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Vom Trost in Freundschaft und Kunst Amelies geliebter Stiefvater lebt nicht mehr. Während ihre Mutter die meiste Zeit hinter zugezogenen Vorhängen verbringt, versucht sich die Fünfzehnjährige weiterhin im Alltag: mit Schule, die wie gewohnt dahinplätschert, ihrer besten Freundin, die gerade frisch verliebt ist, und einem Klassenkollegen, der plötzlich auf ihre Social-Media-Postings reagiert. Und mit ihrem neuen Hobby, dem Fotografieren von verlassenen Orten. Doch eines Tages entpuppt sich ein solcher als gar nicht so verlassen wie gedacht … So lernt Amelie den Künstler Theo kennen, den kleinen Kater Kurkuma und auch Tim, Theos Neffen. Bei den dreien findet sie einen Rückzugsort ohne große Fragen und bekommt eine Ahnung davon, wie es sich mit den Lücken, die ein verstorbener Mensch hinterlässt, vielleicht irgendwann leben lässt. Kraftvoll und behutsam zugleich erzählt Margarita Kinstner in diesem Jugendroman über eine familiäre Ausnahmesituation, aus der heraus wieder in einen neuen Alltag gefunden werden muss. Sie zeigt, höchst literarisch, die Kraft von Freundschaften und die tröstende Bedeutung von Kunst und kreativen Ausdrucksmöglichkeiten. Zarte Bilder von Michaela Weiss begleiten den Text. Vielleicht ist das einfach so, wenn jemand stirbt, der dir viel bedeutet. Plötzlich tust du Dinge, die keinen Sinn ergeben.
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Seitenzahl: 262
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Margarita Kinstner
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 42h UrhG (»Text- und Data-Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
2025
© Verlagsanstalt Tyrolia Ges.m.b.H.
Exlgasse 20 | A-6020 Innsbruck
Umschlagbild: Michaela Weiss
Grafische Gestaltung: Nele Steinborn, Wien
Schrift: Brandon printed & grotesque, Minion Pro
Druck und Bindung: Florjančič, Maribor
ISBN 978-3-7022-4280-0
eISBN 978-3-7022-4285-5
E-Mail: [email protected]
Internet: www.tyrolia-verlag.at
Social Media: Tyrolia Verlag Kinderbuch
Hintergrundinformationen und Zusatzmaterialien zum Roman unter https://kurkuma.margarita-kinstner.com
Für Stefan
Dieses Buch ist
für dich
für mich
für jetzt
für später
Voriges Jahr gab es in Deutschland 2830 Verkehrsunfälle mit Todesfolge. 220 davon starben im April. Einer davon warst du.
Charlie sagt, dass Schreiben gegen die Trauer hilft. Aber das Schreiben war immer dein Ding. Nicht meins.
And if the skyscrapers tumble down and crash around baby
We just gotta get out, we just gotta get out
(5 Seconds of Summer)
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Dank
Mama hat ihre magentafarbenen Stiefel angezogen. Das ist ein gutes Zeichen. Überhaupt ist heute ein guter Tag. Die Luft ist viel zu warm für Oktober, der Himmel blau mit weißen Schafen, die darin herumstehen und blöd dreinschauen.
»Schau mal, das dicke Wolkenschaf dort hinten«, sage ich. »Das sieht aus wie in dem Bilderbuch, das ich mal hatte.«
Das haben wir oft gemacht. Du und Mama und ich. Wir haben einander die Wolken gezeigt und verraten, was wir sehen.
»Mä-äh!«, blökt Mama und lacht. Dann richtet sie ihren Blick wieder auf die altmodischen Tassen, Zuckerdöschen und Kuchenzangen. Mir geht es plötzlich so gut wie schon lange nicht mehr.
Jeden ersten Samstag im Monat ist Flohmarkttag. Früher sind wir oft hierhergekommen. Früher, als Mama ihre magentafarbenen Stiefel noch regelmäßig trug und am Morgen in grüne oder gelbe Röcke schlüpfte. Früher, als du noch bei uns warst und in meinem Magen kein knurrender Zottelköter wohnte.
Mama hebt eine Tasse mit blauen Blümchen hoch.
»Ist die nicht wunderschön?«, fragt sie und lächelt. Ihre roten Fingernägel leuchten zwischen den blauen Vergissmeinnicht wie Rosenknospen.
Hinter dem Tisch kommt ein Mann mit Schnurrbart auf uns zu. Er will Mama gleich alle vier Tassen andrehen, samt Untersetzer und Milchkännchen. Zum Sonderpreis. »Extra für Sie«, sagt er. »Weil Ihnen meine Tassen so gut gefallen.« Dabei grinst er breit.
Mama blickt irritiert zurück. »Darf man die denn nicht einzeln kaufen?«
In der Vitrine neben unserem Küchenfenster stehen dreiundzwanzig verschiedene Tassen. Die meisten haben wir aus dem Urlaub mitgebracht, aus Portugal, Italien, Mexiko und Kroatien. Flohmärkte gibt es auf der ganzen Welt, und auf jedem Flohmarkt gibt es alte Tassen, die niemand mehr haben will.
