8,99 €
Manchmal ist das Leben ein einziges Tourette – chaotisch, laut und unkontrollierbar. Simon nennt das Tourette-Syndrom seine goldene $#!T!-Karte. Es begleitet ihn seit seiner Kindheit, und an der Uni macht es ihn zur Zielscheibe für bitteren Spott. Nur sein bester Freund Marco steht immer hinter ihm. Zum Glück. Denn als Lovisa in sein Leben stolpert, gerät alles aus dem Gleichgewicht – auf die schönstmögliche Art. Sie sieht mehr in ihm als nur seine Tics. Sie sieht ihn. Zum ersten Mal glaubt Simon daran, liebenswert zu sein. Doch auf einmal taucht seine Mutter wieder auf, die Frau, die ihn wegen seiner Tics verlassen hat. In Simon tobt ein Sturm. Alte Wunden brechen auf. Neue Zweifel nagen. Und plötzlich steht alles auf dem Spiel: seine Liebe, sein Selbstwert und seine Zukunft. Ein ehrlicher, berührender Roman über Anderssein, Freundschaft und die große Liebe. „Tick mich doch“ ist mehr als nur ein Roman – es ist eine einfühlsame Reise in die Welt des Tourette-Syndroms. Mit einem Mix aus Humor, Wärme und Ernsthaftigkeit gelingt es Tanja Lieberman, das Tourette-Syndrom nicht als Defizit, sondern als Teil der Persönlichkeit ihres Protagonisten Simon zu zeigen. Lass dich von "Tick mich doch" inspirieren und erfahre, wie Respekt, Humor und Menschlichkeit Brücken bauen können. Ein seltenes und wertvolles Buch, das zum Nachdenken anregt, Herzen öffnet und in keiner Büchersammlung fehlen darf. Hinweis auf sensible Inhalte: In diesem Buch werden Themen wie Drogen, Suizid und Diskriminierung von Minderheiten behandelt oder gestreift. Diese können als verstörend oder belastend empfunden werden oder schmerzhafte Erinnerungen hervorrufen. Bitte handle verantwortungsbewusst.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 403
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Titelei
Impressum
Widmung
Hinweis auf sensible Inhalte
Behind Blue Eyes
Gangsta’s Paradise
Oft gefragt
Mother
Love Of My Life
You Are My World
Purple Haze
Dumb
Music
People Are People
Loser
Merry Christmas Allerseits
Jamming
Shadow Of The Day
Good Goodbye
The Unforgiven
No Mercy
Heroes
Strange Days
Stairway To Heaven
The Scientist
Piece Of My Heart
Are You Gonna Be My Girl
Legalize It
Crazy Little Thing Called Love
Is This Love
But For Now
Englishman in New York
I’m a Mess
The Rose
Mama Said
Little Lies
Money’s Too Tight (To Mention)
Haus Am See
Think
Das Beste
Heaven And Hell
Wind Of Change
Lightning Strikes
Your Song
Good Riddance
Shadowboxing
Love Hurts
Goodbye Cruel World
Keine Angst
Numb
Hey
500 Miles
Wissenswertes kurz und knapp
Bonus: Simon meets Tanja
Danke
Die Autorin
Cover
Titelei
Impressum
Widmung
Hinweis auf sensible Inhalte
Dank
Autorin
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
© 2025 Tanja Lieberman · tanjalieberman.de
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Lektorat: Antje Backwinkeli · buchwinkelei.de
Korrektorat: Marc Tschötschel
Satz u. Layout / E-Book: Büchermacherei · Gabi Schmid · buechermacherei.de
Covergestaltung: Chris Gilcher · buchcoverdesign.de
Bildquellen: #490524219, #970991505, #451408416 | Adobe Stock
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg
Softcover 978-3-384-60847-5
E-Book 978-3-384-60849-9
Für P. J. P Ich liebe dich.
Du hältst mein Herzensprojekt in den Händen und ich freue mich, dass du es ausgewählt hast.
Bevor du in Simons Welt eintauchst, mache ich dich darauf aufmerksam, dass in meinem Buch sensible Themen angesprochen werden, die Teil der Geschichte sind.
In diesem Buch werden Themen wie Drogen, Suizid und Diskriminierung von Minderheiten behandelt oder gestreift. Diese können als verstörend oder belastend empfunden werden oder schmerzhafte Erinnerungen hervorrufen.
Bitte handle verantwortungsbewusst.
Mein Protagonist Simon gehört zu den etwa 20 Prozent der Menschen mit Tourette-Syndrom, die zwanghaft obszöne Wörter aussprechen. Im echten Leben ergeht es zum Beispiel der Ärztin Stella Lingen so. Auch der Politiker und Künstler Bijan Kaffenberger muss mit der Kombination aus vokalen und motorischen Tics klarkommen. Wusstest du, dass die Musikerin Billie Eilish auch das Tourette-Syndrom hat? Bei Wolfgang Amadeus Mozart und Kurt Cobain, dem Sänger von Nirvana, wird über Tourette spekuliert, ebenso bei Entertainer Harald Schmidt1.
Jetzt fragst du dich vielleicht, wie ich dazu komme, ein Buch über Tourette zu schreiben. Fast 25 Jahre durfte ich einen Menschen begleiten, der mit dem Syndrom lebt. Während dieser Zeit habe ich die vielen Facetten der »Diagnose Hurensohn«2 kennengelernt. Glaub mir, manchmal war mir zum Weinen zumute. Manchmal war ich wütend oder fühlte mich ohnmächtig. Oft haben »mein« Tourette-Mensch und ich aber auch gelacht, denn die Tics schufen Situationskomik pur. Diesen Humor habe ich versucht, in diesem Buch aufzugreifen.
Den Großteil der Tics, die ich beschrieben habe, habe ich mir von den vielen Menschen mit Tourette geliehen, die mir im Laufe der Zeit begegnet sind. Im Rahmen der künstlerischen Freiheit habe ich mir auch welche ausgedacht, denn dies ist ein Roman, in dem die Handlung und alle Charaktere frei erfunden sind.
Am Ende des Buches findest du als
und den Link zu der Playlist, auf der die Geschichte basiert.
Herzlichst,
Tanja Lieberman, August 2024
1 Quelle: Berühmte Personen mit Tourette-Syndrom – Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
2 Ärztin mit Tourette Syndrom: „Die Lizenz zum Fluchen“ –SWR1 Leute - SWR1
»Heil Hitler!«
Im Hörsaal wurde es grabesstill, einzig das Brummen einer Fliege war zu hören. Simon sprang auf, setzte »Nazis raus!« hinterher. Manche prusteten verhalten, aber die meisten fanden plötzlich ihre Schuhspitzen interessant.
Professor Hinrich musterte ihn mit verkniffenem Gesicht. »Simon Brandtner, nicht wahr? Ich wurde vorgewarnt. Sind Sie fertig? Meine Zeit ist kostbar und die Ihrer Kommilitonen auch.« Sein Blick umspannte den gesamten Hörsaal.
Das ging super los! Bei dem hatte er jetzt zweimal die Woche Anatomie. Simon reckte den Daumen nach oben, dabei wäre er am liebsten im Erdboden versunken. Wer Hinrich wohl vor ihm »gewarnt« hatte? Sein innerer Dampfkessel brodelte. Er setzte sich und bemühte sich, seinen Körper unter Kontrolle zu halten. Seine Finger krampften sich vor Anstrengung um den Kugelschreiber, als wollten sie ihn erwürgen und seine Füße wippten zu einem Takt, den nur sie kannten.
Als die Vorlesung endlich zu Ende war, fühlte sich Simon wie ein einziger verspannter Muskel. Erleichtert stopfte er Kugelschreiber und Spiralblock in die Tasche und verließ schleunigst den Hörsaal.
