Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat - Rolf-Peter Calliess - E-Book

Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat E-Book

Rolf-Peter Calliess

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit dem Wandel vom klassischen Vergeltungsstrafrecht zum modernen Resozialisierungsstrafrecht tritt das Problem der strafrechtlichen Sanktionen stärker in den Vordergrund strafrechtswissenschaftlicher Auseinandersetzung. Die Arbeit sucht vom Problem der Strafe her einen Beitrag zur notwendigen strafrechtsdogmatischen Grundlagenreflexion zu leisten. Sie will zu einem Verständnis der Strafe gelangen, das auf die Erhaltung und Herstellung von Kommunikations- und Partizipationschancen in der Gesellschaft zielt und das mit der Staatszielbestimmung des Grundgesetzes vom demokratischen und sozialen Rechtsstaat zur Deckung zu bringen ist. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 395

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rolf-Peter Calliess

Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat

Ein Beitrag zur strafrechtsdogmatischen Grundlagendiskussion

FISCHER E-Books

Inhalt

Texte zur politischen [...]EinleitungErster Teil: Theorie des Strafrechts und Theorie der Strafe1. Das positive Recht als Ausgangspunkt1.1. Die Struktur der Strafrechtssätze1.2. Regelung und Steuerung1.3. Strafrechtstheorie oder Straftheorie2. Positives Strafrecht und Strukturwandel der Gesellschaft2.1. Gesellschaftliche Funktion des positiven Rechts2.2. Rechtstheoretische Konzeption und positives Recht3. Strafrechtstheorie und Strafrechtswissenschaft3.1. Strafrechtstheorie und interdisziplinärer Bezug3.2. Die bisherigen Konzepte der Strafrechtswissenschaft3.3. Strafrechtswissenschaft als StrukturwissenschaftZweiter Teil: Strafrechtstheorie als Theorie des positiven Rechts1. Strafrechtstheorie als Strukturtheorie des Sozialen und der Gesellschaft2. Recht als dialogische Struktur von sozialen Systemen2.1. Strafrechtliche Regelung als Interaktions- und Kommunikationsprozess2.2. Reziprozität der Perspektiven3. Der Entscheidungscharakter des positiven Rechts3.1. Positivität und Machbarkeit des Rechts3.2. Reflexivität und sprachliche Vermittlung der Strafrechtssätze4. Strafrecht als konkretisiertes VerfassungsrechtDritter Teil: Strafe als dialogischer Prozeß1. Prozesse der Zurechnung1.1. Verfahren als Kommunikation1.2. Kriminalitätsgenese und Sozialisation2. Strafrecht als Rechtsgüterschutz2.1. Die Legitimationsfunktion von Rechtsgüterschutz und Straftheorie2.2. Schutz von inter-systemischer Komplexität2.3. Schutz von intra-systemischer Konsistenz2.4. Strafe als Schutz von Partizipationschancen in sozialen Systemen3. Strafrechtliche Sanktionen und ihre Funktion3.1. Sanktion als Variation von Partizipation in sozialen Systemen3.2. Strafe und MassregelVierter Teil: Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat1. Rechts- und sozialstaatliche Perspektiven des Strafrechts2. Das Demokratieprinzip und seine Funktion für das StrafrechtLiteraturverzeichnisNachwortSachregister

Texte zur politischen

Theorie und Praxis

 

Herausgegeben von:

 

Elmar Altvater

Hans-Eckehard Bahr

Wilfried Gottschalch

Klaus Holzkamp

Urs Jaeggi

Rudolf Wiethölter

 

Redaktion:

Klaus Kamberger

Einleitung

Mit der Verabschiedung des Ersten und Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts durch den Bundestag im Jahre 1969 ist die Diskussion um die Reform des Systems strafrechtlicher Sanktionen in der Bundesrepublik zu einem vorläufigen Abschluß gelangt. Steht auch das Strafvollzugsgesetz noch aus, so sind doch die Grundsatzentscheidungen gefallen.

Das macht eine Grundlagenreflexion auf die strafrechtlichen Sanktionen des demokratischen und sozialen Rechtsstaats erneut möglich und nötig zugleich. Möglich erneut, weil einerseits das System der strafrechtlichen Sanktionen im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs einer so umfassenden Reform unterzogen worden ist, daß sich eine Reflexion auf die strafrechtsdogmatischen Grundlagen angesichts der gewandelten positivrechtlichen Voraussetzungen nicht notwendig auf die Reproduktion bereits bekannter Positionen beschränken muß. Nötig zugleich, weil andererseits die getroffenen Regelungen den überkommenen Konflikt zwischen Schuldstrafrecht und Maßregelrecht nicht nur tradieren, sondern ihn im Gegenteil – so paradox das klingen mag – noch verschärfen, indem sie ihn zu nivellieren trachten. Ein Strafrecht, das von der grundsätzlichen Verschiedenheit von Strafe und Maßregel ausgeht, sie aber zugleich durch die Möglichkeit des »Vikariierens« fast bis zur Unkenntlichkeit wieder verwischen kann, indiziert nicht nur gelegentliche Inkonsistenzen, die sich einfach auf systematischer oder auf kriminalpolitischer wie gesetzgeberischer Ebene pragmatisch durch Entscheidung beheben lassen. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, daß die bisherigen Basislegitimationen des Strafrechts so fragwürdig geworden sind, daß die bestehenden Aporien nicht ohne eine Revision der strafrechtstheoretichen Grundlagen behoben werden können. Doch diese »Krise der Zweispurigkeit«, die die Krise des Strafverständnisses ausdrückt, steht nur für eine Fülle anderer Aporien, welche bei der Behandlung des zentralen Strafproblems gleichfalls in den Blick kommen. So repräsentieren die Schwierigkeiten, die Funktionen und das Verhältnis von Schuld und strafrechtlicher Sanktion, von Tatzurechnung und Strafzumessung, von materiellem Strafrecht und Strafvollzug zu bestimmen, die rechts- und sozialstaatlichen Perspektiven im Strafrecht zur Deckung zu bringen und eine Verklammerung von Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik wie auch Kriminologie und Poenologie zu leisten, lediglich andere Dimensionen der gleichen aporetischen Lage.

In den geschilderten Aporien spiegelt sich der Umbruch vom klassischen Vergeltungsstrafrecht zu einem modernen Resozialisierungsstrafrecht, wie er sich in der jüngsten Zeit auch in der Bundesrepublik in verstärktem Maße vollzogen hat. Mit dem Wandel zum Resozialisierungsstrafrecht wird aber stärker als bisher das Problem der strafrechtlichen Sanktionen zu einem zentralen Gegenstand strafrechtswissenschaftlicher Reflexion. Die Straffrage, die bislang mehr als Annex der Tat- und Schuldfrage behandelt wurde, gerät nun zum gleichrangigen Thema strafrechtlicher Dogmatik. Das kann auf längere Sicht nicht ohne weitreichende Konsequenzen bleiben. Sie werden im Bereich der Dogmatik nicht nur darin zu suchen sein, daß die strafrechtlichen Sanktionen eine eingehendere systematische Behandlung als bisher erfahren werden, sondern auch darin, daß vom Aspekt der Strafe her die künftige Entwicklung der Lehre von den Strafbarkeitsvoraussetzungen mehr als bisher nachhaltige Impulse empfangen wird. Freilich steht die Dogmatik strafrechtlicher Sanktionen ganz anders als die Verbrechensdogmatik, die in der deutschen Strafrechtswissenschaft im internationalen Vergleich seit langem einen hohen Standard erreicht hat, noch am Anfang der Entwicklung. Einen Beitrag zur notwendigen Grundlegung der Dogmatik auch von der Seite der Sanktionen her zu leisten, ist deshalb das zentrale Anliegen dieser Untersuchung. Als Grundlagenreflexion auf das Problem der Strafe zielt sie damit nicht auf einen direkten Beitrag zu gesetzgeberischen Alternativlösungen im Blick auf das Sanktionensystem. Sie sucht vielmehr auf der Basis eines strafrechtstheoretischen Denkansatzes einen Beitrag zu jener notwendigen Grundlagenreflexion strafrechtsdogmatischer Positionen zu leisten, die eine weiterführende Strafrechtsreform erst ermöglicht. Die Notwendigkeit einer solchen Grundlagenreflexion wird heute allenthalben gesehen. Unter einer Fülle von einzelnen Problemaspekten wie der Strafzumessung, dem Strafvollzug oder auch einzelner strafrechtlicher Sanktionen ist die Grundlagendiskussion in jüngster Zeit verstärkt in Gang gekommen. Sie hat den gesetzgeberischen Reformprozeß mit initiiert, ihn begleitet oder sich an ihn angeschlossen, und sie war flankiert durch ein breites Spektrum kriminalpolitischer, kriminologischer und poenologischer Erwägungen. Ist es auch gegenwärtig angesichts der Fülle des gewonnenen Materials noch kaum möglich, die Folgen der bisher erarbeiteten Ergebnisse in ihrer Tragweite in allen Einzelheiten zu überblicken, so ist doch schon so viel deutlich, daß eine Reihe von systematischen Konsequenzen gezogen werden müssen. Blickt man auf die Vielfalt der gewonnenen Einzelergebnisse, so erscheint es auf der Basis der neuen Gesetzeslage erforderlich, den Versuch zu unternehmen, das Erreichte zu sichten und zugleich im Rahmen einer Grundlagenreflexion auf das Problem der Strafe zu erörtern. Einer solchen Grundlagendiskussion bedarf es aber nicht nur, um den gesetzgeberisch vollzogenen Schritt zum Resozialisierungsstrafrecht dogmatisch zu reflektieren, sondern auch, um den erzielten Fortschritt zugleich strafrechtstheoretisch aufzuarbeiten und ihn dadurch vor der Gefahr eines Rückfalls auf traditionelle Positionen zu bewahren, die dann droht, wenn die Diskussion auf dem Hintergrund einer unbereinigten Theorie fortgeführt wird. Die Diskussion strafrechtsdogmatischer Positionen muß deshalb die Reflexion auf die ihnen zugrunde liegenden rechtstheoretischen Implikationen einschließen. Es liegt nämlich die Vermutung nahe, daß die eingangs geschilderten Aporien, die die gegenwärtige Grundlagenkrise des Strafrechts indizieren, nicht zuletzt auf der Verwendung von überkommenen Denkmodellen beruhen, die revidiert werden müssen, wenn weiterführende Problemlösungen ermöglicht werden sollen.

