Tief im dunklen See - Amy Nordberg - E-Book
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Tief im dunklen See E-Book

Amy Nordberg

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Beschreibung

Eine grausam zugerichtete Leiche und ein Dorf, das sich in Schweigen hüllt
Der spannende Psycho-Krimi über menschliche Abgründe

Einer Brandserie rund um den Schluchsee folgt der Fund zweier bestialisch verstümmelter Leichen. Die Toten wurden nicht nur kunstvoll zur Schau gestellt, sondern weisen auch versengte Gliedmaßen auf. Für die Dorfbewohner des beschaulichen Schwarzwaldortes steht fest, der „Kohlebruckner“ ist erneut den Tiefen des Sees entstiegen, um Rache zu üben. Die eigenbrötlerische Kommissarin Helen Winter glaubt nicht an die Schauergeschichten und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Die grausamen Leichenfunde setzen ihr zwar zu, doch die Aufklärung der Morde ist ihre einzige Möglichkeit, die drohenden Konsequenzen des gegen sie angestrebten Dienstverfahrens abzuwenden. Helen beginnt, tief in der Vergangenheit des Ortes und seiner Einwohner zu graben. Obwohl sich das ganze Dorf in Schweigen hüllt, kommt sie dabei dem Täter gefährlich nahe. Und schon bald steht Helen selbst im Fadenkreuz …

Erste Leser:innenstimmen
„Spannend, kurzweilig und mitreißend. Nicht nur für Regionalkrimi-Fans!“

„Ein abergläubiges Dorf und brutal aber ästhetisch drapierte Leichen. Amy Nordbergs Kriminalroman ist ein richtiger Page-Turner.“
„Die sonderbare Dorfpolizistin Helen Winter ist eine interessante Protagonistin und der Fall schaurig packend. Keine Gutenachtgeschichte! “
„Der verwunschene Schwarzwald ist die perfekte Location für den packenden Thriller.“

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Seitenzahl: 419

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Über dieses E-Book

Einer Brandserie rund um den Schluchsee folgt der Fund zweier bestialisch verstümmelter Leichen. Die Toten wurden nicht nur kunstvoll zur Schau gestellt, sondern weisen auch versengte Gliedmaßen auf. Für die Dorfbewohner des beschaulichen Schwarzwaldortes steht fest, der „Kohlebruckner“ ist erneut den Tiefen des Sees entstiegen, um Rache zu üben. Die eigenbrötlerische Kommissarin Helen Winter glaubt nicht an die Schauergeschichten und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Die grausamen Leichenfunde setzen ihr zwar zu, doch die Aufklärung der Morde ist ihre einzige Möglichkeit, die drohenden Konsequenzen des gegen sie angestrebten Dienstverfahrens abzuwenden. Helen beginnt, tief in der Vergangenheit des Ortes und seiner Einwohner zu graben. Obwohl sich das ganze Dorf in Schweigen hüllt, kommt sie dabei dem Täter gefährlich nahe. Und schon bald steht Helen selbst im Fadenkreuz …

Impressum

Erstausgabe April 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-965-6 Hörbuch-ISBN: 978-3-98778-971-7 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-075-4

Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Jamie, © Bartek, © Roman shutterstock.com: © Chris Sagherian, © Petr Ganaj, © mapman, © KRIT GONNGON Lektorat: Astrid Pfister

E-Book-Version 22.04.2024, 08:51:48.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Tief im dunklen See

Kapitel 1

Dunkel breitete sich der See zu ihren Füßen aus. Die Regentropfen hämmerten auf seine Oberfläche ein, dennoch schien er seltsam unbeteiligt. Sie ließ den Blick zu den Tannenwipfeln schweifen, die die gegenüberliegende Uferseite säumten. Zwei Tage zuvor hatte sie genau hier gestanden, in der einsetzenden Dämmerung des frühen Morgens. Bis auf den Rauch, der sich wie grauer Dunst über die Nadeln erhob, war alles so gewesen wie heute. Der Regen hatte eingesetzt und sein Übriges getan, um die Löscharbeiten zu vereinfachen.

Sie schob die nasse Haarsträhne aus ihrem Gesicht hinter das Ohr und straffte ihren Zopf. Ihre Kleidung war durchweicht und das Wasser schien in jede Ritze zu kriechen. Es würde weiterregnen, morgen, übermorgen, den Tag darauf, die Straßen würden sich in reißende Bäche verwandeln.

Abler hatte sie vorgewarnt. Eine Hinrichtung. »Und ruf Theben an«, hatte er in den Hörer geblökt, bevor das monotone Tuten erklang. Sie hatte den Torso bereits vom Auto aus gesehen. Er trieb auf dem Wasser wie eine riesige, aufgequollene Plastiktüte. Arme und Beine waren nur noch Stummel, das Gesicht zur Unkenntlichkeit verkohlt. Das Schlimmste aber waren die Augen, die im Dreck des matschigen Ufers wie weiße Murmeln auf den See blickten. Automatisch hatte sie die rechte Hand in die Hosentasche gleiten lassen und die kleine Kugel darin fest umschlossen. Im selben Augenblick war ihr klar geworden, dass die Glasmurmel ihren Zauber für immer verloren hatte.

Während sich ihr direkter Vorgesetzter und Leiter des kleinen Polizeipostens Polizeihauptkommissar Erich Abler mit den Kollegen des Erkennungsdienstes um den Fundort an der Anlegestelle neben der Gaststätte drängte, waren ihre Füße einfach auf dem schmalen Waldweg weitergelaufen. Irgendwann hatten sie sich tief in den Matsch des Uferbereichs eingegraben. Zur Reglosigkeit waren auch ihre Augen erstarrt, die sich in den Tiefen des Stausees verloren, der sich dunkel unter den Nadelbäumen ausbreitete, seine Oberfläche glatt und undurchdringlich. Der tote See.

