Theater - Arnold Bennett - E-Book

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Arnold Bennett

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Beschreibung

Der erfolgreiche Geschäftsmann Henry Edward Machin aus Nordengland sucht nach einer neuen Herausforderung. Mit seinen Unternehmungen hat er alles erreicht und beginnt, sich zu langweilen. Er bekommt die Chance, in London ein Theater zu bauen. Mit der Theaterbranche kennt er sich zwar wenig aus, aber das Abenteuer reizt ihn. Das Projekt bringt seine alte Energie und Motivation zurück. Der Umgang mit ehrgeizigen Schauspielern und die große öffentliche Aufmerksamkeit gefallen ihm. Doch das Neuland der Theaterwelt hält für ihn auch einige Überraschungen bereit. »Theater« von Arnold Bennett erschien erstmals 1913 (engl.: »The Regent«). Das Buch bietet einen unterhaltsamen Blick auf die Welt des Theaters, gesehen aus der bodenständigen Perspektive eines Investors.

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Theater

TheaterErster Teil Erstes Kapitel. Der Hundebiss I II III IV V Zweites Kapitel. Die Banknote I II III IV Drittes Kapitel. Hotel Wilkins I II III IV I II III Fünftes Kapitel. Herr Sachs spricht I II III IV V Sechstes Kapitel. Lord Woldo und Lady Woldo I II III IV V VI VII VIII Zweiter Teil Siebentes Kapitel. Der Eckstein I II III IV V VI Achtes Kapitel. Elsie I II III IV V VI VII VIII IX Neuntes Kapitel. Die Eröffnungsvorstellung I II III IV V VI VII VIII Zehntes Kapitel. Isabel I II III IV V VI VIII Ende. Impressum

Arnold Bennett

Theater

Aus dem Englischen von Karl Federn

Erster Teil

Erstes Kapitel. Der Hundebiss

I

Und doch, dachte Edward Henry Machin, als er sechs Minuten vor sechs seiner Wohnung auf der Höhe von Bleakridge zuschritt, und doch bin ich gar nicht so recht vergnügt!

Die beiden ersten Worte dieser unerfreulichen Betrachtung bezogen sich auf die Tatsache, dass ihm zwei Telefongespräche mit seinem Börsenvertreter in Manchester durch eine Spekulation in Gummiaktien dreihunderteinundvierzig Pfund eingetragen hatten. Es war im Herbst des großen Börsenjahres 1910. Er hatte nichts weiter getan, nur den Mund klug und glücklich im richtigen Augenblick geöffnet, und das Geld war ihm wie eine reife goldene Frucht als Himmelsgeschenk in den Schoß gefallen. Und doch war er gar nicht so recht vergnügt! Er war überrascht, ja es verletzte ihn geradezu, dass Geldgewinn nicht unbedingt glücklich machte.

Ich werde älter, dachte er.

Er hatte recht. Er war noch jung, wie jeder Mann von dreiundvierzig Jahren zugeben wird, aber er wurde älter. Wenige Jahre vorher hätte der unerwartete Gewinn von dreihunderteinundvierzig Pfund keine krankhafte Selbsterforschung hervorgerufen, sondern ein natürliches, durch keinerlei Nachdenken angekränkeltes Glücksgefühl, das mindestens zwölf Stunden angedauert hätte.

Mit solchen Gedanken beschäftigt, verschwand er hinter der rötlichen Gartenmauer, die sein Haus den Blicken der Straße entzog. Er hatte eigentlich gehofft, dass Nellie ihn auf den berühmten Marmorstufen des Hauseingangs erwarten würde, denn die Frau pflegte schon seit langen Jahren seine Ankunft von dem kleinen Fenster im Badezimmer aus zu erspähen. Aber auf den Marmorstufen stand niemand. Seine Verstimmung nahm zu. Beim Mittagessen hatte er über Neuralgie geklagt, daher durfte er an diesem Abend wirklich erwarten, dass sie reizend angezogen und voll Mitgefühl an der Türe stehen würde. Die Neuralgie hatte allerdings aufgehört. „Aber,“ sagte er mit Recht bitter zu sich selbst, „sie kann doch nicht wissen, dass ich keine Schmerzen mehr habe.“

Er öffnete die Haustür mit seinem eleganten kleinen Hausschlüssel, trat in die Wohnung und stolperte beinahe über einen Handbesen, der an der zum Fußreinigen eingelassenen Matte lag. Er betrachtete ihn ärgerlich. Solch ein Gegenstand wäre um diese Zeit in der Diele jedes Hauses nicht am Platze gewesen. Aber in der Diele seines Hauses, dessen Pläne er vor zwölf Jahren selbst entworfen hatte, war der Anblick eines elenden alten Handbesens zur Teestunde geradezu ein Skandal. Vor noch nicht vierzehn Tagen hatte er seiner Frau einen großartigen elektrischen Vakuumreiniger geschenkt. Man brauchte ihn nur mit dem Steckkontakt an der Wand anzuschließen, ihn in geheimnisvollen Rhythmen fächelnd über den Fußboden zu bewegen, und das Haus wurde sauber. Er war so stolz darauf, als ob er ihn selbst erfunden hätte; jeden Tag erkundigte er sich nach dem Erfolg und erwartete und erhielt begeisterte Antworten.

Und jetzt lag dieser schmutzige Handbesen da!

Während er seinen Hut und seinen schönen neuen Überzieher, der die Farbe und die sanfte Glätte einer römischen Pflaume hatte, sorgfältig aufhing, ärgerte er sich über die Weiber. Es waren ihrer fünf: seine Frau Nellie, seine Mutter, das Kindermädchen, die Köchin und das Stubenmädchen, und ihre gemeinsame Nachlässigkeit trug die Schuld.

Dabei war Nellie nirgends zu sehen, obwohl er absichtlich seinen Ebenholzstock so geräuschvoll als möglich hingestellt hatte. Jetzt stürzte das Dienstmädchen aus der Küche mit dem Teetablett. Sie sah schuldbewusst aus. Offenbar hatten sich alle im Haus verspätet. Er eilte nach dem Badezimmer und nahm zwei Stufen auf einmal, um Punkt sechs Uhr im Eßzimmer zu sein und die andern zu beschämen.