Die Arbeit sucht deshalb das Verständnis strafrechtlicher Sanktionen nicht im herkömmlichen Rahmen einer Straftheorie, sondern in einem Neuansatz auf der Grundlage einer Strafrechtstheorie zu entfalten. Die Kriterien für die zu entwickelnde Stellungnahme werden dabei entfaltet aus einer an den Strafrechtssätzen des positiven Rechts festgemachten dialogischen Strukturtheorie des Rechts. In Anknüpfung an die den Strafrechtssätzen im Strafgesetzbuch zugrunde liegende Struktur der sozialen Interaktion wird ein Verständnis von der Strafe entwickelt, das diese nicht einfach als Rechtsfolge, als Folge einer vorgängig im Schuldspruch festgestellten Rechtslage, sondern als Element eines kommunikativen und sozialen, rechtlich geregelten Zusammenhanges begreift. Indem Tat und Strafe als Elemente eines Bezuges gesehen werden, der beide in ihrer Bedeutung wechselseitig konstituiert, kann auch das Verständnis der Strafe nur noch aus diesem Zusammenhang und nicht mehr mit Hilfe quasi »von außen« an das Recht herangetragener metaphysischer oder spekulativer Annahmen erschlossen werden. Letzteres ist der traditionelle Lösungsweg, der sich in einem Modell nahelegt, das die Strafe nicht so sehr als Element einer rechtlichen Struktur von wechselseitig aufeinander rückbezogenen, kommunikativen Interaktionen, sondern vor allem als Folge voraufgegangenen Verhaltens versteht. Erst von einem erweiterten Denkansatz erschließt sich ein Verständnis von der Strafe als Neudefinition einer sozialen Situation, als Umstrukturierung und Herstellung von Kommunikations- und Partizipationschancen in der Gesellschaft im Blick auf die Zukunft.

Die den Strafrechtssätzen zugrunde liegende Struktur der sozialen Interaktion wird in einer Strafrechtstheorie reflektiert, die nicht nur als regionale Teiltheorie einer Strukturtheorie des positiven Rechts entwickelt wird, sondern die zugleich auch einen strafrechtswissenschaftlichen Beitrag zu einer allgemeinen Strukturtheorie des Sozialen und der Gesellschaft darstellen will. Damit ist ein weiterführender Ansatz für eine Reflexion auf die strafrechtsdogmatischen Grundlagen und auch ein Bezugsrahmen gewonnen, der eine Verklammerung der bis dahin getrennten Problembereiche von Strafrechtsdogmatik, Kriminalpolitik, Kriminologie und Poenologie in einer »Gesamten Strafrechtswissenschaft« ermöglicht. Indem die Arbeit von der den Strafrechtssätzen zugrunde liegenden Struktur kommunikativen Handelns ausgeht und indem sie im Versuch einer sozialwissenschaftlichen Fundierung der Strafrechtsdogmatik interaktionistische und systemtheoretische Ansätze verbindet, will sie zu einer kritisch reflektierten Strafrechtstheorie und einem Verständnis strafrechtlicher Sanktionen gelangen, das sich mit der Staatszielbestimmung des Grundgesetzes vom demokratischen und sozialen Rechtsstaat zur Deckung bringen läßt.

Erster Teil: Theorie des Strafrechts und Theorie der Strafe

1. Das positive Recht als Ausgangspunkt

Gegenstand einer strafrechtstheoretischen Reflexion auf die Strafe als Sanktion des demokratischen und sozialen Rechtsstaats ist das positive Recht. Nicht mittels Spekulation oder Metaphysik[1], nicht durch den Rückgriff auf außerrechtliche oder vorrechtliche Annahmen läßt sich das »Wesen« der Strafe als kriminalrechtliche Sanktion erhellen. Jede Analyse zum Problem der Strafe muß vielmehr, wenn sie strafrechtswissenschaftlich begründet sein soll, vom positiven Recht ausgehen und sich daran legitimieren. Sie muß dabei die idealtypische Struktur derjenigen Strafrechtssätze herausarbeiten, welche die konstitutiven Elemente des Verständnisses von Strafe und positivem Recht enthalten. Als Ausgangspunkt für die Analyse der Struktur der Strafrechtssätze soll – mit freilich paradigmatischem Stellenwert – die Diebstahlsbestimmung des Strafgesetzbuches dienen: »Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, wird wegen Diebstahls bestraft.«[2]

1.1. Die Struktur der Strafrechtssätze

Den Anknüpfungspunkt für den Versuch, die Funktion der Strafe zu bestimmen, bilden also jene vollständigen Sätze des Strafrechts im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches, die bestimmen, unter welchen Voraussetzungen eine Sanktion verhängt werden darf, die also ein Rechtsverhältnis zwischen dem Täter und dem Sanktionsberechtigten formulieren. Nicht dagegen wird etwa von jenen Sätzen des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches ausgegangen, welche die einzelnen Arten der Sanktionen näher bestimmen und die oben genannten Strafrechtssätze lediglich ergänzen. Auf diese wird erst in einem späteren Abschnitt der Darlegungen zurückzukommen sein. Würde man sie nämlich zum Ausgangspunkt einer Reflexion über das Problem der Strafe machen, so wäre man unversehens wieder bei jenen Theorien angelangt, die die Strafe aus den dem positiven Recht vorgelagerten, weil aus ihm nicht unmittelbar zu erschließenden »Zwecken« und »Zielen« staatlichen Handelns legitimieren müssen.

Sucht man nun die Struktur der Strafrechtssätze am Beispiel der eingangs genannten Diebstahlsbestimmung zu analysieren, so werden zunächst drei Konstituentien für das Verständnis von Strafe und positivem Recht deutlich: 1. Die Strafrechtssätze kennen nicht gegeneinander isolierte Subjekte – den Täter, der die strafbare Handlung begeht, oder den Richter, der die Strafbarkeit der Handlung feststellt –, sondern stets mehrere, in einem spezifischen Handlungszusammenhang stehende Personen oder Personengruppen. 2. Dieser Zusammenhang ist zunächst durch ein Subjekt gekennzeichnet, das sich in bestimmter Weise verhält, in der Regel aktiv handelt – wir bezeichnen es als Ego. Dann durch einen Anderen, der diesem Handlungszusammenhang ebenfalls angehört und auf den sich die Handlung von Ego bezieht – wir bezeichnen ihn als Alter. Implizit wird ferner das Subjekt einer »reaktiven« Handlung angenommen, das auf die Handlung von Ego zu antworten hat – wir nennen es Dritter. Das Gesetz setzt, zumal es diesen Handlungszusammenhang im Medium der Sprache erfaßt, einen sprachlich vermittelten Interaktions- und Kommunikationsprozeß zwischen den idealtypisch als Ego, Alter und weiteren Anderen – Dritten – bezeichenbaren Subjekten voraus. Dieser Strukturzusammenhang kann normativ auch als Komplex von wechselseitig aufeinander rückbezogenen Erwartungen beschrieben werden, als ein kommunikatives Netz, in dem nicht nur das Verhalten, sondern auch die Erwartungen der anderen erwartet werden können. So hat Ego nicht nur ein bestimmtes Verhalten des sanktionsberechtigten Dritten als Antwort auf sein Handeln zu erwarten, sondern Ego erwaret auch, daß der Dritte und Alter erwarten, daß es sich von deren Erwartungen zu normgemäßem Verhalten bestimmen lassen werde. 3. Die strafrechtlich geregelten Interaktionen und Kommunikationen sind durch ihre inhaltliche Beschreibung etwa als Diebstahl, Betrug, Hochverrat oder Verkehrsvergehen bestimmten gesellschaftlichen Sinnzusammenhängen zugeordnet: der Wirtschaft, dem Staat oder dem Straßenverkehr, die als soziale Systeme bezeichnet werden sollen.