»Ich versteh nicht, warum sich die Leute immer dieses grässliche Möbelhaus-Geschirr kaufen«, sagt Mama oft. Sie verabscheut alles, was aus dem Möbelhaus kommt. Möbelhaus-Geschirr, Möbelhaus-Teppiche, Möbelhaus-Sofas, Möbelhaus-Bücherregale, Möbelhaus-Bilder, Möbelhaus-Essen.
»BÄH! Das schmeckt ja wie Pappkarton!«
Nur du und ich, wir sind trotzdem hingegangen. Heimlich. Weil wir die labbrigen Hotdogs dort so mochten. Dabei warst du der beste Koch, den ich kannte. Aber du hattest diese klitzekleine Schwäche für Ikea-Hotdogs.
»Irgendein Laster braucht jeder«, meintest du, und dass ich Mama nichts verraten soll.
Der Mann mit dem Schnurrbart grinst jetzt nicht mehr.
»Wenn ich Ihnen nur eine Tasse gebe, ist mein Service nicht mehr vollständig.«
»Sind vier Tassen und ein Milchkännchen schon ein Service?«, fragt Mama. Ihre Stimme klingt flockig und sanft und einen halben Ton höher als sonst. Wie immer, wenn sie was haben will.
»Nun ja«, brummt der Mann. »Vier Tassen verkaufen sich in jedem Fall leichter als drei.«
Mama dreht die Tasse in ihrer Hand. Dabei legt sie den Kopf ein wenig schief und kräuselt die Nase so, dass ihre Sommersprossen gut zur Geltung kommen. Das Haar schiebt sie ein wenig zurück, hinter das linke Ohr. Der Silberohrring mit dem eingefassten Bernstein pendelt nach, als sie die Tasse mit einem Seufzer auf den Verkaufstisch zurückstellt. Es ist ein langer, heller Ton, den sie entlässt. Und das alles für eine Porzellantasse mit blauen Blümchen und Goldrand, die mal irgendeiner Oma gehört hat!
Der Mann schaut auf die vier Tassen, die nun wieder nebeneinanderstehen. Dann seufzt auch er, greift nach einer alten Zeitung und wickelt die Tasse ein.
»Danke!«, haucht Mama und holt ihre Geldbörse aus der Tasche.
Danke, hauche auch ich im Stillen. Danke, danke, danke!
Wir schlendern weiter. An Mamas linker Hand baumelt die Tasse in einem Stoffsackerl. Ihr rechter Arm ruht auf meinen Schultern, ihre Fingernägel graben sich mit leichtem Druck in meine Haut. Mamas Locken kitzeln mich an der Schläfe. Ihr Parfum riecht nach Maiglöckchen. Ich sauge den Duft tief in meine Lungen, lege den Kopf in den Nacken und schaue in den Himmel. In manchen Minuten ist das Leben federleicht. Der Zottelköter hat sich vertrollt, vielleicht ist er kurz Gassi gegangen. Lange wird er nicht wegbleiben, ich kenne ihn. Ich zähle ganz langsam bis zehn und lasse Mamas Maiglöckchen wieder in die Herbstluft entweichen.
Wir kommen an einem Tisch mit alten Brettspielen, Kinderkleidung und Kisten voller Krimskrams vorbei. Es riecht nach Würstchen, Senf und Ketchup. Mama nimmt ihren Arm von meiner Schulter und steuert den nächsten Stand an. Auf den Bänken und Tischen reiht sich Karton an Karton – alte Vinylplatten.
Ich weiß, was jetzt kommt. Die Chance bei einem Plattenstand steht zwanzig zu achtzig.
Zwanzig zu achtzig, rattert es in meinem Hirn. Das sind zweihundert zu achthundert. Oder auch zwei zu acht. Oder einfach nur eins zu vier.
Ein Schaf am Himmel bläht sich auf und frisst die Sonne. In meiner Hosentasche finde ich noch einen Kaugummi. Ich wickle ihn aus, warte und kaue. Das quadratische Cover, das Mama schließlich aus einem der Kartons zieht, ist das mit dem Mädchen am Klavier.
Der Köter ist zurück vom Gassigehen, hechelnd steht er vor mir und glotzt mich aus traurigen Augen an. Dann bellt er und springt mit einem Satz zurück an seinen angestammten Platz, irgendwo zwischen meinem Zwerchfell und meinem Magen, wo er sich einrollt und den Kopf auf die Vorderpfoten legt.
Ich gehe zu Mama und tippe ihr mit dem Zeigefinger gegen das Schulterblatt. Sie dreht sich um. Zieht den Mund in die Breite, versucht es mit einem harmlosen Lächeln. Ein, zwei Sekunden sieht sie durch mich hindurch, dann schiebt sie die Platte wieder zwischen die anderen.
»Gehen wir?«, fragt sie.
Spätestens da weiß ich, dass ihre magentafarbenen Stiefel morgen wieder im Vorzimmerkasten stehen werden. Der Lack an ihren Fingernägeln wird abblättern und Mamas Lachen wird mit den Schminktüchern im Abfalleimer landen.
