Think - Strategische Unternehmensführung statt Kurzfrist-Denke - Hermann Simon - E-Book

Think - Strategische Unternehmensführung statt Kurzfrist-Denke E-Book

Simon Hermann

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Beschreibung

Jeden Baum detailliert kennen, aber den Wald nicht sehen? Managementdenker Hermann Simon plädiert für mehr Weitblick, für systematischen Überblick im Wirtschaftsleben. Denn: Agieren statt reagieren, ein Geschäft durchdenken statt geschäftig zu sein - darauf kommt es in der Wirtschaftswelt an. Simon beschreibt die Herausforderungen, die über die übliche Alltagsperspektive hinausgehen. Er zeigt auf, dass Strategie, Führung und Veränderung von Prinzipien getragen werden, die relativ zeitlos sind. Dabei dekliniert er wichtige strategische Bereiche durch, wie beispielsweise: o Personal-Strategie o Marketing-Strategie o Innovations-Strategie Management-Guru Peter F. Drucker zu dem Buch: "Simon regt zum Denken und Nachdenken an, beides sollte bei Managern nie zu kurz kommen."

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Simon, Hermann

Think - Strategische Unternehmensführung statt Kurzfrist-Denke

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2004. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40094-5

|9|Geleitwort von Peter Drucker

Nachdenken und Nachdenklichkeit sind Begriffe, die man typischerweise nicht mit geschäftigen Managern in Verbindung bringt. Natürlich muss jeder Manager ständig denken, aber normalerweise wird erwartet, dass er dies schnell tut, damit Entscheidung und Umsetzung folgen können. Doch effektives Management erfordert beides: das gründliche Durchdenken der Probleme und die entschlossene Umsetzung.

In dem vorliegenden Buch zeigt Hermann Simon auf, dass Strategie, Führung, Veränderung oder Shareholder-Value von weitgehend zeitlosen Prinzipien getragen werden. Folgerichtig rät er, sich nicht nach den Moden des jeweiligen Tages zu richten und sich ausreichend Zeit zum tiefgründigen Hinterfragen zu nehmen. Konsequenterweise drückt Simon gegenüber den immer wieder propagierten »Managementrevolutionen« und den jeweils vorherrschenden Meinungen seine Zurückhaltung aus. In der Tat erweisen sich viele Aktionen, die mit dem Slogan »revolutionär« versehen werden, ex post als Strohfeuer ohne nachhaltige Spuren. Und die Tatsache, dass die Mehrheit an etwas glaubt, macht es noch lange nicht richtig. Man denke nur an die Übertreibungen zum Internet. Stimmungen dominierten, der Herdentrieb schlug durch, das klare Denken kam zu kurz.

Simon nimmt in diesem Sinne aktuelle Diskussionsfelder wie Wissensmanagement, Innovation, E-Business oder Kundenorientierung unter seine »Denklupe« und geht ihnen auf den Grund. Aus dieser grundsätzlichen Betrachtung leitet er Einschätzungen und Einsichten ab, die zu |10|den in der Managementliteratur propagierten Meinungen in vielerlei Hinsicht im Gegensatz stehen. So hinterfragt er beispielsweise:

Das populäre Konzept der Kundenbindung: Kann man Kunden wirklich »binden«?

Die Attraktivität von Märkten, die in der jüngsten Vergangenheit als besonders interessant galten: Haben nicht viele dieser Märkte einen »leeren Kern«?

Das Outsourcing: Bringt es die intendierten Effekte oder gefährdet man Kernkompetenzen?

Solche provokativen Positionen, von denen viele weitere vorgetragen werden, sollten jeden Manager zum Zweifeln ermuntern. »Contrarian« zu denken und einfache Fragen zu stellen, hat sich in der Geschichte vielfach als fruchtbar erwiesen. Simon vermittelt in dieser Hinsicht zahlreiche ungewohnte Einsichten.

In den beiden letzten Kapiteln beschäftigt sich Simon mit den spezifischen Chancen und Herausforderungen, die sich deutschen Unternehmen und der deutschen Gesellschaft stellen. Er diagnostiziert eine stark ambivalent gefärbte Situation dahingehend, dass zwar ausgeprägte Stärken existieren, auf der anderen Seite jedoch enorme Veränderungen notwendig sind. Hier tut sich Deutschland schwer, obwohl die Einsichten längst vorhanden sind. Den Weg der Veränderung versteht der Autor als mentale Reise, bei der im globalen Kontext Amerika und Asien für Europa und im speziellen für Deutschland gleichwertige, wenn auch zeitversetzte Rollen einnehmen werden.

Das Buch regt zum Denken und Nachdenken an, beides sollte bei Managern nie zu kurz kommen.

Claremont, Kalifornien

im Januar 2004

Peter F. Drucker

|11|Vorwort

»Think!«, das ist im Alltagsstress eine kontroverse Herausforderung für den Manager. Denn wenn etwas zu kurz kommt aufgrund der vielen Ansprüche, die ständig auf eine Führungskraft einströmen, dann ist es Zeit zur Besinnung, zum Überlegen, zum Abwägen. Schon vor 30 Jahren fand Henry Mintzberg heraus, dass Manager im Durchschnitt nur neun Minuten für ein Problem verwenden, bevor sie zur nächsten Aufgabe weiterhasten.

»Alle Weisheit beginnt mit der Erkenntnis der Tatsachen«, sagte Cicero. Doch ohne gründliches Nachdenken erschließen sich die Tatsachen nicht. Die Struktur des Waldes bleibt demjenigen, der sich mittendrin durch das Dickicht kämpft, verborgen. Das ist das Anliegen dieses Buches: Sie sollen Abstand gewinnen, damit Sie den Wald besser erkennen.