Vor der Tür fing ihn Marco ab und verpasste ihm einen Bester-Freund-Schlag auf die Schulter. »Ohne dich wäre es zum Sterben langweilig.«
»Ficken!«, schrie Simon und hasste alles und jeden.
»Du sagst es. Die sollten unbedingt ein Praxissemester ›horizontales Gewerbe‹ in den Lehrplan aufnehmen. Mit Intensivkurs ›Weibliche Anatomie am Beispiel lebender Objekte‹.« Marcos Grinsen lief von einem Ohr zum anderen.
»Selbst das würde ich heute nicht mehr packen.«
»Soll das heißen, du lässt mich allein? Das kannst du mir nicht antun! Ich werde vor Langeweile sterben.«
»Oh, ich bin sicher, du packst das.«
»Schon klar. Wir sehen uns heute Abend. Komm gut heim.« Marco drehte sich um und reihte sich in den Strom der Studenten ein, die zum nächsten Hörsaal zogen.
Während sich Simon durch die labyrinthartigen Gänge der Uni auf den Weg in Richtung Ausgang machte, überlegte er, was sie heute Abend vorhatten, aber sein Hirn produzierte nur Spam. Draußen schwang er sich auf sein Fahrrad und trat wie besessen in die Pedale, bis ihm der Fahrtwind Tränen in die Augen trieb. Exzessive Bewegung linderte nicht nur seinen Frust, sondern kühlte auch den Dampfkessel herunter.
Zu Hause angekommen, warf er seinen Rucksack in eine Ecke und lief Treppenmarathon. Rauf, runter, rauf und runter, bis seine Beine zitterten. Beißender Schweiß rann ihm in die Augen und er wischte sich mit dem Saum seines Shirts über das Gesicht. Zeit für eine Dusche. In der Duschkabine schlug seine Faust mit Karacho gegen das Plexiglas, weil seine Arme mal wieder ein ausschweifendes Eigenleben führten. Nach zwei Anläufen erwischte er das Duschgel und es gelang ihm, sich einzuseifen. Gnädigerweise produzierte die Kugelbahn in seinem Hirn keinen weiteren Stau vor den Synapsen und er entspannte sich unter dem warmen Wasserstrahl.
Wenig später ging er in frischen Jeans und einem T-Shirt mit der Aufschrift »you get what you pay for« in die Küche, wo zwei große Kartons mit Pizza auf der Anrichte lagen und unvergleichlichen Pizza-Duft verströmten. Prompt knurrte sein Magen.
»Hallo, Simon.«
Erschrocken fuhr er herum.
»Braucht mein hungriger Sohn Besteck?« Ein Lächeln ließ kleine Fältchen um die Augen seines Vaters aufploppen.
»Pizza-Rad und Servietten reichen.«
Auf sein Nicken hin bewaffnete sich Simon mit dem Edelstahlroller und Papierservietten. Paps nahm die Kartons und sie setzten sich an den Tisch.
»So früh schon zurück, Herr Student?«
Na super! Gerade war es ihm halbwegs gelungen, den Tag mit der Dusche im Ausguss hinunterzuspülen, da kam so eine Frage. Simon schnappte sich den Edelstahlroller und zerteilte äußerst konzentriert seine Salamipizza. Anschließend reichte er seinem Vater, ohne ihn anzusehen, das Pizza-Rad und nahm einen großen Bissen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sein Vater die Stirn runzelte. Aber Paps sagte nichts und der Raum versank in gefräßigem Schweigen. Nachdem Simon etwa die Hälfte seiner Pizza vertilgt hatte, schaute er seinem Senior ins Gesicht. Dort waren die ungestellten Fragen lesbar wie Untertitel in einem Film.
»Also gut. Professor Hinrich war not amused, als ich ›Heil Hitler‹ gebrüllt habe. ›Nazis raus‹ hat es auch nicht besser gemacht.«
Der Ansatz eines Lächelns streifte das Gesicht seines Vaters und verschwand wieder. Simon wusste, dass ihm klar wurde, was das für seinen Sohn bedeutete. Aber Paps war auch klar, wie wenig er Mitleid ausstehen konnte, und er verkniff sich einen Kommentar. Das machte seinen Paps aus und dafür liebte Simon ihn.
Unter dem Tisch wippten seine Beine. »Es kann nur besser werden.«
»Ja, das wird schon.« Aber wirklich überzeugt klang auch sein Vater nicht. Er ließ einen Augenblick verstreichen, dann holte er tief Luft. »Deine Mutter ist wieder in der Klinik.«
»In der Klapse?«
»Simon! Sie ist in der psychiatrischen Klinik. Wir sind zu einem Familiengespräch eingeladen.«
Sein Körper wollte aufspringen, aber Simon zwang sich sitzenzubleiben und konzentrierte sich auf das Zerfleddern einer Papierserviette. »Sorry, Paps. Meine Woche war echt fies. Obendrein noch Psychogelaber, das wird mir wirklich zu viel.«
Paps legte den Kopf schief. »Du musst das nicht gleich entscheiden. Vielleicht siehst du es in ein paar Tagen anders.«
Mit dem Anflug eines schlechten Gewissens schüttelte Simon den Kopf. »Nein, tut mir leid, ich möchte wirklich nicht.« Seinen Vater zu enttäuschen, fiel ihm schwer. »Bist du fertig? Können wir aufstehen?«
Paps’ resigniertes Nicken drückte Simons Herz zusammen. Trotzdem konnte er sich nicht durchringen zuzusagen. Im Schlechten-Gewissen-machen waren sie beide richtig gut. Schweigend räumten Vater und Sohn die Küche auf.
Trotz Treppenmarathon musste sich Simon abreagieren. Schweiß und schmerzende Muskeln würden ihn bestimmt wieder in die Spur bringen und beim Nachdenken helfen.
»Ich geh noch ins Training«, sagte er.
Paps nickte nur.
Um diese Zeit war im Combat-Fit nicht viel los. Zwanzig Minuten ruderte Simon auf höchster Stufe und machte sich dann über die Hanteln her. Aber er war immer noch zu aufgewühlt, um ernsthaft zu trainieren. Er ging einen Raum weiter und streifte die Boxhandschuhe über. Rechts, rechts, links, Drehung, Kick. Dann schlug er nur noch blindlings auf den Sack ein. Die Welt um ihn herum hörte auf zu existieren.
Auf einmal klaute ihm jemand das Licht. »Hallo, Simon. Sieht gefährlich aus, wie du auf den Boxsack eindrischst.«
»Oh, hallo, Udo.« Außer Atem öffnete er die Klettverschlüsse seiner Boxhandschuhe. Udo gehörte das Sportstudio und er trainierte Simon seit vielen Jahren.
»Du bist früh heute. Stress in der Uni?«
»Lass stecken.«
»Okay. Hast du Zeit? Ich könnte dich brauchen.«
»Wo klemmt’s denn?«
»In zehn Minuten beginnt Kurs 2 im Krav Maga. Die Theke ist unbesetzt.« Udo hob die Augenbrauen und strich sich erst von hinten nach vorne und dann von vorne nach hinten über seine wenigen Haare.
»Dann geh ich mal duschen.« Die Theke also. Ganz kurz hatte er gehofft, er könnte im Krav Maga-Kurs Co-Trainer machen.
Vielleicht sah Udo ihm seine Enttäuschung an. »Normalerweise würde ich die Theke übernehmen. Aber Eddie ist krank und es ist sein Kurs. Leider hast du noch keinen Trainerschein, deswegen …« Er hob entschuldigend die Hände. »Aber ich würde dir durchaus zutrauen, den Kurs zu schaukeln.«
Simon war sich nicht sicher, ob der letzte Satz einem Ritterschlag gleichkam. Und wenn schon. Er wäre ein Ritter ohne Rüstung und Schlacht. Deshalb sagte er nur: »Passt schon.«
»Danke, Simon. Aber irgendwann sollten wir über deine Trainerscheine nachdenken.«
»Ja, vielleicht. Irgendwann. Momentan bin ich mit der Uni ausgelastet.«
Udo nickte und ging. Er war der beste Trainer, den Simon je hatte, deshalb respektierte und bewunderte er ihn. Udo holte das Beste aus ihm heraus. Das waren die Gründe, warum er half, wenn Not am Mann war. Aber ausgerechnet die Theke? Der Tag war sowas von für den Arsch. Aber wenigstens gaben jetzt die Tics Ruhe.