Die Red Hot Chili Peppers haben ihre Band 1983 gegründet. Damals warst du fünf Jahre alt. Ich nehme an, mit fünf hast du noch nichts von deiner zukünftigen Lieblingsband gewusst. Zehn Jahre nach ihrer Gründung hattest du dann alle Platten von ihnen.
Vorhin habe ich die Rotkäppchen-Platte aus deiner Sammlung gezogen. So habe ich sie genannt, als ich noch klein war, weil das Mädchen am Klavier knallrote Haare hat.
Mama schläft. Ich sitze auf dem Lederdrehsessel in deinem Arbeitszimmer und lerne. Die Lautstärke deiner riesigen Boxen habe ich nur so hoch gedreht, dass ich gerade mal den Text verstehen kann.
Mama konnte deine Lieblingsband nicht ausstehen. Sie fand die Red Hot Chili Peppers allein schon deswegen langweilig, weil fast alle in deinem Alter mindestens ein Album von ihnen besitzen. Quasi gleiche Kategorie wie Ikea-Geschirr.
Warum sie sich heute trotzdem an den Plattenstand gestellt und so lange in den Kartons gewühlt hat, bis sie etwas von ihnen fand?
Vielleicht ist das einfach so, wenn jemand stirbt, der dir viel bedeutet. Plötzlich tust du Dinge, die keinen Sinn ergeben. Vielleicht will Mama ja gar nicht traurig sein. Vielleicht wünscht sie sich nichts sehnlicher, als dass es ihr endlich wieder besser geht. Dass sie in der Sonne spazieren und Spaß haben und das Leben ohne miese Gedanken genießen kann. Aber wenn es ihr dann wirklich mal ein paar Stunden lang gelingt, fühlt sie sich hinterher wie eine fiese Verräterin. Kein Wunder. Schließlich liegt die Liebe ihres Lebens seit achtzehn Monaten am Friedhof und verrottet.
Vorige Woche bin ich fünfzehn geworden. Ich bin jetzt also exakt ein Zehntel meines Lebens (und eine Woche) eine Halbwaise.
Obwohl, nein. Stimmt nicht. Erstens bin ich keine Halbwaise, weil meine Eltern beide noch leben, und zweitens habe ich dich erst mit sechs kennengelernt. Ich hab also nicht mal die Hälfte meines bisherigen Lebens mit dir zusammengelebt.
Aber weißt du, was arg ist? Wenn ich mal dreißig bin, wird die Zeitspanne, die wir gemeinsam verbracht haben, nur mehr ein Fünftel meines Lebens betragen. Je älter ich werde, desto kleiner wird dein Stück in meiner Lebenstorte.
Charlie sagt, die Zeit heilt zwar nicht alle Wunden, aber sie macht, dass wir lernen, mit ihnen zu leben. Je tiefer die Wunde, desto größer die Narbe, die zurückbleibt. Klingt irgendwie logisch.
Charlie ist meine Trauerbegleiterin. Ja, so etwas gibt es. Hab ich vor achtzehn Monaten auch noch nicht gewusst.
Charlie ist die Einzige, die weiß, dass ich manchmal zu den Red Hot Chili Peppers tanze. Nicht mal Selina weiß das. Kannst du dir das vorstellen? Dass es jetzt Dinge gibt, die ich nicht mal Selina erzähle?
Ich tanze also. Hier, in deinem Arbeitszimmer, zwischen den beiden großen Boxen, dem Regal mit dem Plattenspieler und dem Schreibtisch. Das Tanzen ist für mich wie die Impfungen, die Mama gegen ihre Allergie bekommen hat. Damals hat man ihr alle paar Wochen kleine Mengen an Birkenpollen unter die Haut gespritzt, damit ihr Immunsystem sich daran gewöhnt und nicht mehr Alarm schlägt, wenn irgendwo eine blühende Birke auftaucht. Desensibilisierung nennt man das. Zwei Jahre lang ist Mama ins Allergiezentrum gedackelt deswegen. Und dann kam ein neuer Frühling, und irgendwann fiel uns auf, dass Mama seit mehr als einem Jahr keine einzige Niesattacke mehr gehabt hatte.
Also habe ich beschlossen, mir auch so eine Kur zu verabreichen. Ich desensibilisiere mich gegen die Red Hot Chili Peppers. Keine einzige Träne will ich mehr vergießen, wenn ich eine deiner Platten auf den Teller lege und die Nadel absenke. Will den Köter ignorieren, der in meinem Magen böse vor sich hin knurrt. Ist übrigens ganz schön anstrengend, durch den Raum zu hüpfen, wenn man einen Zottelköter mitschleppen muss. Aber zu den Red Hot Chili Peppers muss man einfach hüpfen. Das muss auch der Köter einsehen.
Heute tanze ich nicht, weil Mama schläft. Ich sitze an deinem Schreibtisch und lerne für den Bio-Test. Hinter den Fensterscheiben beginnt es zu regnen. Die Red Hot Chili Peppers hämmern mir mit ihrem Funk-Rhythmus den Stoff ins Hirn: Das Endoplasmatische Retikulum ähnelt in seiner Struktur einem röhren- und netzartigen Labyrinth.