Wenn Ego ein Alter bestiehlt, kann er von einem Dritten bestraft werden. Das ist die typische Struktur der Strafrechtssätze. Als typische Struktur der Strafrechtssätze bezeichnen wir sie deshalb, weil sie eine Struktur ist, die allem Sozialen und damit auch den Strafrechtssätzen zugrunde liegt. Als die die Strafrechtssätze fundierende Struktur ist sie nicht nur die logische Struktur des einen oder anderen Strafrechtssatzes. Sie ist vielmehr die Struktur der kommunikativen Handlungen überhaupt. Und weil die Strafrechtssätze sich auf kommunikatives Handeln beziehen und von daher auch Schemata richtigen oder verbotenen Handelns formulieren, können sie die Struktur kommunikativen Handelns überhaupt in ihrer logischen Form auch spiegeln. Die Strafrechtssätze können die ihnen zugrunde liegende kommunikative Struktur von Ego–Alter und Drittem in ihrer logischen Form abbilden, müssen es aber nicht. Denn Normtext und Normstruktur sind nicht notwendig identisch[3].

Die Strafrechtssätze stellen die Interaktionen zwischen dem Täter und der Gesellschaft unter einer doppelten Perspektive dar: Zum einen unter dem Aspekt der strafbaren Handlung und der darauf bezogenen Aktion des Sanktionsberechtigten. Das ist die Perspektive der Strafbeziehung. Zum anderen unter dem Aspekt von Täter und übriger Gesellschaft. Das ist die Perspektive der Rechtsgutsverletzung. Sie ist in einer Reihe von Strafrechtssätzen als Relation von Ego und Alter nicht ausdrücklich genannt. Das hat tatbestandstechnische, aber nicht prinzipielle Gründe. Auch jenen Strafrechtssätzen, die – anders als es beim hier gewählten paradigmatischen Ausgangspunkt der Diebstahlsbestimmung der Fall ist – Alter nicht ausdrücklich nennen, liegt die gleiche triadische Normstruktur von Ego – Alter und Drittem zugrunde. Dies gilt es später näher zu begründen.

1.2. Regelung und Steuerung

Damit ist ein Ansatz programmatisch skizziert, den es im Laufe der Untersuchung zu entfalten gilt. Doch zunächst muß die allgemeine Geltung der im ersten Schritt vorgenommenen Explikation der Struktur der Strafrechtssätze unterstellt werden. Die programmatische Skizze war nötig, um in einem ersten Umriß den Rahmen zu gewinnen, in dem ein weiterführendes Strafverständnis entwickelt und die rechtstheoretischen Implikationen jener eingangs geschilderten Aporien diskutiert werden können, die die Grundlagenkrise des Strafrechts indizieren. In einem Vorgriff auf das Verständnis strafrechtlicher Sanktionen ließe sich also sagen, daß diese ein konstitutives Element der kommunikativen Struktur der Strafrechtssätze bilden. Stellt sich das Recht als ein Netz erwartbarer Interaktionen und Kommunikationen in sozialen Systemen dar, so ist die Strafe Moment eines komplexen rechtlichen Regelungsprozesses von wechselseitig aufeinander rückbezogenen kommunikativen Aktionen. Strafe ist als konstitutives Element der rechtlichen Interaktions- und Kommunikationsstruktur zu verstehen. Diese vermittelt als Orientierung das Handeln von Ego und Alter, indem sie als negative Normierung sozialen Handelns dieses qua Normierung auf Dauer stellt und mögliches abweichendes Verhalten als solches kennzeichnet und unter Sanktion stellt. Der skizzierte intersubjektive Zusammenhang läßt das Recht, wie noch darzulegen sein wird, in seiner Positivität erst in Erscheinung treten. Denn es wird in gesellschaftlichen Interaktions- und Kommunikationsprozessen durch Entscheidung gesetzt und verändert.

Als Element eines solchen Interaktions- und Kommunikationszusammenhanges ist Strafe bis in die Gegenwart kaum zum Gegenstand strafrechtswissenschaftlicher Grundlagenreflexion gemacht worden. Die Folge war, daß die soziale Funktion der Strafe nicht aus dem intersubjektiven Zusammenhang, dem sie angehört, begründet werden konnte, sondern erst durch zusätzliche, außerpositive Annahmen inhaltlich bestimmt werden mußte. Hier stellt sich nun gleich die Frage, warum dieser kommunikative Strukturzusammenhang meist ausgeklammert wurde. Zunächst liegt die Vermutung nahe, daß bislang zwei verschiedene Kategorien, die grundlegende Bedeutung für das Verständnis der Rechtssätze haben, nämlich »Regelung« und »Steuerung« gleichsam in einer Engführung des rechtstheoretischen Denkansatzes so miteinander konfundiert waren, daß jener kommunikative Strukturzusammenhang nicht mehr zur Geltung gebracht werden kann.

Zwei miteinander verflochtene Grundannahmen haben bisher idealtypisch das Verständnis der Strafrechtssätze und damit das der Strafe bestimmt. Herkömmlich werden die Normen des Rechts als direkte Anweisungen an menschliche Individuen verstanden, bestimmte Handlungen vorzunehmen oder zu unterlassen[4]. Zum einen liegt dieser Auffassung die auf das rationalistische Naturrecht und den deutschen Idealismus zurückführbare normative Modellvorstellung zugrunde, daß Rechtssätze grundsätzlich als Bestimmungen individuellen Handelns gesehen werden müssen. Daß das nicht notwendig so sein muß, sondern daß Normen zumal intersubjektive Zusammenhänge vermitteln, ist im ersten Vorgriff einer an den positiven Strafrechtssätzen festgemachten Analyse der Normstruktur bereits deutlich geworden. »Nichts steht der Vorstellung entgegen, daß sich auch das organisierte Zusammenwirken mehrerer an die Grenzen der rechtlichen Normen zu halten habe. Man kann das Verhalten der sozialen und soziotechnischen Systeme als Ganzes an den Normen messen und die Verantwortung des einzelnen nach seiner Stellung im Netzwerk der Systeme bestimmen. Man gibt dadurch weniger von dem Geist des klassischen normativen Modells auf, als wenn man Leerformeln einführt, die die Funktion haben, Korrekturen ad hoc zuzulassen«[5]. Zum anderen liegt dem Verständnis, daß Normen als Anweisungen an den einzelnen zu begreifen sind, idealtypisch die Vorstellung zugrunde, daß das Verhalten durch Normen gesteuert wird. In der »Steuerung« als Schema möglichen Handelns ist das reflexive Bewußtseinshandeln der Subjekte ausgeklammert. Die Subjekte werden nicht als Subjekt bewußten Handelns, welche einsehbaren »Regeln folgen«, gesehen, sondern auf ihre Funktion als Träger eines im stimulus-response-Schema ablaufenden Verhaltens reduziert. »Steuerung« ist für sich betrachtet ein Schema technischen Handelns, welches die Reflexion auf die handlungsleitenden Überzeugungen ausschließt und einzig auf die effiziente Anwendung der Normen gerichtet ist. Steuerung ist instrumentalistisch und irreflexiv zugleich, indem sie den Rekurs auf das, wonach und wozu gesteuert wird, also auf die Zwecke und Folgen des Handelns abschneidet. Mit der Ausklammerung der Dimension der Reflexivität und praktischen Intersubjektivität wird eine Konzentration auf die »rationale Wahl der Mittel« erreicht. Das, wonach und wozu man steuert, wird in Form des Gesetzes als eine gültige und auf Dauer-Gestellte-Intersubjektivität unterstellt, welche die Subjekte in vorgängiger Übereinstimmung verbinden soll. Das Gesetz verbürgt im »Normalfall«, daß die handlungsleitenden Überzeugungen irreflexiv im Rücken bleiben und deshalb als Steuerungsfaktor fungieren können, ohne daß die in Frage stellende Reflexivität von Subjekten bemüht werden müßte. Ohne diese faktische Irreflexivität des »Normalen« wäre Rechtssicherheit auch nicht möglich.

