Theo und das Geheimnis des schwarzen Raben - Ute Krause - E-Book

Theo und das Geheimnis des schwarzen Raben E-Book

Ute Krause

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Beschreibung

Eine verrückte Piraten-Crew, ein mächtiger Zauberer und ein dunkles Geheimnis

Als eines Nachts ein Schiff in der Platane vor Theos Fenster landet und ein waschechter Pirat klammheimlich in sein Zimmer einsteigt, glaubt Theo zuerst an einen schlechten Traum. Doch dann entführt ihn die verrückte Crew des großen Dreimasters auf eine abenteuerliche Reise über die Sieben Weltmeere. Dabei muss Theo immer wieder über sich selbst hinauswachsen — um den Gefahren der Ozeane zu trotzen, aber auch, weil ihn diese Reise seinem verschwundenen Vater ein Stück näher bringt ...

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Seitenzahl: 190

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Ute Krause

Theo und dasGeheimnis des schwarzen Raben

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Für Nikolai

1. Auflage 2018© 2018 cbj Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenAlle Rechte vorbehaltenUmschlagbild und Innenillustrationen: Ute KrauseUmschlaggestaltung und Satz: Lena Ellermann, Berlincl · Herstellung: UKReproduktion: Lorenz & Zeller, Inning a. A.ISBN 978-3-641-23097-5V001

www.cbj-verlag.de

Inhalt

Kapitel 1 Der Rabe

Kapitel 2 Unheimlicher Besuch

Kapitel 3 Taubenreste

Kapitel 4 Alte Eiche, Punkt Mitternacht

Kapitel 5 Der verschwundene Koch

Kapitel 6 Das fliegende Schiff

Kapitel 7 Die Geschichte des Käpt’ns

Kapitel 8 Die Stimme hinter den Felsen

Kapitel 9 Flaute

Kapitel 10 Aus der Tiefe

Kapitel 11 Die Insel der Vergessenen Kinder

Kapitel 12 Das Geheimnis des Essenswunschbaumes

Kapitel 13 Das Wiedersehen

Kapitel 14 Reise durch die Nacht

Kapitel 1

Der Rabe

Theo war neun Jahre alt und lebte mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in einem Stadtteil von Berlin namens Friedenau. Dort gab es ruhige Straßen mit winzigen Vorgärten, in denen sich im Sommer die Blumen im Wind wiegten und alte Bäume die Bürgersteige säumten.

In so einer Straße wohnte Theo im obersten Stock eines grauen Mietshauses, an dem schon der Putz abblätterte. Er hatte ein kleines Zimmer, das auf den Hinterhof hinausging, und vor seinem Fenster breitete eine riesige alte Platane ihre Krone aus. Die Baumrinde war glatt wie Leder, nur dort, wo sie sich schälte, hatte der Stamm lauter blassbeige Flecken. Im Winter saßen Raben auf den breiten Ästen vor Theos Fenster und hinterließen ihre Spuren im Schnee. Im Sommer aber war der Baum in ein dichtes Blätterkleid gehüllt, und wenn die Sonne hindurchschimmerte, tauchte sie Theos Zimmer in ein grünliches Licht. Wenn dann auch noch der Wind durch die Blätter fuhr und die grünen Schatten wie Wellen über Theos Wand wogten, dann war es, als läge das Zimmer auf dem Grund eines tiefen Meeres.

Das jedenfalls stellte Theo sich vor, wenn er auf seinem Bett lag und die Schattenwellen betrachtete. Manchmal träumte er davon, auf einem Schiff ganz weit fortzusegeln. Das träumte er vor allem, wenn es wieder Ärger mit Martin und Mama gegeben hatte.

Martin war Mamas Freund und Theos Stiefvater.

Eigentlich hätte Theo lieber einen echten Vater gehabt, aber an seinen echten Vater konnte er sich nicht erinnern. Der war, als Theo zwei Jahre alt war, eines Tages einfach nicht mehr nach Hause gekommen. Theo hatte Mama manchmal nach ihm gefragt. Dann hatte Mama erzählt, dass er vom Zigarettenholen nicht mehr zurückgekehrt war.