In zwei Wochen werde ich alles wieder vergessen haben. Manchmal frage ich mich, wozu ich diese Mengen an Wissen in mich reinstopfe, wenn ich doch sowieso alles genauso schnell wieder vergesse.
»Weil nach jeder Mahlzeit ein paar Vitamine und Spurenelemente hängenbleiben«, würdest du jetzt sagen.
Ich drehe den Plattenspieler ab und hole mir eine Banane.
Mama schläft noch immer. Ich werfe die Bananenschale und den leeren Joghurtbecher in den Müll. Dann checke ich den Akku meiner neuen Kamera. Es ist eine Sony Alpha 6400, ich habe sie von Gerd und von Moni zum Geburtstag bekommen.
Die zwei sind diesmal gemeinsam aufgekreuzt, mit einem gemeinsamen Geschenk. Ich hab nie verstanden, warum das mit den beiden nicht geklappt hat. Wenn man sie sieht, würde man nie auf die Idee kommen, dass Gerd zwei kleine Nervensägen von einer anderen Frau hat und Moni sich in einen anderen als Gerd verknallen könnte.
Früher habe ich sogar gedacht, dass Gerd und Moni viel besser zusammenpassen als du und Mama. Gerd und Moni hören dieselbe Musik, Gerd und Moni haben immer dieselbe Meinung, Gerd und Moni streiten nie. Gerd und Moni sind das perfekte Traumpaar. Anders als Mama und du, die ihr euch an manchen Abenden wegen der kleinsten Kleinigkeit in die Haare gekriegt habt.
Ich hänge mir die Kameratasche um die Schulter, kritzle Bin fotografieren auf ein gelbes Post-it, male noch drei Herzchen darunter und klebe den Zettel an die Tür. Dann laufe ich die Treppen hinunter.
Die Luft ist kühl und riecht nach herabgefallenem Herbstlaub. Die Blätter auf dem Asphalt sind nass und rutschig, obwohl es nur kurz geregnet hat. Ich zoome eines von ihnen heran, nur im Kopf. Foto mache ich keines. So interessant ist das Blatt nicht. Ich lege den Kopf in den Nacken und tauche mit meinem Blick tief in die herbstlich gefärbten Baumkronen.
Ihr müsst die Perspektive ändern! Schaut euch den Himmel an und die Zweige! Oder geht in die Hocke! Legt euch ins Gras! Steigt auf eine Mauer und seht euch die Welt aus der Sicht eines Riesen an! Umrundet euer Motiv
von allen Seiten! Jeder Gegenstand kann spannend sein, sobald ihr euch diesem anders als gewöhnlich nähert.
In den Sommerferien habe ich einen Fotokurs besucht. Eine ganze Woche lang bin ich in der knalligen Hitze freiwillig in einem Klassenraum gesessen und habe alles über Brennweiten, Blenden, Verschlusszeiten und ISO-Werte gelernt.
Die Belichtungszeit muss mindestens so hoch sein wie der Kehrwert der Brennweite.
Je geringer der ISO-Wert, desto länger muss die Belichtungszeit sein. Je kleiner die Blende, desto länger die Verschlusszeit.
Obwohl ich die Jüngste im Kurs war, hab ich das Prinzip als Erste kapiert. Mathe war immer schon mein Lieblingsfach.
Ich richte meinen Blick wieder geradeaus und stapfe weiter. Durch den leichten Nebel sickern Sonnenstrahlen und tauchen die Hügelkette vor mir in ein weiches Licht.
Ich überquere die Hauptstraße und gehe am Maisfeld entlang. Mein Schatten verfolgt mich, er ist lang und dürr und tritt mir ungeduldig auf die Fersen. Als ich mich zu ihm umdrehe, schlenkert er wild mit den Armen, dann hebt er die Kamera ans Gesicht. Klick! Das Geräusch ist ein Fake. Meine Kamera hat keinen Spiegel, der hochklappen muss, um den Sensor freizugeben.
Als die Sonne hinter den Hügeln verschwindet, bin ich aus der Stadt draußen und komme zum schmalen Waldweg. Im Sommer vor zwei Jahren sind Mama, Gerd, seine beiden Nervensägen und ich dort hochgelaufen. Wer als Erster oben ist, bekommt ein Überraschungsei! Ich weiß sogar noch, was in den Eiern drin war: bei Leon ein Plastikauto zum Zusammenbauen und bei Emil ein blaues Nilpferd mit lilafarbener Kappe. Am Schluss haben sich die Zwillinge um das Auto gestritten und so laut geplärrt, dass Gerd sie ins Auto verfrachtet hat und mit ihnen nach Hause gefahren ist. Kleine zweijährige Blondschöpfe mit riesigen blauen Kulleraugen und weißen Turnschuhen, die an den Fersen rot blinkten. Mama war ganz vernarrt in die beiden.
Jetzt kommt Gerd nur noch selten zu uns. Und wenn er kommt, hat er die Zwillinge nie dabei.