Freilich kann das den Strafrechtssätzen zugrunde liegende, von der Interaktionsstruktur Ego – Alter und Dritter konstituierte, kommunikative und reflexive Handlungsgefüge nicht zureichend im Schema der Steuerung begriffen werden. Wird nämlich die Dimension der Intersubjektivität des Handelns ausgeblendet, so steht etwa auf der Seite des gesetzlichen Tatbestandes einseitig die Straftat im Vordergrund der Betrachtung. Der Täter verblaßt in den Strafrechtssätzen zum Schemen des »Wer«: Er wird nicht in kommunikativen Handlungssituationen begriffen, in denen er auf andere und auf Probleme antworten müßte, sondern er gilt als Verursacher einer Tat, die im zugrunde liegenden Modell kaum mehr auf Lebensgeschichte und gesellschaftlichen Zusammenhang zurückgeführt werden kann. Das Tatstrafrecht gilt es dann erst nachträglich durch die täterstrafrechtliche Komponente zu ergänzen. Das Ausblenden der kommunikativen Dimension führt zu einem Verständnis der Strafe, das deren soziale Funktion nicht zureichend in den Blick bekommt.

Unter dem Steuerungsaspekt können die Strafrechtssätze als konditionale Entscheidungsprogramme begriffen werden, die der Rechtsapparat anwendet. Wie alle Rechtssätze haben auch die Strafrechtssätze die Fülle möglicher Handlungsalternativen beschränkt und enthalten eine Regel darüber, was beim Vorliegen bestimmter Informationen zu geschehen hat: Wenn Diebstahl – dann Strafe. Wenn der gesetzliche Tatbestand x erfüllt ist, dann ist die Rechtsfolge y geboten. Versteht man nun die Rechtsnormen im herkömmlichen Sinn als Anweisungen an ein Individuum, bestimmte Handlungen vorzunehmen oder zu unterlassen, dann erscheint im Rechtskonkretisierungsprozeß durch den Richter die Strafe nur noch als Folge einer vorgängig festgestellten Rechtslage. Wird das Konditionalprogramm als Modell für das Verständnis der Strafrechtssätze und des Rechtsanwendungsprozesses zugrunde gelegt, dann bildet die Strafe den Endpunkt dieses Vorganges und über ihre soziale Funktion ist dann aus dem Vorgang selbst nichts auszumachen. Die Strafzumessung muß dann folgerichtig als »freie, soziale Bewertung der Tat innerhalb der gesetzlichen Schranken«[6] verstanden werden und inhaltliche Aussagen über die Funktion der Strafe lassen sich nur jenseits der Struktur des positiven Rechts gewinnen. Sie werden dann als Sinn- und Zweckzusammenhänge aus außerpositiven Wertvorstellungen oder aus einer dem positiven Recht entgegengesetzt verstandenen »sozialen Wirklichkeit« »frei« in »sozialer« Bewertung erschlossen. Wird die Strafe nicht mehr als Element eines wechselseitig rückbezogenen rechtlichen Regelungszusammenhanges gesehen, dann läßt sich die Frage nach Wirkung und Erfolgskontrolle nicht mehr stellen. »Bewährung der Rechtsherrlichkeit« bleibt dann »nach hinten«, im Blick auf Täter und Tat als einziges Thema, und »nach vorn«, im Blick auf die Rechtsfolge, können »Zwecke« der Strafe nicht als durch Entscheidung positiv gesetzt, sondern nur als dem positiven Recht »von außen« vorgegeben betrachtet werden. Eine Reflexion auf die Folgen und Wirkungen der Strafe ist in diesem Modell ausgeblendet. Sie kann nur nachträglich als quasi »von außen« an das Recht herangetragene, als rechtspolitische Forderung nach einer »Zweckstrafe« etwa wieder ins Spiel kommen. Macht man also das Schema der Steuerung zum tragenden Modell des Verständnisses der Strafrechtssätze, dann ist die Frage, welche Funktion der Strafe zukommen soll auf der Grundlage der die positiven Strafrechtssätze konstituierenden Struktur nicht zureichend zu diskutieren. Die Entscheidung darüber ist vielmehr dem außerpositiven Feld der Spekulation und Weltanschauungsdiskussion überlassen. Die Begründung zum Regierungsentwurf eines Strafvollzugsgesetzes von 1972[7] formuliert dies auch ausdrücklich. Sie macht freilich aus der strafrechtstheoretischen Not eine politische Tugend, indem sie die Frage wegen ihres Weltanschauungsaspekts für unentscheidbar und rational nicht diskutabel erklärt, was aber nicht hindert, gleichsam hinter dem Rücken des »Reflexionsverbots« massive, nicht ausdiskutierte Grundsatzentscheidungen in den Gesetzestext eingehen zu lassen.

Die Auffassung freilich, das Konditionalprogramm als für das Verständnis der Strafrechtssätze grundlegendes Modell zu verstehen, konnte zumindest solange als diskutabel erscheinen, als das Strafrecht »nach dem Prinzip des klassischen Vergeltungsstrafrechts auf die Vergeltung von Übel durch Übel ›programmiert‹ war. Sie mußte spätestens dann jedoch inakzeptabel werden, als der Strafrichter nach den Prinzipien eines modernen Resozialisierungsstrafrechts darauf verpflichtet wurde, bei der Auswahl und Zumessung der Strafe selbst die für den ›Schutz der Rechtsgüter‹ und die ›Wiedereingliederung des Täters‹ zweckvollste und wirksamste Strafe zu bestimmen«[8]. Spätestens dann, wenn das Gesetz den Strafrichter verpflichtet, »die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind« bei der Strafzumessung zu berücksichtigen (§ 46 StGB) wird es fraglich, ob die Steuerung als Schema möglichen Handelns die die Strafrechtssätze konstituierende Struktur hinreichend zu erklären vermag oder ob sie nicht nur ein Moment innerhalb eines Handelns ist, das in der kommunikativ-reflexiven Struktur von Ego – Alter und Dritten beschrieben werden muß. Das Schema eines solchen möglichen Handelns, das auf wechselseitig rückbezogenen Interaktionen und Kommunikationen beruht, wollen wir Regelung nennen. Verkürzend kennzeichnen wir im Folgenden die unterschiedlichen Aspekte der Strafrechtssätze auch als Regelungs- oder Steuerungsstruktur. Im Unterschied zur Regelung erfolgt bei der Steuerung, die als Unterfall der Regelung begriffen wird, keine Rückkoppelung und keine Leistungskontrolle. Steuerungen »arbeiten blind«. Sie kontrollieren ihre Leistungen nicht selbst und passen sich nicht an[9]. Kommunikativ-reflexives Handeln zur Regelung von Konflikten läßt sich nicht unter den Aspekt des Steuerungshandelns subsumieren. Dieses ist vielmehr als der defiziente Modus von jenem zu begreifen. Ihm kommt daher eine zwar unleugbare, aber eingeschränkte Bedeutung zu.

Unter dem Aspekt der zu gewinnenden Entscheidung läßt sich die den Strafrechtssätzen zugrunde liegende normative Interaktionsstruktur im Sinne des Steuerungsschemas als Konditionalprogramm, d.h. mit Hilfe von Wenn–Dann–Regeln als zeitliche Abfolge von Informationen darstellen. Im Programmbegriff wird sachliche in zeitliche Komplexität aufgelöst, »wie dies vor allem bei der Programmierung elektronischer Datenverarbeitungsanlagen nötig ist, da diese zwar sehr schnell sind, aber sachlich nur sehr einfache Entscheidungsschritte vollziehen können«[10]. Als Konditionalprogramm gefaßt stellen Strafrechtssätze dann idealtypisch Algorithmen, kalkülisierte Problemlösungen dar. Sie sind im Gegensatz zu den Zweckprogrammen, die auf operationalen Problemlösungen beruhen, einfach Entscheidungsregeln, »die schematisch vollzogen werden können, ohne daß der Sinn des Vollzugs mitbedacht werden müßte«[11].