In kurzen Kapiteln gehe ich auf Aspekte und Probleme ein, die unter dem Alltagsdruck, dem jeder Manager ausgesetzt ist, oft nicht wahrgenommen oder bedacht werden und deshalb leicht unter den Tisch fallen. Das Spektrum der Themen ist dabei ausgesprochen weit, entsprechend der Weite des Denkens. Denkherausforderungen im Management haben viele Facetten: Strategie, Langfristigkeit, Führung, Veränderung, Werte, Wissen, Innovation, Wettbewerb und nicht zuletzt Globalisierung. Keines dieser Themen wird abschließend behandelt, doch alle werden angerissen, Herausforderungen und Widersprüche treten zutage. Mit Ratschlägen, jedenfalls mit Patentrezepten, halte ich mich zurück.

»Think!« ist kein Managementbuch im üblichen Sinne, das Lösungen |12|verspricht. Ich habe auf die meisten dieser Probleme auch keine Antwort. Beratung habe ich als mein Metier gewählt, weil die Fragen das wirklich Interessante sind. Und richtig gestellte Fragen bilden den ersten Schritt zur Erkenntnis. »Klug fragen ist die halbe Wahrheit«, sagte Francis Bacon. Diese Erfahrung spiegelt sich hoffentlich in den einzelnen Kapiteln wider.

Mein Ziel ist es, Sie, den einzelnen Leser oder die einzelne Leserin, zum Nachdenken und zum Hinterfragen anzuregen. Dazu setze ich auch bewusst das Mittel der Provokation ein. Wenn Sie mit einer These nicht einverstanden sind, weil sie Ihnen überzogen erscheint, dann setzen Sie sich mit ihr auseinander. Das schärft die Bildung eines eigenen fundierten Urteils. Nachdenklichkeit im besten Sinne ist eine Eigenschaft, die noch keinem Manager geschadet hat und die zu oft dem Tagesstress zum Opfer fällt. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie anderer Meinung sind. Ich bin bereit, dazuzulernen – auch wenn’s schwer fällt.

Einem alten Freund bin ich zu besonderem Dank verpflichtet. Es ist Peter Drucker, der – so Gott will – im Erscheinungsjahr dieses Büchleins sein 95. Lebensjahr vollendet. Peter Drucker ist der Meister des gründlichen Durchdenkens. Vieles, was ich von ihm gelernt habe, ist in dieses Buch eingeflossen.

Und ein Hinweis zur Lektüre: Dies ist kein Buch, das man in einem Rutsch lesen sollte. Ratsamer ist es, die einzelnen Kapitel häppchenweise zu konsumieren und zu verdauen. Man braucht für die Lektüre der einzelnen Happen jeweils nur wenige Minuten. Ich wünsche Ihnen Spaß beim Lesen und eine gehörige Portion Widerspruchsgeist. Und am Schluss werden Sie hoffentlich Marie von Ebner-Eschenbach zustimmen, die sagte: »Nur der Denkende erlebt sein Leben, am Gedankenlosen zieht es vorbei.«

Bonn und Boston,

im Januar 2004

Hermann Simon

|13|Kapitel 1 

Strategisches Denken 

Über den Tag hinaus

Gehen den Managementgurus die Ideen aus? Oder trügt der Eindruck, dass weniger Moden, Schlagworte und Patentrezepte in die Arena geworfen werden? Hat die Realität die Managementweisen überholt? Kamen ihre Wundermittel und -methoden nur während des Booms an, der zwei Jahrzehnte währte? Tatsächlich hat es in den letzten zwanzig Jahren eine stürmische Entwicklung in der Managementliteratur gegeben, das gilt für Zeitschriften noch stärker als für Buchbestseller. Aus heutiger Sicht kann man In Search of Excellence, das 1982 erschien, als den Vorreiter dieser Welle bezeichnen.

Ein durchgängiges Merkmal dieser Entwicklung bestand darin, dass die jeweiligen Autoren und Gurus ständig neue Moden, Schlagwörter und Patentrezepte als »die« allein richtige Problemlösung offerierten. Reengineering, Total-Quality-Management, Zeitwettbewerb, Outsourcing, Benchmarking, Kernkompetenz, Balanced Scorecard, Customer-Relationship-Management oder ähnliche Konzepte wurden jeweils als der Weisheit letzter und einziger Schluss mit großem Getöse präsentiert und durch aktuelle Erfolgsbeispiele – scheinbar über jeden empirischen Zweifel erhaben – untermauert. Doch immer weniger Sauen werden durch die Managementdörfer getrieben: Es ist ruhiger geworden. Selbst Bestseller erreichen nur noch bescheidene Auflagen und die Landschaft der Managementzeitschriften hat sich deutlich gelichtet.

|14|Historisch-längerfristige Maßstäbe

Waren sie nur Verbalakrobatik oder hatten die Managementmoden praktische Konsequenzen? Letzteres trifft zu, zumindest in erheblichem Umfang. In einem amerikanischen Unternehmen, dessem Aufsichtsrat ich mehrere Jahre angehörte, wurde solchen Konzepten minutiös gefolgt. Der Prozess begann dabei typischerweise etwa drei bis sechs Monate nach der Publikation des Konzepts, meistens in der Harvard Business Review. Auch deutsche Unternehmen waren gegen solche Modewellen nicht gefeit. Allerdings erwiesen sich deutsche Manager als deutlich nüchterner und moderesistenter als die Amerikaner. Von vielen wurde das in den Boomzeiten als Rückständigkeit interpretiert. In Wirklichkeit war es gesunder Menschenverstand, der aber nach Oscar Wilde bekanntlich nicht so weit verbreitet ist.