Heute gehe ich nicht in den Wald, sondern biege links ab in die Siedlung mit den neuen Häusern, die seit dem Frühjahr hier gebaut werden.
Kataloghäuser. So nanntest du sie. Weil sie alle gleich aussehen. Wie aus einem Katalog.
Mama hätte gern ein Haus gehabt. Aber nicht so eines, sondern »etwas kleines Charmantes«. Zwei Jahre lang hat sie die Anzeigen im Internet durchforstet, um ein Haus zu finden, das wir uns leisten konnten.
»Mir würde ein altes Häuschen vollkommen reichen«, sagte sie. »Mit einem oder zwei Obstbäumen und einer Magnolie im Garten.«
Letztendlich hat es nicht mal für ein uraltes Kästchen gereicht. Die charmanten Häuser mit den netten Gärten, die Mama im Internet entdeckt hat, hatten in Wirklichkeit löchrige Dächer und schimmelige Wände. Deswegen sind wir dann doch in eine Wohnung gezogen. An den Stadtrand, dorthin, wo man schnell im Grünen ist.
Das war Mama wichtig. Schnell im Grünen zu sein.
Nur dass sie jetzt nie ins Grüne geht.
Ich gehe die große Runde. Auf dem Rückweg leuchten bereits die Straßenlampen.
Blaue Stunde. So heißt die Zeit kurz nach Sonnenuntergang. Weil der Himmel dann dieses satte, samtige Dunkelblau trägt. Hat damit zu tun, dass das Licht einen längeren Weg durch die Atmosphäre nehmen muss und das Ozon das gelbe, orange und rote Spektrum schluckt.
Ein Stativ wäre jetzt gut. Dann könnte ich mit der Langzeitbelichtung den Schein der Laternen vor dem dunkelblauen Himmel einfangen. Andererseits habe ich in den letzten Wochen genug solcher Bilder aufgenommen. Meine Motive wiederholen sich. Die Häuser, die vorbeifahrenden Straßenbahnen, die Rücklichter der Autos, die ihre Schleifen durch die Dunkelheit ziehen …
Die wirklich guten Motive finden euch, wenn ihr sie am allerwenigsten erwartet. Ihr müsst nur die Augen offenhalten und bereit sein.
Ich stelle mir das so ähnlich vor wie mit deinen Büchern. Du hast nie lange überlegen müssen, worüber du schreiben wolltest.
»Es ist alles schon da«, sagtest du immer. »Ich brauche nur mit der Straßenbahn zu fahren und die anderen zu belauschen. Da findet man tausend Konflikte. Und für den Rest schlag ich einfach die Zeitung auf.«
Deine Krimihandlungen waren nie an den Haaren herbeigezogen. Das war dir wichtig. Dass deine Geschichten glaubwürdig sind. Nahe dran an der Realität. Deswegen hast du am liebsten jene Zeitungen gelesen, die ganz genau berichtet haben, wenn irgendwo ein echter Mord passiert ist. Und dann hast du dir überlegt, was dich so weit bringen könnte.
»Wer sich in einen Mörder hineinversetzt, muss sich trauen, die eigenen Gedanken weiter zu denken. Jeder hat einen Abgrund in sich. Und jeder steht irgendwann vor der fetten roten Linie. Nur überschreiten wir sie im Normalfall nicht. Meist drehen wir um, sobald sie auch nur in unserem Blickfeld auftaucht.«
Mama fand das unheimlich.
»Kannst du nicht mal was Schönes schreiben?«, hat sie dich immer wieder gefragt.
»Schönheit langweilt die Leser«, lautete deine stete Antwort.
Mit Fotos verhält es sich wohl ähnlich. Blauer Himmel, rosa Blumen, Kirchen, Wiesen und Flüsse – schön, aber grottenlangweilig.
Ich will besondere Fotos machen. Fotos, die man ganz lange betrachtet.
Vor drei Tagen war ich in einem der Abbruchhäuser hinter den Lagerhallen. Eigentlich wollte ich das Stiegenhaus fotografieren, aber dann habe ich entdeckt, dass eine der Türen im zweiten Stock nur angelehnt war. Bis auf einen altmodischen Heizstrahler und ein hellbraunes, fleckiges Sofa, aus dem der Schaumstoff quoll, war die Wohnung komplett leer. Die Parkettböden waren zerkratzt und schmutzig, die Fenster seit Jahren nicht mehr geputzt. An den Wänden klebten altmodische Tapeten mit rosa Streifen und grünen Blümchen, aus der Decke wuchsen Stromkabel.
In Sepiafarben haben die Bilder dann am besten ausgesehen. Fast ein bisschen spooky. Und irgendwie auch traurig.
Seitdem bin ich auf der Suche nach verlassenen Orten.
Ich scrolle durch die neuen Sammlungen meiner Lieblingsfotografen, denen ich folge. Finde das Foto eines Mädchens, das auf einer Schaukel sitzt. Das Foto ist fast farblos, nur die Haare leuchten lila. Ich vergrößere das Bild, als sich plötzlich eine Nachricht darüber schiebt.
