmenname: FSS Consulting

Bericht:

Opfer gibt an, der mutmaßliche Täter habe im Verlauf eines Geschäftstermins sexuelle Handlungen »angeregt«.

Opfer: Rachel Sutton

Alter: 24

Geschlecht: Weiblich

Ethnie: Weiß

Das Opfer betrat das Revier um 17:32 Uhr mit dem Wunsch, Anzeige zu erstatten. Sie berichtete dann, dass ein Arbeitskollege namens Jason Powell sexuelle Kontakte zwischen ihnen »angeregt« habe. Der Vortrag des Opfers war ruhig und gefasst, sie wirkte nicht verstört oder außer sich. Als ich nachfragte, um welcher Art sexuellen Kontakts es sich gehandelt habe, sagte sie: »Er deutete an, ich solle sexuell mit ihm verkehren.«

Auf Nachfrage, was sie mit »angeregt« und »deutete an« konkret meine, gab sie keine Antwort. Ich fragte ferner, ob es zu einem körperlichen Kontakt zwischen ihnen gekommen sei oder ob er sie bedroht oder zu etwas gezwungen habe, was sie nicht habe tun wollen. Unvermittelt beschuldigte sie mich, ihr nicht zu glauben, und verließ das Revier trotz meiner wiederholt geäußerten Bitte, ihre Anzeige zu vervollständigen.

Fazit: Weiterleitung des Berichts an die SFS zur Abwägung weiterer Maßnahmen.

Gezeichnet: L. Kendall

3

Die Frau, die mich wegen Jasons Spende für die Versteigerung im kommenden Jahr anrief, war Jen Connington. Ich benutze keine Namen mehr, wenn ich Jason erzähle, was in den Teilen unseres Lebens geschieht, die er nicht sieht, weil ich weiß, dass er sie sich ohnehin nicht merken würde. Jen ist die Mutter von Madison und Austin, die Frau von Theo. Eine der drei tonangebenden Frauen der Friends Seminary Moms und frisch ernannte Vorsitzende des Auktions-Komitees.

Als ich den Hörer abnahm, sagte sie: »Hallöchen, Angie.«

Ich heiße nicht Angie. Soweit ich je einen Spitznamen hatte, war es bestenfalls Gellie, und diesen Namen benutzten allein meine Eltern. Ich vermute, Frauen, die Jennifer zu Jen verkürzen, gehen automatisch davon aus, dass Angelas Angies sind. »Vielen Dank für dein Angebot, ein weiteres Dinner beizusteuern!« Mit dicken Ausrufungszeichen. »Aber wir dachten uns, dass du nächstes Jahr vielleicht einmal aussetzen möchtest.«

Wir. Ich überlegte sofort, welche anderen Mütter wohl ihre Finger in der gleich angekündigten Planänderung hatten.

»Im Ernst, Jen, das ist das Mindeste, was wir tun können.« Meine Verwendung des Wir fühlte sich kleiner an.

Sofort stellte ich mir vor, wie sie Theo am Abend beim Cocktail fragte: »Wie oft muss sie uns eigentlich noch daran erinnern, dass sie früher in den Hamptons Promis bewirtet hat?«

Es war der einzige richtige Job, den ich je hatte. Zu dem Zeitpunkt war ich ziemlich stolz auf mich gewesen, aber Frauen wie Jen Connington würden nie aufhören, mich als jemanden zu sehen, die ihre beste Zeit als Hausangestellte hatte.

»Nun, nenn mich eine radikale Feministin, aber wir fanden, es ist allerhöchste Zeit, dass auch mal ein paar der Väter ihren Anteil übernehmen, sozusagen.« Sie lachte über ihre Anspielung auf den Titel von Jasons Bestseller Equalonomics. »Meinst du nicht auch, wir sollten Jason überzeugen, aus seinem Versteck herauszukommen?«

Ich hatte ihr gesagt, es sei mein ausdrücklicher Wunsch, dass er sich im Hintergrund halte. So sah ich ihn häufiger.

Jasons Markenzeichen war quasi, wie Firmen ihren Gewinn maximieren konnten, wenn Unternehmensentscheidungen auf den Prinzipien der Gleichheit basierten. Perfektes Futter für die Einwohner Manhattans – behalte all deine Vergünstigungen als Mitglied der reichen Elite und sei gleichzeitig ein guter, moralischer Mensch. Sein Buch blieb fast ein Jahr auf der Sachbuch-Bestsellerliste der New York Times, bevor es als Taschenbuch veröffentlicht wurde und weitere achtundvierzig Wochen dort stand. In dieser Zeit entwickelten sich Jasons Buchpräsentationen zu Fernsehauftritten, die wiederum zu den Podcasts führten. Und auf Vorschlag seines besten Freundes Colin gründete er eine Beratungsfirma. Ich freute mich für ihn – freute mich für uns –, aber wir hatten uns beide noch nicht an seine Prominenz gewöhnt.

Mein Angebot für ein Dinner war nicht mehr ausreichend für unseren Beitrag zur Versteigerung. Jen versuchte, die Ablehnung dadurch zu mildern, dass sie sich weiter darüber ausließ, Jason seinen gerechten Anteil an der Arbeit übernehmen zu lassen. »Jedes Jahr reißen sich die Mütter für diese Versteigerung den Hintern auf. Nächstes Jahr überlassen wir diese Arbeit den Vätern.«

Sie sprach jetzt bereits zum zweiten Mal von Jason als Spencers Vater. Ich korrigierte sie nicht. Es gab keinen Grund.

Als es zu meiner eigenen Überraschung zwischen Jason und mir in dem Sommer, als wir uns kennenlernten, ernst wurde, sah ich, wie große Mühe er sich gab, Spencer einzubeziehen. Er brachte ihm am Atlantic Beach bei, wie man mit einem Duck Dive unter einer Welle durchkam, spielte mit ihm Tennis auf den Plätzen in Amagansett und kletterte am Ende von Montauk auf den Leuchtturm, eigentlich ein Sommerabenteuer für Touristen, die nur einmal da waren, aber Spencer bekam nie genug davon.