Das Badezimmer war sein eigenstes Gebiet, in dem er beständig Verbesserungen anbrachte, und in dem er sein Talent für Komfort und seine Unempfindlichkeit für alle Ästhetik betätigen konnte. Es war unbestritten das schönste Badezimmer in den Fünf Städten und typisch für das ganze Haus. Aber heute war er enttäuscht, keine unsauberen Spuren vom Baden der Kinder zu entdecken; heute würde ihm eine Übertretung des obersten Gesetzes, dass das Badezimmer immer in peinlicher Ordnung und frei sein musste, wenn Vater es brauchte, eine grimmige Befriedigung gewährt haben. Während er sich die Hände wusch und seine gepflegten Nägel mit einer Nagelbürste reinigte, die fünfeinhalb Schilling gekostet hatte, sah er sich selbst im Spiegel, den er beim Waschen angespritzt hatte: ein etwas starker, breitschultriger, blonder, pausbäckiger Mann, mit kurzem Bart und dichtem Haar. Seine Krawatte gefiel ihm; seine eleganten, zurückgeschobenen Manschetten gefielen ihm, und der weiche, blonde Flaum auf seinem Unterarm machte ihm Vergnügen. Man sah ihm seine dreiundvierzigeinhalb Jahre nicht an, und doch hatte er kürzlich daran gedacht, sich den Bart abnehmen zu lassen, teils um den Jahren zu trotzen, teils auch weil ein Freund ihm versichert hatte, dass, wenn er sich den Bart abnehmen ließ, das Kopfhaar besser wachsen würde ... Denn da war eine schwache Stelle mitten auf dem Schädel, wo das Haar in letzter Zeit in betrüblicher Weise dünner wurde. Der Friseur hatte ihm versichert, dass eine elektrische Massage dies beseitigen würde, und wenn er ihm nicht glauben sollte, würde es ihm jeder Arzt bezeugen. Jetzt aber beschloss er, plötzlich entmutigt und weil ihm das Leben unerklärlicherweise keinen Reiz zu haben schien, den Bart stehen zu lassen. Es lohnte nicht, ihn abzunehmen. Es war nicht mehr der Mühe wert. Er war dreiundvierzigeinhalb Jahre alt. Schließlich wurde jeder Mensch mit der Zeit kahl. Außerdem, wenn er sich den Bart abnehmen ließ, brauchte er täglich einen Barbier. Und er war vollkommen überzeugt, dass es in den Fünf Städten keinen anständigen Barbier gab. Er fuhr jedesmal nach Manchester, sechsunddreißig englische Meilen, um sich die Haare schneiden zu lassen. Die Sache kostete ihn ein volles Pfund und einen halben Tag ... Dabei war er überzeugt, dass er ein Mensch von einfachen Bedürfnissen war! Zum Glück konnte er sich diese einfachen Bedürfnisse erlauben, denn wenn er auch nicht im modernen Sinn des Wortes reich war, so gab er doch im Steuerbekenntnis ein jährliches Einkommen von über fünftausend Pfund an, und die Steuerbehörde glaubte es ihm nicht unbedingt.

Er bürstete das dichtere Haar über die schwache Stelle, streifte die Hemdärmel herab, bürstete seinen Rockkragen aus und schließlich den Bart, zog die Jacke sorgfältig wieder an, denn er war immer peinlich gut gekleidet. Dann drehte er den Schnurrbart nachdenklich zu militärischen Spitzen aus und warf einen Blick durch das Hoffenster, um sich zu vergewissern, ob die Mauer des neuen Anbaus, den er aufführen ließ, noch Spuren von Feuchtigkeit zeigte, und ob der neue Chauffeur das neue Auto mit der richtigen Liebe putzte. Die Mauer zeigte keine Spuren von Feuchtigkeit und der gekrümmte Rücken des Chauffeurs schien eine ungewöhnliche Gewissenhaftigkeit anzudeuten.

Und jetzt schlug die Uhr draußen sechs, und er eilte hinab, um die anderen gründlich zu beschämen.

II

Nellie kam erst zwei Minuten später als er ins Speisezimmer, und da Edward Henry jede Sekunde dieser zwei Minuten gezählt hatte, so hatte er das Gefühl, lange gewartet zu haben. Sein stiller Ärger wurde dadurch gesteigert, dass Nellie ihre weiße Schürze auf dem Korridor ablegte und sie eilig auf das Teebrett warf, das das Mädchen, wie stets während der Mahlzeiten, draußen abstellte. Er hatte es nicht gesehen, weil sie es hinter der Türe getan hatte, aber er wusste es. Und er hatte es nie leiden können. Wenn Nellie im Hause beschäftigt war, dann sah er sie gern in der sauberen weißen Schürze, weil es ihr stand, aber als ein Mann, der sechstausend Pfund im Jahr ausgeben konnte, liebte er nicht, dass man mit der Schürze zum Essen kam. Und heute paßte ihm die Schürze überhaupt nicht. Wer hätte bei derartigen Gewohnheiten der Hausfrau erraten können, dass er wöchentlich hundert Pfund ausgeben konnte? Als er noch jung war, hätte ein Einkommen von sechstausend Pfund jährlich für ihn eine aristokratische Lebensführung, Lakaien, Schlösser, Jagden, einen Güterdirektor und einen Rennstall, die beste Gesellschaft der Provinz, vornehme Diners und eine näselnde Aussprache bedeutet. Wozu trug seine Frau eine Schürze? Es war traurig, aber weder seine Frau noch seine Mutter sahen jemals wie reiche Leute aus, und sie versuchten auch gar nicht, so auszusehen. Wenn seine Mutter eine Sealskinjacke, die achtzig Pfund gekostet hatte, trug, so sah sie aus, als ob sie sie bei einem kleinen Ausverkauf erstanden hätte, und seine Frau trug einen Diamantring für hundertachtzig Pfund so selbstverständlich, dass niemand ihm seinen Wert ansah.

Aber während seine männliche Logik diesen weiblichen Mangel an Auftreten entschieden verurteilte, war er als Mensch sehr froh darüber, denn er wusste genau, dass eine aristokratische Lebensführung ihm nur beschwerlich und beängstigend gewesen wäre. Nur, dass er das nie zugegeben hätte.

Als Nellie sich an den Tisch setzte, war ihr Gesichtsausdruck nicht klar. Es waren nun mehr als zwanzig Jahre vergangen, seitdem sie sich – er und ein nachdenkliches kleines Geschöpf – auf einem historischen Rathausball getroffen hatten. Er vermochte dieses nachdenkliche kleine Geschöpf in den ruhigen, reinen Zügen des Gesichts und in dem rundlich gewordenen Körper noch zu erkennen, aber eine tüchtige, erfahrene, nicht einzuschüchternde Frau war hinzugekommen. Es war nicht zu glauben, dass das nachdenkliche kleine Geschöpf achtunddreißig Jahre alt war. Er erinnerte sich ihres schlanken, biegsamen Körpers, der schüchternen Sehnsucht in ihren Augen, und jetzt ...! So ist das Leben.

Sie saß sehr gerade auf ihrem Stuhl. Sie entschuldigte sich nicht dafür, dass sie zu spät gekommen war. Sie fragte nicht nach seiner Neuralgie. Aber sie schien auch nicht böse. Sie verhielt sich neutral. Sie saß wohlerzogen, heiter und in bewusster Tadellosigkeit da. Er hätte ihr gerne gesagt, wieviel Uhr es genau war, aber irgendwie brachte er die Worte nicht heraus.

„Maud,“ sagte sie völlig ruhig zu dem Mädchen, das den gebackenen Schinken unter der silbernen Glocke hereinbrachte, „Sie haben den Handbesen im Korridor liegen lassen.“

Dies war ein weiterer Beweis, dass Nellie nicht auf der Höhe eines Einkommens von sechstausend Pfund jährlich stand. Sie nannte die Diele stets Korridor.

„Ich war es nicht, gnäd'ge Frau“, erwiderte Maud mit gleich bewusster Tadellosigkeit. „Er muss ihn hinausgeschleppt haben.“

„Wer er?“ fragte der Herr des Hauses.

„Carlo, gnädiger Herr.“ Mit diesem Triumph verschwand Maud.

Edward Henry war geschlagen. Aber er gewann seine Geistesgegenwart schnell wieder und suchte nach einem Grunde, seine Meinung von der Nachlässigkeit der fünf weiblichen Wesen zu rechtfertigen. „Man hätte den Handbesen schon wohin bringen können, wo der Hund ihn nicht gekriegt hätte“, sagte er, aber er sagte es nur im Geiste. Auch die Worte „Neuralgie“, „dreihunderteinundvierzig Pfund“ und „Verspätung“ dachte er, sprach sie aber nicht aus. Jetzt erst, da er ihr vom gebackenen Schinken vorlegen wollte, bemerkte er die Abwesenheit seiner Mutter.