SELINA:Hey! Was machst du grad?
ICH:Nichts Bestimmtes. Du?
SELINA:Ich lern grad Bio. Aber nicht mehr lang.
Heute noch Lust auf Kino?
ICH:Was spielt's denn?
SELINA:Ich hab dir doch von »In Liebe, eure
Hilde« erzählt. Wird Zeit, dass wir unser
Guthaben endlich verprassen
Seit zwei Jahren bekommen wir zum Geburtstag und zu Weihnachten Kinogutscheine. Das war deine Idee. Weil wir uns so oft deine alten DVDs ausgeborgt haben. Mama und Selinas Eltern haben sofort zugestimmt. Kino ist schließlich nicht die schlechteste Freizeitbeschäftigung. Vor allem nicht, wenn man Filme wählt wie Selina.
Ich gebe den Titel in die Suchmaschine ein. In Liebe, eure Hilde erzählt die wahre Geschichte eines Liebespaares, das im Widerstand gegen die Nazis aktiv war und hingerichtet wurde.
Ich schaue mir den Trailer an. Große Emotionen und intensive Bilder. Laut Wikipedia war der Film im Rennen um den Goldenen Bären.
Letzteres war klar. Selina will Filmregisseurin werden. Deswegen sieht sie sich fast alle Filme an, die einen Filmpreis bekommen haben oder zumindest dafür in Frage kamen.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Zehn Minuten vor zwei. Bleiben noch drei Stunden minus fünfzig Minuten Fahrt mit Bus und Straßenbahn. Davor sollte ich nochmals den Bio-Stoff wiederholen und meine Haare muss ich auch waschen, die sind schon ganz strähnig.
Eigentlich habe ich keine Lust auf das ganze Programm. Duschen, umziehen, Haare föhnen und glätten, Wimperntusche auftragen …Aber hier hocken und doof in den Laptop schauen ist auch keine Alternative. Außerdem ist unser letzter Kinobesuch echt schon lang her. Mehr als ein Monat, kann das sein?
»Bist du mit deinen Hausübungen fertig?«, fragt Mama, als ich ihr sage, dass ich mit Selina ins Kino will.
Natürlich weiß Mama, dass ich die Hausübungen fertig habe und dass ich vor dem Kino noch eine Stunde für den Bio-Test lernen werde. Ich kann gar nicht anders, ich bin schon als Streberin zur Welt gekommen. Mama stellt mir die Frage nur, weil sie in den Stunden, in denen sie nicht schläft, eine gute Mutter sein will.
***
Als ich sechs Minuten vor der vereinbarten Zeit vor dem Kino ankomme, sitzt Selina schon auf den Stufen und kaut an einer ihrer Zopfspitzen. Die altmodische grüne Schiebermütze, die sie vor zwei Monaten in einem Secondhandladen gefunden hat, passt auf schräge Art zu ihrer abgewetzten roten Lederjacke, die sie einfach immer trägt, egal bei welchem Wetter. Neben Selina sehe ich aus wie eine graue Feldmaus.
Ich winke ihr zu. Selina grinst mir entgegen, springt auf und dann fallen wir uns in die Arme, als hätten wir uns seit Wochen nicht mehr gesehen.
Das Kino ist klein und sehr alt. Selina mag den modernen Kinopalast nicht, in den die anderen aus unserer Klasse gehen. »Ein Kino muss ein Kino sein. Kein Einkaufszentrum und keine Fresshalle. Und schon gar kein Ort zum Knutschen.«
Wie immer entscheiden wir uns für die mittleren Plätze in der achten Reihe, wie immer kaufen wir gebrannte Erdnüsse und Eistee. Noch bevor die Werbung beginnt, sitzen wir auf unseren Plätzen.
Ich kuschle mich in den Kinosessel. Merke, wie ich das Gefühl vermisst habe, in der weichen Polsterung zu versinken. Ich liebe den speckigen roten Samt, den Geruch nach Popcorn (obwohl mir Popcorn nicht schmeckt), die knisternde Spannung kurz vor Filmbeginn und die Menschen, die hierherkommen. Obwohl die meisten von ihnen mindestens dreimal so alt sind wie wir.
Selina öffnet das Säckchen mit den gebrannten Mandeln und hält es mir unter die Nase.
»Wir haben jetzt einen Neuen in der Konzertgruppe«, flüstert sie.
Selina flüstert immer, wenn wir im Kinosaal sind, selbst wenn noch Werbung läuft. »Er spielt extrem gut Cello.«
Klar tut er das. In die Konzertgruppe kommen nur die Besten. Selina ist seit ein paar Monaten dabei. Bisher hat sie mir von einer Klavierspielerin erzählt und von einer, die fantastisch Geige spielt. Aber noch nie hat sie einen Jungen erwähnt.
»Und wie ist dieser Neue so?«, frage ich, während ich eine Mandel aus dem Sackerl fische.
»Nett.« Selinas Wangen bekommen dunkelrote Flecken. Und erst jetzt checke ich, dass dieser Cellospieler jemand ist, von dem sie mir schon die ganze Zeit erzählen wollte. Jemand, den sie mühsam zurückgehalten hat, bis wir endlich auf unseren Sitzen Platz genommen haben.