»Herrschaften,« Professor Hinrich ließ eine Faust auf das Pult krachen und lugte über seine Lesebrille. »bevor Sie jetzt alle ins Wochenende stürmen, bitte ich noch einmal kurz um Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.«
Das geschäftige Treiben hielt inne, ein paar ganz Voreilige setzen sich murrend wieder auf ihre Plätze. Auch Simon wollte keine Sekunde länger im Hörsaal bleiben. Schon gar nicht bei Professor Hinrich.
»Zum heutigen Thema gibt es eine Gruppenhausarbeit. Ich weiß, es ist nicht üblich, schon gar nicht im ersten Semester, aber Sie werden noch feststellen, dass bei mir manches unkonventionell ist. Diese Hausarbeit wird als Leistungsnachweis gewertet. Abgabetermin ist der 18. Januar. Das klingt jetzt lang. Aber glauben Sie mir, die Zeit bis dahin vergeht schneller, als Sie denken.«
Nachdem das kollektive Aufstöhnen verklungen war, klopfte Hinrich auf einen Stapel Blätter, die auf seinem Pult lagen.
»Die genauen Unterthemen und die Einteilung der Gruppen entnehmen Sie bitte der Aufstellung, die ich jetzt durchgehen lasse. Die Arbeitspartner orientieren sich am Alphabet und sind nicht verhandelbar, Sie sollen sich ja kennenlernen. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.« Er trat vor die erste Reihe und ließ die Blätter durchgehen.
Marco grinste. »Wäre geil, wenn ich mit Steffi eingeteilt bin. Die heißt Wiesner mit Nachnamen. Wiesner und Wolf. Vielleicht ist das Glück mir hold.« Mit den Händen deutete er eine ausladende Oberweite an.
Zwei Reihen vor den beiden brach aufgebrachtes Geflüster aus. Ein weißblonder Typ in Springerstiefeln schnellte hoch und stapfte, flankiert von drei Gestalten in Schwarz, nach vorne. Inzwischen war der Blätterstapel bei Marco und Simon angekommen. Marco deutete mit höchst zufriedenem Gesicht auf den Namen neben seinem: Steffi Wiesner. Neben Simon Brandtner stand Jannik Bertele.
»Weißt du, wer das ist?« Simon hielt Marco sein Blatt hin.
»Ich glaube, das ist der Draco-Malfoy-Verschnitt, der da unten gerade den Prof zutextet.«
»Heilige Scheiße. Mit dem soll ich die Hausarbeit machen.« Simon schwante nichts Gutes.
»Jede Wette, dass er sich gerade bei Professor Snape über dich beschwert, Harry Potter.«
»Das hat mir gerade noch gefehlt.« Schnell schnappte sich Simon seinen Rucksack und sprang die Stufen zum Pult hinunter. Er hatte nichts dagegen, mit Jannik zusammenzuarbeiten, allerdings sah es nicht so aus, als würde das auf Gegenseitigkeit beruhen. Unten angekommen, bekam er gerade noch mit, wie Professor Hinrich den Fake-Draco in die Schranken wies.
»Wir sind hier nicht mehr in der Schule und es schadet Ihnen nicht, sich mal außerhalb Ihres Fanclubs zu bewegen.« Der Professor warf einen Blick auf die drei Gestalten in Schwarz und wandte sich dann an Simon. »Haben Sie auch ein Problem mit Ihrem Sparringspartner, Herr Brandtner?«
»Äh, nein. Ich wollte nur wissen, ob es dabei bleibt.«
Jannik drehte sich um und verschoss mit den Augen giftige Pfeile. Dann stürmte er an Simon vorbei, rempelte ihn an und zischte: »Aus dem Weg, Spast!«
Die Professorenaugen glitzerten gehässig. Wahrscheinlich gönnte er Simon das S-Wort von ganzem Herzen. Schnell drehte sich Simon weg und schaute die Stuhlreihen hoch zu Marco, der ihm mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass sie sich vor dem Hörsaal treffen würden.
Als er zu seinem Freund aufschloss, sah er ein paar Meter weiter ausgerechnet Jannik stehen. »Schau mal, Draco Malfoy und seine Lakaien. Dem schmeckt wohl nicht, dass Professor Snape es gewagt hat, sich seinen Wünschen nicht zu beugen. Ob dieser Jannik auch einen Vater im Ministerium hat?«
»Ich habe läuten hören, dass seine Familie hier seit Generationen groß mitmischt. Diese Uni ist doch bekannt für ihre Vetternwirtschaft. Angeblich hat Jannik schon mit sechzehn Abitur gemacht.«
»Wenigstens erklärt das sein pubertäres Verhalten.«
»Ja, und die drei Stiefellecker wollen was vom Geld- und Einflussbrocken abhaben.«
Simon empfand es als blanken Hohn, dass das Schicksal ausgerechnet Jannik Bertele als seinen Partner für die Hausarbeit auserkoren hatte. Aber so schnell ließ er sich nicht kleinkriegen, immerhin war er Kampfsportler.
»Hey!«, rief er Jannik zu. »Wollen wir Handynummern austauschen?«
»Bist du auch noch schwul, oder was? Verpiss dich, du Spast!« Jannik bleckte die Zähne und boxte ein Loch in die Luft. Fehlte nur noch, dass er sich an den Sack griff.
Da war es schon wieder, »Spast«. Simon hätte explodieren können. Stattdessen rief er sich die erste Regel des Krav Maga, Deeskalation, ins Gedächtnis und zwang sich, ruhig zu bleiben.
»Ich glaube kaum, dass es sich lohnt, wegen einem ›schwulen Spast‹ das Semester zu versieben. Wir treffen uns am Montag um 16 Uhr 30 in der Bibliothek.« Flachwichser, schob er in Gedanken hinterher. Seine Stimme klang cool, aber sein Herz klopfte bis zum Hals. Yeah! So einen Auftritt hatte er schon lange nicht mehr hingelegt. Eigentlich noch gar nicht. Wenn er es sich recht überlegte, war das immer Marcos Part gewesen.
Wie aufs Stichwort war Marco plötzlich neben ihm und legte demonstrativ den Arm um seine Schultern. »Respekt! Lass uns gehen, mein schwuler Freund Spast«, sagte er laut.
In Simon kribbelte es unheilvoll. Sobald sie außer Sicht- und Hörweite von Janniks und seiner Horde waren, brüllte er »Malmalmalfoy« und machte einen Hopser.
»Hast du Malfoy jetzt in dein Tic-Repertoire aufgenommen?«
»Hat eine gute Dynamik. Fast so gut wie Fuck.«
Obwohl es noch früh am Tag war, beschlossen die Freunde, das Wochenende mit einem Bier in ihrer Stammkneipe einzuläuten. Zum Glück stand Marco auf praktische Vehikel und fuhr einen betagten Volvo, in dessen Kofferraum Simons Fahrrad passte. Dabei hätte sein Vater ihm einen Audi TT zur bestandenen Führerscheinprüfung in die Garage gestellt. Aber Marco meinte, nur Männer, denen es an der Größe eines bestimmten Körperteils mangelte, hätten es nötig, auf ein solches Statussymbol zurückzugreifen. Simon drängte sich die Frage auf, welchen Mangel Marcos Mutter mit ihrem Mercedes Roadster auszugleichen versuchte.