Das ist stark, dachte er, aber er brachte seinen Ärger nur durch ein stärkeres Aufsetzen der Schüssel zum Ausdruck.

Als Antwort auf dieses energische Hinstellen der Schüssel begann Nellie: „Deine Mutter ...“ und damit wusste er, dass Nellie über irgend etwas in Unruhe war. Schwiegermutter und Schwiegertochter lebten in vollkommener Eintracht, ja sie waren oft Verbündete gegen ihn; aber sobald Nellie über etwas unruhig war, sagte sie nicht „Mutter“, sondern „Deine Mutter“. Es war eine ungemein schlaue, an sich dumme, aber äußerst wirksame Art, ihn ins Unrecht zu setzen. „Deine Mutter ist oben bei Robert.“ Robert war der achtjährige älteste Sohn.

„Oh“, sagte Edward Henry. Er hätte fragen können, wozu das Kindermädchen da war, aber er sagte nur: „Was ist denn wieder los?“

„Carlo hat ihn gebissen – in die Wade“, sagte Nellie, die Lippen zusammenpressend.

Das war schließlich etwas. „Der Bengel hat ihn wohl gequält, wie gewöhnlich?“ fragte er.

„Das weiß ich nicht,“ sagte Nellie, „ich weiß nur, dass der Hund abgeschafft werden muss.“

„Ernstlich?“

„Natürlich“, erwiderte Nellie heftig, wurde aber sogleich wieder ruhig.

„Ich meine, der Biss?“

„Es ist jedenfalls ein tüchtiger Biss.“

„Und du denkst natürlich gleich an Hundswut und qualvollen Tod?“

„Nein“, sagte sie und versuchte zu lächeln.

Aber er wusste, dass sie daran dachte, und er wusste auch, dass es eine Bagatelle war. Wäre es ein tüchtiger Biss gewesen, dann hätte sie sich ganz anders angestellt. „Ja, das denkst du“, fuhr er, durch ihr Lächeln ermutigt, fort.

Aber sie lächelte nicht mehr. „Du wirst zugeben, dass Carlos Zähne nicht immer sauber sind. Er steckt seine Nase in jeden Schmutz. Es kann eine Blutvergiftung sein.“

„Unsinn!“ sagte er.

Dieser Ausruf verdiente keine Antwort und erhielt keine. Maud trat ein und flüsterte Nellie zu, dass man sie oben brauche. Sobald seine Frau gegangen war, klingelte Edward Henry.

„Maud,“ sagte er, „bringen Sie mir die Zeitung. Sie steckt in der linken Überziehertasche.“

Und er aß gelassen zu Ende, die Zeitung an den Blumentopf gelehnt, den er an Stelle der Schinkenschüssel vor sich hingestellt hatte.

III

Als er durch die offene Tür auf der Treppe sprechen hörte und sah, dass seine Mutter zum Tee herunterkam, eilte er wie ein flüchtender Verbrecher in den Salon. Er wünschte seiner Mutter nicht zu begegnen, obwohl sie gewöhnlich nicht viel redete.

Nächst dem Badezimmer war der Salon der Raum, den Edward Henry bevorzugte. Da er schließlich nicht die ganze Zeit im Badezimmer verbringen konnte, hatte er ihm seine Sorgfalt zugewendet. Er war mit Recht stolz auf ihn, insbesondere auf den Kronleuchter und den vergoldeten elektrischen Ofen. Edward Henry wollte Licht und Wärme haben. Im modernsten Hotel in Birmingham hatte er einen vergoldeten Heizapparat gesehen. Er kam der allgemeinen Meinung so weit entgegen, dass er Kamine im Hause hatte, in denen bei besonderer Kälte auch geheizt wurde; wenn es nicht besonders kalt war, wurde der elektrische Heizer benutzt. Dann saßen Edward Henry, seine Frau und seine Mutter und manchmal ein Bekannter, der gerade da war, im Salon und spielten Bridge oder Whist mit einem Strohmann.

Ferner befanden sich in dem Salon ein türkischer Teppich, vier gewaltige Klubsessel und ein Sofa, ein Zigarrenschrank von imponierender Größe und ein mechanisches Klavier. Er hatte eine Zeitlang geschwankt, ob er nicht lieber ein drehbares Büchergestell für das Konversationslexikon anschaffen sollte, das einzige Werk, das er besaß, aber diese literarische Neigung war im Kampf mit den Reizen eines mechanischen Klaviers unterlegen.

Die Wände des Salons interessierten ihn nicht. Er hatte vor Jahren eine waschbare Tapete ausgesucht, die mit einem feuchten Tuch gereinigt werden konnte, achtete aber nicht weiter darauf. Ebensowenig sah er die Kissen, Schleifen und Decken, die seine Frau anbrachte, obwohl er für die Kissen die besten Schwanendaunen besorgt hatte. Dagegen interessierte ihn ein großes Ölbild in einem herrlichen Goldrahmen, das ein verfallenes Schloß in einem düsteren Wald darstellte, durch den Kühe zogen. Im Turm des Schlosses war eine Uhr, und die Zeiger dieser Uhr gingen wirklich. Zwei Erkerfenster des Schlosses bildeten wirkliche Öffnungen; durch die eine konnte man den Schlüssel stecken, um die Uhr aufzuziehen, und durch die andere einen Schlüssel zu einem verborgenen Werk, das sechzehn verschiedene Melodien spielte. Er hatte dieses Überbleibsel der Viktorianischen Zeit bei einer Auktion in London erstanden. Aber das mechanische Klavier hatte es aus seinem Herzen verdrängt.

Er nahm eine der teuersten Zigarren aus dem Schrank und zündete sie liebevoll an, wie nur ein Kenner eine Zigarre anzündet; er blies das Streichholz langsam aus und warf es mit der roten Bauchbinde der Zigarre in eine große Kupferschale auf dem Mitteltisch. Er wollte sich behaglich fühlen. Der gebackene Schinken bekam ihm nicht.

Dann begann er die Grundstücksinserate in der Zeitung zu lesen. Aber heute interessierten sie ihn nicht. Er ließ die Zeitung zu Boden gleiten, stand ungeduldig auf, ordnete die schweren, dunkelblauen Vorhänge hinter dem Gasofen und gab endlich seiner Sehnsucht nach. Die Zigarre im Mundwinkel, sah er durch die zarten Rauchwölkchen nach den Aufschriften auf den neuen Walzen.

Er wusste wohl, dass er gleich nach dem Tee hätte hinaufgehen und sich nach dem Opfer des bissigen Hundes erkundigen sollen. Es war schließlich sein Kind. Er hätte jetzt eilends hinaufgehen müssen; aber er vermochte es nicht. An jedem ehelichen Zwist sind nicht zwei, sondern vier Personen beteiligt. Der boshaftere Teil in Edward Henry siegte über den besseren und sagte höhnend: „Ja, freilich, Blutvergiftung! Warum nicht gleich Hundswut? Sie sieht schon den Sarg und den Leichenzug im Geist!“ In diesem Augenblick fiel sein Blick auf die Überschrift: „Trauermarsch von Chopin.“

„Sie soll es haben!“ sagte er und steckte die Walze in das mechanische Klavier. Denn er kannte Chopins Trauermarsch noch nicht. Seine musikalische Bildung hatte erst mit der Anschaffung des „Pianisto“ begonnen. Es war das beste und teuerste von allen mechanischen Klavieren gewesen. Aber das ist der Vorteil, wenn man sechstausend Pfund jährliches Einkommen hat: man kann sich das teuerste mechanische Klavier leisten. Nebenbei hatte er zugleich einen großen Flügel gekauft und das alte Klavier in die Kinderstube stellen lassen.