Oft habe ich mit Peter Drucker über solche Managementmoden diskutiert. Er war stets der Meinung, dass die meisten unsinnig und irreführend sind, insbesondere gilt dies für die typisch einseitige und übertriebene Anwendung. Nahezu zwangsläufig verblassten die angeführten Paradebeispiele schon nach wenigen Jahren. Schaut man in die Literatur der achtziger Jahre, so war IBM das allseits bewunderte und als Kronzeuge angeführte Superunternehmen (etwa für Kundennähe). Wenige Jahre später kam IBM in eine große Krise und musste die Mitarbeiterzahl halbieren, mittlerweile hat sich die Firma wieder erholt. Anfang der neunziger Jahre wurde den japanischen Autoherstellern eine grandiose Überlegenheit attestiert, beispielsweise in dem Bestseller Die zweite Revolution in der Autoindustrie. Europäische und amerikanische Autobauer hätten gegen japanische Effizienz keine Chance. Heute sind alle japanischen Autobauer außer Toyota und Honda in westlicher Hand. Etwas später fungierten dann Computerfirmen wie Compaq oder Hewlett Packard als Vorbilder, an denen sich der Rest der Welt bitte zu orientieren hatte. Einige Jahre später, in der Internet- und Mobil-Euphorie, stiegen Amazon, Yahoo, Worldcom, Nokia oder Cisco zu Kultobjekten auf, die den Stein der Weisen gefunden zu haben schienen und allen anderen den Weg wiesen. Kurze Zeit nach dem |15|Sonderlob gerieten die meisten dieser Superfirmen mehr oder minder tief in die Krise.

Gutes Management hat eben nichts mit kurzfristigen Erfolgen und Moden zu tun. Doch zu einer solch banalen Einsicht gelangt man nur, wenn man historisch-längerfristige Maßstäbe anlegt und nicht das jeweilige Quartal als Urteilsbasis verwendet. Nur ein tiefgründigeres Verständnis schützt vor der Blendung durch kurzfristig-spektakuläre Erfolge. Nicht das momentane Wie ist entscheidend, sondern das dauerhaft wirkende Warum. Das gilt in positiver wie negativer Hinsicht. So relativiert eine historische Perspektive sowohl die Börseneuphorie bis zur Jahrtausendwende als auch die danach folgende Untergangsstimmung an den Kapitalmärkten. Nur ein historischer Maßstab und ein Verständnis des Warum leiten uns zum Erkennen dauerhaft erfolgreicher Managementprinzipien. Peter Drucker hat diese einfachen Einsichten wie kein anderer beherzigt. Er interpretiert Unternehmensführung im Lichte der Geschichte, die man zu diesem Zwecke allerdings im Detail kennen muss – eine Voraussetzung, die den meisten Managementautoren völlig abgeht. Nur wer die Vergangenheit versteht, interpretiert die Gegenwart richtig und gewinnt dadurch ein besseres Verständnis der Zukunft. Søren Kierkegaard, der dänische Philosoph, hat diesen Gedanken folgendermaßen in Worte gefasst: »Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.«

Die Kernherausforderung für Manager

Die Feststellung, dass sich grundlegende Managementprinzipien über die Zeit nur wenig ändern, besagt keinesfalls, dass Wandel und Innovation eine untergeordnete Rolle spielen – das Gegenteil ist der Fall. Nicht die Organisation von Routineprozessen, sondern die Bewältigung von Veränderungen, Turbulenzen und neuen Entwicklungen bildet die Kernherausforderung für Manager. Der kluge Umgang mit Neuem trennt hier die Spreu vom Weizen. Mit Revolution, einem der populärsten Schlagwörter |16|in der modernen Managementliteratur, hat dies jedoch nur selten zu tun. Revolutionen sind ein effektives Mittel der Zerstörung überkommener Systeme. Für den Aufbau von Neuem eignen sie sich jedoch genauso wenig wie Moden. Auch Schumpeter spricht ja nicht von »Zerstörung«, sondern von »kreativer Zerstörung«. Und Kreation sowie Dauerhaftigkeit – nicht Zerstörung und Moden – sind die tragenden Pfeiler guten Managements.

Es kommt darauf an, die Welt als einen Prozess ständigen Wandels und nie endender Veränderung zu verstehen, eine asiatisch anmutende Sicht, man könnte auch Heraklits »panta rhei« bemühen. Es geht dabei nicht um phantasievolles Vorhersagen oder gar das Lesen in Kristallkugeln, sondern um die intelligente Interpretation bereits vorhandener Signale. Ein aktuelles Beispiel ist die Bevölkerungsentwicklung. Sie besitzt letztendlich und langfristig allergrößte Bedeutung für die Entwicklung von Gesellschaft und Unternehmen. Die Zeichen stehen längst an der Wand, wir müssen sie nur lesen und richtig interpretieren. Doch solche historisch-langfristigen Herangehensweisen sind für die meisten Managementautoren äußerst untypisch. Diese laben sich, wie erläutert, entweder an den Erfolgen von gestern oder verfallen in phantastische Trendvorhersagen (à la New Economy oder Tourismus im Weltraum), die von einer breiten Leserschaft begierig aufgenommen werden. Nur wenige bleiben auf dem Boden und interpretieren die Fußspuren der Zeit mit mehr Tiefgang. Peter Drucker ist der Meister dieser Disziplin. Wie kein anderer Managementdenker hat er zigfach bewiesen, dass er auf diesem Wege zukünftige Entwicklungen in geradezu unglaublicher Weise und Präzision antizipieren kann. Zwei Beispiele mögen dies belegen: Eines der am heißesten diskutierten Probleme unserer Zeit betrifft die Legitimation des Managements in der modernen Publikumsaktiengesellschaft. Diese Frage, die bis heute nicht zufriedenstellend beantwortet ist, hat Drucker bereits in seinem Buch The Future of Industrial Man im Jahre 1942 aufgeworfen. Ihre ungebrochene Aktualität zeigt sich an der laufenden Diskussion um die Corporate Governance. Als ein zweiter Beleg diene das Phänomen des Knowledge-Workers (Wissensarbeiter), den Drucker im Jahre |17|1966 in seinem Buch The Effective Executive als den herausragenden Trend im Arbeitsleben der Zukunft identifizierte. Heute sind wir nahezu alle Wissensarbeiter.

Es kommt darauf an, solche grundlegenden Trends und Wirkprinzipien zu verstehen und sich nicht von kurzlebigen Moden in die Irre führen zu lassen. Management muss über den Tag hinaus denken und handeln. Gute Managementprinzipien sind zeitlos, Managementmoden kommen und gehen.

Strategisches Denken trotz Alltagshektik!