Als es Herbst wurde, bat Jason uns, zu ihm in die Stadt zu ziehen. Mein Gott, wie sehr ich ja sagen wollte. Ich war erst vierundzwanzig und hatte bisher lediglich an zwei Orten gelebt: im Haus meiner Eltern und in einem Haus in Pennsylvania, zu dem ich nie wieder zurückgekehrt wäre, selbst wenn die Stadt es nicht abgerissen hätte. Ich hatte nie wirklich eine Beziehung zu einem Mann gehabt, der mich als Erwachsene kennengelernt hatte. Ich ging gelegentlich mit ein paar Typen aus, die ich aus meiner Kindheit kannte, aber es war nichts, das je zu einer Ehe geführt hätte. So ziemlich das Letzte, was ich wollte, war zu einer neuen Generation East Ender zu gehören, die im Leben kaum über die Runden kamen, und schon gar nicht, ohne verliebt zu sein.

Jason war nicht nur ein guter Mann, der mich liebte. Er war gebildet, klug und kultiviert. Er hatte einen guten Job, eine Wohnung in Manhattan und offenbar genug Geld, um sich im Sommer eine Wohnung auf den Hamptons zu mieten. Er wollte sich um mich kümmern. Endlich konnte ich aus dem Haus meiner Mutter ausziehen. Ich konnte das ganze Jahr über in der Stadt arbeiten, statt mir den Sommer über jeden Tag den Hintern aufreißen zu müssen, um genug Bares beiseitezulegen, damit wir die Nebensaison überstanden.

Aber ich konnte nicht. Ich war nicht die Hauptfigur in einem Märchen, bereit, sich vom Traumprinzen retten zu lassen. Ich war die Mutter eines Sechsjährigen, der erst mit drei Jahren anfing zu sprechen. Von dem die Ärzte sagten, er könnte ein Autist sein, nur wegen seines Schweigens und der Neigung, Blickkontakt zu vermeiden. Der während des Kindergartens zusätzliche Betreuung erforderte, um ihn auf das vorzubereiten, was ich nicht die »normale« Klasse nennen sollte, sondern vielmehr die »besondere«, die sein Kindergartenlehrer empfahl. Jetzt war er im Begriff, in die erste Klasse einer Schule zu gehen, wo er Freunde hatte, im einzigen sicheren Zuhause, das er je gekannt hatte. Ich konnte ihn doch unmöglich wegen eines Mannes, den ich erst drei Monate kannte, aus allem herausreißen und in die Stadt verpflanzen. Als ich Jason sagte, ich könne nicht umziehen, war ich darauf vorbereitet, Lebewohl zu sagen, sowohl ihm als auch unserer stürmischen Romanze. Ich versuchte, mir einzureden, dass andere Mädchen meines Alters schon längst eine Sommerliebelei gehabt hätten.

Wieder überraschte Jason mich. Er kam jedes zweite Wochenende mit der Bahn aus der Stadt heraus, nahm sich das billigste Zimmer im Gurney’s, das mit Blick auf den Parkplatz. Er half Spencer bei den Hausaufgaben. Es gelang ihm sogar, die Zuneigung meiner Mutter zu gewinnen, die niemanden mag. Im Dezember nahm ich seine Einladung an, mit Spencer in die Stadt zu kommen, um den Weihnachtsbaum am Rockefeller Center anzusehen. Wir gingen Schlittschuhlaufen. Es fühlte sich an wie im Film. Zum ersten Mal, seit Spencer und ich nach Hause gekommen waren, um bei meinen Eltern zu leben, verbrachte mein Sohn die Nacht unter einem fremden Dach.

Völlig unerwartet tauchte Jason am Wochenende vor dem Memorial Day auf. In einer Woche würde offiziell die Saison beginnen. Ich war bereits für siebenundzwanzig Partys gebucht. Ich stand in der Küche und machte Hunderte Datteln im Speckmantel, die ich zur zukünftigen Verwendung einfrieren konnte, als ich es an der Tür klingeln hörte. Er kniete sich auf der Veranda vor dem Haus meiner Mutter hin, öffnete eine Ringschatulle und machte mir einen Heiratsantrag. Ich stieß einen so lauten Schrei aus, dass ein zufällig vorbeikommender Radfahrer beinahe in den Verkehr ausgeschert wäre.

Er hatte jede Kleinigkeit genau geplant. Wir würden für den Sommer in seine Mietwohnung ziehen. Ich würde Leute einstellen, die sich um die Catering-Aufträge kümmerten, die ich bereits angenommen hatte, und würde keine weiteren annehmen. Im Herbst würden wir dann mit ihm in die Stadt umziehen. Er hatte Freunde gebeten, ihre Beziehungen spielen zu lassen, damit Spencer auf einer guten Schule unterkam. Er wollte in diesem Sommer im Gurney’s heiraten, falls es nicht schon zu spät war. Im Oktober zuvor hatte er bereits eine Anzahlung für einen Termin im Juli hinterlegt.

»Du bist verrückt«, sagte ich zu ihm. »Ich weiß, was dieses Lokal kostet. Du hast ein Vermögen ausgegeben, und alles nur auf Verdacht.«

»Ich mache nichts auf Verdacht. Wenn man Wirtschaftswissenschaftler ist, nennt man so etwas Forschung und auf genauen Informationen basierende Spekulation.«

»Wenn man ein normaler Mensch ist, nennt man so was, ein Idiot sein.«

»Falls es hilft, die haben mir einen Nachlass gegeben. Als sie hörten, um was es ging. Man liebt dich dort. Fast so sehr, wie ich dich liebe. Heirate mich, Angela.«

Ich fragte, warum die Eile.