Seitdem er das mechanische Klavier hatte, liebte Edward Henry die Musik; vermittels gewisser Hebel und Griffe konnte man den Stücken, die es spielte, die eigenemusikalische Seele einhauchen. Jeden Monat bewältigte er etwa zwei neue Meister, von Händel bis zu Richard Strauß und von Palestrina bis zu Debussy, und er kritisierte sie mit völliger Unbefangenheit. Beethoven stand ihm nicht höher als Arthur Sullivan. Er schätzte ihn eher geringer ein. Seine Lieblingsstücke waren die Tannhäuser-Ouvertüre, ein Potpourri aus Verdis „Aida“, eine Etüde Chopins in Es-Dur, die ihn entzückte, und eine Auswahl aus der „Lustigen Witwe“, die ihn gleichfalls entzückte. Der Trauermarsch gefiel ihm sehr. Vermittels der metallenen Hebel brachte er den düsteren Trommelwirbel zu voller Wirkung und vermittels der Griffe gab er dem Grabgesang eine süße Melancholie. Die letzten Crescendos waren überwältigend. Während er so saß und spielte, das helle Licht des Kronleuchters auf seinem blonden Haar und Bart, von blauem Zigarrenrauch umwoben und die Wärmestrahlen des vergoldeten Gasofens im Rücken, durch die zugezogenen Fenstervorhänge und den Türvorhang von der Außenwelt abgeschlossen, von der trauervollen Musik schmerzlich bewegt, wurde er immer glücklicher und das Leben begann wieder Reiz für ihn zu haben. Er fühlte nicht nur die elementare Befriedigung des Mannes, der sich vor einer Schar Weiber, die ihm auf die Nerven gehen, in die Einsamkeit zurückgezogen hat; er hatte auch das angenehme Bewusstsein, dass er sich glänzend hielt. Wie lange hatte er schon nichts getan, seinen Ruf als eine „Nummer“, ja, als „die“ Nummer in den Fünf Städten aufrechtzuerhalten. Jetzt hatte er sein ganzes Selbstgefühl wieder ...

In diesem Augenblick trat Nellie in den Salon. „Henry!“ sagte sie heftig. „Du solltest dich wirklich schämen!“ Die gekränkte Mutter stand vor ihm.

Er hörte auf zu spielen. „Was ist denn?“ fragte er und versuchte unschuldig auszusehen. „Ich spiele nur Chopin! Darf ich nicht Chopin spielen?“

Es machte ihm einen gewissen Eindruck, dass sie das Stück erkannt hatte. „Kannst du keinen anderen Abend für deinen Trauermarsch wählen?“ rief sie.

„Ach so?“ sagte Edward Henry. „Du hältst es ja gar nicht für Hundswut.“

„Bitte, komm einmal hinauf“, sagte sie.

„Oh, gerne, Liebchen, gerne!“ erwiderte er liebevoll und sie gingen feierlich hinauf.

IV

Das erste, was Edward Henry auffiel, war der Wandschirm, der vor einem der Kinderbetten stand. Das war immer das Zeichen, dass Nellie eine Krankheit ernst nahm. In einer Ecke am Kaminfeuer saß die alte Frau Machin und strickte. Sie war eine magere, knochige Frau von neunundsechzig Jahren, zäh und dauerhaft wie indische Eiche. Soviel ihr Sohn wusste, war sie nur zweimal im Leben krank gewesen; einmal hatte sie Influenza gehabt und einmal mehrere Wochen lang einen heftigen Rheumatismus. Damals hatten Edward Henry und seine Frau sie gezwungen, ihr kleines Häuschen in Brougham Street aufzugeben und zu ihnen zu ziehen. Sie lebte in dem prächtigen Hause wie ein Kriegsgefangener am Hof des Siegers, der sich in sein Schicksal ergeben hat und sich tadellos benimmt, aber niemals den geheimen Wunsch nach der verlorenen Freiheit aufgibt noch je vergißt, dass er in der Fremde lebt. Wenn Edward Henry ihre gelben abgearbeiteten Hände sah, die sie und ihn in jungen Tagen erhalten hatten, und die seit sechzig Jahren niemals müßig gewesen waren, außer in jenen sechs Wochen rheumatischer Schmerzen, dann war ihm, als müßte er für seinen Reichtum Abbitte leisten.

Und trotz seiner glänzenden Stellung und seines guten Rufes als Geschäftsmann, obwohl er wusste, dass sie im geheimen stolz auf ihn war, hatte er immer noch Angst vor ihr; ihre unerschrockenen Augen sagten ihm, dass er für sie noch immer der Junge war und sie die moralisch Überlegene. Ihr konnte er nichts vormachen.

„Oh, der Herr Stadtrat!“ murmelte sie. Nicht mehr. Aber mit diesen drei Worten nahm sie ihm dreißig Jahre seines Lebens, entzog ihm die teure Zigarre, und er war wieder der hungrige kleine Junge aus Brougham Street. Er wusste nun, was er damit verbrochen hatte, dass er nicht früher heraufgekommen war.

„Bist du's, Vater?“ rief Roberts hohe Kinderstimme hinter dem Wandschirm. Der Junge lag auf dem Rücken in Maisies Bett, während die Mutter auf dem Rand des anderen Bettes saß, in dem das Kindermädchen sonst schlief.

„Nun, du bist ein netter Junge!“ sagte Edward Henry, den Blicken seiner Frau ausweichend und mit dem Versuch, seinen Sohn unbefangen anzureden, ohne dass ihm das vollkommen gelang.

„Ich habe erhöhte Temperatur,“ sagte Robert stolz, und bedauernd fügte er hinzu, „aber nicht sehr.“ In einem Wasserglas auf dem Nachttisch zwischen den beiden Betten stand das Maximalthermometer. Ein Instrument, das Edward Henry verabscheute, weil es zu Krankheiten anregte. „Vater!“ begann Robert wieder.

„Nun, Robert?“ sagte Edward Henry freundlich. Er war froh, dass das Kind gesprächig war und ihm die Situation erleichterte. Es bewies auch, dass der Biss nicht schlimm war.

„Warum hast du den Trauermarsch gespielt, Vater?“ fragte Robert, und die Frage fiel in das stille Zimmer wie eine Bombe, die im nächsten Augenblick platzen konnte. Zum zweitenmal an diesem Abend fühlte Edward Henry sich geschlagen.

„Hast du etwas an meinen Walzen gemacht?“ fragte er.

„Nein, Vater. Ich habe nur die Aufschriften gelesen.“

„Woher weißt du dann, dass es ein Trauermarsch war, was ich spielte?“ fragte Edward Henry.

„Ich hab's ihm nicht gesagt!“ warf Nellie ein. Er hatte sie noch gar nicht beschuldigt. Sie lächelte mit Engelsgüte, wie eine Frau, die alles zu verzeihen bereit ist. Aber es gab Augenblicke, in denen Edward Henry moralische Überlegenheit und christliche Demut bei seiner Frau keineswegs schätzte.

„Es war so eine Musik wie bei einem Begräbnis“, erklärte Robert.