Mit einem Ruck löste sie sich von dem Anblick. Sie musste zurück. Unter ihr schmatzte es, als sie sich umdrehte und der Matsch widerwillig ihren Fuß freigab. Aber irgendetwas hielt sie fest. Noch einmal drehte sie sich um und blickte in die Düsternis des Sees.

Das Brennen setzte ohne Vorwarnung ein. Ein unterdrückter Schrei entfuhr ihren Lippen und ihre Hand schnellte den klammen Stoff der Cargohose hinab und blieb auf dem unsichtbaren Mal liegen. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie ein Tropfen langsam ihren Nasenrücken herunterlief, so, als wolle er ihr Gesicht in zwei Hälften zerteilen. Es hatte wieder Feuer gefangen.

»Helen, verdammt! Wo bleibst du?«

Ablers Stimme ließ sie zusammenzucken. Einen Augenblick aus dem Gleichgewicht gebracht, kämpfte sie gegen das plötzliche Bedürfnis an, sich in die Gaststätte zu entschuldigen, um sich auf der Toilette die Hände zu waschen. Die Feuchtigkeit fraß sich durch ihre Schuhe und die Uniform und doch sehnte sie sich danach, die eisigen Nadelstiche zu spüren, die ihre Gedanken betäuben und ihren Geist beruhigen würden. Die Wirtin, die die Gaststätte am See betrieb, wäre sicher wenig erfreut über den frühmorgendlichen Besuch. Wieder drang die Stimme von Abler zu ihr durch. Sie musste zurück.

Eine Bewegung riss sie aus ihrer Starre. Sie hob den Kopf und sah Gunnar auf sich zukommen, den Hünen, dessen Schritte so dynamisch wirkten wie die eines Tänzers. Er lächelte sie an. War ihm bewusst, dass er ihr Fels war, ihr Rettungsring, ihr Anker? Dass sie die Art, wie er die Dunkelheit um sie herum mit seiner herrlichen Zahnlücke einfach weggrinste, aufrichtig liebte? Er war noch nicht lange in Süddeutschland. Ursprünglich kam er aus dem hohen Norden, aber die Liebe hatte ihn einst in den Schwarzwald gezogen. Die Liebe war gegangen, hatte er ihr erzählt. Gunnar war geblieben.

Sie erwiderte sein Lächeln und einen winzigen Augenblick lang hüpfte ihr Herz. Aber in seinem Blick lag etwas, das sie zutiefst beunruhigte.

»Die Frau ist verbrannt«, sagte sie leise.

Gunnar stellte sich neben sie, den Blick auf die Oberfläche des Sees gerichtet, der dunkel, beinahe schwarz um diese Stunde erschien, wenn die Tannen, die ihn begrenzten, das Licht schluckten. Wie stumme Soldaten.

Schweigend beobachteten sie, wie Professor Wentzel seinem silbergrauen Mercedes-Benz X-Klasse entstieg und zu ihnen herüberwankte. Der Rechtsmediziner war seit gut einem Jahr in der Freiburger Forensik und bereits unverrückbar wie ein Stein. Seine Lorbeeren hatte er sich an der LMU München verdient, Freiburg aber war seine Bestimmung. Er war ebenso groß wie Gunnar, übertraf dessen Bauchumfang jedoch um ein Vielfaches. Seine Augen, die wie dunkle Knöpfe zwischen den fleischigen Backen hervorlugten, blitzten sie an, als er sich vor ihr aufbaute und polterte: »Jessas Maria, verstecken S’sich schon wieder, Frau Kommissarin?«

Helen versuchte, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken, wollte etwas erwidern, aber die Stimme von Abler beendete die Situation. Fluchend wuchtete der Mediziner seinen Körper zur Anlegestelle. Helen hörte das Dröhnen seiner Anweisungen wie durch Watte.

»Helen«, sagte Gunnar leise. »Geh rüber zu den beiden. Wenn du deinen Job hier behalten willst, solltest du Abler keine weiteren Argumente geben, dich wegzuloben.«

»Na Fräulein Winter, sand’S wieder von den Toten erwacht? Mei, dann kennan’S ja zur Abwechslung mal mit anpacken, oder Abler?« Wentzels Backen verdeckten seine Augen beinahe vollständig als er in schallendes Gelächter ausbrach und ihrem Vorgesetzten beifallheischend in die Rippen stieß. Helen nahm zwei Männer wahr, die einem schwarzen VW Passat entstiegen und in ihre Richtung liefen, einer der beiden kam ihr bekannt vor.

»Ah, die Herren Kriminalinspektoren sand kemma.«

»Helen, geh’ doch bitte mal rüber zum Kollegen von der Dienststelle«, Abler zeigte zu dem Polizisten, der zusammen mit einem älteren Herrn in Trainingshose hinter dem Absperrband stand, »und übernimm die Befragung des Joggers. Er hat die Leiche heute früh gefunden.«

Helen machte auf dem Absatz kehrt. Sie spürte, wie die Röte in ihrem Gesicht aufstieg. Der Kollege war vor ihr am Fundort eingetroffen und hatte Abler bereits Bericht erstattet. Die erneute Befragung war eine reine Beschäftigungsmaßnahme. Man würde sie ausschließen. Es würde sie noch nicht einmal wundern, wenn Abler den Kollegen Schrenk in den Fall involvieren würde. Schrenk mit der Kettensäge, der vor ihrem Stuhlbein lauerte, wie Gunnar sich ihr gegenüber einmal ausgedrückt hatte.

»Und nimm Theben mit, wenn der schon hier ist«, hörte sie ihn hinter sich herrufen. Theben. Abler nannte ihn immer beim Nachnamen. Sie selbst war für ihn Helen, aber das hatte nichts Kollegiales an sich.