»Ist er meinetwegen gegangen?«, fragte er.

»Aber nein! Auf keinen Fall«, hatte Mama entrüstet gerufen. »Er hat dich immer sehr lieb gehabt, und wo auch immer er sein mag, denkt er ganz bestimmt an dich.«

Theo hätte gern einen Papa gehabt, der mit ihm im Park kickte oder eine Radtour machte oder Monopoly spielte, und eines Tages hatte Mama tatsächlich einen Neuen mitgebracht.

Er hieß Martin und war ganz anders, als Theo es sich gewünscht hatte. Er spielte nicht Fußball und mochte weder Radfahren noch Monopoly. Stattdessen stand er den halben Tag in der Küche und probierte neue Rezepte aus, denn er war von Beruf Koch. Aber nicht etwa irgendein Koch, sondern ein echter Drei-Sterne-Koch, wie Mama Theo erklärte. Dass er im Moment keine Arbeit hatte, lag daran, dass er einfach zu gut war, um in einem ganz gewöhnlichen Restaurant zu arbeiten, und bei den richtig guten Restaurants war gerade keine Stelle frei.

Stattdessen schrieb Martin an einem Kochbuch und dafür erfand er täglich neue und besonders originelle Rezepte. Und da er die an jemandem ausprobieren musste, kochte er für Theo und Mama: So gab es flambiertes Hühnchen mit Erdbeer-Schokoladensoße, Froschschenkel-Rosenkohl-Lasagne oder Vanilleeis mit Sauerkraut.

Jeden Tag fragte sich Theo ängstlich, was es wohl diesmal zum Essen geben würde. Viel lieber hätte er ganz normale Spaghetti mit Tomatens0ße gegessen, oder Fischstäbchen, aber das durfte er nicht laut sagen, denn dann wurde Martin wütend. Er war nämlich sehr empfindlich und, wie Mama sagte, ein großer Künstler. Mama lobte alles, was er kochte, nur als es einmal gegrillte Heuschrecke auf Apfel-Birnen-Mousse gab, streikte auch sie.

Es gab immer wieder Abende, an denen Theo einfach keinen Bissen herunterbekam, und an genau so einem Abend fängt unsere Geschichte an, die so ungewöhnlich ist, dass ihr ganz gewöhnlicher Anfang unbedingt erzählt werden muss.

Es gab Berliner Stadttaubenpastete mit Ananasstückchen und Himbeeren auf einem Bett von Kohlrabi-Ranunkelragout garniert mit Minzschaum. Martin fand, dass er sich diesmal selbst übertroffen hatte. Er hatte viele Stunden mit Einkaufen und Kochen verbracht, wie er Mama und Theo erzählte, und nachdem er die Teller feierlich auf den Tisch gestellt hatte, beobachtete er gespannt ihre Gesichter. Während Mama den wunderbaren Duft und die auserlesenen Zutaten lobte, stocherte Theo mit der Gabel in der Taube herum. Schließlich schob er den Teller beiseite.

»Das schmeckt mir nicht«, murmelte er.

Martins Augen verengten sich. Er presste die Lippen zusammen, bis sie nur noch ein dünner Strich waren, dann stieß er den Stuhl zurück, sodass er polternd zu Boden fiel.

Türknallend verließ er das Wohnzimmer. Die Bilder an der Wand wackelten und Mama zuckte zusammen. Sie und Theo sahen sich betreten an, als auch die Tür zum Arbeitszimmer heftig zugeschlagen wurde. Mama seufzte und legte die Gabel beiseite. Auch ihr war der Appetit vergangen.

»Wenn es mir doch nicht schmeckt«, sagte Theo leise.

Mama stützte den Kopf in die Hände. Sie wirkte plötzlich erschöpft. Doch als Theo sie fragte, ob er sich ein Käsebrot machen dürfte, stand sie auf und machte es für ihn.

Später, als Theo schon im Bett lag, hörte er aus dem Wohnzimmer die lauten Stimmen. Mama und Martin stritten. Über ihn und über das Käsebrot, das Mama geschmiert hatte, denn Martin hatte Ohren wie ein Luchs.