In ihrer Stammkneipe lungerten ein paar Gestalten herum, die offensichtlich die gleiche Idee hatten wie sie. Marco nickte dem beleibten Wirt zu, hob zwei Finger und kurz darauf standen zwei frisch gezapfte Bierchen bereit.
Er nahm einen ordentlichen Schluck aus seinem Glas und wischte sich den Schaum vom Mund. »Morgen gehe ich auf die Piste und schau mich nach einem Häschen um, das mir das Bett wärmt.«
Simon rechnete seinem Freund hoch an, dass er Jannik mit keinem Wort erwähnte. Das war Solidarität pur. Sie wussten jedoch beide, dass Häschen aufreißen nicht Simons Ding war. Häschen … seit dem ersten Playboy, den die beiden als bartlose Jungs heimlich aus dem Versteck von Marcos Vater hatten mitgehen lassen, sprachen sie von »Häschen« und dabei war es geblieben.
Simon nippte an seinem Bier, platzierte es akkurat auf dem Pappdeckel und strich mit der Fingerkuppe über den Rand des Glases. Im Gegensatz zu ihm reihte Marco seine Eroberungen wie Perlen auf eine Schnur. Aber One-Night-Stands waren nicht sein Ding. The one and only, nach der er sich sehnte, würde er auf Tour mit Marco nicht finden. Die musste er sich höchstwahrscheinlich selbst backen.
»Alter, ich kann förmlich sehen, wie die Zahnräder in deinem Kopf ineinandergreifen. Um meinen Charme spielen zu lassen, brauche ich dich echt nicht.« Grinsend knuffte Marco ihn in den Oberarm. Wie gut er ihn doch kannte. Schweigend leerten sie ihre Gläser und verließen die Kneipe.
»Komm doch heute Abend zu einem gepflegten Männer- und Zockerabend bei mir vorbei«, sagte Marco.
Simon überlegte kurz. Ablenkung würde ihm guttun. »Okay.«
Auf dem Parkplatz hob Marco sein Fahrrad aus dem Auto und fuhr dann mit quietschenden Reifen davon.
Simon schwang sich auf sein Rad und fuhr nach Hause.
An diesem Freitagabend fuhr Simon zum ersten Mal seit längerer Zeit in die schnieke Wohngegend, in der das eindrucksvolle Domizil der Familie Wolf stand. Er klingelte und wartete vor dem runden Tor aus ökologisch unvertretbarem Tropenholz, das wie ein Zyklopen-Auge in die hohe Mauer eingelassen war. Kurz darauf teilte es sich wie von Zauberhand und die halbkreisförmigen Flügel fuhren nach innen. Na, das ging ja schnell. Eilig schob er sein Rad die Auffahrt hinauf. Kaum stand er vor der Haustür, wurde sie mit einem Ruck aufgerissen.
»Ach, du bist es.«
Marcos kleine Schwester Svenja gab sich nicht einmal Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie trug ein Oberteil mit tausenden Pailletten, die das Licht der Außenbeleuchtung reflektierten und ihn blendeten. Ebenso wie die Kette mit Klunkern um ihren Hals. Mit einer Hand schirmte er die Augen ab.
»Hi. Haben wir schon Weihnachten? Du glitzerst wie ein Christbaum.«
»Was kümmert’s dich?«
Immerhin trat sie einen Schritt zurück, um ihn einzulassen. Während er sein Rad abstellte, musterte er sie verstohlen. Ihre Hüften steckten in einem schwarzen Minirock, der für Fantasie wenig Spielraum ließ. Mit ihren vierzehn Jahren konnte sie glatt als sechzehn durchgehen, mit der Kriegsbemalung vielleicht sogar als siebzehn. Auf High Heels stakste sie zur Treppe, die zu einer Galerie im ersten Stock führte. Dort befanden sich die »Privatgemächer« – wie Marcos Mutter sie nannte – der Familie.
»Marco ist in seiner Bude«, informierte Svenja ihn, ohne sich umzudrehen. Er schloss die Eingangstür und sah ihr nach.
»Bye, Svenni.«
Abrupt blieb sie stehen und drehte sich um. Ihre Augen blitzten. »Mein Name ist Svenja. Klar?« Ihre langen blonden Haare flogen, als sie sich von ihm wegdrehte und weiter nach oben stolzierte.
»Hat sie dir ihre Liebenswürdigkeit demonstriert?«
Simon fuhr herum. Marco schaute seiner Schwester hinterher und Simon konnte seine Wut beinahe körperlich spüren.
»Ein bisschen mehr Respekt fände ich angebracht«, rief er seiner Schwester hinterher.
»Du hast mir gar nichts zu sagen!«
»Wenigstens Simon gegenüber könntest du dich zusammenreißen. Er ist mein Gast.«
»Der Spast ist dein Gast. Nicht meiner.« Sie verschwand in ihrem »Privatgemach«.
Das war krass. Aus dem Mund von Marcos Schwester war »Spast« eine andere Hausnummer als beispielsweise an der Uni. Was für ein super Anfang für einen Abend, an dem er die Uni vergessen wollte! Sah ihn nur Svenja als Spast, oder auch der Rest der Familie? Wich Marco ihm deshalb aus, wenn die Sprache auf seine Sippe kam?
»Sorry. Der kleinen Bitch gehört mal ordentlich der Hintern versohlt.« Marco starrte ihr böse hinterher und drehte sich abrupt um. »Lass uns noch ein paar Bier mitnehmen, um die Vorräte aufzustocken und dann verziehen wir uns zu mir.«
Simon folgte seinem Freund in die sterile Hochglanzküche. Marco nahm zwei Bier aus dem Kühlschrank, der natürlich auch Eiswürfel ausspucken und Wasser aufsprudeln konnte, und klemmte sie sich gekonnt zwischen die Finger einer Hand.
»Mein Fahrrad steht noch vor der Tür.«
»Dann gehen wir außen rum und nehmen es mit.«
»Dir fehlt echt eine eigene Klingel am Tor. Damit sich dein Schwesterchen nicht für die Gäste ihres großen Bruders bemühen muss.« Das konnte sich Simon nicht verkneifen.
»Der erste Kostenvoranschlag ist schon gekommen. Bald braucht es die Herrschaften es nicht mehr kümmern, wen ich hier wann empfange.«
Nebeneinander umrundeten sie das weiß getünchte Haus, bis sie vor dem Anbau aus Holz und Glas standen, den Marco bewohnte.
»Nimm dein Rad mit rein.« Marco schloss die Tür auf.
Bemüht, den geölten Holzboden nicht zu zerkratzen, lehnte Simon sein Fahrrad gegen die Wand und folgte Marco die drei Stufen in den Wohnraum hinunter. Dessen Ausmaße verblüfften ihn immer wieder. Mitten in dem riesigen Raum standen ein XXL-Sofa und zwei Clubsessel mit auf alt getrimmten Lederbezügen. Die Sitzgruppe war auf eine überdimensionale Leinwand ausgerichtet.
»Mach es dir bequem.« Marco fläzte sich aufs Sofa, Simon wählte einen der Sessel. Mit einem Feuerzeug öffnete Marco die Bierflaschen, es zischte leise.
»Prost.« Er reichte Simon eine Flasche und nahm einen tiefen Schluck.
Sie ließen die Flaschen klirren. »Habt ihr Stress, Svenja und du?«
»Puhh. Die pubertäre Göre glotzt nur noch ›Germany’s Next Topmodel‹. Seitdem sie die sozialen Medien entdeckt hat, postet sie viel zu viel intimes Zeug. Verglichen mit ihr sind sämtliche It-Girls dieser Welt Betschwestern.«
»Was sagen deine Eltern dazu?«
»Sie ist in so einer Schickimicki-Clique, genau der richtige Umgang für ihr Töchterchen. Alles neureiche Schnösel, die sich in den teuersten Club rumtreiben und meinen, ihnen gehört die Welt. Aber dieser sogenannte ›gute Umgang‹ zieht sich alles an Designer-Drogen rein, was auf dem Markt ist.« Angewidert verzog Marco den Mund.