»Wie heißt er denn?«
»Jonas.«
Jonas also – J.O.N.A.S.
»Und wie sieht dieser Jonas aus?«
Selina lächelt verträumt. »Ein bisschen wie Sam.«
Sam?! Oh Mann. Sam aus Supernatural war mal ihr absoluter Liebling. Der Köter in meinem Magen jault.
Eine Weile starre ich auf die Werbung, ohne sie bewusst wahrzunehmen. »Bist du in ihn verknallt?«, frage ich dann.
Selina nimmt einen Schluck vom Eistee. Dann seufzt sie.
»Jonas ist zwei Jahre älter als ich, sieht fantastisch aus und spielt wie ein Gott.«
»Und das heißt …?«
»Na, dass er längst eine Freundin hat, du Reh.«
»Annahme oder Realität?«
Sie lacht. »Die Guten sind doch nie frei.«
Und dann beginnt die Titelmelodie und wir betreten eine andere Welt.
Wirklich gute Filme bewirken, dass du alles um dich herum vergisst. Schau mal zehn Sekunden lang in ein ganz nah herangezoomtes lächelndes Gesicht, mit all seinen Fältchen und Grübchen und Flecken und feinen Härchen, mit all den Sprenkeln und Linien in den Augen. Gänsehaut! Das kriecht dir über die Arme bis tief in die Brust und hinunter ins Zwerchfell.
Ohne Selinas Liebe für gute Filme wäre ich bestimmt nie auf die Idee gekommen, es mit der Fotografie zu versuchen.
Irgendwann will ich genau so ein Lächeln einfangen wie das von Hilde.
Oder die Angst.
Die Verzweiflung.
Die Wut.
»Und?«, frage ich Selina, als wir den Kinosaal verlassen.
Sie schluckt, ich sehe, dass sie geweint hat. »Acht Punkte hat er schon verdient, oder?«
Acht Punkte sind ziemlich viel auf einer Skala bis zehn. Und Selina ist wirklich kritisch, es gab schon Filme, die nur zwei Punkte von ihr bekommen haben.
»Ich fand ihn auch stark«, sage ich.
Über Jonas reden wir nicht mehr. Trotzdem ist er da. Als die Straßenbahn an der Station hält, steigt er mit uns in den Waggon. Dann drängt er sich zwischen uns und grinst mir siegesgewiss zu: Glaub ja nicht, dass du mich so schnell wieder los wirst!
Kurz vor halb zehn bin ich wieder zu Hause.
Mama sitzt vor dem Fernseher und sieht sich den Tatort an.
»War's schön?«, fragt sie.
Ich nicke. »Der Film war echt heftig.«
Ich hole mir eine Tasse aus der Vitrine und schenke mir von Mamas Tee ein. Dann kuschle ich mich zu ihr aufs Sofa.
Ich lege meinen Kopf auf ihren Schoß und sie fährt mir durchs Haar. Und weil das so schön ist, bleibe ich nach dem Krimi so liegen und sehe mir die politische Gesprächsrunde auch noch an.
Nach einer halben Stunde wird mir das Ganze doch zu mühsam. Also rapple ich mich auf, wünsche Mama »Gute Nacht« und gehe ins Badezimmer.
Vor dem Einschlafen spukt Jonas in meinem Kopf rum.
Und wenn sich Selina nun ernsthaft in ihn verliebt hat? Ob Jonas davon weiß?
Ich wünschte, es gäbe eine Formel, mit der ich ausrechnen könnte, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Jonas sich in unsere Freundschaft mischen wird.
Ich will Selina nicht verlieren. Ich will sie ja nicht mal teilen.
Erster Stock ganz hinten, die linke Tür gegenüber vom Klo, dort findest du unsere Klasse. Kommst du einmal vorbei? Als Geist kommst du doch überall hinein, oder? Auch wenn du dir geschworen hast, nie wieder eine Klasse zu betreten …
Selina und ich sitzen auf einer der beiden Bänke ganz vorn. Gerade hat es zur zweiten Stunde geklingelt, Selina tippt auf ihrem Handy herum. Von hinten fliegt eine Stanniolkugel nach vorn. Chris. Macht einen auf cool, ist aber harmlos. Ignorier ihn, und er hört sofort mit dem Unsinn auf.
Überhaupt ist unsere Klasse ein Ausbund an Harmlosigkeit. In der Parallelklasse geht es viel schlimmer zu. Wir hingegen gelten als die Guten. Der Notenschnitt unserer Klasse beträgt zwei Komma eins! Selina und ich sind also einfach nur zwei Streberinnen in einer Streberklasse.
Dass wir ein Zweierteam sind, stört niemanden. Das mag ich an unserer Klasse. Entweder du bist mit wem befreundet oder eben nicht.
Wie jeden Montag kommt der Bergmann rein, wie immer mit einer Banane in der Hand. Einen Millimeter vor der Stanniolkugel bleibt er stehen und hebt die Augenbrauen.