»Du verwöhnst ihn«, hörte Theo ihn schimpfen. »Das Kind tanzt dir auf der Nase herum.«

»Du bist zu streng«, antwortete Mama. »Auch wenn er ein Kind ist, hat er das Recht zu sagen, was er mag und was nicht.«

»Wenn das so weitergeht, ziehe ich aus. Dann wirst du schon sehen.«

»Bitte, Martin«, flehte Mama leise. »Ich rede mit ihm.«

Theo wusste, was das bedeutete. Sie würde die nächsten Tage sehr streng mit ihm sein, wenn Martin dabei war, damit Martin nicht glaubte, dass sie ihn verwöhnte.

Auf einmal fühlte sich Theo schrecklich einsam und er dachte an seinen richtigen Vater. Ob der auch so streng gewesen wäre wie Martin? Und ob der auch so verrückte Sachen kochte?

Zwischen den Ästen der Platane raschelte es. Theo schaute hinaus in das Dämmerlicht, das die Schatten zwischen den Blättern vertiefte. Ein Rabe war auf dem Baum gelandet. Er hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und blickte Theo aufmerksam an. Sein blauschwarzes Gefieder hatte einen metallischen Glanz und war leicht zerzaust. Der Vogel musste schon älter sein, denn seine Flügelspitzen und sein Kopf waren leicht angegraut.

Theo erkannte den Raben wieder. Er war in letzter Zeit öfter gekommen, hatte auf einem der Äste Platz genommen und Theo von dort aus beobachtet.

Theo stand auf, ging zum Fenster und öffnete es. Der Rabe regte sich nicht. Er war so nah, dass Theo ihn fast berühren konnte. Sie sahen einander an, und es kam ihm vor, als wäre der Blick des Raben plötzlich sanfter geworden. Theo streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus. Da schlug der Rabe kräftig mit den Flügeln, erhob sich und flatterte davon. Theo schaute ihm nach. Morgen würde er Brotkrumen auf das Fenstersims legen. Vielleicht konnte er den Raben ja zähmen.

Jemand klopfte an die angelehnte Tür. Theo wandte sich um. Mama trat ein und schloss sie leise hinter sich.

»Theo.« Ihr Ton war fast bittend.

Sie sahen sich an. Mama sah aus, als ob sie geweint hatte. »Theo, ich möchte, dass du dich bei Martin entschuldigst.«

Theo senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

Mamas Ton wurde schärfer. »Er hat sich viel Mühe mit dem Essen gegeben und du hast ihn beleidigt.«

»Es hat mir einfach nicht geschmeckt«, erklärte Theo.

Mama ließ sich auf die Bettkante sinken. »Das ist mir klar«, sagte sie leise und knetete die Bettdecke mit den Fingern.

»Er mag mich nicht«, erwiderte Theo.

Mama schüttelte den Kopf. »Red keinen Unsinn. Natürlich mag er dich. Er kümmert sich um dich, kocht für dich, er ist da, wenn ich spät aus dem Büro komme. Meinst du, er würde das alles tun, wenn er dich nicht mögen würde?«

»Er macht mir die Tür auf, wenn ich aus der Schule komme, und dann verschwindet er in seinem Arbeitszimmer, bis du nach Hause kommst«, entgegnete Theo.

Ihre Blicke trafen sich. Theos Blick war bockig, Mamas hilflos. Sechs Wochen Sommerferien lagen vor ihnen. Beide wussten, was das bedeutete, denn Mama musste einen Großteil der Ferien arbeiten.

In dem Moment rief Martin aus der Küche nach ihr. Sie erhob sich und drückte Theo ein Küsschen auf die Nasenspitze.

»Also«, sagte sie. »Zieh dir den Schlafanzug an und putz dir die Zähne. Ich komme gleich Gute Nacht sagen.«

Später, im Bett, starrte Theo noch lange in die schimmernde Dunkelheit hinter der Platane. Die Blätter waren inzwischen schwarzgrün, und er fragte sich, wie die Ferien wohl werden würden. Martin hatte ihm nicht einmal Gute Nacht gesagt.