„Mir scheint, du hast einen Trauermarsch gespielt“, sagte Edward Henry. Er hielt dies für einen ganz guten Witz; aber das Kind antwortete mit mitleidlosem Ernst und beinahe verächtlich: „Ich weiß nicht, was du meinst, Vater.“ Es schien zu bedeuten: „Du musst nicht so dumm reden, Vater.“

Im nächsten Augenblick begann Robert von neuem: „Vater!“

„Ja, Robert?“

„Was heißt ausrotten?“

„Ausrotten?“

„Warum fragst du das, Liebling, zeige Vater dein Bein“, sagte Nellie mit einer Stimme, als ob sie das Kind beruhigen müßte.

Robert blickte nachdenklich zur Decke. „Im Konversationslexikon steht, dass die Hundswut in England ausgerottet ist, durch den Maulkorbzwang.“

Eine zweite Bombe war genau an der gleichen Stelle eingeschlagen und beide platzten jetzt zugleich. Die Explosion war nicht weniger furchtbar, weil sie schweigend und unsichtbar vor sich ging. Das ganze Zimmer war im Augenblick mit Trümmern verletzter Empfindlichkeiten besät. Jenseits des Wandschirms hörte das Geräusch der Stricknadeln in Großmutters Händen plötzlich auf und begann dann von neuem.

„Ich habe dir schon oft gesagt, du sollst das Konversationslexikon nicht anrühren“, sagte der Vater ernst. Er hatte den Knaben schon zweimal im Salon auf dem Bauch liegend gefunden, einen mächtigen Band unter dem Kinn, dessen Seiten häßliche Fingerflecke aufwiesen.

„Ich weiß“, sagte Robert.

„Aber warum hast du Hundswut nachgesehen?“ rief Nellie, „woher kennst du das Wort?“

„Wir haben's in der Schule gehabt“, erklärte Robert.

„Aber wann hast du denn nachgesehen, Robert?“ rief seine Mutter betroffen.

„Bevor du nach Hause gekommen bist, wie mir das Bein nicht mehr so weh tat.“

„Aber die Anna sagte doch, es sei gerade erst geschehen!“

„Was weiß denn die!“ sagte Robert verächtlich.

„Tut es jetzt weh?“ fragte der Vater.

„Ein bisschen; ich kann nicht einschlafen.“

„Laß mich's mal ansehen“, sagte Edward Henry mit gespielter Heiterkeit.

„Mutter hat es mit Gaze und Watte umwickelt.“

Der Anblick des dünnen kleinen Beines, das so wehrlos und zerbrechlich aussah, rührte Edward Henry. Und der Anblick der Wunde war ihm peinlich. Aber es war keine große Wunde und vollkommen sauber. „Es ist eine ganz reine Wunde“, bemerkte er, und unwillkürlich war eine gewisse Schärfe in seinem Ton.

„Ich habe sie natürlich mit Karbol ausgewaschen“, erwiderte Nellie ebenso scharf; und unlogisch, wie Menschen sind, nahm er ihre Schärfe übel.

„Hast du Carlo gequält?“ fragte Edward Henry seinen Sohn.

„Ich weiß nicht.“

„Was heißt das: du weißt es nicht? Du musst wissen, ob du den Hund gequält hast oder nicht!“ sagte Edward Henry gereizt.

Der Anblick der Wunde hatte in Robert ein weinerliches Mitleid mit sich selber wachgerufen. Sein Mund begann zu zucken und breiter zu werden, und in seinen großen Augen standen Tränen. „Ich ... Ich hab' nur seinen Schwanz an seinem Hinterbein messen wollen“, stieß er hervor und begann zu schluchzen.

Edward Henry versuchte seine Würde zu wahren. „Nun, nun“, sagte er weniger streng. „Jungen, die im Konversationslexikon lesen können, müssen keine Heulmeier sein. Wozu brauchst du Carlos Schweif mit seinem Hinterbein zu messen? Du weißt, der Hund ist älter als du.“ Auch diese Bemerkung schien ihm ein guter Witz, aber niemand außer ihm schien dieser Meinung zu sein. Er fühlte etwas an seiner Wade. Es war Carlos Schnauze. Carlo war ein großer, zottiger, rauhhaariger Terrier und Edward Henrys alter Freund. Er hatte die kleine Episode mit dem Biss, die ihm nebensächlich erschien, vollkommen vergessen, und da er fühlte, dass im Haus etwas Ungewöhnliches vorging, war er still gekommen, um nachzusehen.

„Armer, alter Kerl!“ sagte Edward Henry und streichelte ihn. „Hat man deinen Schweif mit dem Hinterbein gemessen?“ Es war das Schlimmste, was er im Augenblick hätte tun können. Eben hatte Nellie erklärt, dass der Hund abgeschafft werden musste, und jetzt streichelte er das blutdürstige Tier! Mit einer hysterischen Bewegung stieß Nellie mit dem Fuße nach dem Hund; sie traf ihn nicht, hätte ihn aber beinahe getroffen, und Carlo lief mit einem schwachen Jaulen, das einen Protest bedeuten sollte, hinaus.

Jetzt war Edward Henry verletzt. Er eilte aus dem Kinderzimmer und seiner dumpfen Atmosphäre, in der er sich von den Frauen Missverstanden und von dem Kind nicht geachtet fühlte. Er brauchte frische Luft. Er brauchte Whisky, Billardsäle und männliche Gesellschaft. Als er an seiner Mutter, die noch immer strickte, vorüberschritt, rührte sie sich nicht. Sie mischte sich grundsätzlich nie in eheliche Konflikte.

Auf dem Flur beschloss er, augenblicklich auszugehen. Unten hing sein Überzieher und wies den Weg zur Freiheit. Da hörte er die Schlafzimmertür gehen und den Schritt seiner Frau. „Edward Henry!“ rief sie.

„Ja?“ Er sah böse empor. Ihr Gesicht war über das Treppengeländer gebeugt. „Was hältst du davon?“ rief sie.

„Wovon? Von der Wunde?“

„Ja.“

„Dass es gar nichts ist. Ganz bedeutungslos. In zwei Tagen wird nichts mehr zu sehen sein.“

„Glaubst du nicht, dass sie sofort ausgebrannt werden muss?“

„Nein“, sagte er die Treppe hinuntergehend. „Ich bin dreimal von Hunden gebissen worden und habe mich nie ausbrennen lassen.“

„Also ich bin der Meinung, dass sie ausgebrannt werden muss, und ich bitte dich, zu Dr. Stirling zu gehen und ihn zu rufen.“

Er gab keine Antwort, sondern nahm seinen Überzieher, Hut und Stock. Er sah Nellie noch auf der Treppe unter dem elektrischen Licht stehen und ihn beobachten. Sie glaubte natürlich, dass er gehorsam zum Arzt ging. Sie konnte nicht ahnen, dass er schon früher entschlossen war, auszugehen. Aber das ging ihn nichts an. Eine Sekunde zögerte er. In diesem Augenblick kam das Kindermädchen aus der Küche, ein schreiendes kleines Mädchen im Arm und lief die Treppe hinauf. Warum Maisie schrie und warum sie um diese Zeit in der Küche und nicht im Bette war, wusste er nicht. Aber das wusste er, dass, wenn er noch eine Sekunde länger in dieser engen Welt blieb, er einen Stuhl gefasst und zerschlagen hätte. Und darum ging er eiligst davon.