»Ist das deinen Eltern klar?«
»Da bin ich mir nicht sicher. Sie haben mich jetzt dazu verdonnert, ihr auf die Finger zu gucken. Zwangsverordnetes Stalking in den Happy-Social-Media-Gemeinden des World Wide Web. Halleluja!« Er leerte die Flasche mit großen Zügen. »Magst du auch noch?«
»Nee. Lass stecken.«
»Du kannst schon mal die Xbox warmlaufen lassen. Ich hol mir noch eins.«
Marco ging zu seiner Küchenzeile und besorgte Nachschub aus seinem Retro-Kühlschrank, auf dem der Schriftzug 50’s Diner prangte, unter dem eine gut gebaute Blondine im Miniröckchen auf Rollschuhen Burger servierte.
Simon schaltete die Spielekonsole ein.
»Pommespresslinge?«
»Immer!«
Er kam mit einer Tüte Chips und hielt sie Simon hin, der gleich hineingriff.
»Wehe, du krümelst«, ermahnte Marco mit erhobenem Zeigefinger.
»Wieso? Hat die Putzfrau gekündigt?«
Er schnalzte mit der Zunge. »Heutzutage heißt es Raumpflegerin, junger Mann.«
»Jawohl, Sir! Ja, Sir!«
»FIFA?«
»Logo.«
Endlich widmeten sich die beiden dem eigentlichen Vorhaben des Abends. Doch die Frage, ob er bei Marcos Sippe tatsächlich unerwünscht war, beschäftigte ihn weiter. So, wie Svenja sich ihm gegenüber verhalten hatte und die ausbleibenden Einladungen von Marco legten den Gedanken nahe. Was war der Grund? Genügte er den Ansprüchen der Familie nicht mehr? Simon studierte wie ihr Sohn Medizin. Lag es am Tourette? Daran, dass sein Vater alleinerziehend war? Immerhin war er ein erfolgreicher Architekt.
»Erde an Simon! Raffst du, dass ich dich gerade sowas von plattmache?«
Simon schaute auf den Punktestand. Tatsächlich. Plattmachen lassen wollte er sich nicht. Schon gar nicht von seinen eigenen Gedanken.
Er grinste Marco an. »Das kannst du sowas von vergessen.« Endlich konzentrierte er sich aufs Spiel und rettete ein paar Punkte. Und endlich entspannte er sich. Mission gelungen.
Am Montag lief Marco mit Ringen unter den Augen und einem unverschämt zufriedenen Gesicht herum. Wie angekündigt, war er wohl am Samstag auf der Piste gewesen. Simon hatte neue Gitarrenriffs im Kopf und kaum Tics. Bis dahin ein guter Tag. Jannik glänzte mit Abwesenheit. Trotzdem betrat Simon um Punkt halb fünf die Bibliothek der Uni. Wie nicht anders erwartet, war Jannik nirgends zu entdecken. Im Saal war es so still, dass das Ticken der großen Uhr über dem Eingang überlaut zu hören war. Simon setzte sich und folgte mit den Augen dem Sekundenzeiger. Was, wenn der Vollpfosten nicht kam?
Bevor er einen Schlachtplan entwerfen konnte, wurde die Tür aufgerissen und Jannik stürmte mit wehendem schwarzem Mantel herein, gefolgt von seinen drei Lakaien. Direkt vor Simon baute er sich auf, stützte die Fäuste auf den Tisch und schob Schultern und Kopf nach vorne. Die Drohgebärde eines Primaten. Mit finsterem Gangsterblicken gruppierten sich die Drillinge um ihren Rudelführer. Die Szene war filmreif.
»Der brave Spacken.« Jannik lächelte schmallippig. »Ich sag dir jetzt, wie es läuft. Du schreibst das verfickte Referat. Und zwar komplett. Und ich werde großzügig sein und akzeptieren, dass dein behinderter Name neben meinem steht.«
Simon zog die Augenbrauen nach oben. Auf so viel Dreistigkeit fiel ihm auf die Schnelle keine geistreiche Erwiderung ein.
»Schau an, dem Spast hat es die Sprache verschlagen!« Jannik lachte meckernd und schaute Beifall heischend zu seinem Gefolge, bevor er sich wieder Simon zuwandte. »Ich gebe dir einen guten Rat: Halt dich an unsere Vereinbarung.«
»Sonst?« Sein rechtes Bein begann zu wippen.
»Sonst wird das hier«, Jannik machte eine umfassende Geste, »für dich die Hölle auf Erden.«
»Uhh, ich zittere vor Angst.«
»Gut. Du scheinst es begriffen zu haben.« Er deutete auf das wippende Bein.
Ein Kribbeln in der Schulter kündigte einen Tic an, den Simon mit purer Willenskraft unterdrückte. Auch sein Bein hielt er ruhig. Vor Anstrengung knirschten seine Kiefer und die hochkochende Wut ließ sein Gesicht rot anlaufen. »Den Teufel werde ich! Wenn du deinen Namen unter ein Referat setzen willst, musst du es schon selbst schreiben.«
»Oh, ich denke, ich habe mich klar ausgedrückt.« Janniks Gesicht kam näher. »Wenn du meinst, mit deinem Spast-Dasein hast du schon die Arschkarte gezogen, dann warte ab. Schlimmer geht immer.« Mit zufriedenem Gesichtsausdruck richtete sich Jannik auf, klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch und dirigierte seinen Hofstaat mit einer Kopfbewegung Richtung Ausgang. Dann fiel die Tür ins Schloss und der Spuk war vorbei.
Für Simon gab es jetzt kein Halten mehr. Er sprang auf, stampfte mit dem Fuß, ein Arm schnellte nach vorne und eine Faust donnerte mit einem lauten Knall auf den Tisch. Dann machte er einen Satz zur Seite und landete im Bücherregal. Ein dicker Foliant krachte auf den Boden, den Rest konnte er gerade noch aufhalten. »Arschficker!«, brüllte er das Regal an. Was bildete sich dieser Typ ein? Hatte der ihn gerade tatsächlich bedroht? Auf ein paar schräge Blicke und blöde Bemerkungen mehr kam es in den heiligen Hallen dieser Universität zwar nicht mehr an, doch auf so einen Schwachmaten konnte er verzichten.
Schwankend zwischen Wut und Ungläubigkeit hob er das dicke Buch vom Boden auf und brauchte mehrere Anläufe, bis es wieder an Ort und Stelle stand. Hätte er geahnt, was Medizinstudenten für aufgeblasene Nulpen waren, hätte er die Idee, Medizin zu studieren, gleich verworfen. Aber Marco hatte gemeint, angehende Ärzte kämen sicher mit dem Tourette klar. Nach dem Studium würden sie eine gemeinschaftliche Hausarztpraxis auf dem Land eröffnen, hatte er fabuliert. Simon hatte sich nicht einen einzigen eigenen Gedanken dazu gemacht. Was war er nur für ein Idiot. Zugutehalten musste er sich aber, dass niemand vorhersehen konnte, dass die Kommilitonen ätzender waren, als die schlimmsten Albträume. Sein Oberkörper klappte nach vorne, schnellte wieder hoch und er schrie »Albtraum!«.
Dann wurde er langsam ruhiger. Landarzt. Klar. Kopfschüttelnd zog er seine Jacke an, schulterte den Rucksack und sandte ein Stoßgebet ans Universum, dass ihm niemand mehr begegnen möge. Auf seinem Weg durchs vereinsamte Uni-Labyrinth – das Universum war gnädig – kam er am schwarzen Brett vorbei. Darauf prangte ein großes Plakat: »Landarzt verzweifelt gesucht! Ärztemangel in ländlichen Regionen …« Unwillkürlich musste er grinsen. Manchmal hatte das Schicksal einen schrägen Humor.