Bevor er einschlief, war ihm, als würde er einen Flügelschlag durch das angelehnte Fenster hören. Und dann wusste er nicht mehr, ob er wachte oder träumte.

Kapitel 2

Unheimlicher Besuch

Ein Wind war aufgekommen und eine leichte Böe stieß das Fenster auf. Die Fensterflügel schlugen aneinander und davon wurde Theo wach. Die Blätter rauschten, und das Rauschen wurde immer lauter, als kündigte sich ein Sturm an.

Verschlafen setzte Theo sich auf. Gerade als er aufstehen wollte, um das Fenster zu schließen, sah er, wie der alte Baum erbebte. Die Zweige schlugen wild gegeneinander und knackten laut. Die Blätter erzitterten und dann schob sich eine riesige dunkle Wand zwischen den Ästen hindurch und kam mit einem lauten Ächzen und Knarzen in leichter Schräglage zur Ruhe.

Theo drückte sich ängstlich in die Schatten. Er war wie gelähmt. Was hatte das alles zu bedeuten? Leise Stimmen drangen von oberhalb der Wand zu ihm. Kurz darauf wurde etwas durch sein Fenster geworfen und knallte klirrend zu Boden. Es war ein Seil mit einem Eisenhaken. Das Seil wurde angezogen und der Haken verfing sich unter dem Fensterbrett.

Dann sah Theo den Raben, der ihn schon mehrfach besucht hatte. Er hörte den leisen Flügelschlag und sah den schwarzen Schatten, der die Wand hinaufflog. Plötzlich war ein Surren zu hören und es erschien eine Strickleiter. Sie landete direkt auf Theos Fenstersims.

Das Ganze wurde immer unheimlicher. Vorsichtig ließ sich Theo über die Bettkante gleiten und versteckte sich unterm Bett. Sein Herz hämmerte so laut, dass man es sicher im ganzen Zimmer hören konnte. Was passierte hier? Waren Außerirdische im Baum gelandet, die ihn entführen wollten? Oder waren es Einbrecher? Er wollte nach Mama rufen, aber als er den Mund öffnete, kam kein Pieps heraus.

Der Mond schob sich über das Dach des gegenüberliegenden Hauses, und in seinem blassen Licht erkannte Theo eine dunkle Gestalt, die langsam die Leiter hinabkletterte. Der Mann stieß das Fenster auf und ließ sich lautlos zu Boden gleiten.

Er war, soweit Theo das erkennen konnte, etwas merkwürdig gekleidet, trug kniehohe Stiefel, einen breitkrempigen Hut und eine altmodische blaue Uniformjacke mit goldenen Knöpfen. Außerdem hatte er einen Säbel und einen Revolver im Gürtel stecken.

Der Mann sah sich suchend im Zimmer um, bis sein Blick auf Theos Bett fiel. Er stutzte. Ob er wohl bemerkt hatte, dass es leer war?

Theo drückte sich unter seinem Bett fest an die Wand und hielt den Atem an. Der Mann ging zur Kommode, wo er nacheinander alle Schubladen aufzog und sie durchstöberte. Anscheinend fand er nicht, was er suchte, und ging zum Kleiderschrank, der direkt neben dem Bett stand. Seine Stiefel waren nur wenige Zentimeter von Theos Gesicht entfernt und rochen nach Leder und Seetang. Sie hatten Sporen und wirkten schon ziemlich abgetragen. Der Mann durchwühlte den Kleiderschrank und fluchte leise, weil er auch hier nichts zu finden schien. Kein Wunder, Theos T-Shirts und Jeans hätten ihm ganz bestimmt nicht gepasst.

Der Mann wandte sich um, verließ murrend das Zimmer und verschwand im Flur.

Wo wollte er jetzt hin?

Theo schob sich vorsichtig ein Stück unter dem Bett hervor und lauschte. Im Flur war es still. Was machte der Eindringling wohl gerade? Ob er Martins Anzüge anprobierte? Mama würde garantiert einen Schreikrampf bekommen, wenn sie den Mann vor ihrem Kleiderschrank entdeckte.