Nicht ohne Grund ist ja auch bis in die Gegenwart der Prozeß der Rechtsanwendung immer wieder im Modell eines logischen Schlußverfahrens dargestellt worden: Der Spruch des Richters beruht in dieser Sicht »auf einer logischen Tätigkeit, auf Subsumtion eines Sachverhalts unter einen gesetzlichen Tatbestand« und die Strafe erhält den Charakter einer bloßen Schlußfolge[12]. Und: »Wenn das Gesetz sagt […], ›wer eine fremde bewegliche Sache einem Anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, wird wegen Diebstahls mit Gefängnis bestraft‹, so bildet in dem Urteil über den Dieb diese Anordnung den Obersatz, die diebische Handlung des Verbrechers den Untersatz, die Verhängung der Strafe den Schluß«[13]. Das sich hierin offenbarende Rechtsverständnis, daß der Rechtsfindungsprozeß darin bestehe, »daß ein Lebenstatbestand unter die maßgebende Rechtsregel subsumiert wird, so daß sich eine bestimmte Rechtsfolge ergibt« ist bis in die Gegenwart bestimmend gewesen[14]. »Die Subsumtionstheorie« geht von dem »Ideal« aus, »daß die Regeln, nach denen der Richter entscheidet, im Voraus festliegen, mit anderen Worten, daß der Obersatz des syllogistischen Schlußsatzes vorgegeben ist und daß deshalb der Richter mit den Worten Montesquieus als der ›Mund des Gesetzes‹ subsumieren, d.h. im Untersatz feststellen kann, daß die rechtsfolgebedingenden Tatbestandsmerkmale des Obersatzes im konkreten Sachverhalt gegeben sind, woraus sich dann der Schluß ergibt, daß die gesetzlich vorgegebene Rechtsfolge eintritt«[15]. Damit fungiert die Subsumtionstheorie gleichsam als die methodologische Absicherung jenes im Steuerungsschema fundierten, verkürzten Normverständnisses als direkter Verhaltensanweisung.

Obwohl man inzwischen längst weiß, daß das Subsumtionsmodell keine hinreichende Beschreibung des juristischen Entscheidungsprozesses liefert, hat es doch lange Zeit unter den Auswirkungen der begriffsjuristischen Methode das Selbstverständnis der dogmatischen Rechtswissenschaft und juristischen Entscheidungspraxis bestimmt. Mit der Kritik an der begriffsjuristischen Methodik des 19. Jahrhunderts und ihrer Fortentwicklung durch die dogmatische Rechtswissenschaft mußte folgerichtig auch der »Justiz-Syllogismus« (Esser) zum Thema und Problem einer auf die Erforschung ihrer Grundlagen bedachten Rechtswissenschaft werden[16]. Interessen- und Wertungsjurisprudenz, Topik und Hermeneutik haben im Rekurs auf das dem Recht voraufliegende »Vorverständnis« die Dimensionen von Intersubjektivität und Reflexivität in das Normverständnis wieder einzubeziehen versucht[17]. Das hat nicht nur zu einem reflektierten Verständnis von Tatbestand und Rechtsfolge, sondern auch dazu geführt, besonders unter dem Aspekt der Strafzumessung die Verbindung und Wechselbezüglichkeit beider Elemente der Strafrechtssätze wieder stärker zu sehen[18].

Freilich ist damit die Wirksamkeit des Steuerungsschemas in seiner für das Verständnis der Strafrechtssätze grundlegenden Bedeutung noch nicht eigentlich gebrochen. Es tritt nur in einem geistigen Klima, das die kritisch-reflektierten Elemente der historischen Ansätze etwa von Herder und Humboldt, Hegel und Marx nicht verleugnen kann und von »kritischem Rationalismus« einerseits und von »kritischer Theorie« andererseits verunsichert wird, kaum noch unverhüllt und gleichsam in Reinkultur auf[19]. Wäre dem nicht so, so dürfte das Modell der Rechtsanwendung nicht nur auf der »methodologischen« Ebene interessen- und werttheoretisch »bereinigt« und hermeneutisch ergänzt werden, sondern das Steuerungsschema dürfte auch nicht mehr als Basismodell des Prozesses der Rechtskonkretisierung fungieren. Zwar hat im nun reflektierten Verständnis des Normkonkretisierungsprozesses der Syllogismus keine entscheidende Bedeutung mehr für das Verständnis dieses Vorgangs selbst. Er hat nur noch eine spezifische Funktion: sie liegt in der Darstellung und Legitimation des Entscheidungsergebnisses. Der Syllogismus ist nicht die Wiedergabe eines faktischen Geschehens oder das Strukturmodell des Entscheidungsprozesses selbst. Der Schluß von einem Tatbestand auf eine Rechtsfolge ist für den Juristen die Endgestalt, in der er sein Arbeitsergebnis präsentiert, nicht aber ein Abbild oder ein Modell seiner faktischen Entscheidungstätigkeit. Die logische Form hat eine Darstellungsfunktion. Die Darstellung der Perspektive, die die Entscheidung tragen soll, reduziert die in der Regelungsstruktur schon reduzierte, gesellschaftliche Komplexität noch ein weiteres Mal und bringt den Tathergang im Subjekt-Objekt-Modell unter Ausblendung des intersubjektiven Regelungszusammenhanges in die Form eines die Rechtsfolge steuernden Informationsprozesses. Doch mit der Abkehr von einem rein technischen Verständnis des Anwendungsbegriffs ist dieser selbst noch nicht überwunden. Trotz der nun explizit formulierten Bezogenheit des Aktes der Rechtserkenntnis auf Gesellschaftlichkeit und Reflexivität bleibt es bei der Konfundierung der grundlegenden Kategorien von Regelung und Steuerung. Die Problematisierung von Gesellschaftsbezug und Reflexivität macht diese Konfundierung erst in aller Schärfe deutlich. Denn ganz gleich, ob die Norm als ein Muster zur »Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen« oder als »Entscheidungsmuster« verstanden wird, immer konkretisiert sie sich noch in »Bewußtseinsprozessen«, die sich anschließend erst in der Gestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeit »äußern« oder im Anschluß an die »Wertungsreflexionen des Richters« angewendet werden[20]. Die Steuerung des Handelns geschieht nun nicht mehr auf Grund eines als irreflexiv vorgegeben und fertig verstandenen Gesetzes, sondern auf Grund der im Bewußtseinsprozeß reflexiv hergestellten Normkonkretisierung. Die nun wiedergewonnene Möglichkeit, den Normkonkretisierungsvorgang in der Dimension von Reflexivität und Intersubjektivität beschreiben zu können, stellt einen wichtigen Schritt auf ein Verständnis des Rechts als normative Struktur des gesellschaftlichen Handlungs- und Veränderungszusammenhanges dar. Wenn jetzt auch die einzelnen Schritte der Konkretisierung des konditionalen Entscheidungsprogramms nicht mehr ohne Reflexion auf die handlungsleitenden Intentionen und »Zwecke« gedacht werden können, dann fällt auch die starre Unterscheidung von Konditional- und Zweckprogramm.

Der erreichte Fortschritt kommt freilich erst dann voll zum Tragen, wenn der Normkonkretisierungsprozeß nicht nur als Bewußtseinsprozeß, als Verstehensprozeß der »Ordnungsabsicht« der Norm, sondern auch als normorientiertes Handeln auf andere hin verstanden wird. Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Reflexion auf die Rechtssätze kann nicht allein deren »gedankliche Wirklichkeit in ihrer Geltung«, sondern muß auch deren »wirkliche Wirklichkeit in ihrer Wirkung« sein[21]. Aus Handlungs- und Bewußtseinsebene darf kein Gegensatz konstruiert werden. Weder kann gesagt werden, daß die Rechtsnormen »eine von der sozialen Wirklichkeit unabhängige Existenz in ihrem grundsätzlichen Geltungsanspruch« haben[22], noch aber, daß die »Verbindlichkeit« einer Rechtsnorm vom Verstehen des Adressaten unabhängig sei und sich die Normativität allein durch die »Möglichkeit, faktisch durchgesetzt zu werden«, bestimme[23]. Wenngleich die im Gesetz Auf-Dauer-Gestellte Intersubjektivität nicht im aktuellen Verstehen oder Handeln aufgehen kann, so ist es doch auch nicht möglich, sie von beiden abgelöst zu begreifen. Die Aktualisierung der Reflexivität in einer Lebenssituation ist ihrerseits kein rein reflexiver Akt, sondern von vornherein durch Interaktion vermittelt. Das »Verstehen« ist immer auch von anderen her orientiert und auf die Einflußnahme auf andere gerichtet wie auch das Handeln grundsätzlich auf Reflexion angewiesen ist. Die Aktion des Straftäters bedarf der Antwort, und diese beeinflußt den Täter, was seinerseits wieder Rückwirkungen in der Gesellschaft hat. Das Ich und die Anderen konstituieren sich uno actu. Freilich nicht in direkter Aktion, sondern indirekt, indem sie ihre Inter-aktionen durch ein »Drittes«, den »Kon-text« des Gesetzes vermitteln. Indem sie ihre Aktionen in jenem Kontext darstellen und interpretieren, geschieht eine Distanzierung aus der Unmittelbarkeit der Situation. Dadurch wird reflexiv-kommunikatives, wechselseitig rückbezogenes, die Folgen und Wirkungen einbeziehendes Handeln erst möglich. Die Strafrechtssätze, als »Auf-Dauer-Gestellte« Intersubjektivität verstanden, verweisen auf das reflexiv-kommunikative Handlungsgefüge von Ego, Alter und Drittem. Das Gesetz ist nicht nur Anweisung an den einzelnen zu einem bestimmten Verhalten. Sondern es ist als »Vermittlung«[24] zwischen Ego, Alter und Drittem die Bedingung der Möglichkeit von Reflexion und kommunikativem, wechselseitig rückbezogenem Handeln.