»Oft sage ich mir abends: Zu viel gelesen, zu viel geredet, zu wenig nachgedacht.« Dieser Seufzer wird Henning Schulte-Noelle, dem früheren Vorstandsvorsitzenden der Allianz, zugeschrieben. Wer von uns würde dem nicht zustimmen und feststellen: »Genauso ergeht es mir selbst.«? Über uns schlägt eine immer gigantischere Welle von Informationen, Daten und Eindrücken zusammen, der wir uns nur schwer entziehen können. E-Mails, das ubiquitäre Mobiltelefon, die Flut von Zeitungen und Zeitschriften, die wir auf keinen Fall verpassen wollen, Bildschirme in Büros, Sitzungsräumen, Lounges, im Flugzeug, in der Bahn, Werbung überall, das Ganze nicht nur werktags, sondern auch sonntags, rund um die Uhr. Musik berieselt uns allerorten, in Hotels, in Verkehrsmitteln, in Geschäften, im Auto. Voicemails und Faxe erreichen uns jederzeit und an den abgelegensten Orten. Kein Wahrnehmungskanal wird ausgespart. Mit UMTS wird das Handy zum visuellen Kanal, in Japan erlebt man das bereits sehr plastisch. Kürzlich reiste ich zwei Wochen quer durch China: An keinem Ort blieb mein Handy ohne Kontakt zum Mobilfunknetz. Ich war überall communicado – einst ein Wunschtraum, der zum Alptraum zu mutieren droht.

|18|Informationsflut

Nun gehöre ich durchaus zu jenen, die nicht selten Kommunikationslinien auch einmal kappen. Aber das wird immer schwieriger und ist zudem riskant, denn bei Mitarbeitern wie Kunden nimmt das Verständnis für Nichterreichbarkeit und Nichtinformiertheit rapide ab. Der Druck, über alles und jedes jederzeit informiert zu sein, wird immer größer. Besucht man am frühen Nachmittag einen Kunden und kennt nicht die aktuellsten Börsenkurse, so erntet man ein Stirnrunzeln. Zumindest die FAZ, die Financial Times und das Wall Street Journal sollte man täglich bewältigen. Die Globalisierung erweitert nicht nur den Horizont, sondern auch die Informationsflut.

Diese Flut macht auch nicht vor der Freizeit halt. Partys, Bälle, Festspiele, Formel-1-Rennen und Sportveranstaltungen arten zunehmend in Multi-Media-Rummel aus. Jugendliche fühlen sich anscheinend nur noch in solchem Umfeld wohl, selbst wenn Kommunikation aufgrund gesundheitsschädigender Lärmpegel und blindmachender Beleuchtungseffekte nicht mehr möglich ist.

In einem Aufsatz über Managerprobleme unserer Zeit werden »Energie« und »Konzentration« als entscheidende Eigenschaften eines erfolgreichen Managers gefordert.1 Energie hat mit Wille, Willensstärke, auch körperlichem Durchhaltevermögen zu tun. Konzentration hängt davon ab, wie sich jemand auf das Wesentliche beschränken und Ablenkungen ausblenden kann. Wie in dem Zitat von Henning Schulte-Noelle angedeutet, leiden das Denken und die Konzentration massiv unter der Überfülle von Eindrücken und Medien, die um die Aufmerksamkeit des Managers buhlen.

Dabei dringen die vielfältigen Stimuli keineswegs nur aus der Außenwelt auf den Betroffenen ein. Auch die Mitarbeiter machen häufig Gebrauch von der Möglichkeit, Informationen zu multiplizieren und an Vorgesetzte sowie Kollegen zu schicken. Was würde der IBM-Gründer |19|Watson sagen, wenn er einen heutigen IBM-Mitarbeiter mit seinen elektronischen Spielzeugen sähe? Er würde ihm wahrscheinlich sein altes Motto »Think!« in Erinnerung rufen und nahelegen, es zu beachten. Wer schafft es heute noch, ein »Meister des gründlichen Durchdenkens« zu sein – ein Attribut, das Fredmund Malik Peter Drucker zuschrieb? Sind nicht viele Fehlentwicklungen der letzten Jahre auf gravierende Denk- und Konzentrationsmängel zurückzuführen? Ist es nicht so, dass wir kaum noch nachvollziehen können, was sich die Manager bei manchen Börsenträumen, Unternehmensbewertungen, Übernahmen und anderen Abenteuern gedacht haben?

Die Antwort scheint so einfach wie überzeugend: Sie haben nicht gedacht, sondern sind der Flut der auf sie einstürmenden Daten und Eindrücke erlegen. Sie hatten nicht den notwendigen Abstand, um aus dem Dickicht von Informationen herauszutreten und, statt nur einer Vielfalt von Bäumen, den ganzen Wald und seine Struktur zu erkennen. Es fehlte ihnen nicht an Information, aber es fehlte ihnen an Erkenntnis und Verständnis. Letztere gewinnt man nie durch mehr Daten, sondern nur durch deren richtige Interpretation und Durchdringung. Eine Überfülle von Daten und die mit ihrer Aufnahme meistens verbundene Hektik sind Feinde der klaren und nüchternen Analyse. Die Aufnahme der Daten ist dabei nicht nur ein Problem der geistigen Kapazität, sie erfordert vor allem viel Zeit. Sitzungen und Meetings dauern unendlich lange, verschlingen förmlich den Tag, das Studium von Akten, Memos und Dateien zieht sich bis in die Nacht hinein. Zwangsläufig kommt dabei eines zu kurz: das Denken. Denn auch diese Tätigkeit braucht Zeit – und Ruhe. Die wenigen Minuten auf dem Weg zum Konferenzraum reichen nicht aus, um ein Problem zu durchdenken. Doch wann sieht man schon einen Manager, der nachdenklich und nachdenkend am Schreibtisch sitzt oder sinnend zum Fenster hinausschaut? Dies würde eher als Nichtstun, denn als geistige Arbeit interpretiert. Aber Denken findet im Kopf statt und seine Effektivität lässt sich nicht von außen messen.

|20|Auf die Auswahl kommt es an!