Theo stand leise auf. Sein Blick fiel auf das große dunkle Ding, das da im Baum vor seinem Fenster festsaß. Es war kein UFO mit Außerirdischen, nein, es war ein riesiges altes Schiff. Es hatte rote Segel und Ausbuchtungen für Kanonen. In goldenen Buchstaben stand ein Name am Bug. Er war leicht nach vorne geneigt und zwischen zwei breiten Ästen eingeklemmt. Theo entzifferte den Namen: Halbmond.

Wieso war ein Schiff in dem Baum vor seinem Fenster gelandet?

Er kniff sich in den Arm. Bestimmt würde er gleich aufwachen. Aber das Kneifen tat weh, also war es wohl doch kein Traum.

Ein Windstoß fuhr durch die Äste, die unter dem Gewicht des schweren Schiffsrumpfes ächzten. Oben an der Reling bewegten sich Gestalten. Was hatte das alles zu bedeuten? Vor allem aber, was hatte dieser fremde Mann nachts in ihrer Wohnung zu suchen?

Mit klopfendem Herzen schlich Theo in den Flur. Die Tür zu Mamas und Martins Zimmer war verschlossen. Theo hatte schon die Hand auf die Klinke gelegt, doch dann zögerte er. Etwas hielt ihn davon ab, die beiden zu wecken.

Durch die angelehnte Küchentür schimmerte kaltes Licht. Theo schlich vorsichtig darauf zu. Er wusste, welche Dielen knarzten, und vermied es, darauf zu treten.

Ohne ein Geräusch zu machen, erreichte er die Küche, schob die Tür leise auf und blinzelte. Der Schein des Kühlschranks erhellte den Raum. Der Mann stand davor und hielt die Schüssel mit den Stadttaube-Ananas-Himbeer-Resten in der Hand. Er hatte sich ein Stück Fleisch in den Mund geschoben, kaute daran herum und spuckte es wieder aus.

»Widerlich«, knurrte er. »Kann deine Mutter etwa nicht mehr kochen?«

Theo erschrak und wich zurück. Er wollte schon zum Elternschlafzimmer stürzen, da wandte der Mann sich um und sagte: »Keine Angst, ich tu dir nichts.«

Er hatte leuchtend grüne Augen und ein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht. Sein linkes Auge zuckte nervös. Plötzlich grinste er, und Theo sah, dass er eine breite Zahnlücke hatte.

»D-das Hühnchen ist von Martin«, stammelte er.

»Martin?« Der Mann hob eine Braue. »Wer ist Martin?«

»M-mein Vater«, murmelte Theo.

»Dein Vater?« Der Mann schüttelte überrascht den Kopf.

»Mein Stiefvater«, korrigierte sich Theo. »Und wer sind Sie?«

»A Punkt Stiefelwein, Kapitän a. D.«

»A. D.?«

»Außer Dienst. Dein Stiefvater, sagst du?« Der Kapitän betrachtete ihn nachdenklich.

»Ja.« Theo erwiderte seinen Blick. »Und wieso sind Sie durch mein Fenster geklettert?« Er fühlte sich inzwischen etwas mutiger. »Ich meine, Sie können doch nicht so einfach hier einsteigen.«

»Stimmt.« Der Kapitän kratzte sich am Hals. »Hast ja recht.« Er sah sich um und murmelte entschuldigend: »Ich hatte Hunger. Aber das Zeug hier ist ja ungenießbar.«

Theo nickte zustimmend. Der Kapitän war ihm zunehmend sympathisch. »Finde ich auch. Wir hätten da noch Brot und Käse. Mama hat immer einen Vorrat – für Notfälle.«

Er holte zwei Stück Toast aus dem Brotkasten, nahm zwei Scheiben Käse aus dem Kühlschrank, belegte die Brote und reichte sie dem Kapitän, der gierig danach griff und seine Zähne hineinschlug.

»Besser«, knurrte er mit vollem Mund. Wieder wechselten sie Blicke.