Wie erwartet, hatte die Befragung keine weiteren Erkenntnisse hervorgebracht. Der Mann war bei seiner morgendlichen Joggingrunde auf die Leiche gestoßen, als er den schmalen Fußweg entlang der Staumauer von Seebrugg auf die gegenüberliegende Uferseite genommen hatte. Aus dem Augenwinkel hatte er sie gesehen, an der Rampe, direkt unterhalb der Brücke. Er habe zuerst gedacht, jemand hätte seinen Müll im Wasser entsorgt – bei der Schilderung war Helen einen Schritt zur Seite getreten, um das Bild der Leiche, die wie eine riesige Mülltüte auf dem Wasser trieb, zu verscheuchen. Die Augen hatte er zunächst nicht entdeckt. Nichts Auffälliges gesehen, nichts gehört.

Sie hatte die geschlossene Schranke passiert, war dem Waldweg zur Gaststätte, einem lang gestreckten Holzgebäude mit gläsernem Wintergarten, gefolgt, hinter dem, links und rechts des Weges, eine Handvoll Boote auf das nächste Frühjahr zu warten schienen. Linkerhand war der Weg von Wald gesäumt, rechterhand gab er den Blick auf den See und die gegenüberliegende Uferseite frei. Sie hatte den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Hals hochgezogen und die Hände tief in ihren Taschen vergraben. Kalt war es gewesen, unwirtlich. Der Novemberwind hatte seine eisigen Finger über den See gestreckt, an den widerspenstigen Ästen gerüttelt, die ihre letzten Blätter kühn in die Luft reckten und dem nahenden Winter trotzten. Grau ragten die wie achtlos in die Landschaft geworfenen, moosbedeckten Felsbrocken aus dem Waldboden, der nicht mehr zu sein schien als ein Laubbett. Wie Grenzposten standen die dunklen Tannen an der steilen Böschung, in ihrem Rücken ein ganzes Heer. Helen war in der Mitte des Weges stehen geblieben. Reglos wie ein Schwamm hatte sie die Szenerie in sich aufgesogen.

Dann hatte sie es gerochen. Wie ein Fuchs, der die Fährte aufnimmt, hatte sie den Waldweg verlassen und war die steile Böschung hinaufgeklettert.

»Bin da, Herr Abler«, murmelte sie in den Kragen ihrer Uniform, als sie zu ihm in den Wagen stieg. Seit ihrer Vereidigung trug sie Uniform. Daran war nicht zu rütteln. Weder ihr Aufstieg zur Polizeioberkommissarin noch die spöttischen Bemerkungen ihrer Kollegen hatten daran etwas ändern können. Sie war Polizistin. Seit genau elf Jahren, drei Monaten und zwölf Tagen. Und Polizisten trugen Uniform.

Abler richtete sich geräuschvoll auf seinem Sitz auf und startete den Motor. Just in diesem Moment ertönte blechern Wagners Ritt der Walküren. Fluchend machte er den Motor wieder aus, zerrte hektisch an seiner Regenjacke und fand schließlich den Knochen, wie Ablers in die Jahre gekommenes Handy spöttisch hinter seinem Rücken genannt wurde. Sie war sich sicher, dass es ihm nicht entgangen war. Aber Abler, das hatte Helen früh kapiert, war kein Mann, der etwas darauf gab, was andere von ihm dachten, geschweige denn, sagten.

»Ja?«, schnaubte er ungehalten ins Telefon.

Helen blickte noch immer stur geradeaus, unfähig, den Gedanken an ein Waschbecken abzuschütteln.

»Liebes!« Ablers Stimme hatte schlagartig einen anderen Klang angenommen. Überrascht blickte Helen zu ihrem Vorgesetzten und registrierte ein Lächeln auf dessen Lippen, das sein düsteres Gesicht beinahe freundlich erscheinen ließ. Faszinierender aber war die Wärme, die das Auto förmlich flutete, sich auf die Fensterscheiben des Passats legte und den trüben Morgen weichzeichnete.

Stefanie! Zwischen die freudebeschlagene Fensterscheibe schob sich ein anderes Bild. Es zeigte das kleine Mädchen, wie es vor einigen Jahren vor der Tür des Polizeipostens gestanden und nach ihrem Vater gefragt hatte. Helen hatte sie augenblicklich ins Herz geschlossen.

»Am Freitag, Liebes. Ganz bestimmt!«

Einige Sekunden verstrichen, Helen starrte noch immer gebannt auf Ablers Gesicht, dessen Züge sich erneut verändert hatten. Überraschung, Wut, Enttäuschung, ging sie im Geiste mögliche Emotionen durch und verwarf sie wieder. Ablers Gesicht wirkte unbeweglich, aber seltsam straff, sein Atem ging flach. Anspannung! Was hatte diese hervorgerufen? Angst, Unsicherheit? Helen wollte ihre Überlegungen fortführen, aber Ablers Worte rissen sie aus ihren Gedanken.

»Auf geht’s!« Er startete den Motor ein zweites Mal und lenkte den Dienstwagen auf die Landstraße in Richtung Lenzkirch.

»Erich. Guten Morgen! Schon zurück?«

»Carsten.« Abler nickte Polizeikommissar Schrenk knapp zu und verschwand in seinem Büro.

»Na Helen, Regenjacke vergessen?«

Sie spürte den prüfenden Blick des Kollegen auf ihrer durchnässten Uniform und wandte sich ab. Der schale Geschmack, der sich in seiner Gegenwart auf ihrer Zunge ausbreitete, war zurück. Sein Geruch lähmte sie.

Ohne die Jacke ihrer Uniform abzulegen, eilte sie durch das Büro und lief in Richtung Badezimmer. Sie beobachtete, wie das eiskalte Wasser über ihre Finger rann und wurde augenblicklich ruhiger. Ihr Blick blieb einen Moment lang an ihrem Spiegelbild kleben: Das Gesicht war gerötet, einzelne Strähnen klebten an ihrem Kopf, die ungeschminkten Augen starrten müde durch sie hindurch. Sie würde duschen! Beinahe freudig hastete sie aus der Tür den Gang entlang und kramte eines der Handtücher aus ihrem Spind. Beim Aufstoßen der schweren Tür zum Duschraum spürte sie eine angenehme Taubheit dort, wo das kalte Wasser minutenlang über ihr Handgelenk geflossen war.