V

Es regnete ein wenig, aber er wagte nicht umzukehren und seinen Schirm zu holen. Durch den Nebel der feuchtkalten Oktobernacht sah er die Uhr an der Kirche von Bleakridge wie eine feurige Scheibe, die ohne sichtbare Stütze in der Luft zu schweben schien. Noch nie war er so unmutig gewesen, und zum erstenmal im Leben fand er die Welt ein Rätsel. Er blieb einen Augenblick an der Gartenmauer stehen; das Seitenpförtchen wurde geöffnet und Bellfield, sein neuer Chauffeur, kam heraus, um nach Hause zu gehen. Bellfield grüßte: „Brauchen Sie den Wagen, Herr? Es wird eine feuchte Nacht“, sagte er mit dem Eifer eines neuen Angestellten.

„Danke, nein.“ Er log. Er brauchte den Wagen. Er brauchte ihn, um darin weit weg in eine neue interessantere Welt zu fahren, zum mindesten bis nach Hanbridge, dem Knotenpunkt des Handels, der Freuden und der Verderbnis in den Fünf Städten. Aber er wagte nicht, sein eigenes Auto zu benützen. Er fühlte, dass er sich geräuschlos davonschleichen musste. Nicht einmal zu Doktor Stirling hätte er im Auto zu fahren gewagt. Auch hätte er nur drei Minuten Wegs zu ihm gehabt. Aber er dachte nicht daran, zu Doktor Stirling zu gehen. Seine Frau bildete sich ein, dass er hinging, aber sie irrte. Wenn er in einer Stunde nicht zurückkam, dann Telefonierte sie ohne Frage, und der Doktor kam, aber ohne sein Zutun.

Er überdachte den ganzen Abend. Worin hatte er gefehlt? Die Sache mit dem Jungen war ein Missgeschick, gut! Er hatte den anderen gezeigt, wie man es leicht nehmen konnte, und sie hätten an seinem Beispiel lernen können. Und was den Trauermarsch auf dem mechanischen Klavier betraf, so hätte seine kleine Frau einen Scherz verstehen können!

Aber Nellie war verändert, und er war gleichfalls verändert. Er gedachte ihrer herrlichen Schweizer Reise, erinnerte sich, mit welchem Entzücken er ihr in den Flitterwochen ein neues Opalarmband angelegt hatte und wie reizend ihr Arm gewesen war. Konnte er das jetzt nicht mehr fühlen? Nein. Er wurde eben älter. Er und sie, beide wurden älter. Nur dass sie sich darein zu ergeben schien, und er nicht. Ähnliches wie an diesem Abend war schon öfter vorgekommen, aber heut war es unerträglich geworden. Die ganze Straße und die Stadt waren ihm zuwider. Was nützte es, dass er dreihunderteinundvierzig Pfund durch zwei Telefongespräche verdient hatte? Die dreihunderteinundvierzig Pfund machten ihn nicht glücklicher. Geld bedeutete ihm nichts mehr. Erstaunlich! Er verlangte es gar nicht mehr. Er hatte ein beträchtliches Einkommen aus seinen Effekten und mindestens viertausend im Jahr vom Arbeiter-Sparverein, einer großartigen Organisation, durch die man für die Arbeiter sparte und für sich Gewinn zog, indem man ihnen alle Arten Waren in Raten gegen eine Anzahlung verkaufte.

„Ich brauche eine Veränderung!“ sagte er zu sich selbst und warf die Zigarre weg.

Das Bitterste für ihn war, dass er auch an diesem Abend gern eine „Nummer“ gewesen wäre und es ihm nicht gelungen war. Er, Henry Machin, er, der der jüngste Bürgermeister von Bursley gewesen war, er, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten, die die Fünf Städte je hervorgebracht, er hatte sich in seinem eigenen Hause nicht durchsetzen können!

Er schritt über das Pflaster und sah unter einer Gaslaterne ein Plakat, das für diese Woche eine großartige Attraktion im Empire-Varieté in Hanbridge versprach. Wenn man den Plakaten glaubte, so gab es jede Woche im Empire eine großartige Attraktion, aber Edward Henry wusste, dass in dieser Woche dort wirklich etwas Ungewöhnliches gezeigt wurde. Es war Freitag, der Abend, an dem elegante Leute in den Fünf Städten ausgingen. Er sah nach der Kirchturmuhr und dann auf seine Taschenuhr. Er konnte noch rechtzeitig zur zweiten Vorstellung kommen, die um neun Uhr begann. Eben rasselte die Straßenbahn von Bursley vorüber. Er sprang auf, der Schaffner grüßte ihn. Er blieb auf der Plattform, zündete eine Zigarette an und versuchte fröhlich zu sein. Aber er konnte seiner Verstimmung nicht Herr werden.

Ja, dachte er, ich brauche eine Veränderung, und das gründlich!

Zweites Kapitel. Die Banknote

I

Der Stadtrat Machin musste sich mit einem Stehplatz weit rückwärts und noch dazu an der Seite des großen Parterres im Empire-Theater begnügen. Gleich beim Eintritt in die Halle, wo ihn das Wort „Willkommen“ in elektrischen Lichtbuchstaben über einem großen, von Amoretten umgebenen Spiegel begrüßte, hatten ihm die Angestellten bedauernd und triumphierend zugleich mitgeteilt, dass alle Sitzplätze ausverkauft waren. Und er triumphierte mit ihnen. Mit ehrlichem Stolz auf seine Fünf Städte hatte er sich gesagt: dieses Varieté, das, wie die gesamte Presse zugibt, eines der besten in der Provinz ist, fasst mehr als zweitausendfünfhundert Personen, und wir können es jede Nacht zweimal füllen und überfüllen! Vor ein paar Jahren hat es noch kein anständiges Varieté im ganzen Bezirk gegeben! Das nenne ich Fortschritt!

Es war nicht völlig richtig, dass das Haus jede Nacht zweimal ausverkauft war; aber im Augenblick war jedenfalls kein Sitzplatz zu haben; und der Anblick des dichtgefüllten Zuschauerraumes machte ihn optimistisch. Instinktiv berechnete er den Ertrag des Abends und fragte sich, ob in dem verschwenderischen Hanbridge ein zweites Varieté Aussichten hätte, ja er wunderte sich, dass ihm dieser Gedanke nicht längst gekommen war.

Die Plüschfauteuils im großen Parkett kosteten einen Schilling, ein hoher Preis für eine Stadt, in der man sieben Pfund Kartoffeln für einen halben Schilling bekommt. Und von jedem Platz konnte man die ganze Bühne sehen. Der Stadtrat konnte das jetzt nicht; er musste über und zwischen den Schultern mehrerer Männer durchschauen, die alle größer als er schienen. Nur indem er jeder Bewegung dieser Mauer von Schultern folgte, bekam er Bruchstücke verschiedener Reklamen für Seife, Automobile, Whisky, Hemden, Parfüm, Pillen, Ziegelsteine und Teesorten zu Gesicht. Denn der Zwischenvorhang war herabgelassen.

Aber trotz seiner unbequemen Stellung fühlte er sich besser aufgelegt, ja beinahe glücklich in dieser Atmosphäre von Erfolg. Und es gewährte ihm eine gewisse sonderbare Befriedigung, dass ihn noch niemand erkannt hatte. Bereits ein oder zweimal hatten sich die Besitzer der Schultern vor ihm umgedreht und den Menschen scharf angesehen, der die ganze Zeit über sie weg und zwischen ihnen durchzusehen versuchte und sie störte. Wenn sie geahnt hätten, dass er der berühmte Stadtrat Edward Henry Machin war, Gründer und Eigentümer des Sparvereins, in dem ihre Frauen vermutlich wöchentlich einzahlten, wären ihre Blicke anders gewesen, und sie hätten nachher stolz erzählt: „Der Machin von Bursley stand heute abend im Empire hinter mir!“ Und obwohl Machin einer der gewöhnlichsten Namen in den Fünf Städten ist, hätte jeder sofort gewusst, wer gemeint war.