Genauso wichtig, wie die richtigen Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, ist es in unserer heutigen Welt, sich vor den falschen Informationen und Medien zu schützen und sie auszublenden. Nur so schafft man sich genügend Zeit, Muße und Energie zum Denken.

Achten Sie insbesondere darauf, nicht in ein reaktives Verhaltensmuster zu verfallen. Wenn jemand auf E-Mails stets spontan antwortet, so ist klar, dass diese Person von den modernen Medien und Kommunikationsmitteln getrieben wird, statt sie zu benutzen. Das Gleiche gilt, wenn jemand ständig per Handy angerufen wird. Wer kennt nicht die Horden jener Getriebenen, die aus dem Flugzeug stürmen und das Handy herausreißen. Sie sind tatsächlich 45 Minuten zwischen Köln und München nicht erreichbar. Das empfinden sie offensichtlich als bedrohlich.

Unterscheiden Sie strikt nach Wichtigkeit. Nur wenige Dinge sind wirklich wichtig, noch weniger sind zudem eilig. Was eilig, aber nicht wichtig ist, kann notfalls warten. Auf wichtige, jedoch nicht eilige Sachen sollte man viel Denkzeit verwenden, sie müssen nicht sofort erledigt werden. Das alles erfordert Disziplin, Konzentration und Organisation. Das Zurückdrängen visueller Eindrücke schaufelt Kapazitäten für das Denken frei. Kürzlich sprach ich mit einem sehr klugen Anwalt. Er berichtete, dass er grundsätzlich nicht fernsähe. Zum letzten Mal habe er am 11. September 2001 vor dem Fernseher gesessen. Selten schalte er sein Handy an, er benutze es meist nur, um selbst anzurufen. Schließlich werde er für sein Denken bezahlt und denken könne er nur, wenn er nicht ständigen Störungen durch Medien ausgesetzt sei. Dem kann ich nur zustimmen. Allerdings ist nicht jeder von uns in der glücklichen Lage, sich derart konsequent abschotten zu können.

Dennoch hat auch der durchschnittliche Manager größere Spielräume und mehr Möglichkeiten als er gemeinhin glaubt. Ich selbst habe beispielsweise die Zahl der Zeitschriften, die ich regelmäßig lese, radikal beschnitten. Die aktuelle Medienkrise hilft bei dieser Bereinigung, denn manche überflüssige Blätter sind einfach verschwunden. Als extrem effektive Informationsfilter lassen sich die Mitarbeiter einsetzen. Allerdings |21|setzt eine derartige Delegation ein hohes Maß an Vertrauen und Kompetenz bei den Betroffenen voraus, zugegebenermaßen auch Mut zur Lücke.

Als Fazit gilt: Mehr denken ist gleichbedeutend mit weniger tagen, weniger reden, weniger telefonieren, weniger lesen, weniger sehen und fernsehen sowie weniger reisen. Das alles ist nicht neu, aber es wird im modernen Medien- und Alltagstrubel leider zu oft vergessen.

Strategie-Notstand

»Wir haben in den letzten fünf Jahren hart gearbeitet, die Kosten gesenkt, das Unternehmen fit gemacht. Unser Gewinn ist von 300 auf mehr als 600 Millionen Euro gestiegen. Wir befinden uns heute in Topform. Die Konkurrenz betrachtet uns mit Respekt. Aber, wenn ich ehrlich bin, für das Wachstum haben wir wenig getan. Wir werden auch weiter durch Akquisitionen expandieren. Doch schaffen wir damit Neues oder perfektionieren wir nur das Bestehende? Wissen wir eigentlich, wo wir hinwollen? Haben wir eine Strategie für die Zukunft?«, das sind die Worte des Vorstandsvorsitzenden eines großen deutschen Industrieunternehmens. Natürlich hört man so etwas nicht in der Öffentlichkeit, aber auf wie viele Unternehmen, große wie kleine, trifft eine ähnliche Diagnose zu? Oder sprechen wir von Umsetzung. Ein Topmanager in einem der zehn größten deutschen Unternehmen sagte mir: »Von den in den letzten 20 Jahren offiziell verabschiedeten strategischen Plänen sind bei uns höchstens ein Viertel effektiv umgesetzt worden.«

Es gibt einen klaren Strategie-Notstand! Nach den vielen Jahren der Kostensenkung und Rationalisierung tritt Ernüchterung ein. Wie geht es weiter? Wie lässt sich auf Wachstum umschalten, wenn die Grundlagen dazu in den vergangenen Jahren nicht gelegt worden sind? Schaut man zurück, hatten dann Holzmann, Kirch, Photo Porst, Vivendi Universal oder Enron eine Strategie? Natürlich gab es in all diesen Unternehmen zu jeder Zeit Papiere und Beschlüsse mit dem Aufdruck »Strategie«. |22|Aber ob dieses Prädikat verdient war, ist in der Mehrzahl der Fälle zweifelhaft. Jeder kennt die zahlreichen Geschichten vom »rein in das Geschäft, raus aus dem Geschäft«. Woran hakt es? Was wissen wir heute über Strategie und strategisches Management?

Was ist Strategie?

Zunächst ein Definitionsversuch: Strategie ist die Kunst und die Wissenschaft, alle Kräfte eines Unternehmens so zu entwickeln und einzusetzen, dass ein möglichst profitables, langfristiges Überleben gesichert wird. Der Terminus Strategie stammt aus dem Militärischen und wird insbesondere mit Carl von Clausewitz verbunden. Im Kontext der Unternehmensführung ist Strategie – trotz seiner heutigen weiten Verbreitung – ein junger Begriff. Sporadisch tauchte das Wort Strategie seit den sechziger Jahren im Fachjargon auf, aber erst nach 1980 wurde Strategie zu einem zentralen Begriff im Management. Auf dem Weg dorthin mäanderte Strategie zwischen Erfolgen und vielen Irrtümern. So wurde Strategie – je nach dem gerade modischen Schlagwort – mit Erfahrungskurve, Produktportfolio, Wettbewerbspositionierung, Kernkompetenzen, Lean Management oder Reengineering gleichgesetzt. In Wirklichkeit bedeutet Strategie etwas weit Komplexeres und Umfassenderes. Und einige der wichtigsten Elemente von Strategie tauchen in der Literatur und in der Diskussion überhaupt nicht auf. Was also umfasst Strategie?