Als sie fünfzehn Minuten später in frischer Uniform das kleine Dienstbüro betrat, ließ sie sich erleichtert in ihren Stuhl sinken. Schrenk und Abler hatten den Posten bereits verlassen.

»Helen! Frisch geduscht und wiederhergestellt?«

Sie zuckte zusammen, entspannte sich jedoch augenblicklich, als sie Gunnars Stimme erkannte. Sie spürte, wie sich ihr Mund zu einer Art schiefen Lächeln verzog beim Anblick des Riesen mit der herrlichen Zahnlücke.

»Frühstück?«

29. Oktober, 2022

Roswitha stemmte ihren mächtigen Körper gegen die Eingangstür und stolperte ins Innere. Dunkelheit und Staub schlugen ihr entgegen. Hustend tasteten ihre Hände die Wände ab und fanden schließlich einen Lichtschalter. Nichts. Verdammt, natürlich hatte man der Alten längst den Strom abgestellt! Fluchend presste sie sich von innen erneut gegen die schwere Tür, in der Hoffnung, das letzte Tageslicht würde zumindest den Flur erhellen. Aber hier, umgeben von dichten Nadelbäumen, schien sich nicht ein einziger Lichtstrahl in die Düsternis zu wagen. Warum hatte sie auch keine Taschenlampe dabei? Kurz überlegte sie, umzudrehen. Einfach wieder zurückzukehren. Durch die einsetzende Dunkelheit zur Bushaltestelle. Die Straße entlang, die mitten durch den Wald führt. Hoffen, dass um diese Zeit noch ein Bus hier hält. Sie spürte, wie heiße Wut in ihr aufstieg, als sie die Rücklichter des Busses wieder vor sich sah, der weiter die Straße in Richtung Blasiwald gefahren war. Es hatte sie ganze zwanzig Minuten gekostet, vorbei an der schmalen Straße, die sich wie eine Schnur durch den Wald zog. Die schwarz-roten Holzstäbe, die sie rechts und links säumten, gaben ihr eine dumpfe Vorahnung auf den drohenden Winter. Noch am Bahnhof von Seebrugg hatte sie den Fahrplan studiert. Linie 7319 nach Sankt Blasien. Lediglich die Haltestellen SeebruggStraßenkreuzung, Staumauer und Abzweigung Blasiwald waren aufgelistet, bevor der Bus seine Weiterfahrt in den nächsten Ort fortsetzte. Wie sollte man ahnen, dass der verfickte Bus in Blasiwald eine Schleife fuhr? Unter Fluchen hatte sie das herausgefunden, als der Bus wenige Minuten später in entgegengesetzter Richtung an ihr vorbeigefahren war. Den Fehler würde sie nicht noch einmal machen. Ein verfluchtes Auto bräuchte man!

Sie würde jedenfalls nicht umkehren. Es würde kein Bus fahren und vom Laufen in dieser Scheißkälte hatte sie die Schnauze gestrichen voll. Sie war müde und ausgelaugt, spürte jeden Knochen schmerzen. Wie nach einem verdammten Dauerlauf, dachte sie, dabei hatte sie den ganzen Tag nur im Zug herumgesessen. Siebeneinhalb Stunden! Siebeneinhalb Stunden, die sie getrost um drei Stunden hätte abkürzen können, hätte sie verflucht noch mal die Kohle für ein ICE-Ticket gehabt! Jetzt stand sie hier, in der verschissenen Bruchbude, eingehüllt in eisige Schwärze. Sie stieß einen dumpfen Schrei aus, der sich irgendwo in der Dunkelheit verlor. Dann fiel es ihr ein. Sie kramte in der Jackentasche und zog das Mobiltelefon hervor. Abgesehen von dem zerkratzten Display funktionierte es einwandfrei. Obwohl es zu wenig anderem zu gebrauchen war, als zum Telefonieren und die Uhrzeit abzulesen, so hatte es doch wenigstens eine Taschenlampenfunktion. Erleichtert tippte sie auf das Icon und richtete den Lichtkegel ins Innere des Gebäudes.

Kapitel 2

»Frau Winter. Grüß Gott! Eine Tasse Earl Grey und eine Seele mit Käse und Tomate, wie immer?«

Abwesend nickte Helen der Frau hinter der Theke zu, die sich bereits ihrem Kollegen zugewandt hatte.

»Und der Herr Theben, welch Freude! Wie geht’s? Man hört, es hat schon wieder gebrannt. Wisst ihr schon mehr?«

Helen zückte ihr Portemonnaie, zählte die üblichen 5,20 Euro ab und legte sie auf die Geldunterlage des Tresens. Sie hatte keine Lust, sich dem Small Talk der Mitarbeiterin auszusetzen, ganz im Gegensatz zu ihrem Kollegen, der in der Bäckerei stets einige Minuten an der Theke zum Plaudern verweilte. Immerhin schien der Leichenfund noch nicht die Runde gemacht zu haben. Sie suchte sich einen Platz in der hinteren Ecke, von dem aus sie die gesamte Bäckerei im Blick hatte und schaute aus dem Fenster. Wie vermutet, war der Regen noch stärker geworden und der Himmel hatte ein dunkles Grau angenommen.

»Der Kohlebruckner war’s«, hörte sie eine alte Dame vom Nebentisch wispern.