Die in der Situation gestellten Probleme und Konflikte erfordern die reflexive Herstellung von normorientierten Lösungen in einem wechselseitig rückbezogenen Regelungsprozeß. Sofern sich die Problemlösung dabei an Normen als Deutungshypothesen orientiert, findet auch stets eine Steuerung des Verhaltens statt. Denn nicht alles kann aktuell neu entschieden werden, und nur vom Boden des Entschiedenen aus ist Reflexion möglich. Doch Regelung und Steuerung sind zwei Schemata möglichen Handelns, die, wenn es nicht zu inadäquaten Problemlösungen bei einer Grundlagenreflexion auf das Problem der Strafe kommen soll, nicht miteinander so konfundiert werden können, daß eines im anderen aufgeht. Wird die Steuerung nur als das einzige Schema möglichen Handelns und nicht als Modus des Regelungsprozesses verstanden, dann bleibt die Dimension der Sozialität und Intersubjektivität dem Recht nur akzidentiell. Erst ein Rechtsverständnis, das an der den positiven Strafrechtssätzen zugrunde liegenden triadischen Struktur – Ego, Alter, Dritter – von wechselseitig rückbezogenen Interaktions- und Kommunikationsprozessen festgemacht ist, läßt die Strafe als Element dieses Regelungsprozesses begreifen mit der Folge, daß auch die soziale Funktion der Strafe ohne Rückgriff auf außerpositive Annahmen bestimmt werden kann.

1.3. Strafrechtstheorie oder Straftheorie

Wenn bislang nicht die Regelungs-, sondern die Steuerungsstruktur der Strafrechtssätze zum Ausgangspunkt strafrechtswissenschaftlicher Analysen gemacht worden ist, dann entspricht dem folgerichtig, daß die Reflexion auf das Problem der Strafe nicht als Strafrechtstheorie, sondern als Straftheorie auf den Weg gebracht worden ist. Zentraler Bestandteil der Darstellungen des Strafrechts der Gegenwart sind denn auch Straftheorien. Straftheorien sind sie auch dann, wenn sie – begrifflich ungenau – als Strafrechtstheorien bezeichnet werden.[25] Straftheorien sind sie deshalb, weil sie das Problem der Strafe zwar praktisch auf der Grundlage des positiven Rechts[26], nicht aber im Rahmen einer allgemeinen Theorie des positiven Rechts behandeln. Diese zu leisten gehört noch zu den uneingelösten Aufgaben strafrechtstheoretischer Reflexion.

Soweit nun der unterschiedliche Sprachgebrauch reflektiert worden ist[27], handelt es sich nicht nur, wie gelegentlich behauptet worden ist, um eine terminologische Kontroverse ohne wesentlichen Belang[28]. Vielmehr handelt es sich um grundlegend verschiedene Ausgangspositionen mit – wie darzulegen sein wird – weitreichenden Konsequenzen.

Im Blick auf den gegenwärtigen Stand der Diskussion hängt von der Wahl der Ausgangsposition ab, ob es gelingen kann, einen kategorialen Rahmen zu entwickeln, mit dessen Hilfe Strafe als Sanktion des demokratischen und sozialen Rechtsstaates adäquat erfaßt werden kann. Und zwar so, daß mit der Entwicklung dieses strafrechtstheoretischen Rahmens die im Grund unverbunden nebeneinanderstehenden Wissenschaftsbereiche von Kriminologie, Strafrechtsdogmatik und Poenologie, Strafrecht und Kriminalpolitik vom Ansatz her integriert werden können und nicht mehr bloß additiv aufeinander bezogen zu werden brauchen. »Gesamte Strafrechtswissenschaft« brauchte dann im Gegensatz zu »Reiner Straf rechtswissenschaft«[29] nicht mehr bloß postuliert, sondern könnte vielmehr genuin strafrechtstheoretisch begründet werden. Im zu gewinnenden strafrechtstheoretischen Rahmen könnte mit der Überwindung des dichotomischen Modells von »gebundener« Rechtsanwendung und »freier, sozialer« Bewertung auch die Revision einiger dogmatischer Grundbegriffe und die Gewinnung adäquater Kriterien der Strafzumessung wie überhaupt die dringend notwendige Verklammerung von Verbrechensdogmatik und Strafzumessung derart gelingen, daß eine vom Ansatz her genuine Öffnung der Strafrechtswissenschaft zu den übrigen Sozialwissenschaften ermöglicht wird, die das Konzept einer einseitig als normative Geisteswissenschaft verstandenen Rechtswissenschaft modifiziert. Die Notwendigkeit einer Öffnung der Strafrechtswissenschaft zu den übrigen Sozialwissenschaften wird heute allenthalben gesehen. Das Unternehmen einer solchen Öffnung ist aber, wenn es gelingen soll, nur möglich auf der Basis einer auch theoretisch abgesicherten Reflexion auf die strafrechtsdogmatischen Grundlagen. Und diese kann, wie noch darzulegen ist, nur vom Boden einer Strafrechtstheorie her geleistet werden, die – als regionale Teiltheorie einer allgemeinen Theorie des positiven Rechts entwickelt –, das Recht als Struktur von sozialen Systemen begreift und die im zu entwickelnden strafrechtstheoretischen Bezugsrahmen die Aufstellung auch empirisch überprüfbarer Hypothesen ermöglicht.

Von Grundpositionen her, die, wenn auch rechtspositivistisch verankert, doch nicht, wie es hier geschehen soll, von einer Strukturtheorie des positiven Rechts ausgehen, ist auf die unterschiedliche theoretische wie praktische Bedeutung der Termini Strafrechts- oder Straftheorie hingewiesen worden. Sie bilden für den vorliegenden Argumentationszusammenhang kritische Merkposten, die es unter verschiedenen Aspekten später aufzunehmen gilt. So erhebt nach Max Grünhut eine Strafrechtstheorie den Anspruch, als allgemeine Wissenschaftslehre des Strafrechts Theorie strafrechtlicher Dogmatik zu sein. Und Straftheorien sind allenfalls »Anschauungen von Zweck und Rechtfertigung der staatlichen Strafe, – Fragen der Strafpolitik und der Strafrechtsphilosophie«[30]. Nach Max Ernst Mayer muß eine Strafrechtstheorie stets Normentheorie sein, die ihre Grundlage entweder wie die Rechtsnormentheorie Bindings im Staatsrecht oder als Kulturnormentheorie in der Rechtsphilosophie zu suchen habe.[31] In Straftheorien, die sich als Strafrechtstheorien bezeichnen »liegt eine von altersher beabsichtigte, aber unberechtigte Anmaßung; in Wahrheit ist nicht das Strafrecht, sondern die Strafe, nicht das Ganze, sondern seine eine Hälfte der Gegenstand der Betrachtung.«[32] Kritisch weisen Max Ernst Mayer und Karl Binding von unterschiedlichen Ausgangspunkten her darauf hin, daß fast alle Straftheorien Theorien sind »nicht der wirklichen, sondern einer imaginären Strafe, wie sie der Urheber der Theorie in die ideale Rechtsordnung einfügt, deren Erbauer er ist«[33]. Entweder ignorieren oder befehden sie das positive Recht »indem sie das angebliche Strafrecht der Zukunft antecipieren«[34]. Die Straftheorien, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und an der Wende zum 20. Jahrhundert besonders als »relative Theorien« Bedeutung gewannen, sind nach Binding entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis gerade das »Gegenteil einer wissenschaftlichen Erklärung […] des geltenden Rechts und seiner Institute«, sie sind »nichts Anderes als naturrechtliche Philosophie«[35]. Abgesehen vom Aktualitätsgehalt dieser Kritik, stellt sich die Frage, ob Binding und Mayer unter erkenntnistheoretischem Aspekt eine so grundlegend andere als die von ihnen kritisierte, in der Tradition naturrechtlicher Aufklärung stehende Position bezogen haben. Darauf und auf die in dieser Auseinandersetzung sichtbar werdenden Gegensätze von Naturrecht und Rechtspositivismus, die der Ausdruck eines erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Dualismus sind, der mit der Grundlagenkrise der Strafrechtswissenschaft der Gegenwart in Zusammenhang gebracht werden muß, wird im weiteren Verlauf der Erörterungen einzugehen sein.