»Weil ich dich nicht nur alle zehn Tage sehen möchte. Ich möchte dich jede Nacht bei mir haben.« Er nahm mich in die Arme und küsste mein Haar. »Außerdem möchte ich nicht, dass ein anderer Sommergast auf der Party eines Freundes womöglich ein Auge auf dich wirft und dich mir stiehlt.«

»Und Spencer?«

»Ich möchte, dass er einen Vater hat. Ich möchte sein Vater sein. Jason, Angela und Spencer Powell. Klingt doch irgendwie nett, oder nicht?«

Zu diesem Zeitpunkt trug Spencer meinen Nachnamen – Mullen. Eine andere Möglichkeit war nie in Frage gekommen. Da Jason nun über Heirat sprach, sah ich die Vorteile, in einer großen Stadt Angela und Spencer Powell zu werden. Er würde seine Großeltern immer noch sehen. Er hatte sich auf den Kindergarten und danach die erste Klasse eingestellt. Er würde den Wechsel auf eine neue Schule verkraften. Die Vorteile wären es wert.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie Jason in der Nacht, nachdem ich Ja gesagt hatte, meinte, wie sehr seine Eltern mich gemocht hätten.

Wir heirateten im Gurney’s an dem von Jason reservierten Datum, aber auf meine Bitte gab es keine förmliche Feier, sondern einfach nur eine Dinnerparty für zwölf Gäste. Kein bombastisches Hochzeitskleid, kein Schleier, keine Ankündigung in der Rubrik Sunday Styles der New York Times. Ein nicht konfessionsgebundener Geistlicher, den ich aus dem Internet hatte, tauchte zu den Cocktails auf, um es offiziell zu machen. Jasons Anwalt und bester Freund Colin kümmerte sich um die Formalitäten, Spencers Namen am Montag darauf ändern zu lassen. Die rechtsgültige Adoption würde länger dauern, aber Spencer und ich waren nun von Amts wegen Powells.

Zwei Jahre später, an einem Tisch im Eleven Madison Park, fragte ich, ob Colin immer noch daran arbeite, es offiziell zu machen. Jason machte sofort ein langes Gesicht, als hätte ich ihn beim Essen gestört mit der Bitte, den Müll herauszubringen. »Willst du an unserem Hochzeitstag wirklich darüber reden?«

»Natürlich nicht. Es ist nur das Datum – es ist eine Erinnerung.« Ich war keine Anwältin, aber es erschien mir nicht möglich, dass es so lange dauern konnte. Es war kein anderer Vater im Spiel. »Hat Colin dir gesagt, was die Sache aufhält? Ich kann die Polizeiberichte anfordern, sollte er sie brauchen. Ich bin sicher, Detective Hendricks könnte erklären …«

Jason legte seine Gabel auf den Teller neben seine zur Hälfte gegessene Entenbrust und hob eine Hand. »Bitte«, flüsterte er und schaute sich dabei um, als ob irgendwer zugehört hätte. »Du bist doch immer diejenige, die sagt, du dächtest nicht gern darüber nach. Dass die Vergangenheit keine Rolle spielte. Könnten wir also bitte an unserem Hochzeitstag dieses Thema sein lassen?«

»Schön.« Es war eine vernünftige Bitte. Er hatte recht. Ich war ein paar Mal zu einem Berater gegangen, nachdem ich wieder zu Hause gewesen war, aber nichts, was jemand eine echte Therapie nennen würde. Es war fast, als hätte ich mit neunzehn mein Leben noch einmal ganz von vorn begonnen. Ich brauchte keine Therapie. Das Einzige, was ich je brauchte, war, dass die Leute endlich kapierten, dass mit mir alles in Ordnung war. Bei den wenigen Malen, an denen Jason vorschlug, ich solle »mal mit jemandem reden«, schloss ich die Möglichkeit kategorisch aus. Dass ich nun das Thema beiläufig beim Essen erwähnte, war nicht fair.

Aber ich konnte meinen Verdacht nicht ignorieren, dass sich irgendetwas verändert hatte. Was sich vor ein paar Jahren nach einem Haufen lästiger Formalitäten angehört hatte, kam mir mittlerweile wie eine tatsächliche Hürde vor, eine Linie, die Jason nicht mehr überschreiten wollte. Vielleicht hatte es vor zwei Jahren leichter ausgesehen, sich vorzustellen, wie es war, Spencer ein richtiger Vater zu sein, als wir beide noch davon ausgingen, wir würden ein weiteres Kind bekommen, einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester für unseren Sohn.

Im zweiten Monat nach unserer Eheschließung wurde ich schwanger. Weitere zwei Monate später war ich es nicht mehr. Ich hatte Jason vorher noch nie weinen sehen. In dieser Nacht im Bett sagten wir uns, wir würden es wieder versuchen. Ich war immer noch jung. Es dauerte nur vier Monate, bis ich wieder ein Plus-Zeichen auf dem Teststäbchen hatte. Dann zwei Monate später: wieder eine Fehlgeburt. Kurz darauf noch eine.

Das dritte Mal dauerte die Schwangerschaft fast bis ans Ende des ersten Trimesters. Ich begann mich schon darauf zu freuen, die Nachricht weiterzuerzählen. Aber dann verloren wir das Kind. Die Ärzte blieben optimistisch, sagten mir, meine Chancen auf eine erfolgreiche Schwangerschaft lägen immer noch deutlich über fünfzig Prozent. Aber ich fühlte mich, als hätte ich diese Münze bereits zu oft geworfen, und jetzt fiel sie nur noch auf die falsche Seite. Gerade ich brauchte Planbarkeit. Ich musste wissen, was passieren würde, und weil ich das über mich wusste, blieb mir wirklich nur noch eine Chance: aufzugeben. Ich ließ mir eine Spirale einsetzen, damit ich wieder die Kontrolle über meinen Körper übernehmen konnte.