Eine Woche später überlegte Simon immer noch, wie er die Nummer mit Jannik am besten drehen konnte und kaute das Problem parallel zu seinem Frühstücksmüsli durch. Leider wurde es im Gegensatz zum Müsli nicht weniger. Er schob sich einen weiteren Löffel voll in den Mund.
Plötzlich polterte es laut. Gleich darauf hörte er seinen Vater »Au! Verdammte Scheiße!« fluchen. Wie von der Tarantel gestochen sprang Simon auf und hechtete in den Flur. Sein Vater saß vor der Treppe und hielt sich stöhnend die Schulter. Neben ihm breitete sich eine Kaffeelache aus und um ihn verstreut lagen Papierrollen, ein leerer Becher und seine Aktentasche.
»Ich bin gestolpert. Hab noch versucht, mich am Geländer festzuhalten, aber die letzten Stufen bin ich heruntergesegelt. Meine Schulter tut saumäßig weh.« Das Gesicht seines Vaters war schmerzverzerrt.
»Kannst du allein aufstehen oder soll ich dir helfen?«
»Ich versuche es allein«, quetschte Paps hervor und bemühte sich, auf die Beine zu kommen, ohne sich abzustützen.
Simon sammelte die verstreuten Sachen ein. Seine Beine fühlten sich wie Pudding an, so sehr war ihm der Schreck durch die Glieder gefahren. »Kannst du den Arm bewegen?«
Sein Vater versuchte es und verzog das Gesicht.
»Du solltest ins Krankenhaus.«
»Ich muss auf die Baustelle!«
»Mensch, Paps, sei doch vernünftig. Mit der Schulter kannst du auf keinen Fall zur Baustelle. Die werden schon mal ohne dich klarkommen.«
Plötzlich wurde Paps so weiß wie die Wand im Flur. Er suchte Halt am Treppengeländer, verfehlte es knapp. Simon konnte ihn gerade noch stützen.
»Wahrscheinlich hast du recht. Fährst du mich?«
Betreten sah Simon zu Boden. »Paps, ich … du weißt …«
»Schon gut. Vielleicht ist jetzt auch nicht der richtige Augenblick dafür. Bitte informiere Dirk und ruf dann ein Taxi.«
Erleichtert gab Simon Vaters Kompagnon Bescheid, rief einen Wagen und fuhr mit in die Notaufnahme. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde sein Paps endlich aufgerufen und verschwand in einem der Untersuchungsräume.
Keine Sekunde später klingelte Simons Handy und er strich über den grünen Hörer.
»Alter, wo steckst du? Ich steh vor deiner Tür und klingle mir die Finger wund«, bellte es aus dem Telefon, bevor er etwas sagen konnte. Marco! Simon hatte komplett vergessen, dass Marco seine Notizen für die Uni abholen wollte, weil er wieder einmal zu faul zum Mitschreiben gewesen war. Pech. Simon erklärte Marco, was passiert war und versprach, sich später zu melden.
Dann wartete er wieder. Als das Herumsitzen anfing ihn zu quälen, stand er auf und lugte um die Ecke. Da keiner zu sehen war, joggte er ein paar Runden im Kreis und machte Lockerungsübungen. Danach genehmigte er sich einen großen Schluck aus dem Wasserspender. Das Wasser war eiskalt und verursachte fiesen Hirnfrost.
Endlich kam sein Vater. Ein bisschen blass um die Nase, aber mit dem Ansatz eines Lächelns. Die Schulter war angebrochen und mit einer speziellen Bandage ruhiggestellt. In der Hand hielt er eine Packung Schmerztabletten der Marke Beam-me-up-Scotty.
»Ich soll die Schulter zwei Wochen möglichst ruhig halten.« Er seufzte.
Das brachte Simon in ein Dilemma. Einerseits wollte er für seinen Paps da sein. An der Uni als Erstsemester gleich am Anfang zu fehlen, hielt er aber für wenig förderlich. Nicht nur, weil er Vorlesungen verpasste. Die Kommilitonen und Professoren sollten sich an ihn gewöhnen, damit er möglichst bald nicht mehr die Lachnummer der Fakultät war.
Als könnte er Gedanken lesen, legte ihm Paps die Hand auf die Schulter. »Lass uns erstmal nach Hause gehen.«
Simon entschied sich für einen Kompromiss und entschuldigte sich vorerst für zwei Tage von der Uni. Diese lächerlichen zwei Tage brachten ihn an den Rand der Verzweiflung. Er wurde zum Laufburschen und Wünsche-Erfüller, zum Essenbeschaffer und Pagen. Den ganzen Tag flitze er herum. Langsam bekam er gehörigen Respekt vor Pflegekräften. Richtig stressig wurde es aber, als er wieder zur Uni ging. Auch wenn sein Vater versuchte, ihn zu entlasten und nach nur einer Woche während Simons Abwesenheit zu Hause herumfuhrwerkte, als käme »Living at Home« um Fotos zu machen.
»Ich kann mich einfach nicht auf die faule Haut legen. Das ist gegen mein Naturell. Außerdem habe ich die Schmerztabletten.«
So konnte es nicht weitergehen. »Paps, Schmerztabletten sind keine Smarties«, wies Simon ihn zurecht und konnte gerade noch verhindern, den Zeigefinger zu heben.
»Jawohl, Herr Doktor«, antwortete Paps zackig.
Er versuchte es mit einem Strategiewechsel. »Lass mich dir helfen und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, okay? Gib mir Einblick in die Geheimnisse des Pflegeberufes, damit ich als angehender Weißkittel weiß, wie das in der Praxis funktioniert. Und gib mir die Chance, mich wenigstens für einen Bruchteil dessen, was du für mich gemacht hast, zu revanchieren.«
»Hast du die Rede heimlich einstudiert?« Paps schenkte ihm ein gerührtes Lächeln.
Mit einem Kopfschütteln boxte er ihm sachte an die heile Schulter.
»Aber du könntest mir tatsächlich helfen. Es geht um einen Großauftrag.«
Wie sich herausstellte, musste Paps ein Modell anfertigen und das ging natürlich nicht mit links. Die nächsten Tage gab Simon sich redlich Mühe, seine Tics in Zaum zu halten und zeichnete, schnitt und klebte auf äußerst präzise Anweisungen hin. Recht machen konnte er es trotzdem nicht. Hier ein Zehntel Millimeter weiter rauf, dort einen Fliegenschiss nach rechts. Genervt kam er zu der Gewissheit, dass er auf keinen Fall Architekt werden wollte und war zum ersten Mal beinahe froh über seine synaptischen Fehlzündungen, dank derer er hemmungslos fluchen und schreien konnte. Höchstwahrscheinlich wäre er sonst geplatzt. Einen Vorteil musste das bescheuerte Syndrom ja haben.
Nach zwei Tagen hatte Simon es gründlich satt. Er sandte einen Hilferuf an Dirk und der Kompagnon seines Vaters erstellte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eine schicke 3D-Simulation.
Weitere zwei Tage später saßen Vater und Sohn mit einer Tasse Tee im Wohnzimmer, als das Handy von Simons Vater klingelte.
»Wirklich? Das ist ja wunderbar! Danke, danke, danke.« Er strahlte. Dirks Einsatz hatte einen wichtigen Großauftrag gerettet! Das änderte aber nichts daran, dass ihm der ganze »digitale Firlefanz« äußerst suspekt blieb. Er war eben der analoge Typ im digitalen Zeitalter, fand Simon.
Nachdem der Druck endlich von ihm abgefallen war, bat er Simon um eine weitere Tasse Tee. Mit Schuss.