Jetzt ging der Vorhang in die Höhe, und von allen Seiten ertönte donnernder Applaus. Denn der Vorhang hob sich für die großartige Attraktion, die viele im Saal in dieser Woche zum fünftenmal sahen.

Die Bühne stellte ein stilles Restaurant vor; ein Kellner, der einen mächtigen Stoß Teller trug, trat eben ein, und da der Kellner nicht ganz nüchtern war, so schwankte der Tellerturm bald nach der einen, bald nach der anderen Seite, so dass alle Zuschauer den Atem anhielten in gleichzeitiger Furcht und Hoffnung, die Teller im nächstenAugenblick zerschmettert am Boden liegen zu sehen. Jetzt trat ein zweiter betrunkener Kellner ein, der gleichfalls einen Stoß Teller trug, so dass die Gefahr nicht verdoppelt, sondern vervierfacht wurde, da jeder Kellner, von seiner eigenen Trunkenheit abgesehen, auch noch jeden Augenblick mit dem anderen zusammenstoßen konnte. Trotzdem kam es nicht zur Katastrophe.

Nun traten ein Herr und eine Dame ein, der Herr im Frack und Monokel, die Dame trug ein gelbes Seidenkleid, ein Diamantenhalsband und einen riesigen violetten Hut. Beide schienen an den Anblick betrunkener Kellner, die mit einem ganzen Stoß von Tellern hin und her taumeln, gewöhnt, sie setzten sich an einen Tisch und warteten ruhig, bis sie bedient würden. Das volkstümliche Publikum, mit jener schnellen Auffassung, die dieses Publikum auszeichnet, bemerkte bald, dass der Tisch, an dem sie sich niedergelassen, dicht neben einem hohen Büfett stand und dass zu beiden Seiten des Büfetts zwei Stühle standen, auf welche die beiden Kellner zu steigen versuchten, um ihre Teller auf dem obersten Brett abzustellen. Die Kellner gelangten erfolgreich auf die Stühle, und es gelang ihnen auch, die Tellertürme bis auf einen halben Zoll an das Brett zu heben, als man merkte, dass die Stühle nicht völlig sicher waren. Die Zuschauer befanden sich in einer Ekstase der Erwartung, die ebenso schmerzlich wie genußreich war. Die einzigen unbewegten und unerschütterten Personen im Hause waren der Herr und die Dame am Tisch des Restaurants, die auf Bedienung warteten.

Jetzt stand der eine Turm sicher auf dem Brett. Aber nein, er stand schief; wurde wieder gerade und bog sich wieder. Die Aufregung wurde unbeschreiblich, und gerade als sie nicht mehr zu ertragen war, neigte sich der eine Turm unwiderruflich, und sieben Dutzend Teller fielen in einer Kaskade auf den violetten Hut und von da mit ungeheurem Geklirr zu Boden. In demselben Augenblick bemerkte der Herr im Frack mit dem Monokel zum erstenmal, dass in dem Restaurant etwas Ungewöhnliches vorging, ließ das Monokel fallen und drehte sich nach dem Büfett um, und die sieben Dutzend Teller des anderen Kellners fielen ihm auf den Kopf und ins Gesicht.

Etwas Derartiges hatte man in den Fünf Städten noch nie gesehen, und noch nie waren die Leute so glücklich gewesen. Sie schrien, brüllten, heulten, keuchten, zitterten und stießen einander vor rasendem Vergnügen. In den Fünf Städten macht man Teller, man lebt von der Tellerfabrikation. Man versteht sich auf Teller. In den Fünf Städten trägt ein Mann nicht etwa sieben, sondern siebenundzwanzig Dutzend Teller auf einem schwankenden Brett jeden Tag acht Stunden treppauf und treppab, zum Tor hinaus und zum Tor hinein und zerbricht nicht einen Teller in sieben Jahren! Man kann sich daher die ungeheure Befriedigung der Zuhörerschaft über das Unheil vorstellen! Jeder zerschmetterte Teller bedeutete die Nachfrage nach einem neuen Teller und somit einen Vorteil für die Fünf Städte. Die dankbare Menge würde die Bühne mit Kränzen zugedeckt haben, wenn sie gewusst hätte, dass man Kränze auch bei anderen Gelegenheiten als bei Begräbnissen verwenden konnte; aber das wusste man in den Fünf Städten noch nicht.

Auf der Bühne folgten indessen sofort neue Komplikationen, die das unbeherrschbare Gelächter grausam abkürzten. Es war klar, dass der eine der beiden Kellner sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Und in der erzwungenen Stille neuer Angst fühlte jeder Zuschauer, der an schlechter Verdauung litt, sich plötzlich frei von allen Beschwerden und wünschte nach jeder Mahlzeit so lachen zu können. Der Kellner fiel; er fiel durch den großen violetten Hut und verschwand in einem Meer von Scherben. Der andere Kellner fiel gleichfalls, aber das Meer war nicht tief genug, um beide zu bedecken. Nun erholten sich der Herr und die Dame, und in ihrer gerechten Entrüstung warfen sie den Tisch um und alles, was darauf stand, und dann alle anderen Tische und alles, was auf den anderen Tischen stand. Jetzt glichen die Zuhörer Geschützbatterien, die nicht zum Schweigen gebracht werden konnten. Die Kellner erhoben sich, öffneten das Büfett und viele Hundert ungeahnter Teller und Schüsseln von jeder Art wurden sichtbar, die alle zerschmettert werden konnten. Ein Niagara von Tellern wogte auf die Bühne. Alle vier Darsteller wateten in zerschmettertem Porzellan. Und immer neue Vorräte von Tellern und Schüsseln wurden aus den sonderbarsten Verstecken zutage befördert. Zuletzt wurden die Tische und Stühle zerschlagen und jeder Gegenstand von den Wänden heruntergerissen und zerfetzt in die prachtvolle Verwüstung geschleudert, und auf die Spitze der Trümmer kletterte das Wesen im violetten Hut, Halsband und gelbem Rock und schwang unter dem tosenden Jubel der Menge ein einziges kleines Tellerchen, das wunderbarerweise verschont geblieben war. Der Vorhang fiel.

Er musste fünfzehnmal hochgezogen werden und fünfzehnmal verbeugte sich das Künstlerquartett atemlos, dankbar für die lärmende, tobende Anerkennung ihrer außerordentlichen Begabung. Kein Sänger, kein Tragöde, kein Komödiant, kein Witzbold hätte einen ähnlichen Triumph erringen und die Leute so entzücken und begeistern können. Und doch hatte keiner der vier ein einziges Wort gesprochen. So wirkt das Genie. Nach dem fünfzehnten Hervorruf kam der Regisseur heraus und gab sein Ehrenwort, dass zweitausendvierhundert Teller zerschmettert worden waren.

Der Saal wurde wieder hell. Man sah starke Männer, die sich die Tränen aus den Augen wischten. Man sah Personen, die einander vollkommen fremd waren, wie alte Freunde miteinander reden. So wirkt die Kunst.

„Das war den Schilling wert!“ sagte Edward Henry zu sich selbst. Der allgemeine Jubel hatte ihn mitgerissen; er war entzückt; er hatte jede Sorge vergessen.