Jason gab sich die größte Mühe, nicht enttäuscht zu wirken. Er sagte, was immer passiere, wir hätten ja noch Spencer. Ich spürte jedoch, dass er mehr als sonst versuchte, sich davon zu überzeugen. Und ich bemerkte, dass ich diejenige war, die ihn hielt. Ich war diejenige, die ihn therapierte. Denn wir wussten beide, dass es auf gewisse Weise mehr sein Verlust war als meiner. Jason hatte kein eigenes Kind.

Und jetzt war Spencer immer noch nicht adoptiert.

»Ich dachte, vielleicht hätte sich zwischenzeitlich etwas Neues ergeben«, sagte ich leise.

Jason griff über den Tisch und hielt meine Hand. »Ich liebe unseren Sohn. Und das ist er heute – unser Sohn. Das weißt du doch, oder?«

»Natürlich.« Ich lächelte. »Es ist zwei Jahre her, seit du das eingetütet hast.«

»Die beste Entscheidung meines Lebens.«

»Ich dachte ja nur, dass wir Spencer inzwischen längst ebenfalls auf einen rechtlich einwandfreien Boden gestellt hätten.«

Er drückte meine Hand. »Die Zeit rast nur so, wenn man glücklich ist. Ich werde Colin morgen anrufen. Versprochen.«

Er hielt sein Versprechen. Als sich Colin mit mir hinsetzte und das Verfahren erklärte, sagte er, es werde ganz einfach sein. Wir müssten einfach nur Spencers leiblichen Vater verständigen und seine Erlaubnis einholen, seine Elternrechte aufzuheben. »Oder«, erklärte er, »falls er nie eine echte Beziehung zu Spencer hatte, könnten wir auch mit Verlassen und Vernachlässigung argumentieren und so die Benachrichtigung auslassen, falls du meinst, es könnte ein Problem geben.«

Ich versuchte, meine Stimme völlig neutral zu halten. »Er ist tot.«

»Oh, das ist ja noch besser. Dann brauchen wir lediglich eine Abschrift seiner Sterbeurkunde.«

»Aber der Vater wird auf der Geburtsurkunde doch gar nicht genannt.« Ich erklärte nicht, dass er bereits tot war und Spencer bereits zwei Jahre alt, als diese Geburtsurkunde ausgestellt worden war und mich als einzigen Elternteil aufführte.

»Hmh, okay.« Ich merkte, dass Colin auf eine detailliertere Erklärung wartete, aber ich lieferte ihm keine. »Nun, das macht es ein wenig komplizierter. Der Richter könnte fragen, ob du weißt, wer der Vater ist, und in diesem Fall könnten wir dann die Sterbeurkunde präsentieren. Sie müssen sich vergewissern, dass da draußen nicht irgendwo ein Kerl herumläuft, dem das Kind weggenommen wird. Es dürfte aber kein zu großes Problem sein.«

Ich nickte und wusste, dass Spencer niemals einen rechtsgültigen Vater haben würde. Als Jason an diesem Abend nach Hause kam, erzählte ich ihm alles, was ich über das Adoptionsverfahren erfahren hatte. Das war das letzte Mal, dass wir darüber sprachen.

Der Papierkram ist nicht wichtig. Spencer weiß, wer seine Eltern sind. Wir tragen Jasons Namen. Soweit es irgendwen betrifft, ist Jason Spencers Vater, und nur darauf kommt es an, nicht wahr?

4

Einen Tag nachdem Rachel Sutton in das Midtown South Precinct gegangen war, erhielt Detective Corrine Duncan die Kopie eines kurzen Berichts, den der diensthabende Beamte verfasst hatte. Sie merkte, dass sie beim Lesen den Kopf schüttelte.

Ihr Blick wanderte zur Unterschrift am Ende der Seite. »L. Kendall.«

Corrine kannte Officer Kendall nicht persönlich, aber sofort bildete sich vor ihrem geistigen Auge ein Bild von ihm. Es handelte sich gewiss um einen Mann, nicht allein wegen der statistischen Wahrscheinlichkeit, sondern wegen der Einzelheiten des Berichts selbst. Die wertenden Anführungszeichen um »angeregt« und »angedeutet«. Wie er anmerkte, »der Vortrag des Opfers war ruhig und gefasst, sie wirkte nicht verstört oder außer sich«, als wüsste doch jeder, dass gute Opfer immer weinten.

Corrine konnte sich bereits die Unterhaltung vorstellen, die gefolgt wäre, hätte Rachel Sutton das Revier nicht verlassen. Was haben Sie getragen? Warum waren Sie mit ihm allein?

Old school. L. Kendall hätte genauso gut in Großbuchstaben GLAUBT KEIN WORT VON DEM, WAS SIE SAGT quer oben über die Seite schreiben können. So verfasste die Polizei einen Bericht, wenn sie der Staatsanwaltschaft sagen wollte, sich nicht weiter Mühe zu geben. Wenn schon sonst nichts, würde es der Verteidigung Munition liefern, sofern es überhaupt jemals zu einem Verfahren käme.

Corrine wollte glauben, dass sie einen solchen Bericht niemals geschrieben hätte.

Ihre berufliche Laufbahn hatte nicht beim NYPD begonnen. Die ersten beiden Jahre war sie Streifenpolizistin in Hempstead auf Long Island, Nassau County, gewesen. Die Polizeiarbeit dort war völlig anders. Bei nicht einmal 120 Beamten erwartete das Department, dass die Officer in ihren Fällen selbst ermittelten, einzige Ausnahme waren schwere Verbrechen. In der Folge lernte sie, warum ein Kindesmissbrauchsopfer einen Unschuldigen belasten konnte (nämlich um einen schuldigen Elternteil zu schützen), warum Klägerinnen bei ehelicher Gewalt häufig keine Strafverfolgung wollten (aus Angst oder sogar aus Liebe) und warum Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs oft vielschichtiger waren als eine Zwiebel.