»Geh, Gerda, des sind doch nur alte G’schichten!«

»Und doch hat’s jetzt das dritte Mal g’brannt am See. Innerhalb weniger Tag’. Des isch doch kei’ Zufall! Des war der Kohlebruckner, Margret, der Kohlebruckner isch z’rück! Wart’s ab, der kommt noch und holt sich einen!«

Helen spürte, wie die Hitze erneut in ihrem Körper aufstieg. In Gedanken stand sie wieder vor dem Gebäude, das lichterloh in Flammen stand und sich in der anbrechenden Dunkelheit wie eine Feuerkugel vor dem schwarzen See abzeichnete. Der erste Brand.

Ein Schwall Übelkeit stieg in Helen auf mit einer Plötzlichkeit, die sie aufspringen ließ. Mit dem Ärmel ihrer Dienstjacke blieb sie am Tisch hängen und registrierte im Vorbeistolpern wie sich dunkle Flüssigkeit über die Platte ergoss. Sie hastete in Richtung Toilette, drehte den Wasserhahn auf und wartete, bis das kalte Wasser die Hitze in ihrem Körper vertrieben hatte.

Als sie zurückkam, waren die beiden Damen verschwunden.

***

Gunnar stand mit zwei Tassen vor ihrem Tisch und die Verkäuferin war im Begriff, alles sauber zu wischen.

Er stellte den Tee vor Helens Platz ab und wartete, bis sie sich gesetzt hatte. Er beobachtete, wie sie fahrig nach der Tasse griff, daran nippte und sie wieder vor sich hinstellte. Sie wirkte erschöpft und ihre schmalen Lippen erschienen ihm spröder als sonst. Auch wenn Helens Sensor für soziale Beziehungen, sollte es so etwas geben, eindeutig nicht funktionierte, so war er sich sicher, dass ihr die Stimmung in der Abteilung nicht entgangen war. Ihr Kollege Carsten Schrenk hatte seine Mühen, Helen Steine in den Weg zu legen, seit einigen Wochen intensiviert und mehr und mehr schien das auch an Ablers Loyalität zu kratzen. Wenn Helen sich weiter herunterziehen ließ, würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis sie dem Druck nachgab.

Aufmunternd lächelte er ihr zu. Kurz haderte er mit sich, doch dann gewann die Neugierde die Oberhand und er fragte unvermittelt: »Kennst du eigentlich die Geschichte vom Kohlebruckner«?

Helen verschluckte sich an ihrem Tee, hustete und wandte sich kopfschüttelnd ab.

»Die Annalena hat mir eben erzählt, dass im Dorf darüber geredet wird. Irgendeine Legendenfigur, die im Schluchsee wohnt und Menschen mit Feuer bestraft. Kannst du dir das vorstellen? Verrückt, oder?« Er gluckste amüsiert. »Diese Dörfler! Mann, Mann, ich gewöhn’ mich daran garantiert nicht so schnell!«

»Was denkst du, wer dahintersteckt?«, fragte Helen.

»Wenn ich das nur wüsste! Diese Brände würde ich noch nicht mal als Eigentumsdelikte bezeichnen. Du hast die ollen Schuppen ja gesehen. Wertlose Waldhütten, nicht mal bewohnt. Ein Dummer-Jungen-Streich vielleicht.« Er musterte seine Kollegin, die noch immer verkrampft auf ihrem Stuhl saß, die Lippen fest aufeinandergepresst.

Ihr Verhalten beunruhigte ihn bereits seit geraumer Zeit. Wann hatte es angefangen? Als sie ihn am Morgen angerufen hatte, war ihm jedenfalls auf Anhieb klar gewesen, dass sie in Not war. Vermutlich war es ihre Stimme gewesen, die nicht so monoton wie sonst geklungen hatte. Er stellte sich vor, wie sie am Küchentisch gesessen hatte, zwei Scheiben Marmeladentoast und den obligatorischen Earl Grey vor sich – bei dem Gedanken daran musste er grinsen. Vermutlich hatte sie noch ihren seltsamen bunten Fisch gefüttert, nachdem der Chef angerufen und sie zum Einsatzort zitiert hatte, den Reißverschluss ihrer Dienstjacke ordentlich bis über den gestärkten Hemdkragen geschlossen und eine neue Murmel aus dem Holzkästchen ihres Kleiderschranks in die Hosentasche gesteckt, bevor sie losgefahren war. Er hatte die Leiche, oder das, was von ihr übrig geblieben war, bereits durch die Windschutzscheibe gesehen, noch bevor er den Motor abgestellt hatte. Die Leiche war aber nicht der Grund, warum er gekommen war, als Helen ihn angerufen hatte. Ein Stück weit wunderte er sich darüber, dass Abler keine Einwände hervorbrachte, wenn Helen ihn, ohne dessen explizite Anweisung, miteinbezog. Als Polizeiobermeister gehörte es schließlich nicht zu seinen Dienstaufgaben, seine Kollegin bei ihren Einsätzen zu begleiten. Seit sie ihren Dienst in Lenzkirch vor einigen Jahren angetreten hatte, ließ der Chef keine Gelegenheit aus, Helen vorzuführen. Er hatte danebengesessen, als Abler ihr nach ihrem ersten Einsatz mitgeteilt hatte, dass er sie für den Polizeidienst für ungeeignet befand. Seither stocherte er in ihren Untiefen wie die Taucher auf dem Grund des Schluchsees. Warum Abler bei dieser Sache schwieg, konnte er sich nur damit erklären, dass dieser die Handlungsfähigkeit der Abteilung sicherstellen wollte – zumindest so lange, bis sie versetzt werden würde. Er hegte keinerlei Zweifel daran, dass man die Kettensäge bereits an Helen Winters Stuhl angesetzt hatte.