2. Positives Strafrecht und Strukturwandel der Gesellschaft

Von der Struktur der positiven Strafrechtssätze ausgehend ist die Steuerung stets als Unterfall der Regelung zu begreifen. Während der intersubjektive Regelungszusammenhang auf wechselseitig rückbezogenen Interaktions- und Kommunikationsprozessen beruht, blendet die Steuerung als Spezialfall der Regelung den Aspekt wechselseitigen Rückbezugs quasi in einer »Engführung« unter dem Gesichtspunkt des Entscheidungsprozesses aus.[36] Die Ausblendung des intersubjektiven Regelungszusammenhanges läßt nun aber gerade die Steuerungsstruktur des Entscheidungsprogrammes als Struktur übermäßig reduzierter Komplexität und damit als Anknüpfungspunkt für eine strafrechtswissenschaftliche Reflexion auf die Strafe nur bedingt geeignet erscheinen. Wenn trotzdem die Strafrechtswissenschaft bis in die Gegenwart bei der Behandlung des Strafproblems vorwiegend an diese Strukturform angeknüpft hat, so sind die Gründe dafür in Prämissen zu suchen, die im folgenden unter rechtssoziologischen und erkenntnistheoretischen wie wissenschaftstheoretisch-methodologischen Aspekten erörtert werden sollen.

Das positive Strafrecht ist Struktur des rechtlich geregelten, gesellschaftlichen Lebens- und Veränderungszusammenhanges und technisches Instrumentarium zugleich, dem der Rechtsapparat, es als Entscheidungsprogramm anwendend, als Subjekt wie einem Objekt distanziert gegenübersteht. Daß die strafrechtstheoretische Reflexion auf die Strafe bislang unter Ausblendung der jener Subjekt-Objekt-Relation komplementären Intersubjektivitätsrelation geschah, kann nicht damit hinreichend erklärt werden, daß jene Einengung des Verständnisses der Strafrechtssätze sich vom praktischen Umgang des Rechtsapparates mit dem Recht am ehesten nahelegte. Die Gründe hierfür sind auch nicht lediglich strafrechtsgeschichtlich oder politisch aufzuhellen. Sie sind nicht darin zu finden, daß die Strafrechtssätze als strafrechtlicher Beitrag zur Problemlösung des Übergangs vom absoluten Polizei- und Wohlfahrtsstaat zum liberalen Rechtsstaat lediglich die staatlichen Sanktionsvoraussetzungen rechtlich genau zu fassen suchten. Die Gründe sind auch nicht nur in dem Umstand zu suchen, daß die Ausblendung des gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhanges aus dem Rechtsverständnis in einer politischen Situation nur zweckdienlich sein konnte, in der das Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Militärstaat des Kaiserreichs in einem formal gefaßten Rechtsstaatsbegriff Kompromisse schließen mußte.[37] Alle diese Gründe sind nicht mehr als praktische Affinitäten, die jenes eingeschränkte Rechtsverständnis nahelegten, in dessen Folge strafrechtswissenschaftliche Reflexion zwar als Straftheorie, nicht aber als Strafrechtstheorie betrieben, und Strafrechtsdogmatik auf der einen wie Kriminologie und Poenologie auf der anderen Seite in keinen rechtstheoretisch genuinen Zusammenhang gebracht werden konnten.

Einer der rechtstheoretisch relevanten Gründe wird vielmehr darin zu suchen sein, daß der Übergang von der bäuerlichagrarischen zur wissenschaftlich-technischen wie industriellen Gesellschaft, der durch eine zunehmende Autonomie gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse gegenüber »außergesellschaftlichen« und »außerpositiven« Wertzuweisungen wie Legitimationen gekennzeichnet ist, von der Rechtswissenschaft nicht in adäquaten rechtstheoretischen Modellen eingefangen und in einer entsprechenden Theorie des positiven Rechts beantwortet werden konnte. Zwar suchten die im 19. Jahrhundert neu etablierten Sozialwissenschaften die neue Situation zu reflektieren, indem sie seit Dürkheim postulierten, »Soziales nur durch Soziales« zu erklären.[38] Doch waren auch sie im Ganzen solange auf mechanistische, organizistische und historistische Modelle angewiesen, die im wesentlichen auf Erfahrungen und technischen Vorrichtungen fußten, die man bis 1850 kennengelernt hatte[39], als es nicht gelang, die sozialen Prozesse selbst zu analysieren und empirisch überprüfbare Modelle aufzustellen. Erst als es seit 1940 möglich wurde, Apparate herzustellen, »welche die Funktionen der Kommunikation, Organisation und Steuerung übernehmen konnten, näherte man sich zugleich dem Verständnis dieser Funktionen selbst«[40]. Erst als es gelang, die bis dahin der unmittelbaren Beobachtung entzogenen Kommunikations- und Regelungsvorgänge mit Hilfe von elektronischen Kommunikations- und Steuerungsgeräten zu analysieren, sie »in allen Einzelheiten zu untersuchen und wieder zu rationelleren Mustern zusammenzufügen«[41], war man einem tieferen Verständnis der sozialen Vorgänge näher gekommen. Gesellschaft wurde nun als Netz von Kommunikationsbahnen und Kommunikationsknotenpunkten verstanden, und sie konnte, gestützt auf eine kybernetische Strukturtheorie, jetzt endgültig nicht mehr bloß als Vorgefundenes, sondern als in gesellschaftlichen Prozessen selbst produziert begriffen und analysiert werden. Der Strafrechtswissenschaft ist es wie auch der übrigen Rechtswissenschaft – von Ansätzen abgesehen[42] – bislang nicht gelungen, das Recht als Struktur von sozialen Systemen darzustellen und damit die Eigenständigkeit des Sozialen gegenüber den als »außergesellschaftlich« begriffenen Wertzuweisungen und Legitimationen in einer Theorie des positiven Rechts wie Strafrechts zu reflektieren. Das bis in die Gegenwart reichende Diskussionsschema von Naturrecht und Rechtspositivismus[43] spiegelt diesen Sachverhalt. Nach dem gängigen, zum Teil unreflektiert verwendeten Rechtsverständnis, empfängt das Recht seine Wertzuweisungen auf Grund »außerpositiv« begriffenen göttlichen oder vernünftigen Naturrechts oder aus einer »vorrechtlich« verstandenen »sozialen Wirklichkeit« oder der des politischen Systems. Die strafrechtswissenschaftliche Reflexion auf die Strafe orientiert sich folgerichtig an kriminalpolitisch und d.h. außerpositiv begründeten Strafzwecken. Sie zielt nicht auf eine Strafrechtstheorie, sondern auf eine Straftheorie, begründet auf Spekulation und Metaphysik.[44]

Trotz eines faktisch betriebenen handfesten Gesetzes- und Rechtspositivismus gelang keine Theorie des positiven Rechts, und die Theoriebildung blieb im wesentlichen dem Naturrecht überlassen.[45]

2.1. Gesellschaftliche Funktion des positiven Rechts

Der Übergang von naturrechtlicher Rechtsbegründung zum Rechtspositivismus läßt sich unter rechtssoziologischem Aspekt als der rechtliche Ausdruck des Übergangs von der bäuerlichagrarischen zur wissenschaftlich-technischen wie industriellen Gesellschaft begreifen. Diese Gesellschaft versteht sich selbst als Produzent wie auch Produkt ihrer eigenen Geschichte und bedarf deshalb transzendenter Rechtfertigungen nicht. Der strafrechtlich zentrale Grundsatz: nullum crimen, nulla poena sine lege[46] ist Ausdruck des Abbaus naturrechtlicher und der Hinwendung zu ausschließlich positiv-rechtlicher Legitimierung des Rechts. Das, was Verbrechen und kriminalrechtliche Sanktionen sind, wird ausschließlich in gesellschaftlichen Interaktions- und Kommunikationsprozessen definiert und findet seinen Ausdruck in den positiv-rechtlichen Regelungen des Strafrechts; und über die Funktion strafrechtlicher Sanktionen ist jenseits des intersubjektiven Strukturzusammenhanges des Rechts nichts auszumachen.