Aber beim NYPD musste ein Streifenpolizist wie L. Kendall solche Dinge gar nicht wissen. Er nahm alles auf und leitete den Bericht dann zur weiteren Bearbeitung an eine spezialisierte Abteilung weiter.

Jason Powell hatte sie bereits gegoogelt. Im Zusammenhang eines Polizeiberichts hatte ihr der Name nichts gesagt, doch die Suchergebnisse halfen ihrem Gedächtnis sofort auf die Sprünge. Laut seiner Biografie auf der Website der New York University besaß er einen Bachelor- und Masterabschluss von Stanford, einen Doktortitel von Harvard und hatte eine Stiftungsprofessur für Menschenrechte und Investment und war Professor der Volkswirtschaftslehre. So beeindruckend dieser Lebenslauf auch sein mochte, er schaffte es nur so gerade eben auf die erste Ergebnisseite der Google-Suche. Besser bekannt war Powell als Autor und Redner. Der erste Satz seines Wikipedia-Eintrags lautete: »Jason Powell ist der New York Times-Bestsellerautor von Equalonomics, er ist Vorstandsvorsitzender von FSS Consulting und tritt als Sprecher und Publizist häufig in den Medien in Erscheinung.«

Corrine bevorzugte Belletristik, aber selbst sie hatte schon von Equalonomics gehört. Vor etwa vier Jahren war es eines dieser Bücher gewesen, die einfach jeder las – oder doch zumindest zu lesen vorgab, um nur ja als kenntnisreich zu erscheinen.

Heute betrieb Jason Powell laut seiner Website einen Podcast unter demselben Namen wie sein Bestseller. Sein Twitter-Account – eine Kombination aus Wirtschaftsnachrichten, liberaler Politik und bissigen Kommentaren – hatte 226000 Follower. Cosmo nannte ihn einen der zehn begehrenswertesten »Rotschöpfe«.

Sie erinnerte sich, den Autor vor ein paar Jahren in Morning Joe gesehen zu haben. Die Diskussionsteilnehmer scharwenzelten um Powell herum, fragten, ob er wohl eines Tages für ein öffentliches Amt kandidieren würde. Wahrscheinlich schadete es nicht, dass er gut aussah – schlank, gepflegt, aber nicht aalglatt. Ein bisschen zu hübsch für Corrines Geschmack.

Als nächstes googelte sie »FSS Consulting«. Fair Share Strategies. Sie klickte auf die »Über uns«-Seite. Das Unternehmen bot Investoren und Investment-Gruppen »Analyse und Prüfung unter Berücksichtigung von Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit«.

Sie klickte auf »Unser Team« und scrollte herunter. Die Liste war kurz, enthielt neben Powell nur zwei weitere Namen: Zachary Hawkins, Geschäftsführer, und Elizabeth Marks, Rechercheur.

Am Computer würde sie kaum noch mehr erfahren. Sie nahm das Telefon ab.

Die Stimme, die sich meldete, klang ängstlich, vielleicht ein wenig ungehalten. »Hallo?«

Corrine fragte, ob sie mit Rachel Sutton spreche, und stellte sich dann als Detective vor, der die Anzeige bearbeite, die gestern erstattet worden sei.

»Oh, natürlich«, sagte Rachel entschuldigend. »Ich bin so froh, dass Sie anrufen. Es scheint mir überhaupt niemand zuzuhören. Ich war sicher, der Officer auf dem Revier werde meine Anzeige bestimmt ganz unten in einem Müllcontainer ablegen.«

»Wir haben alles im Computer, also …«

»Genau. Und was passiert jetzt?«

»Falls Sie nichts dagegen haben, wiederholen Sie für mich bitte noch einmal alles, was Sie bereits Officer Kendall erzählt haben. Und dann sehen wir weiter.«

Rachel lachte leise. »Werden Sie die Augen verdrehen, mich alle paar Sekunden unterbrechen und es so klingen lassen, als würde ich lügen?«

»War das Ihre Erfahrung auf dem Revier?«

»Der Kerl war ein Idiot. Ich meine, bei FSS hab ich’s ja irgendwie erwartet, als ich es gemeldet habe, denn Jason ist der Chef. Also bin ich aufs Revier, aber das war ja sogar noch schlimmer …«

»Okay, wir werden über alles reden, allerdings persönlich.« Die meisten Detectives vereinbarten Gespräche auf dem Revier, was im Fall der SFS, der Spezialeinheit für Sexualdelikte, bedeutete, eine Polizeiwache an der 123rd Street in East Harlem zu betreten, was vielen Opfern Angst machte. Corrine hingegen glaubte, eine Menge über die Menschen zu erfahren, wenn sie dort mit ihnen sprach, wo sie lebten. Im Wohnzimmer eines Opfers Platz zu nehmen war zudem eine Möglichkeit, ihr Vertrauen zu gewinnen. »Sind Sie jetzt zu Hause?«

»Ja. Geben Sie mir eine Stunde, um hier alles in Ordnung zu bringen.«

Schon hatte Corrine etwas über Rachel Sutton erfahren. Sie war ein Mensch, der klar Schiff machte, bevor er mit einem Detective über einen behaupteten sexuellen Missbrauch sprach. Die Tatsache für sich genommen bedeutete nichts, aber Corrine machte sich eine entsprechende Notiz im Geiste, da Corrine sich gern als jemand sah, dem nichts entging.

Rachels Wohnung befand sich in einem dieser typischen neuen Gebäude, die überall in Manhattan aus dem Boden schossen, alle deckenhoch verglast. Schäbige Fischgläser, nannte Corrine sie. Corrine hingegen besaß ein Haus – ein richtiges, anständiges Haus mit einem Garten und einer Einfahrt –; sie hatte es in Harlem gekauft, lange bevor die Hipster beschlossen, Harlem sei cool. Ein Fußweg von fünf Minuten zur Arbeit war nur einer der Gründe, warum sie um die Rückversetzung zur SFS gebeten hatte, nachdem sie vier Jahre bei der Mordkommission gewesen war.