»Was hältst du davon, ein paar Tage Urlaub zu nehmen?«, schoss es unvermittelt aus ihm heraus. »Dich entspannen, vielleicht ein bisschen in die Wärme fliegen? Oder willst du deine Urlaubstage mit ins Grab nehmen? … Helen?«

»Wir müssen los.«

Helens energische Bewegung, mit der sie vom Stuhl aufsprang, ließ ihn zusammenzucken. Einen Moment lang war er verwirrt, dann dämmerte es ihm. Urlaub. Sie hatte ihm erzählt, nur ein einziges Mal in ihrem Leben Urlaub gemacht zu haben – eine Erfahrung, auf die sie kein weiteres Mal Wert lege. Als sie ihm haarklein erläutert hatte, wie sie bereits Wochen zuvor alle möglichen Unwegsamkeiten im Kopf durchgespielt hatte, mit dem Ergebnis, dass noch nicht einmal der Zug pünktlich, geschweige denn auf dem richtigen Gleis, abgefahren war und alle mühsam im Vorfeld ausgedruckten Fahrpläne samt Alternativen bereits vor Abfahrt obsolet geworden waren, hatte er Tränen gelacht. An das, was anschließend passiert war, daran hatte sie keinen Zweifel gelassen, mochte sie noch nicht einmal mehr denken. Urlaub machen, da war er sich sicher, würde sie in Zukunft anderen überlassen.

»Warum lachst du, Gunnar?«

***

»So, sind wir vom Kaffeekränzchen zurück, Frau Kollege?« Schrenk blickte Helen abschätzig an, wandte sich jedoch wieder seinem Computerbildschirm zu, als Abler den Raum betrat.

»Ich will den Bericht in zwei Stunden auf meinem Schreibtisch, Helen. Ist Gunnar schon im Kurpark?«

Sie nickte knapp. Ihr Kollege hatte sich bereits vor dem Café von ihr verabschiedet und war zu dem nahe gelegenen Park geschlendert, als sie ihn auf die Uhrzeit aufmerksam gemacht hatte. Gunnar trug keine Armbanduhr und schien es die meiste Zeit auch nicht für notwendig zu halten, einen Blick auf sein Smartphone zu werfen. Wie Gunnar so durchs Leben kam, war nur eines der vielen Rätsel, die der Mann ihr aufgab.

Sie schob sich an Schrenks Arbeitsplatz vorbei und startete den Computer.

»Während Gunnar und du mit Kaffeetrinken beschäftigt wart, oder was auch immer ihr beiden getrieben habt, Frau Kollege«, Schrenk verzog seinen Mund zu einem ausdruckslosen Schlitz, »sind hier die Leitungen heiß gelaufen.«

Schrenk spielte auf den Vorfall an, der sich vor einigen Tagen im Kurpark zugetragen hatte. Zwei junge Mädchen hatten ausgesagt, sexuell belästigt und attackiert worden zu sein, ein Unbekannter hatte versucht, eine der beiden in seinen Wagen zu drängen. Seither gingen immer wieder Anrufe besorgter Dorfbewohner ein, die es zu beruhigen galt – nicht Helens Stärke. Abler hatte zeitweilige Polizeipräsenz im Park angeordnet.

»Aber ich hab sie beruhigt, die besorgten Bürger, die sich nicht mehr in den Park trauen. Die Frau Oberkommissar ist anderweitig beschäftigt, keine Sorge, habe ich gesagt.«

Irritiert blickte sie in seine Richtung.

»Ja, ist schon besser so, dass der Gunnar die Kurstreife übernimmt. Nicht dass die Frau Oberkommissar wieder unschuldige Spaziergänger mit einer Druckpunktmassage niederstreckt.«

Helen spürte, wie die Glut in ihren Kopf stieg. Sie ließ die Hände in die Taschen ihrer Uniformhose gleiten und ballte sie zu Fäusten. Dabei streifte sie die Glasmurmel. Mit der rechten umkrallte sie den Kubotan, den kleinen Metallstift mit der Spitze, den sie stets bei sich trug. Sie hatte den Schlagkraftverstärker während ihrer Polizeiausbildung beim Krav Maga kennen- und bald schon lieben gelernt. Während ihre Kollegen bevorzugt die einfachen Techniken anwendeten, die auch in Situationen äußersten Stresses automatisch abgerufen werden konnten, hatten die sogenannten Nervendruck- oder Schmerzpunkte ihr Interesse geweckt.

Der Kubotan war schnell zu ihrem stillen Begleiter geworden, den sie im Zweifelsfall punktgenau einzusetzen wusste. Und er unterlag nicht dem Waffengesetz. Die zwei Typen im Kurpark, die sie niedergestreckt hatte, waren geflüchtet. Weder waren es harmlose Spaziergänger, wie Schrenk es darstellte, noch war ihre Reaktion unverhältnismäßig gewesen.

Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und grub mit aller Gewalt die Fingernägel in ihr Fleisch. Langsam atmen. Sitzenbleiben. Er wollte sie provozieren, aber sie würde ihm nicht die Genugtuung geben, die Wut herauszulassen. Schrenk kannte wie kein anderer Helens Schwachpunkte und sie spürte, dass er es genoss, seine Macht gegen sie auszuspielen. Sie durfte nicht reagieren, musste ihre Wut, die manchmal wie ein Orkan über sie hinwegfegte und alles niederriss, was ihr in den Weg kam, unbedingt bremsen. Bericht tippen. Einige Sekunden starrte sie auf das grün blinkende Licht des Monitors, dann gab sie das Passwort ein.

Ein Poltern riss sie aus der Arbeit. Ihr Kopf schnellte zur Eingangstür, vor der sie Ablers bärigen Körper erkannte. Dann wurde die Tür aufgerissen und eine zierliche Gestalt drängte sich am Bauch des Kommissars vorbei und stürmte ins Innere. Stefanie! Im seidigen Haar der Siebenjährigen steckte ein quietschgelbes Kunstblümchen und Helen bemerkte, dass sie auch heute ihre knallroten Lackschühchen trug. Ob sie damit der Kälte oder ihrem alternden Vater trotzte, vermochte sie hingegen nicht zu sagen.