»Tee ja. Schuss nein. Du bist auf Drogen.«
»Puh. Du gönnst mir auch gar nichts.«
Grinsend warf er ihm eine Kusshand zu und ging in die Küche, um Tee zu kochen. Ein paar Minuten später trug er zwei dampfende Becher ins Wohnzimmer und holte den Rum.
»Hoppla.«
»Vielleicht hilft er ja. Du bist echt schwer zu ertragen, wenn du krank bist, weißt du.«
»Tut mir leid.« Nachdem sein Senior einen ordentlichen Schluck in seinen Becher gegossen hatte, reichte er die Flasche an Simon weiter, der etwas sparsamer mit dem Hochprozentigen war.
»Cheers, mein Sohn. Danke für deine Geduld und für deine Hilfe.«
»Cheers, Paps.«
Sie stießen an.
»Du machst dich übrigens gut als Krankenschwester.«
»Danke für die Blumen. Vielleicht ist im Schwesternwohnheim noch ein Platz frei. Dann sattele ich um.«
»Aus dir wird ein guter Arzt.«
Wenn du dich da mal nicht täuschst, dachte Simon. Die Verletzung seines Vaters war nur ein winziger Vorgeschmack auf das, was ihn im Arztberuf erwartete. Die letzten Tage hatte er zwar gut hinbekommen, trotzdem war er sich, was seine Berufswahl anging, nicht mehr so sicher.
Es gab Nächte, nach denen fühlte er sich wie von einem LKW überrollt. So wie nach dieser. Sein Bett war zerwühlt, als hätte er eine wilde Liebesnacht darin verbracht, die Boxer-Shorts spannte und die Blase drückte. Der Wecker zeigte halb acht. Viel zu früh für Normalsterbliche an einem Samstag.
Normalerweise hatte er gleich nach dem Wachwerden keine Tics, aber heute war das Tourette schon vor ihm fit. Ob das ein schlechtes Omen war? Genauso wie das trübe Novemberwetter? Simon schälte sich aus der Decke und setzte sich auf. Stiere trampelten durch seinen Kopf. Vorsichtig fuhr er sich mit gespreizten Fingern durch die Haare und strich dann über seine Bartstoppeln. Rasieren würde heute wegen erhöhter Verletzungsgefahr ausfallen.
Sein Blick fiel auf ein Buch über Kurt Cobain, das auf dem Boden lag. »Cobain«, murmelte er und wiederholte dann laut »Cobain-Cobain-Cobain-Cobain«. Als würde die Nadel auf einer Schallplatte hängen bleiben und alles, was er sagte in endloser Wiederholung abspielen. Er fand, er hörte sich an wie ein stotternder Vollidiot. Für den Moment konnte er nicht mehr tun, als sich abzulenken und zu hoffen, dass die Nadel dadurch in die nächste Rille hüpfte und die Dauerschleife stoppte. Also zählte er neben Kurt Cobain, Janis Joplin und Amy Winehouse weitere Musikgrößen auf, die im Alter von 27 Jahren in die ewigen Musiker-Jagdgründe eingegangen waren. Durch die Konzentration gab sein Körper langsam Ruhe, sogar die Stiere in seinem Kopf scharrten nur noch ein wenig mit den Hufen. Zeit aufzustehen.
Er leerte seine Blase, schlüpfte in die Klamotten von gestern und ging nach oben. In der Küche genehmigte er sich einen Energydrink, der ihm für den Tag Flügel verleihen sollte. Während er das Getränk herunterkippte, hörte er im Kopf seinen Arzt eine Moralpredigt halten: »Stimuliere nicht dein überaktives dopaminerges System.« Simon zeigte ihm den imaginären Mittelfinger. Manchmal brauchte es einfach einen Energydrink oder einen Kaffee. Durch das schnelle Trinken musste er tierisch rülpsen. Sein Vater, der natürlich ausgerechnet in diesem Moment geschniegelt und gebügelt in die Küche kam, zog die Augenbrauen hoch.
»Was raus muss, muss raus«, sagte er, um Paps den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Guten Morgen, Simon. Wünsche, wohl geruht zu haben.«
»Morgen Paps. Morgen, morgen.«
Simons Senior machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen und stellte den Becher, auf dem ›Der beste Papa der Welt‹ stand, unter die Düse. »Simon, ich muss auf die Baustelle. Kannst du bitte auf den Markt gehen, ein bisschen Grünzeug, Eier, Honig und Käse kaufen? Und bring auch ein ordentliches Stück totes Tier für Sonntag mit, okay?«
Obwohl als Frage formuliert, war es keine Bitte. Simon hatte zwar null Bock auf das Gewühl des Wochenmarktes in der Stadt, nickte aber. Frische Luft und Bewegung würden nicht schaden.
Paps reichte ihm einen 100-Euro-Schein.
»Dann mach ich mich mal auf die Socken.«
Auf dem Weg in die Stadt trat er kräftig in die Pedale und wurde erst langsamer, als er in der Innenstadt ankam. Es herrschte eine beinahe mystische Atmosphäre. Die Sonne hing wie ein ausgebleichter Lampion am Himmel und verströmte fahles Licht. Dunst hatte den Münsterturm verschluckt und feine Tröpfchen legten sich auf sein Gesicht.
Es war einer dieser Novembertage, der alle Farbe aus der Umgebung saugte. Und aus der Seele. Eintöniges Grau innen und außen. Trotz des Energydrinks war Simon steinmüde und musste sich konzentrieren, damit die hellwachen Tics nicht das Rad ins Schleudern brachten. Er kettete es am Marktplatz an und kaufte Gemüse und Obst, den Honig und den Käse und stellte sich dann für Eier und Geflügelfleisch an.
Vor ihm stand eine junge Frau mit langen dunklen Haaren. Sie roch unbeschreiblich gut. Eine Mischung aus Orangen mit einem Hauch Zeder. Auf mirakulöse Weise wurde Simon ruhig und seine Stimmung hob sich. Das Universum meinte es heute doch gut mit ihm. Tief atmete er ein und musste sich zusammennehmen, seine Nase nicht in ihrem Haar zu versenken. Viel zu schnell war sie an der Reihe. Unauffällig schob er sich nach vorne und neben sie. Ihr Profil war wunderschön, ihre Haut sah aus wie Seide und …
»Was darf es sein?«
Sie war zauberhaft. Er sah zu, wie sie ihre Einkäufe in einen Korb legte und blickte ihr nach, als sie ging. Er wünschte, …
»Junger Mann, sie sind dran!«, drängte eine energische Stimme hinter dem Verkaufstresen.
Daraufhin drehte sich das Zauberwesen um und schenkte ihm im Weggehen das schönste Lächeln, das er je erhalten hatte. Ganz kurz hielt sie inne, dann war sie weg.
Simon zwang sich, seine Bestellung aufzugeben, verstaute alles im Rucksack und sah sich um. Doch die Frau seiner Träume, die Zauberin, die so gut roch, war verschwunden. Shit! Trotz der Kälte und des schweren Rucksacks wanderte er über den Markt und ließ den Blick schweifen. Vielleicht entdeckte er sie wieder. Tatsächlich! Am letzten Obststand sah er sie. Sein Herz trommelte. Bis er registrierte, dass sie sich mit zwei Männern unterhielt. War sie so schnell verschwunden, weil sie verabredet war? Und – hätte er sich getraut, sie anzusprechen, wenn sie allein gewesen wäre? Daran zweifelte er. Als er dann mitansehen musste, wie sie mit den beiden den Marktplatz verließ, trommelte sein Herz nicht mehr, sondern fühlte sich an, als würde es aufhören zu schlagen. Das war es dann also. Bye-bye, Liebe des Lebens.
Inzwischen hatte sich die Kälte durch Simons Klamotten gefressen. Ein warmes Plätzchen, sich hinter dem großen Format der Tageszeitung verstecken und ein Heißgetränk schlürfen war genau das, was er jetzt brauchte.