Dem Portier sagte sie, sie wolle zu Rachel Sutton, und deutete dabei auf die Dienstmarke, die an einer Kette um ihren Hals hing. Vor einigen Jahren – sie war damals erst wenige Wochen Polizistin in Zivil gewesen – hatte Corrine sich für diese Platzierung entschieden. Als sie noch eine blaue Uniform trug, hatte niemand sie für ein Kindermädchen oder eine Haushälterin gehalten.

Rachel öffnete ihre Wohnungstür in einer abgeschnittenen Jeans und einem schwarzen Tanktop. Das lange dunkelbraune Haar hatte sie sich zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und etwas Make-up auf eine Art aufgelegt, die wirkte, als trüge sie überhaupt kein Make-up. Als Rachel ihr bedeutete, im Wohnzimmer Platz zu nehmen, bemerkte Corrine einen Flecken verschmierter Tinte auf Rachels Handrücken, wie ein temporäres Tattoo, ein paar Zentimeter entfernt von einem Ring mit Tiffany-Schliff, den Corrine auf ganze zwei Karat schätzte.

»Nette Wohnung«, bemerkte Corrine, auch wenn es ihr eher wie ein Foto aus einem Möbelkatalog vorkam.

»Danke. Meine Mom hat das alles gemacht. Ich habe ihr noch nicht von Jason erzählt. Sie wird durchdrehen. Und auf gar keinen Fall wird sie mich weiterhin dort arbeiten lassen –«

»Bei FSS?«

»Ja. Es ist eine unglaubliche Chance für mich. Jason ist der führende Experte an der Schnittstelle von Finanzwirtschaft und internationalen Menschenrechten. Und jetzt das. Ich will meine gesamte berufliche Zukunft nicht in die Luft jagen, bevor sie überhaupt angefangen hat.«

Corrine schlug vor, dass sie zuerst über das sprachen, was passiert sei.

Rachel erklärte, sie arbeite gerade an ihrem Master in Volkswirtschaftslehre an der NYU und mache ein Praktikum in Jasons Consultingfirma, das in ihrem Studium angerechnet werde. Sie hatte Jasons Büro betreten, um ein Memo abzuliefern, das sie aufgesetzt hatte. »Ich habe ihn nicht hinter seinem Schreibtisch gesehen, aber er muss gehört haben, wie ich hereinkam, denn er rief mich in seinen Wellnessraum.«

»Seinen was?«, unterbrach Corrine.

»So nennen die Praktikanten diesen Raum. Er hat dieses riesige private Bad mit Dusche und einem kleinen Bett. Manchmal schließt er die Tür, und wir glauben, er macht dort drinnen ein Nickerchen. Ein paar der Praktikanten witzeln, er würde vielleicht sogar in seinem Büro leben. Jedenfalls ging ich dort hinein, und da stand er mit offener Hose. Ich wollte mich schon abwenden, als er sagte, es sei nichts, was ich nicht schon gesehen habe. Dann redete er weiter mit mir, als wäre alles völlig normal. Aber er hat sich, also, die ganze Zeit irgendwie berührt.«

»Seine Genitalien waren entblößt?«

Rachel schüttelte den Kopf. »Nein. Oder zumindest habe ich nichts gesehen. Er hatte die Hände in der Hose. Ich kann’s nicht beschreiben. Und es ging so schnell, und ich war irgendwie total erschrocken. Und dann sah er auf das Memo in meiner Hand und bemerkte meinen Ring. Er fragte, ob das ein Konfliktdiamant sei.«

Rachel musste die Verwirrung auf Corrines Gesicht gesehen haben, denn sie unterbrach sich für eine Erklärung. »Das sind Diamanten, die illegal aus Krisen- oder Kriegsgebieten exportiert werden. Man nennt sie auch Blutdiamanten.« Corrine nickte, um anzudeuten, dass sie verstand.

»Ich sagte ihm, ich hätte echt keine Ahnung. Ich hob die Hand wie der letzte Idiot, erzählte, ich hätte mich am Wochenende zuvor verlobt.«

»Glückwunsch«, sagte Corrine.

»Tja, als ob’s ihn interessierte. Ich war jedenfalls nervös und suchte nach einem Gesprächsthema. Er nahm mir das Memo ab, und ich wollte mich umdrehen und gehen, doch da packte er mich irgendwie am Oberarm. Nicht fest, er hielt ihn einfach nur so, als wollte er nicht, dass ich ging. Ich dachte, vielleicht wolle er kurz mein Memo überfliegen und mir Nachfragen stellen, aber dann hat er mich irgendwie so zu sich gezogen, und sein Gürtel war immer noch offen. Er sagte, ich sei doch noch viel zu jung für die Ehe. Ich hätte ja noch nicht genug Spaß gehabt. Für mich war klar, dass er gleich meine Hand auf sein – na, Sie wissen schon. Ich bin sofort zurückgesprungen.«

Corrine fragte, was dann passiert sei.

»Nichts. Ich trat irgendwie einen Schritt zurück und zog meine Hand zurück, ganz abrupt. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Und dann hat er sich umgedreht, seinen Gürtel geschlossen und begonnen, in dem Memo zu blättern, so als wär’s überhaupt keine große Sache. Er sagte, er werde es mich wissen lassen, falls er noch irgendwelche Fragen habe. Und dann bin ich gegangen.«

Corrine fragte Rachel, ob sie mit irgendwem über den Zwischenfall gesprochen habe.

»Ich hab’s Zack Hawkins erzählt. Er ist der Geschäftsführer und offiziell für die Praktikanten zuständig.« Corrine erinnerte sich an den Namen von der Website der FSS. »Ich war so schockiert«, sagte Rachel. »Ich fand mich in seinem Büro wieder und erzählte ihm alles, was passiert war.«

Corrine fragte, ob Zack gesagt habe, was er wegen ihrer Beschwerde unternehmen werde.