Das Mädchen rannte über den Teppichboden, vorbei an ihrem Kollegen, und fiel ihr jauchzend in die Arme. Helen schreckte zurück, spürte aber, wie ihr warm in der Brust wurde bei der Umarmung. Ein Zuviel an menschlicher Nähe war ihr sonst zuwider. Bei Stefanie war das jedoch anders.

»Helen, darf ich sie kurz bei dir lassen? Ich muss nach Neustadt aufs Revier, bin aber spätestens in einer Stunde zurück.«

»Natürlich«, antwortete sie und schob Stefanie sanft von sich. Sie zog Gunnars Stuhl zu ihrem Schreibtisch heran, öffnete eine Schublade und legte Buntstifte und Papier auf die Tischplatte.

»Zeichnest du mir ein Monster?«, fragte das Mädchen.

»Aber nur den Umriss, den Rest machst du!«

Sie hatte bereits einen Bleistift aus ihrer Schublade gezogen und wollte sich dem Blatt zuwenden, hielt jedoch in der Bewegung inne und betrachtete den scharf angespitzten Stift. »Wie soll das Monster aussehen?«

»Grün. Groß und böse soll es aussehen, mit Tatzen wie ein Bär und scharfen Krallen daran, an denen Blut klebt. Der Kopf soll aussehen wie der von einem Wolf und es hat Flügel, ganz riesige, in schwarz. Außerdem speit er Feuer.«

Mit flinken Strichen zeichnete Helen die Kontur eines Bären, der eine seiner dicken, mit scharfen Klauen besetzten Tatzen drohend gen Himmel reckte, setzte ihm einen Wolfskopf auf, aus dessen Maul riesige Zähne klafften, begann dann, die gigantischen schwarzen Flügel zu konturieren, die sie mit kleinen Schuppen versah. Einen winzigen Augenblick hielt Helen inne, als sie eine lodernde Flamme zeichnete, die geradewegs aus den geblähten Nüstern des Tieres schoss. Dann schob sie das Papier zu dem Mädchen hinüber.

»Wow!«

»Du kannst das Monster grün machen. Außerdem fehlt ihm noch das Gesicht und ein struppiges Fell.«

»Ich nenne es Grind!«

Helen hatte sich wieder ihrem Bericht zugewandt und Stefanie war darin vertieft, dem Monster mit ihren Buntstiften Leben einzuhauchen, als sie auf einmal eine Bewegung hinter sich wahrnahm. Ihr Blick fiel auf Schrenk, der aus dem Nichts hinter Stefanie aufgetaucht war und sich über das Bild beugte.

»So ein liebes Mädchen malt so ein böses Monster?«

Sein beißendes Aftershave ließ Helen erstarren. Dann richtete sie sich mit einem Ruck auf, zog den rollbaren Bürostuhl, auf dem das Kind saß, ein Stück zu sich und pflanzte sich vor ihrem Kollegen auf.

»Das«, sie machte eine ausladende Geste, »ist mein Schreibtisch! Verlassen Sie augenblicklich meinen Teil des Büros!«

»Schon gut, schon gut.« Schrenk machte eine abwehrende Bewegung und ging einen Schritt zurück. »Die Frau Polizeioberkommissar hat anscheinend ihre Tage.«

Wieder spürte Helen den Blick seiner sumpfigen Augen auf ihr, diesen Blick, der ihr stets zuwider, aber nie greifbar war.

Schrenk bewegte sich in Zeitlupentempo zu seinem Arbeitsplatz zurück und ließ sich geräuschvoll auf seinen Stuhl sinken. »Die Frau Oberkommissar nimmt die Dinge genau. Wäre nur schön, wenn das auch auf ihren Polizeidienst abfärben würde.«

Helen biss ihre Zähne zusammen und spürte, wie sich ihr Körper weiter verkrampfte. Sie hatte einen Fehler gemacht und Schrenk würde nicht aufhören, sie das spüren zu lassen.

13. Oktober, 1989

Das Stimmchen irrte durch den Raum, streifte die dunklen Wände und verlor sich im Nichts.

»Sing weiter!«, befahl die zweite Stimme.

Der Schemen rührte sich nicht, nur ein Wispern war aus seiner Ecke zu vernehmen.

Schwarz ist dein Mäntelein

Vater dir’s gab

Bub’ bis –

»Sing! Du sollst es singen!«

Leise setzte der Gesang wieder ein.

Bub’ bis ich wiederkomm’

Sei du fein brav.

Fütter das Öfelein

Bald ist es Nacht-

Jäh brach das Stimmchen ab, ein metallischer Klang, gefolgt von einem Wimmern aus der Ecke, hastige Bewegungen in der Dunkelheit, das Knarren einer Diele.

»Mach es!« Eine dritte Stimme, tiefer als die andere, drängend.

Noch einmal knarrte die Diele, dann riss ein Schrei die Dunkelheit in Fetzen.

Kapitel 3

»In fünf Minuten im Konferenzraum.«

Ablers Stimme riss Helen jäh aus der Arbeit. Direkt nach ihrer Frühstückspause mit Gunnar hatte sie angefangen, den Bericht zu schreiben. Abler hatte ihr die Aufgabe zugewiesen. Schon wieder. Seither waren Stunden vergangen. Stunden, in denen sie vor dem flimmernden Bildschirm gesessen und auf die leere Seite gestarrt hatte. Sie speicherte das Textdokument, das sie irgendwann doch noch mit Buchstaben hatte füllen können, ließ ihren Rücken gegen die Lehne sinken und schloss kurz die Augen.

Als Helen den Konferenzraum betrat, ein etwa dreißig Quadratmeter großes Zimmer im Siebziger-Jahre-Bau des Polizeipostens, in dessen Mitte mehrere Tische zu einem bizarren Gebilde arrangiert standen, war Gunnar gerade dabei, Kaffee für die Belegschaft herzurichten. Wärme durchfuhr ihren Körper, als sie ihn an einem der Tische mit der Kanne hantieren sah.