»Wie ist Ihr Schiff überhaupt in den Baum gekommen?«, fragte Theo. »Ich meine – es ist doch nicht etwa geflogen?«

Der Kapitän zuckte mit den Schultern. »Warum nicht«, nuschelte er kauend.

Theo sah ihn verunsichert an.

»Überrascht dich das?« Der Kapitän wischte sich mit dem Ärmel die Krümel vom Mund.

»Na ja …« Theo wollte eigentlich sagen, dass er noch nie ein fliegendes Schiff gesehen hatte, stattdessen platzte er heraus: »Sind Sie wirklich nur hier, weil Sie Hunger haben?«

Der Mann schob sich das letzte Stück Brot in den Mund und verschlang es. »Nicht nur«, murmelte er.

»Sondern?«

»Bin auf der Suche.« Er schien plötzlich in Gedanken versunken.

»Nach was denn?« Theo ließ ihn nicht aus den Augen. Er hatte auf einmal so ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch.

»Kann darüber nicht reden.«

Theo trat vorsichtig einen Schritt näher. »Aber wenn Sie es mir verraten, kann ich Ihnen vielleicht helfen«, sagte er.

»Helfen? Du mir?« Der Kapitän riss sich aus seinen Gedanken und schüttelte den Kopf. »Wohl kaum.«

Er schloss die Kühlschranktür und auf einmal war es wieder dunkel im Raum. »Niemand kann mir helfen«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu. »Leider.« Er seufzte.

Theo konnte es sich nicht erklären, aber er mochte diesen merkwürdigen Typen, an dem ihm irgendetwas vertraut vorkam. Sie schauten einander einen langen Moment an, dann blickte der Mann weg.

»Muss wieder los«, sagte er und ging an Theo vorbei ins Kinderzimmer. Theo folgte ihm.

Der Mann stand bereits am Fenster und griff nach der Strickleiter, als er sagte: »Also Junge, mach’s gut.«

»Warten Sie«, rief Theo. Er wollte nicht, dass der seltsame Mann ihn schon wieder verließ. Außerdem hatte er noch eine Menge Fragen.

»Wie – wie kann so ein Schiff überhaupt fliegen?«, rief er. »Und wo – wo fahren Sie hin?«

A. Stiefelwein hatte bereits einen Fuß auf das Fensterbrett gesetzt. Die Sporen an seinem Stiefel blitzten im Mondlicht.

»Zu Frage Nummer eins – alles ist möglich, wenn man es wirklich, wirklich will«, sagte er, fast ein wenig spöttisch, als glaubte er selbst nicht daran. »Zu Frage Nummer zwei: Darüber kann ich noch nicht reden.«

Er schwang sich aufs Fensterbrett und griff nach der Strickleiter.

»Moment!« Theo war ihm zum Fenster gefolgt. »Ich … Kommen Sie mich wieder besuchen?«

Der Mann wandte sich nochmals um. »Sollte ich das?«, fragte er sanft und sah Theo aufmerksam an. Ein winziges Lächeln zuckte um seine Mundwinkel.

»Vielleicht … kann ich Ihnen ja irgendwie bei Ihrer Suche helfen«, sagte Theo.

»Suche? Woher weißt du, dass ich etwas suche?«

»Weil Sie das gesagt haben. Außerdem habe ich gesehen, wie Sie meine Kommode und den Schrank durchwühlt haben.«

Der Kapitän antwortete nicht. Er ließ die Leiter wieder los und blickte streng zu Theo hinab.

»Hör zu, Junge«, sagte er. »Wehe, du erzählst irgendwem von dem, was du heute Nacht gesehen hast.«

Seine Augen funkelten so gefährlich, dass Theo nicht wagte, ihm zu widersprechen. Er nickte nur und schwieg.

»Also, dann bis dann«, sagte der Kapitän. »Und wegen deiner anderen Frage – schauen wir mal.«

Er griff nach der Leiter und kletterte geschickt hinauf. Theo sah ihm nach. Wie gerne wäre er ihm gefolgt! Von oben hörte er leise Rufe. Es klang wie »Beeil dich!« und »Der Wind kommt auf«. Eine dunkle Gestalt packte den Kapitän an den Schultern und zog ihn über die Reling. Im gleichen Moment fuhr ein kräftiger Windstoß durch den Baum. Die Äste stöhnten und schwankten gefährlich, die Blätter rauschten wie im Sturm. Das Schiff erzitterte und erhob sich, während langsam die Strickleiter eingezogen wurde.