»Er sagte, er werde mit Jason darüber sprechen – er sei sicher, es handele sich nur um ein Missverständnis.« Ihre Bestürzung darüber, dass es irgendeine Unklarheit bezüglich Jasons Verhalten geben könnte, war ihrem Tonfall anzuhören. »Es hat auch nach der Arbeit noch an mir genagt, also bin ich zu dem Revier.«

»Haben Sie sonst noch mit jemandem über den Zwischenfall gesprochen? Vielleicht mit Ihrem Verlobten?«

Rachel wirkte überrascht bei der Erwähnung eines Verlobten. »Ich muss mich immer noch an dieses Wort gewöhnen«, sagte sie und betrachtete ihren Ring. »Nein, Mike habe ich nichts davon gesagt, und zwar aus dem gleichen Grund, warum ich es meiner Mutter nicht erzählt habe. Ich will wirklich keine große Sache daraus machen.«

»Ich bin Polizeibeamtin, Rachel. Sagten Sie gerade, Sie möchten keine Anzeige erstatten?«

»Ich weiß es nicht, aber ich fand’s einfach nicht richtig, gar nichts zu sagen. Was, wenn ich es dabei bewenden lasse, und am Ende tut er einer anderen Frau was Schlimmeres an? Ich schätze, ich wollte einfach nur, dass etwas festgehalten wird. Wissen Sie, ob dies das erste Mal war, dass er so etwas getan hat?«

Corrine erklärte ihr, dass dem NYPD keine früheren Strafanzeigen vorlägen.

Rachel schürzte die Lippen. »Ich kann nicht beweisen, was passiert ist, richtig? Es steht mein Wort gegen seines. Ein klassischer Fall von Aussage gegen Aussage.«

Ja, dachte Corrine. Und selbst wenn sie den ganzen Zwischenfall auf Video hätte, handelte es sich nicht offenkundig um ein Verbrechen. Laut Rachel hatte Jason sie zu keinem Zeitpunkt an einer intimen Körperstelle berührt und auch seine eigenen Genitalien nicht entblößt. Nach mehreren Anschlussfragen bestätigte sie, dass Rachels Anschuldigungen – sofern sie diese beweisen konnte – als Versuch angesehen werden könnten, ein »anstößiges, körperliches Berühren« zu begehen. Ein minderschweres Vergehen. Theoretisch zog dies ein zu erwartendes Strafmaß von höchstens sechs Monaten nach sich, wahrscheinlicher aber würde es zur Bewährung in Verbindung mit irgendeiner Form von Beratung oder Therapie ausgesetzt.

»Und das immer unter der Voraussetzung, wir können beweisen, dass es seine Absicht war, Ihre Hand auf seine Genitalien zu legen«, fügte Corrine hinzu.

»Also hätte ich lügen und sagen sollen, er hätte es getan?«, fragte Rachel.

»Nein, denn so ist es ja nicht gewesen, richtig?«

Rachel schüttelte den Kopf und wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. »Tut mir leid, ich bin gefrustet.«

»Haben Sie daran gedacht, es der Universität zu melden? Ihr Praktikum läuft doch über die Uni, oder?«

»Technisch gesehen schon, aber es ist mehr wie ein Job, und Jason ist praktisch so was wie ein Rockstar an der NYU. Außerdem hat er einen Lehrauftrag, daher nehme ich an, sie würden sowieso nichts tun. Um ehrlich zu sein, ich vermute, dass eine Menge Studentinnen sich nicht zurückgezogen hätten. Ich bin nicht sicher, ob ich auf dem Campus ›diese Frau‹ sein möchte.« Sie senkte den Blick. »Dann bedeutet das jetzt, dass Sie nichts unternehmen werden?«

»Mein nächster Schritt wäre es für gewöhnlich, mit weiteren Zeugen zu sprechen, aber Sie sagen, es gab niemanden. Ich würde mit diesem Zack sprechen, um zu bestätigen, dass Sie den Zwischenfall direkt anschließend gemeldet haben – und ihn nach Ihrem Auftreten und Verhalten fragen. Und normalerweise spreche ich mit dem mutmaßlichen Täter, bevor ich meine Ermittlungen abschließe. Das alles aber nur, falls Sie möchten, dass ich weitermache. Ich kann nicht versprechen, dass Anklage gegen ihn erhoben werden wird – das ist allein Sache des Staatsanwaltes –, aber zumindest werden die entsprechenden Berichte in den Akten sein.«

Rachel nickte.

»Ist es das, was Sie wollen?«

Als Rachel antwortete, klang sie überhaupt nicht mehr wie eine verwirrte, hin- und hergerissene Studentin. Ihre Stimme war ruhig und entschieden. »Ja, ich bin sicher. Ich möchte einfach nur, dass er zugibt, was er mir angetan hat.«

Auf dem Weg zu ihrem Wagen dachte Corrine über all die Gründe nach, warum kein Staatsanwalt diesen Fall je zur Anklage bringen würde. Die verzögerte Meldung. Rachels Abwehrhaltung gegenüber Officer Kendall. Die äußerst oberflächliche Interaktion. Das Fehlen jeglicher Gewalt. Ganz zu schweigen von dem Tintenfleck auf Rachels Handrücken, wahrscheinlich von einem Club, möglicherweise von der voraufgegangenen Nacht, nur wenige Stunden nach dem Zwischenfall.

Die Strafanzeige war nicht wirklich richtig. Aber das waren sie nie. Das war eine Wahrheit, die jeder Ermittler von Sexualdelikten zugeben würde, wenn es auch nicht völlig inakzeptabel war. Man sollte nicht sagen, dass Opfer nie die ganze Wahrheit sagten, denn das klänge, als würde man sie der Lüge bezichtigen. Sie sind keine Lügner. Sie schützen sich selbst. Sie stellen sich darauf ein, dass man ihnen nicht glaubt. Sie versuchen all die Möglichkeiten vorherzusehen, wie andere sie angreifen werden, und sie bauen ein Schutzschild auf.