Strategieelemente

Wissen, was man will. Der Wille, das meines Erachtens wichtigste Element von Strategie, existiert in der Managementwissenschaft nicht. Strategien werden nicht primär von Analysen, sondern vom Willen eines Einzelnen oder eines Teams getrieben. Der Wille versorgt das Unternehmen mit Energie.

Wissen, was man nicht will. Das ist genauso wichtig wie Punkt 1. |23|Denn nur eine eindeutige Position in dieser Frage vermeidet Ablenkung und ständige Richtungswechsel. Bill Gates hat hier eine seiner Stärken. In einem Interview aus dem Jahre 1998 sagt er: »Wir werden weder den Besitz von Telekom-Netzen oder Telefongesellschaften anstreben noch in die Systemintegration oder in die Beratung auf dem Feld Informationssysteme einsteigen.« Nur wer genau weiß, was er nicht will, kann sich voll auf das konzentrieren, was er will. Michael Porter geht noch einen Schritt weiter, wenn er sagt: »The essence of strategy is choosing what not to do.«

Etwas Neues schaffen. Strategie muss immer mit Innovation einhergehen. Diese kann durchaus nach innen gerichtet sein. Aldi verkauft zum Beispiel Produkte wie jeder andere Einzelhändler auch. Aber Aldi tut es auf eine innovative, eigentümliche Weise, mit anderen Prozessen, mit niedrigeren Kosten. Aldi macht fast alles anders als andere Handelsunternehmen. Ryanair und andere No-Frills-Airlines imitieren nicht die klassischen Fluggesellschaften, sondern machen fast alles anders. Strategie darf niemals Imitation sein. Daraus folgt zwangsläufig, dass Strategie mehr ist als Wissenschaft. Der französische Philosoph Henri Bergson hat schon 1907 darauf hingewiesen, dass sich Wissenschaft zwangsläufig mit dem Wiederholbaren beschäftigt, denn nur so kann sie Gesetzmäßigkeiten entdecken; und Karl Popper fordert in seinem Falsifizierbarkeitspostulat ausdrücklich die Reproduzierbarkeit. Strategie ist aber gerade das nicht Wiederholbare, das nicht Imitierbare. Genau hier liegt auch einer der großen Irrtümer der meisten Strategen: Sie sind ständig auf der Suche nach Gesetzmäßigkeiten von Strategie. Sie studieren die Erfolgsstories von gestern, um sie zu imitieren. Damit befinden sie sich aber auf dem Holzweg. Nur Kreativität, Originalität und Querdenken produzieren überlegene Strategien. »Find out what everybody else is doing, then do it differently«, lautet ein amerikanisches Motto. Das Problem besteht nur darin, dass einem niemand sagt, was »differently« heißt. Das muss man schon selbst herausfinden.

Externe Chancen und interne Kompetenzen integrieren. Die Strategieansätze der letzten 30 Jahre zeichneten sich durch eine jeweils einseitige |24|Betonung aus: Entweder standen die externen Chancen im Mittelpunkt (Portfolio, Wettbewerbsstrategie, Kundenzufriedenheit, Customer-Relationship-Management), oder die internen Aspekte wurden einseitig betont (Erfahrungskurve, Kernkompetenzen, Lean Management, Reengineering). Eine Strategie setzt jedoch die gleichgewichtige Behandlung beider Seiten voraus. Der Markt für Mobile Commerce mag zwar tolle Wachstumschancen bieten, das nutzt aber einer Firma, der die diesbezüglichen Kompetenzen fehlen, absolut nichts. Diese banale Einsicht wurde und wird ständig missachtet. Umgekehrt wird der beste Dampflokomotiven-Hersteller der Welt, trotz seiner tollen Kompetenzen, scheitern – weil niemand mehr Dampflokomotiven kauft. Die simultane Betrachtung der externen und der internen Aspekte ist bei Strategieplanern unbeliebt, denn lineares Vorgehen und einfache Instrumente versagen hier. Es ist zum Beispiel unklar, wo man beginnt: Von außen (also vom Kunden her kommend) oder von innen (also von den Kompetenzen kommend)? Solche Ambiguitäten vermeidet man lieber, sie passen nicht zum Bild des Strategen, der alles im Griff hat.

Durchhalten. Last, but not least heißt Strategie: durchhalten, Ausdauer, nicht aufgeben! Man könnte das Michelangelo-Wort »Genius ist ewige Geduld« in »Strategie ist ewige Geduld« abwandeln. Trotz der scheinbaren Schnelllebigkeit unserer Zeit und ihrer Märkte entstehen dauerhafte Erfolgspositionen nicht in kurzer Zeit. Vielmehr erfordern sie Visionen und Aktionen, die über Jahrzehnte reichen und einem konsistenten Strategiemuster treu bleiben. Zur Erinnerung: Intel ist mehr als 35, Microsoft mehr als 25 und SAP mehr als 30 Jahre alt – fürwahr keine Eintagserfolge beziehungsweise -fliegen!