„Guten Abend, Herr Machin“, sagte eine Stimme neben ihm. Nicht nur er drehte sich um, alle Leute in der Nachbarschaft drehten sich um. Es war die Stimme des stattlichen geschäftsführenden Direktors, und sie übertönte autoritativ das Geräusch der Gläser und Teller an der Bar hinter dem großen Parterre.

„Wie geht's Ihnen, Herr Dakins?“ sagte Edward Henry und schüttelte ihm herzlich die Hand, denn auch einem großen Mann macht es Vergnügen, wenn er in einem Unterhaltungslokal von dem geschäftsführenden Direktor begrüßt wird. Außerdem wusste man jetzt, wer er war.

„Haben Sie nicht gesehen, wie die Herren in der Loge Ihnen winkten?“ sagte Herr Dakins, während er Komplimente über die Darbietungen stolz ablehnte.

„In welcher Loge?“ Herr Dakins wies nach einer Proszeniumsloge, in der drei Männer saßen. Einer davon war Edward Henry unbekannt. Der zweite war der Architekt Robert Brindley aus Bursley, der dritte Doktor Stirling.

Ihm schlug das Gewissen. Jetzt dachte auch er an Hundswut. Wie, wenn trotz des Maulkorbzwanges doch noch ein Fall von Tollwut auf den britischen Inseln geblieben und Carlo infiziert wäre! Unmöglich war es nicht! War es ein Werk der Vorsehung, dass Doktor Stirling im Saale war?

„Zwei von den Herren kennen Sie?“ sagte Herr Dakins.

„Ja.“

„Der dritte ist ein Herr Bryany. Er ist der Impresario von Herrn Seven Sachs.“

„Und wer ist Herr Seven Sachs?“ fragte Edward Henry geistesabwesend. Es war eine dumme Frage. Er wurde nachdrucksvoll belehrt, dass Seven Sachs der mehr als berühmte amerikanische Schauspieler und Theaterdichter war, der eben am Ende einer Rekord-Tournee durch die Provinz stand, und nächste Woche im Königlichen Theater in Hanbridge auftreten sollte. Jetzt erinnerte sich Edward Henry, dass der Bauzaun gegenüber seinem Hause mit Plakaten und Bildern von Seven Sachs seit einiger Zeit über und über bedeckt war.

„Sie winken Ihnen noch immer“, sagte Herr Dakins, Edward Henry winkte zurück. „Kommen Sie, ich führe Sie den nächsten Weg“, sagte der Direktor.

II

Robert Brindley grüßte den Stadtrat mit einem fast unmerklichen Augenzwinkern. Edward Henry konnte nicht genau sagen, was es bedeutete; aber es machte ihn nachdenklich. Er hatte nichts gegen Robert Brindley, er war von Natur wohlwollend und gab zu, dass Brindley ein geschickter Architekt war, wenn ihm auch die Häuser und Schulen, die Brindley baute, zu modern waren. Was ihm Missfiel, war Brindleys Verhalten gegenüber den Fünf Städten, in denen sie beide geboren waren. Brindley schien in den Fünf Städten wie ein hochkultivierter Fremder unter Wilden zu leben, deren Wesen zu beobachten ihm ein ironisches Vergnügen gewährte. Brindley war Doktor Stirlings besonderer Freund und hatte auch ihn beeinflusst; aber Stirling war aus Schottland, und auf das, was er über den Bezirk dachte, kam es nicht an. Auch Brindleys Krawatte Missfiel dem Stadtrat, sie war zu lose gebunden. Außerdem verachtete Brindley, obwohl er ein Musikenthusiast war, das mechanische Klavier, und endlich war er ein Büchernarr. Stirling gleichfalls. Brindley und der Doktor schwatzten ewig über Bücher und kauften sie sogar.

Aus diesen Gründen fühlte sich Edward Henry in Doktor Stirlings Loge nicht ganz zu Haus, obgleich die beiden Männer, nachdem sie ihn Herrn Bryany vorgestellt hatten, besonders liebenswürdig gegen ihn waren.

„Setzen Sie sich dahin, Machin“, sagte Stirling, indem er auf die vordere Reihe wies.

„Nein, nein, ich kann nicht den vordersten Stuhl nehmen!“ erwiderte Edward Henry.

„Natürlich können Sie, lieber Machin!“ sagte Brindley entschieden, „der vorderste Stuhl in der Loge ist der einzig richtige Platz für Sie, tun Sie, was Ihr Arzt Ihnen vorschreibt.“ Edward Henry setzte sich also in die vordere Reihe, Herr Bryany saß neben ihm, die beiden anderen hinter ihnen. Aber er fühlte sich nicht vollkommen behaglich. Er nahm Brindleys Worte ein wenig übel. Dabei fühlte er, dass Brindley recht hatte, und jedenfalls saß er lieber auf dem vordersten Stuhl einer Proszeniumsloge als weit hinten im großen Parterre. Es wunderte ihn auch, dass sie ihn dort im Dunkel und in der Menge erkannt hatten, während er sie gar nicht gesehen hatte, und es wunderte ihn außerdem, dass sie ihn eingeladen hatten. Er gehörte nicht zu ihrer Clique; wie viele große Männer, gehörte er eigentlich zu gar keiner Clique. Es war auch klar, er hatte es in ihren Gesichtern gelesen, dass die drei Männer über ihn gesprochen hatten. Vielleicht wollten sie diesem Herrn Bryany einen der hervorragenden Männer der Stadt vorführen. Das freute ihn eigentlich. Er merkte, dass Herr Bryany ihn heimlich beobachtete; und dachte: Schön, mein Junge, das kostet nichts. Er lächelte ein oder zwei Personen zu, die ihn aus dem Parkett grüßten ... Es war ganz gut, dass man ihn am Freitagabend hier sah.

„Ein volles Haus!“ bemerkte er, um das Schweigen zu brechen, und blickte auf all die vergoldeten Sitzreihen, die im Raum sichtbar waren, bis zur obersten Galerie, auf der Burschen und Mädchen kicherten und scherzten, während das zerbrochene Geschirr fortgeräumt wurde, damit das Kino beginnen konnte.

„Das kann man wohl sagen!“ erwiderte Herr Bryany, der mit leicht amerikanischem Akzent sprach. „Dakins konnte mir keinen Sitz geben. Ich hatte den Abend gerade frei, was bei mir nicht oft vorkommt, und so wollte ich hierher gehen. Aber wenn Dakins mich nicht mit den Herren bekannt gemacht hätte, hätte ich stehen müssen.“

Also sie haben ihn auch erst kennengelernt, dachte Edward Henry, und wieder entstand ein Schweigen.

„Ich höre, Sie haben einen Coup in Gummiaktien gemacht, Machin?“ sagte Brindley.

Unglaublich, wie schnell so etwas sich herumsprach. „Oh, nur ganz wenig!“ sagte er bescheiden. „Es war schon zu spät; in vierzehn Tagen wird man in Gummi gar nichts mehr machen können.“

„Ich bin zwar ein Engländer ...“ begann Herr Bryany.

„Warum zwar?“ unterbrach Edward Henry.

„Hört, hört! den Stadtrat! Warum zwar?“ sagte Brindley zustimmend, während Stirling hell auflachte. „Herr Bryany“, fügte Brindley hinzu, „hat uns nämlich seinerzeit die Ehre erwiesen, hier in den Fünf Städten auf die Welt zu kommen.“

„Ja, in Longshaw“, gab Herr Bryany halb mit Stolz und halb entschuldigend zu. „Bin allerdings schon mit zwei Jahren fortgekommen.