Wenn alles gleich bleibt, glaubte Corrine, dass gestern Rachel irgendetwas widerfahren war – oder doch zumindest, dass Rachel glaubte, es sei passiert. Der Hauptgrund, warum Corrine glaubte, dass Rachel die Wahrheit sagte? Weil ein Lügner sich etwas erheblich Schlimmeres ausgedacht hätte.

Sie rief ihren Lieutenant aus dem Wagen an. Er verstand nicht, warum sie ihn wegen eines albernen Vergehens anrief, bis sie ihm erklärte, wer Jason Powell war. Er reagierte mit einer ungehaltenen Obszönität.

Wie erwartet behandelte er es sofort als heiße Kartoffel und sagte, sie solle einen stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt anrufen.

Sie rief die Abteilung für Sexualdelikte beim Büro der New Yorker Bezirksstaatsanwaltschaft an und ließ sich mit dem leitenden Staatsanwalt Brian King verbinden. Er ging nach dreimaligem Klingeln ans Telefon. »Bleiben Sie einen Moment dran. Sorry, ich inhaliere gerade mein Mittagessen, bevor ich zu einer Anhörung über ein Strafmaß muss. Ich wäre eigentlich nicht rangegangen, hätte ich nicht Ihre Nummer erkannt.«

»Ich fühle mich geehrt.« Sie erzählte King alles, was sie bislang über Rachels Strafanzeige wusste.

»Schadenfreude«, sagte er. »Jedes Mal, wenn meine Exfreundin ihn im Fernsehen sah, hat sie die Lautstärke hochgedreht. Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«

»Nein. Wir dachten, wir holen Sie frühzeitig mit an Bord. Damit wir nichts Falsches machen. Eine Möglichkeit, es durchzuziehen, wäre es, einfach unangekündigt zu ihm zu gehen und ein Schwätzchen zu halten. Seine Seite der Geschichte hören. Vielleicht gibt er ja irgendwas zu …«

»Oder vielleicht schmeißt er Sie auch raus, ruft einen Anwalt an und lässt ein Spezialreinigungstrupp anrollen, um seine Sexhöhle schrubben zu lassen.«

»Viele Männer haben private Bäder in ihren Büros.«

»Ich sehe nicht, dass bei dieser Sache irgendwas herauskommt. Das ist Ihnen auch klar, stimmt’s?«

»Wäre nicht das erste Mal. Ich bearbeite nur den Fall. Meine Vermutung ist, dass Rachel keine Anzeige erstatten wird, wenn sein Wort gegen ihres steht, aber das werde ich nicht wissen, solang ich nicht die Frage stelle.«

»Na schön. Ich bin begeistert, dass Sie mich so früh beteiligen«, sagte er.

Corrine befand sich ein paar Blocks entfernt von den Büros des FSS, als ihr Mobiltelefon klingelte. Sie hatte Rachel Suttons Nummer nur ein einziges Mal gewählt, erkannte sie aber sofort auf dem Bildschirm.

»Detective Duncan«, meldete sie sich.

Rachel nannte ihren Namen, entschuldigte sich für die Störung und sagte, es sei ihr noch etwas eingefallen. »Seine Unterwäsche. Es waren weiße Boxershorts mit roten Zuckerstangen. Das war so grotesk, ich hätte beinahe gelacht. Hilft das weiter?«

In einem Fall, bei dem ihre Aussage gegen seine Aussage steht, hatte Rachel gerade einen Punkt für sich verbucht.

5

Detective Corrine Duncan

Vernehmung: 15. Mai, 13 Uhr 55

Ort: 1057 Avenue of the Americas, FSS Consulting

Ich bin zu der genannten Anschrift gegangen, um Jason Powell im Zusammenhang mit einer von Rachel Sutton erstatteten Strafanzeige zu hören. Man sagte mir, Powell sei sich nicht im Büro. Daraufhin bat ich, mit Zachary Hawkins zu sprechen, dem Geschäftsführer von FSS Consulting.

Ich stellte mich Hawkins als Detective des NYPD vor und setzte ihn in Kenntnis, dass eine Praktikantin einen Zwischenfall gemeldet habe, der sich angeblich tags zuvor ereignet habe. Hawkins nickte, als wüßte er, wovon ich sprach. Er sagte, Jason Powell sei vor Kurzem zu einer Geschäftsreise nach Philadelphia abgereist, obwohl ich ihm gegenüber nicht erwähnt hatte, dass es bei der Anzeige der Praktikantin um Mr. Powell ging. Ich fragte ihn geradewegs: »Wissen Sie, warum ich hier bin?« Er antwortete, ohne zu zögern: »Es geht um Rachel, richtig?«

Hawkins berichtete, dass er bei Powell an der NYU studiert und nach einigen Jahren bei einem Hedge-Fonds einen Job bei FSS angenommen habe. Er erklärte, es sei das erste Mal, dass Praktikanten bei FSS eingestellt worden seien, und zwar auf Drängen der Universität, da Powell neben seinen externen Geschäftsvorhaben immer noch eine Professur innehabe. Rachel Sutton sei eine von vier Praktikanten, die etwa sechs bis zehn Stunden pro Woche bei FSS verbringen würden, vorwiegend beschäftigt mit der Recherche potentieller Investments.

Hawkins deutete an, dass Rachel Sutton am vorherigen Tag in sein Büro gekommen sei, um mit ihm zu sprechen. Sie berichtete, dass Jason Powell sie »sexuell belästigt« habe. Sie trug vor, dass Powell sich ihr gegenüber »auf unanständige Weise verhalten« habe. Laut Hawkins erwiderte Sutton auf die Bitte um Einzelheiten: »Er ist derjenige, der sich hier rechtfertigen sollte.«