Strategie ist allumfassend. Strategie ist nicht lang- versus kurzfristig. Strategie ist nicht übergeordnet versus detailorientiert. Strategie ist nicht zentral versus dezentral. Carl von Clausewitz hat diese Omnipräsenz von Strategie treffend apostrophiert: »Die Strategie muss mit ins Feld ziehen, um das Einzelne an Ort und Stelle anzuordnen und für das Ganze die Modifikationen zu treffen, die unaufhörlich erforderlich werden. Sie kann also ihre Hand in keinem Augenblick von dem Werke abziehen.«

|25|Warum also haben wir einen Strategie-Notstand? Weil wir einen Mangel an Führungskräften haben, welche die Komplexität bewältigen, die der Strategie inhärent ist. Zusammenkommen müssen Intelligenz und Intuition, Rationalität und Emotion, Wille und Analyse sowie die Fähigkeit, das Ganze mit Menschen in reales Handeln umzusetzen. Nicht simplifizierende Lösungen und standardisierte Instrumente, sondern tiefgehendes Verständnis und dezidiertes Wollen sind gefragt. Strategie heißt in der Konzeptionsphase Fühlen und Denken. Dem muss als entscheidender Schritt das Tun folgen, oder wie Alfred Brittain, der frühere Vorstandsvorsitzende von Bankers Trust, es formulierte: »You can come up with the best strategy in the world – the implementation is 90 percent of it.«

Visionen

Als Bill Gates Anfang der achtziger Jahre seine Vision von einem weltumfassenden Software-Unternehmen propagierte, nahm ihn kaum jemand ernst. Zu jener Zeit wurde die Informationstechnologie von Hardware-Giganten wie IBM oder Digital Equipment beherrscht. Heute ist Microsoft eines der stärksten Unternehmen der Welt – die beispiellose Realisierung einer epochalen Vision. Auch Ebay ist eines der erfolgreichsten Unternehmen im Internet. Es entstand aus der Vision von Pierre Omidyar, der die Vernetzungsfähigkeiten des Internet frühzeitig erkannte und zur Schaffung einer Auktionsplattform nutzte. Nicht weniger gewagt waren die Ziele, die sich Jeff Bezos vor wenigen Jahren für sein Versandunternehmen Amazon.com setzte: Er wollte der beste und erfolgreichste Internet-Händler der Welt werden. Amazon.com gehört heute zu den bekanntesten Internet-Marken und zählt zu den wenigen Unternehmen, die im Internet dauerhaft Erfolg haben könnten. Noch mutiger und langfristiger war die Vision von Reinhard Mohn, der bereits in den fünfziger Jahren von einem weltweit operierenden Medienkonzern träumte. Bertelsmann machte damals wenige Millionen Euro Umsatz. |26|Peter Drucker erzählte mir, dass er etwa um 1955 Reinhard Mohn traf, der ihm seine phantastisch klingenden Pläne vortrug.

Unternehmen brauchen Visionen wie die von Gates, Omidyar, Bezos und Mohn. Eine der wichtigsten Aufgaben des Topmanagements besteht darin, »geistige Vorhut« zu sein und solche langfristigen Zielsetzungen zu formulieren. Die Aussage von Ortega y Gasset sollte für alle Führungskräfte gelten: »Fast niemand ist da, wo er ist, sondern sich selber voraus, weit voraus am Horizont seiner selbst, und von dorther lenkt und führt er das wirkliche, das gegenwärtige Leben. Jeder lebt aufgrund seiner Illusionen, als wären sie schon Wirklichkeit.« Die Vorwegnahme, der geistige »Vorvollzug« zukünftiger Entwicklungen, ist keine Aufgabe, die man delegieren kann.

Was heißt Vision?

Was ist nun eine Vision? Eine Illusion, eine Utopie, ein Traum oder etwas, das nahe an der Realität liegt, dessen zukünftige Realisation sich bereits abzeichnet? Das Phänomen Vision hat mehrere Dimensionen:

Eine Vision hat Ziel- und Richtungscharakter.

Eine Vision muss qualitativ und zeitlich über das Tagesgeschehen hinausgehen.

Eine Vision darf nicht nur gedacht, sie muss auch kommuniziert und vorgelebt werden.

Eine Vision ist nichts Illusionäres, Imaginäres, keine »Erscheinung«, sondern ganz einfach eine Vorstellung davon, wo das Unternehmen in fünf oder zehn Jahren stehen sollte. Unternehmensgründer haben meist noch längere Visionshorizonte, die oft über Jahrzehnte reichen. Kürzlich sagte mir ein erfolgreicher Unternehmensgründer: »Ich denke in Jahrzehnten, dadurch komme ich zu anderen Entscheidungen als unsere kurzfristig orientierte Konkurrenz. Die Grundlagen unserer heutigen Überlegenheit wurden vor 20 Jahren gelegt und heute bauen wir an unserer Wettbewerbsposition für das Jahr 2020.«

|27|Die strategischen Ressourcen des Unternehmens können nur dann zielgerichtet eingesetzt werden, wenn klar ist, wohin die Reise gehen soll. Nur dann werden die richtigen Dinge getan, ziehen die Mitarbeiter an einem Strang und in dieselbe Richtung, agiert das Unternehmen als Einheit und nicht als konfuser Haufen. Es gibt, um mit Wilhelm von Oranien zu sprechen, keinen günstigen Wind für den, der nicht weiß, wohin er segeln will. Die Bedeutung dieser Aspekte wächst, da das Gewicht strategischer, nicht auf das Alltagsgeschäft bezogener Aktivitäten in den meisten Unternehmen zunimmt. Hierzu zählen zum Beispiel Forschung und Entwicklung, Personalentwicklung, Aufbau dauerhafter Wettbewerbsvorteile, der Übergang vom Produktions- zum Serviceunternehmen oder die internationale Expansion. Um die Ressourcen für solche langfristig orientierten Maßnahmen effektiv zu steuern, müssen klare Vorstellungen über die Zukunft und die Position des Unternehmens in dieser Zukunft bestehen. Nichts anderes ist Vision!

Notwendigkeit visionärer Führung

Inwieweit hat aber die Unternehmenspraxis die Notwendigkeit der visionären Führung bereits erkannt und entsprechende Konsequenzen daraus gezogen? Obwohl sich die Situation schon etwas verbessert hat, bildet das Fehlen einer klaren Vision in vielen Unternehmen nach wie vor eine Schwachstelle. Mich verblüfft immer wieder, wie selten ich von Vorständen oder Geschäftsführern eine klare Antwort auf die Frage erhalte: »Wo soll Ihr Unternehmen in zehn Jahren stehen?« Ein Vorstandsvorsitzender, der kürzlich die Leitung eines Unternehmens übernahm, das zu den 30 größten in Deutschland gehört, sagte mir: »Die Vision, die ich vorfand, war sehr allgemein und unverbindlich. Wenn man den Namen weggelassen hätte, wäre das Unternehmen aus dieser Vision nicht erkennbar gewesen. Zudem fehlten jegliche quantitativen Festlegungen.« Dieser Fall ist durchaus typisch! Andere Firmen scheinen gar nach dem Motto zu handeln: »Nachdem wir das Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen«. Die Zahl der Fälle, in denen |28|eine Diversifikation groß angekündigt und kurze Zeit später wieder davon Abstand genommen wird, häufen sich.