»Pölzl, seien Sie bitte so nett und kommen Sie nach vorn, um Ihren Müll wegzuwerfen!« Seine bassige Stimme rollt durch den Raum.
»Ich war das nicht«, jammert Chris eine Spur zu theatralisch.
»Dann ist das jetzt leider Pech. Sie heben das bitte auf. Wer das da nach vorn geschmissen hat, ist mir, ehrlich gesagt, herzlich egal.«
Chris hievt sich hoch, schlapft nach vorne, hebt den Stanniolball auf, wirft ihn in die Höhe und kickt ihn mit dem Fuß direkt in den gelben Kübel. Der Bergmann ignoriert die Zirkuseinlage, Zeitverschwendung ist nicht sein Ding. Er geht zum Lehrerpult und legt seine Banane darauf. Nach unserer Stunde hat er Gangaufsicht, dann rennt er mit seiner Banane von einem Gangende zum anderen und mampft vor sich hin. Jeden Tag um neun isst er einen Apfel. Um zehn ist die Banane dran. Der Bergmann ist konsequent.
Er kritzelt eine Gleichung auf die Tafel, dreht sich um und hält die Kreide hoch: »Wer möchte beginnen?«
Ich brauche nicht aufzuzeigen. Der Bergmann weiß, dass ich gut in Mathe bin.
Weil sich niemand meldet, muss Selina an die Tafel. Wenn es mich in Selinas Leben nicht gäbe, säße sie jetzt bestimmt im neusprachlichen Zweig. Oder in einem Musikgymnasium. Ich war die, die unbedingt in den naturwissenschaftlichen Zweig wollte. Selina war es egal, sie findet Physik genauso spannend wie Französisch. Selina findet fast alles spannend.
Sie löst die Aufgabe mit Bravour, der Bergmann schaut zufrieden. »Danke, Unger, gut gemacht!«
Unser Mathe-Prof ist der Einzige, der uns beim Nachnamen nennt. Nachnamen und Du. Mit einer einzigen Ausnahme: Am Anfang des Schuljahres hat er uns gefragt, ob jemand mit Sie angesprochen werden möchte. Chris hat sich den Spaß gemacht und aufgezeigt. Seitdem hält sich der Bergmann dran, komme was wolle.
Ich mag ihn. Nicht nur, weil er konsequent ist und man daher immer weiß, woran man bei ihm ist, und auch nicht nur, weil ich in Mathe gut bin. Sondern vor allem, weil es ihm wichtig ist, dass alle seinen Stoff kapieren. Der Bergmann hasst es, Fünfer geben zu müssen, und es macht ihn stolz, dass es bei ihm so gut wie keine negativen Noten gibt. Es heißt, dass bei ihm fast alle durch die Matura kommen, sogar in den schwachen Klassen. Und das in Mathe!
In Deutsch fragt uns die Kürner, wie es uns mit Tschick geht. Die meisten murren leise, nur Vladi hebt die Hand und sagt, dass er das Buch spitze findet. Ich selbst habe noch nicht zu lesen begonnen. Dabei war Herrndorf dein absoluter Lieblingsautor. Sein Roman Sand hat dir sogar noch besser gefallen als Tschick. Seit Monaten nehme ich mir vor, eines der Bücher zu lesen. Aber jedes Mal, wenn ich vor deinem Buchregal stehe, verlässt mich der Mut.
Selina ist mit Tschick natürlich längst fertig.
»Kannst eine Zusammenfassung von mir haben«, flüstert sie mir zu, als könnte sie Gedanken lesen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie ein Buch für mich mitliest. In der Hinsicht ist Selina das exakte Gegenteil von mir, sie liest so ziemlich alles, was sie in die Finger bekommt. Wie du.
Wusstest du, dass sie mich immer um dich beneidet hat?
Selinas Vater ist Vertreter für irgendeine Firma, die viel in Osteuropa macht, weswegen er oft verreist. Wenn er Urlaub hat, geht er am liebsten wandern oder wellnessen. Bücher liest er keine und Kino interessiert ihn auch nicht.
»Du bist ein absolutes Glückskind«, sagte Selina mal zu mir. »Wer hat schon einen Schauspieler als Vater und einen Schriftsteller als Stiefvater?«
»Stefan ist nicht mein Stiefvater«, entgegnete ich.
»Klar, ist er das«, beharrte Selina. »Nur weil deine Ma nicht mit ihm verheiratet ist, heißt das ja nicht, dass er kein Vater für dich sein darf.«
Sie hatte recht. Du warst mein Vater. Vielleicht warst du es sogar ein bisschen für Selina. Weil du immer da warst. Nicht nur für mich, sondern auch für sie.
Beim Bio-Test müssen wir das endoplasmatische Retikulum nur zeichnen, auch der Rest ist easy. Dann kommt noch die Doppelstunde Zeichnen. Die Schober erklärt uns die Zentralperspektive und lässt uns mit Lineal und Bleistift sternförmige Linien von der Blattmitte zum Rand ziehen. Am Schluss sollen wir mit schwarzer Tusche Quader zwischen die Linien setzen.