Theo lehnte sich so weit wie möglich aus dem Fenster und sah zu, wie das Schiff immer höher in den Nachthimmel stieg und dann langsam am weißen Vollmond vorbeiglitt. Rote Segel blähten sich im Wind und über dem mittleren Mast flatterte eine Piratenfahne. Im Mondlicht erkannte Theo sie ganz deutlich. Dieser A. Stiefelwein war also ein Piratenkapitän! Das Schiff schwebte langsam und lautlos über die Dächer, dann war es verschwunden.

Theo blieb noch lange am Fenster stehen und schaute ihm nach, auch als es schon längst nicht mehr zu sehen war. Er konnte nicht fassen, was er da gerade erlebt hatte. Das würde ihm keiner in der Schule glauben.

Kapitel 3

Taubenreste

Als Theo aufwachte, tapste er sofort zum Fenster und suchte nach Spuren seines nächtlichen Besuchers. Im Baum entdeckte er ein paar abgebrochene Äste. Aber hätten es nicht viel mehr sein müssen, wenn dort tatsächlich ein schweres Schiff gelandet wäre?

Bei Tageslicht betrachtet, war die Geschichte so verrückt wie sonst nur ein Traum. Aber Theo hatte keine Zeit, um in Ruhe über die Ereignisse der Nacht nachzudenken. Er musste zur Schule, und am Nachmittag geschahen Dinge, die ihn für kurze Zeit alles andere vergessen ließen.

Theo war wie immer um halb zwei von der Schule nach Hause gekommen und streichelte wie immer Frau Schmidts alte Katze. Die sonnte sich auf den Stufen am Hauseingang und sah Theo mit ihren leuchtend blauen Augen an. Und wie immer hatte Martin Mittagessen für Theo gemacht. Als Theo sich an den Tisch setzte, stellte Martin ihm einen Teller mit den Resten der Taubenpastete hin. Die Himbeeren waren inzwischen ganz matschig und die Ananas hatte braune Ränder.

Theo schaute von Martin zum Teller und vom Teller zu Martin und sagte: »Du weißt doch, dass ich das nicht mag.«

»Es gibt aber nichts anderes«, antwortete Martin. »Wenn es dir nicht passt, musst du es ja nicht essen.«

Theo stand wortlos auf, ging in sein Zimmer, knallte die Tür zu und ließ sich aufs Bett fallen. Er war zwar hungrig, aber das Taubenzeugs kriegte er einfach nicht runter. In die Küche gehen und sich ein Brot machen traute er sich nicht. Er beschloss zu warten, bis Martin in seinem Arbeitszimmer verschwunden war, wo er an seinem Kochbuch schrieb.

Keine fünf Minuten später war es so weit. Theo schlich in die Küche und schnitt sich ein Stück Brot ab. Kaum hatte er das getan, lehnte Martin am Türrahmen. Theo hatte ihn nicht kommen hören. Martin verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was machst du da?«

»Ich habe Hunger.«

»So geht das nicht weiter, Freundchen!« Martin machte einen Schritt auf ihn zu und nahm ihm das Brot aus der Hand. »Deine Mutter verzärtelt dich und macht noch einen Waschlappen aus dir.«

»Tut sie nicht!«, rief Theo entrüstet.

»Ich habe schon mit ihr geredet.« Martins schmale Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Wir schicken dich im Sommer in ein Ferienlager.«

»Das wird sie nicht tun«, antwortete Theo.

»Ach ja. Warum denkst du das?«

»Weil ich es nicht will.«

»Na, das werden wir ja sehen«, sagte Martin. Er warf das Brot in den Müll. »Da lernst du endlich Disziplin und dass man dir nicht immer eine Extrawurst brät.« Er drehte sich um und verließ den Raum.