Zu oft drückt sich das Management vor einer gemeinsamen Prioritätensetzung. Zu wenig Zeit und Energie werden auf die Klärung grundlegender Fragen verwandt. Den folgenden Ratschlag des Psychologen Thomas Harris sollte sich jeder Manager ins Stammbuch schreiben: »Man muss sich Zeit nehmen für wichtige Entscheidungen in Grundfragen. Das macht zahlreiche kleine Entscheidungen überflüssig. Der erhöhte Zeiteinsatz bei den großen Dingen wird mehr als eingespart bei den zahllosen kleinen Entscheidungen, für die die Antworten dann klar sind.«

Freisetzung von Motivation und Energie

Neben der Zielausrichtung besteht ein zweiter Effekt von Visionen in der Freisetzung von Motivation und Energie. Visionen, mit denen sich die Mitarbeiter identifizieren, die sie mittragen, verleihen der Arbeit Sinn und Ziel, entfalten eine normative Kraft. Hierdurch entsteht eine Gravitation, die das ganze Unternehmen mit sich zieht. Antoine de Saint-Exupéry umschreibt dies plastisch: »Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufträge zu vergeben und Arbeit zu verteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.« Die Mitarbeiter wollen eine Vision.

Der Horizont einer Vision muss qualitativ und zeitlich über den Tag hinausreichen. In der zeitlichen Dimension ist ein weites Vorauseilen notwendig, damit der Gang der Zeit die Vision nicht zu schnell einholt. Umgekehrt darf die Vision sich jedoch nicht auf den »Sankt-Nimmerleins-Tag« beziehen, sonst verliert sie ihre Verbindlichkeit. In der qualitativen Dimension muss die Vision weit genug von der heute realisierten Situation entfernt sein, sie sollte jedoch stets so konkret bleiben, dass sie von den Betroffenen nicht als illusionär, inakzeptabel, absurd oder skurril erlebt wird.

Vision ist ein wohlklingendes Wort, bei dem sich Assoziationen zu |29|großen Unternehmern oder bahnbrechenden Innovationen aufdrängen. Doch 90 Prozent der Geschäfte sind banalerer Natur, erwachsen aus kleinen, wenig spektakulären Verbesserungen. Welche Rolle spielen Visionen in solchen Fällen? Kann man überhaupt Visionen haben, wenn man Holzschrauben, Lkws oder Mineralwasser vermarktet? Vielleicht ist eine Vision hier sogar noch wichtiger als bei großen Durchbrüchen, denn diese entfalten zumeist eine starke Eigendynamik und besitzen genügend inhärentes Motivationspotenzial. Es ist schwieriger, aber nicht unmöglich, bei scheinbar banalen Geschäften eine inspirierende Vision zu finden. Beispiele wie die Erfolge der Swatch, die letztlich nur eine Uhr ist, oder von Aldi, mit alltäglichen, wenig prestigeträchtigen Produkten, belegen dies. Auch bei einfachen Produkten kann man der Beste sein!

Inhalte einer Vision

Der Herausarbeitung der Funktionen einer Vision und ihrer ausschlaggebenden Bedeutung für die Schaffung und Sicherung des langfristigen Unternehmenserfolgs schließt sich freilich die Frage an, welche Inhalte sie im Einzelnen aufweisen sollte. Im Grundsatz lassen sich sechs Visionsinhalte unterscheiden.

So können Visionen zum Ersten neue Technologien propagieren: In diese Kategorie fallen Visionen wie die von Microsoft, Pharmainnovationen, der Einsatz der Lasertechnik in Werkzeugmaschinen oder die Magnetbahn.

Zum Zweiten können neue Märkte und die Nutzung neuer Distributionskanäle im Mittelpunkt der Vision stehen: So sind die Visionen von Internet-Unternehmern weniger auf die Technologie als auf die Schaffung neuer Märkte und die Etablierung innovativer Informations- und Distributionskanäle für Produkte und Wissen gerichtet.

Als dritte Kategorie sind «Imperiale« oder Eroberungsvisionen anzuführen: Sie bieten sich an bei regionaler Expansion, beim Eintritt in neue Marktsegmente, dem Streben nach Marktführerschaft und Schmieden von Konzernen. Als Beispiel sei die Vision Jürgen Schrempps von DaimlerChrysler als einem weltumfassenden Autokonzern genannt.

|30|Attraktiv sind Visionen, die sich auf die Erzielung der Führerschaft bei Qualität, Service oder Kosten richten: Mitarbeiter identifizieren sich gerne mit Visionen, die die Position des Besten, Ersten, Freundlichsten oder Schnellsten anstreben. Niemand ist gerne Mittelmaß.

Des Weiteren kann der Nukleus einer Vision im Überholen oder Einholen eines Konkurrenten bestehen: Kaum etwas motiviert stärker als der Kampf gegen einen starken Gegner. Pepsi-Cola war von der Idee, Coca-Cola zu schlagen, regelrecht besessen. AVIS machte das Ziel, den Marktführer Hertz auszustechen, in Form des »We try harder« zum Unternehmensmotto. Die Herausforderung, den Erzrivalen Daimler einzuholen, beflügelte BMW. Gegen beide wiederum trat Audi an.

Nicht zuletzt stellt auch die Mitarbeiterorientierung einen gewichtigen Inhalt dar: Unternehmen, in denen Wohlergehen und Entwicklung der Mitarbeiter zur Vision gehören, erreichen bei ihren Beschäftigten eine besonders hohe Identifikation mit entsprechenden Auswirkungen auf deren Motivation. Dieser Aspekt spielt bei Hewlett-Packard, Gore