Er ging zu dem kleinen italienischen Café um die Ecke. Die hohen Fenster waren beschlagen. Als er die Tür öffnete, wehte ihm köstlicher Duft nach frischem Kaffee und Gebäck entgegen, doch selbst der konnte ihn nicht trösten. Er trat ein.
Der winzige Gastraum platzte aus den Nähten und der einzig freie Platz war an einem Tisch in der hintersten Ecke, an dem eine Frau mit langen dunklen Haaren allein saß. Sie hielt den Kopf gesenkt und rührte in ihrer Tasse. Einen Hammer-Herzschlag dachte er, es wäre die Schönheit vom Markt. Doch diese Frau wirkte älter, ihr pechschwarzes Haar war von grauen Strähnen durchsetzt. Er steuerte auf sie zu. Kurz bevor er den Tisch erreichte, hob sie den Kopf und schaute ihn direkt an. In Sekundenbruchteilen spiegelte ihr Gesicht Erkennen, Erschrecken, Verlegenheit und Freude.
Simon fuhr der Schreck durch alle Glieder. Nichts wie weg hier! Doch bevor er auf dem Absatz kehrtmachen konnte, verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem zaghaften Lächeln. Mit einer einladenden Geste winkte sie ihn zu sich. Wie ferngesteuert lief er auf sie zu. Sein Kopf ruckte, ein Arm holte weit aus und schlug gegen seinen Brustkorb. Inzwischen war sie aufgestanden.
»Simon«, sagte sie leise.
Das Wort »Mama« wollte ihm nicht über die Lippen. Aber wie sollte er sie sonst nennen? Mutter? Renate? Frau Brandtner?
»Bitte, setz dich doch.«
»Ich hab nicht viel Zeit, muss die Einkäufe nach Hause bringen. Papa hat sich vor zwei Wochen die Schulter gebrochen. Er braucht mich.«
»Er hat … oh!«
»Das wird schon wieder.«
»Und du kümmerst dich?«
»Klar doch. Ich würde ihn nie damit allein lassen.« Kaum sah er sie, stichelte er. Das passierte ihm bei ihr regelmäßig.
»Bitte, Simon. Nur für eine Minute.«
Wider besseren Wissens setzte er sich an ihren Tisch. Während auch sie Platz nahm und ihren Rock glattstrich, stellte er den schweren Rucksack auf den Boden. Bei der Bedienung, die wie aus dem Nichts am Tisch auftauchte, bestellte er einen Cappuccino. Eigentlich hatte er sich auf Kosten seines Vaters ein oder zwei dieser köstlichen Pasticcini gönnen wollen, für die das Café berühmt war, aber sein Magen war wie zugeschnürt. Er fuhr mit einer Hand über seine Bartstoppeln und kämmte mit den Fingern durch seine Haare. Ein Bein begann zu wippen und er musste sich zusammennehmen, nicht auf den Tisch zu klopfen.
»Wie geht es dir?«, fragte sie. Ihre Stimme zitterte leicht und feine Röte überzog ihre Wangen.
»Ich dachte, du bist in einer Klinik?«
»Übers Wochenende darf ich inzwischen nach Hause.«
»Okay.« Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn und drohten, ihm in die Augen zu laufen.
»Ich habe jetzt eine kleine Wohnung in der Stadt. Gar nicht weit von hier.« Sie schaute ihn direkt an. »Simon, dein Vater sagt …«
»Wenn du das Gespräch in der Klinik meinst, das möchte ich lieber nicht.«
Sie senkte den Blick, nickte und klemmte sich eine Strähne hinters Ohr, die ihr sofort wieder ins Gesicht fiel. Die dunklen Augen, die er von ihr geerbt hatte, ruhten auf ihm. Die Muskeln um sein linkes Augenlid flatterten. Fuck!, wollte er schreien, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Mittlerweile überzog ein feiner Schweißfilm seinen ganzen Körper. Sollte er einfach ticcen und Nutte! Hure! Rabenmutter! brüllen? Damit hatte sie noch nie umgehen können und er wäre sie ein für alle Mal los gewesen. Aber wollte er sie wirklich loswerden? Ganz wirklich?
»Schön, dich zu sehen, Simon. Es ist so lange her.« Sie machte eine kurze Pause, gab ihm Gelegenheit zu antworten.
Er blieb stumm.
»Gut siehst du aus. Du studierst Medizin, nicht wahr? Wie läuft es denn?«
Falsche Frage. Ganz falsche Frage! Simon ballte die Hände zu Fäusten, bis sich seine Fingernägel tief in die Handballen bohrten. Hitze kroch in sein Gesicht, ließ es tomatenrot anlaufen.
»Totes Fleisch!« Seine Faust krachte auf die Tischplatte. Sie zuckte zusammen. Er stampfte er mit dem Fuß auf. »Was meinst du denn, wie es läuft?«
Sie senkte den Blick. »Es tut mir leid, Simon, es tut mir so leid.«
»Dein Mitleid kannst du dir sparen. Du hattest auch keins, als du abgehauen bist und mich mit diesem – Ding – in mir alleingelassen hast.«
Still saß sie ihm gegenüber und schien mit jedem Wort, das er ihr entgegenspie, zu schrumpfen.
»Ich wünschte, du könntest mir verzeihen.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Es tut mir sehr leid.«
Das konnte und wollte er sich nicht mehr anhören. »Ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.«
Bevor er aufstehen konnte, legte sie ihre Hand auf seinen Arm. Die Stelle kribbelte, als würde sie mit Reizstrom behandelt. Schnell zog er den Arm weg.
»Simon, warte. Heute würde ich einiges anders machen. Glaub mir bitte. Lass uns reden. Ja?«
Einen Moment lang wollte er seinem Fluchtreflex nachgeben, doch dann verschränkte er die Arme vor der Brust. »Ich höre.«
»Auch, wenn es wie eine Ausrede klingt: Von euch wegzugehen war für mich damals die einzige Lösung. Weil ich restlos überfordert war. Aber meine Familie verlassen zu haben, hat mich noch tiefer heruntergezogen. Erst da habe ich gemerkt, dass ich krank war. Ein paar Wochen später bin ich in die Klinik gekommen, weil ich nichts mehr auf die Reihe bekommen habe.«
»Soll das eine Entschuldigung sein?«
»Dein Vater konnte sich unmöglich um zwei kranke Familienmitglieder kümmern.«
»Willst du etwa behaupten, du bist gegangen, um Paps zu entlasten? Das habe ich aber anders in Erinnerung!«
Unfassbar, wie sie alles verdrehte, damit es ihr in den Kram passte. Ihre Hand nestelte am oberen Blusenknopf. Unter dem Tisch wippte sein Bein.
»Joachim hat vor mir gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er wollte schon lange, dass ich zum Arzt gehe. Hätte ich nur auf ihn gehört.«
»Ja, hinterher ist man immer schlauer. Vielleicht sollte ich dir dankbar sein, dass du abgehauen bist. Denn Paps ist ein super Typ und wir beide sind so.« Er kreuzte Mittel- und Zeigefinger und hielt sie demonstrativ in die Höhe.
In diesem Augenblick kam der Cappuccino und verschaffte ihm eine Verschnaufpause. Ganz gegen seine Gewohnheit schaufelte er zwei Löffel Zucker hinein, rührte um und verzog nach dem ersten Schluck angewidert das Gesicht.
»Alleine gelassen habe ich dich nicht wirklich«, sagte sie leise. »Ich habe dich bei Joachim gelassen. Offensichtlich ist er ein guter Vater. War er schon immer.«
»Ja, er ist ein guter Vater. Nur mit meiner Mutter hatte ich weniger Glück.« Umgehend schämte er sich für diese Spitze. Hätte er sich bloß nicht zu ihr gesetzt.