Zwar läßt sich schon das Prinzip des Naturrechts als Ausdruck einer kritischen Einstellung gegenüber dem als invariant verstandenen traditionalen Recht begreifen[47], das als das ewig und von »altersher verbürgte«, als das »Heilige und Göttliche« seine Legitimation genoß. Die Entdeckung der »Natur« in der vorsokratischen Philosophie war der Beginn einer kritischen Hinterfragung der Tradition, zugleich aber auch der Beginn der Verwandlung des traditionalen in konventionelles Recht.[48] Im Dualismus von Naturrecht und positivem Recht wird eine Differenzierung des Rechts in Unverfügbares und Verfügbares deutlich. Als entwicklungsgeschichtliche Innovation ist aber auch sie zunächst nur legitimierbar im erneuten Rückgriff auf ein Prinzip der Invarianz: den Begriff der Natur[49]. Am Naturbegriff der alteuropäischen Tradition ist, wie Luhmann dargelegt hat, »soziologisch bemerkenswert die Ausschaltung der Eigenkausalität des sozialen Systems bzw. ihre Beschränkung auf bloße Nachahmung und Vollendung der Natur – ein Symptom für das mangelnde Vertrauen in die effektive und hinreichend komplexe Organisation sozialer Prozesse. Naturrecht heißt, soweit es reicht, Leugnung der Eigenleistung des sozialen Systems der Gesellschaft bei der Konstitution von Recht.«[50] In einfacheren Sozialsystemen wird das Recht als umweltgegeben vorgestellt. Erst die »Steigerung der Systemkomplexität«, erst die Ausweitung der innersystemischen Differenzierung in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft ermöglicht es, »das Problem der Rechtsgeltung von außen nach innen zu verlagern und das Recht als selbstgemacht (positiv) vorzustellen«.[51]

2.1.1. Repressive und restitutive Sanktionen

Der Abbau der naturrechtlichen Legitimation des Rechts geht folgerichtig parallel mit der zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft, die sich in einer relativ größeren Autonomie gesellschaftlicher Subsysteme äußert. Im Übergang vom Strafrecht des Polizei- und Wohlfahrtsstaates zum rechtsstaatlichen Strafrecht, als dessen Begründer Anselm von Feuerbach gilt, spiegelt sich dieser Vorgang.[52] Beim Übergang von Gesellschaften mit geringer zu Systemen mit hoher struktureller Komplexität differenzieren sich die bislang etwa in der Großfamilie zusammengefaßten Funktionen von Erziehung, Beschaffung des Lebensunterhalts, Altenversorgung und Krankenpflege in zunehmendem Maß ganz oder teilweise in partiell autonome Subsysteme wie Kleinfamilie, Kindergarten, Schule, Betrieb, Rentenversicherung und Krankenanstalten. Und auch der Einzelne ist prinzipiell nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu einer gleichsam »totalen Institution« definiert, die alle Lebensbezüge umfassend beschreibt. Er befindet sich vielmehr im Schnittpunkt einer Vielzahl funktional differenzierter Kommunikationsfelder, die ihn alle nicht absolut, sondern lediglich partiell definieren. In einer Gesellschaft, die solchermaßen in relativ autonomen Subsystemen organisiert ist, scheinen dann auch kriminalrechtliche Sanktionen nicht mehr systemfunktional, die »total« reagieren, prinzipiell mit physischem oder sozialem Ausschluß von gesellschaftlicher Kommunikation in Lebens- und Freiheitsstrafe. Das ist nur in einer Gesellschaft systemadäquat, die wegen ihres geringen Grades an Differenzierung durch jedes Delikt sich als Ganzes in Frage gestellt sehen muß.[53] Mit dem Übergang zu funktional differenzierten Gesellschaften beginnt denn auch folgerichtig das Recht sich umzustrukturieren und die restitutiven werden den repressiven Sanktionen vorgezogen.[54] Ein Diebstahl stellt zwar Kommunikationsmechanismen des Wirtschaftssystems, nicht aber grundsätzlich auch des politischen Systems in Frage. Die Organisierung der Gesellschaft in partiell autonomen Subsystemen sorgt qua Struktur schon für Schadens- und Folgenbegrenzung. Ein Delikt aber, das das System nicht »total« in Frage stellt, bedarf auch der »totalen« Antwort nicht. Adäquat reagiert wird vielmehr, wenn Kommunikationsfähigkeit gestärkt und wiederhergestellt wird und Kommunikation eröffnet wird wie auch erhalten bleibt.

Der bis in die Gegenwart dauernde nicht nur theoretische, sondern auch praktisch-politische Streit zwischen absoluten und relativen, zwischen auf Vergeltung und auf »Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft«[55] zielenden Straftheorien[56] ist der Ausdruck dieses Wandlungsprozesses.

2.1.2. Die Geburt der Strafe

Die »Geburt der Strafe«[57] ist in diesem Zusammenhang als Ausdruck des neuen sich in den Prinzipien von Individualität und bewußter Gestaltung gesellschaftlicher Ordnung vom Spätmittelalter bis in die Neuzeit im westeuropäischen Raum durchsetzenden neuen Verständnisses der Gesellschaft beschrieben worden. Strafe als tendenziell rationale Reaktion auf die Tat des Täters war in einer Welt unbekannt, in der Verbrechen und Sanktion als Bestandteile einer mythisch-religiös verstandenen Weltordnung gesehen und in der »Tat« als Störung wie Ent-ordnung und »Sanktion« als Wiederherstellung des objektiv gegebenen »ewigen« Weltzusammenhanges begriffen wurden. Der bis ins 19. und 20. Jahrhundert andauernde Prozeß, in dem die freiheitsentziehenden Sanktionen als beherrschendes Reaktionsmittel durchgesetzt und die Leibes- und Lebensstrafen endgültig zurückgedrängt wurden[58], steht für die »Geburtsphase der Strafe«.

2.1.3. Konzept der Freiheitsstrafe

Die freiheitsentziehenden Sanktionen fungieren gleichsam als der strafrechtliche Prototyp des sich entwickelnden und von den Prinzipien der Individualisierung und rationalen Gestaltung getragenen Gesellschaftsverständnisses. Das Konzept der Freiheitsstrafe, entstanden aus der Disziplinarstrafe frühchristlicher Klostergemeinschaften, ist vom 16. bis zum 19. Jahrhundert als »weltliche« Sanktion und beherrschende Strategie der Verbrechensbekämpfung durchgesetzt worden. Es zielte ursprünglich auf »correctio«. »Ora et labora«, das Gebet in der Abgeschlossenheit der Zelle wie die Arbeit im »ergastulum«, waren die tragenden Momente dieses Korrektionsprozesses.[59] Doch »korrigierende Sozialisation« konnte – wie am Phänomen des Übergangs vom traditionalen zum naturrechtlichen Rechtsverständnis gezeigt[60] – zunächst noch nicht als rein säkulares Ereignis verstanden werden. Es war nicht möglich, dieses Geschehen ausschließlich aus den Interaktionsprozessen in der Gesellschaft selbst zu begreifen. Der den Strafprozeß bestimmende »Sozialbezug« war stets transzendent gedacht: Arbeit als Moment des korrigierenden Sozialisationsprozesses war primär auf den Dialog mit Gott bezogen und erhielt erst hierin ihren Sinn. Das Gebet in der Abgeschlossenheit der Zelle als personaler Sozialisationsprozeß unterstützt durch Arbeit als innerweltliche Askese, das ist das Modell, das in seinen Restbeständen auch heute noch den Strafvollzug prägt, wenn auch im »halbsäkularisierten« Strafvollzug der Gegenwart die Arbeit zur »Grundlage« des Vollzuges gedieh und der ursprünglich transzendent verankerte Sozialisationsprozeß zur »Seelsorge« institutionalisiert und in das »Recht des Gefangenen auf den Zuspruch des Geistlichen« verwandelt wurde.[61] Doch wenn in der Gegenwart Sozialisation ihren Angelpunkt nicht mehr im Dialog mit Gott, sondern in den Interaktionsprozessen in dieser Gesellschaft hat, dann können strafrechtliche Sanktionen nicht anders denn als Elemente in gesellschaftlichen Lern- wie Regelungsprozessen begriffen werden. Im Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, der das Ziel der freiheitsentziehenden Sanktionen erstmals als »Behandlung« beschreibt[62], sind auf pragmatischer Ebene entscheidende Schritte auf ein neues Strafverständnis hin gemacht. In diesem Zusammenhang bedeutet die Positivierung des Strafvollzuges in einem Strafvollzugsgesetz nicht nur inhaltlich, sondern auch formal die Korrektur jenes Denkmodells, nach welchem sich der Gefangene in einem lediglich durch den Vollzugs- oder Anstaltszweck begrenzten »vorrechtlich« oder »außerrechtlich« verstandenen »besondere Gewaltverhältnis« des Staates befand.[63]