»Und Schwarztee für meine liebe Kollegin.« Mit einem breiten Grinsen entblößte er seine Zahnlücke und Helen musste unwillkürlich lächeln.

»Danke, Gunnar.«

Schon bevor er das Zimmer erreicht hatte, hörte sie die Sohlen von Ablers schweren Dienststiefeln auf den Flex-Platten. Hinter ihm, in geringer Entfernung, befand sich Schrenk, ebenfalls in Stiefeln, seine Schritte klangen dumpfer.

Die Männer setzten sich. Abler nickte Gunnar knapp zu, der beiden daraufhin eine dampfende Tasse auf den Tisch stellte.

»Die Gerichtsmedizin hat erste Ergebnisse.«

Helen registrierte, wie Gunnar in der Bewegung innehielt. Auch Schrenk wandte seinen Blick von Helen ab und fixierte den Hauptkommissar.

»Die Obduktion dauert länger als erwartet. Die Leiche hat seit mindestens sechs Stunden im Wasser gelegen, was die DNA-Analyse deutlich erschweren wird. Gesicht und Gliedmaßen weisen auf schwere Verbrennungen hin. Die Augen scheinen post mortem entfernt worden zu sein.«

»Bravo.« Schrenk klatschte matt in die Hände. »Und für diese Erkenntnis haben wir stundenlang gewartet? Verkohlt war die Leiche, rabenschwarze Stummel statt Arme hatte sie!«

Schrenk machte Anstalten, sich zu erheben, aber Ablers düsterer Blick ließ ihn innehalten.

»Tod durch Ersticken, zwischen Mitternacht und spätestens zwei Uhr morgens. Es wurde kein Wasser in der Lunge gefunden. Vermutlich ein Stimmritzenkrampf, sprich trockenes Ertrinken. Ob die Verbrennungen dem Opfer post mortem zugefügt wurden oder nicht, ist noch unklar. Ungeklärt ist auch, ob wir es beim Fundort mit dem Tatort zu tun haben. Das Opfer war nackt, es wurden keine Kleidungsstücke oder persönlichen Gegenstände gefunden.«

»Alter?«

»Ich habe eben gesagt, dass keine persönlichen Gegenstände gefunden wurden, Carsten. Das Opfer war nackt und hatte keine Ausweisdokumente bei sich.«

»Das ist mir schon klar, aber der verehrte Professor kann doch sicherlich eine Hausnummer angeben? Oder müssen wir dann wieder neun Stunden warten?«

»Ottmar Wentzel«, Abler drehte den Kopf in seine Richtung und machte eine kurze Pause, »ist für die Freiburger Rechtsmedizin ein Glücksfall und das weißt du so gut wie ich. Wir haben alle gehofft, am Sonntag nicht bis abends hier sitzen zu müssen, aber wir haben es hier sehr wahrscheinlich mit einem Mordfall zu tun, Carsten. Jetzt reiß dich, verdammt noch mal, zusammen!« Beim letzten Satz schmetterte Abler die Faust auf den Tisch und Schrenk fuhr zusammen.

Nach einer Pause fuhr er fort: »Das Opfer ist weiblich und zwischen siebzig und achtzig – wie sich durch die Begutachtung der Knochenstruktur bereits feststellen ließ.« Abler bohrte seinen Blick in den von Schrenk. »Arme und Beine sind knie-, respektive ellenbogenabwärts verkohlt, an Oberschenkeln und Schultern ließen sich Brandmale finden.«

Schrenk pfiff durch die Zähne.

»Klingt nach einem Ritualmord«, warf Gunnar zögerlich ein.

»Könnte möglich sein.« Abler nahm einen Schluck aus seiner Tasse und Schweigen erfüllte das Zimmer.

»Die Kollegen von der Mordkommission kommen morgen früh. Helen, hast du den Bericht fertig?«

Sie nickte geistesabwesend.

»Was mir mehr Sorgen bereitet, als die Tatsache, dass wir eine Leiche im Schluchsee haben, ist die Tatsache, dass wir eine versengte Leiche im Schluchsee haben. Zusammen mit den abgebrannten Hütten der letzten Wochen, gebe ich euch Brief und Siegel, dass das Ärger bedeutet. Mal abgesehen von diesen Augäpfeln.«

Das Bild der trübweißen Murmeln, die auf den See zu starren schienen, drängte sich in Helens Gehirnwindungen. Dazwischen schoben sich die Worte der alten Damen im Café. Der Kohlebruckner holt sich noch einen. Mit voller Wucht flutete der See Helens Gedanken. Die Leiche, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Wie eine Plastiktüte auf dem dunklen Wasser. Ihr Magen hob sich. Mit einem Ruck sprang sie vom Stuhl auf, krallte sich in die Tischkante, um den Schwindel niederzuringen, dann stürmte sie in Richtung Badezimmer.

»Nichts für schwache Nerven«, hörte sie noch Schrenks höhnische Stimme aus dem Konferenzraum dringen.

29. Oktober, 2022

Roswitha trat einige Schritte hinein, ging den Flur entlang und verzog beim Anblick der Blümchentapete das Gesicht. Dann richtete sie den Lichtstrahl nach oben. Fassungslos blickte sie in den riesigen Raum, der sich vor ihr auftat.

Die Gewölbedecke des ersten Stockwerks war eingestürzt, ein schwerer Holzbalken ragte in die Mitte des Raums hinein. Mit angehaltenem Atem ließ sie den Lichtstrahl des Handys an den Wänden entlang irren. Eine millimeterdicke Staubschicht hatte sich auf den Schränken abgesetzt, das Balkenwerk schien umhüllt von Spinnweben zu sein. Sie fluchte innerlich. Es war schwer vorstellbar, dass in den letzten Jahren eine Menschenseele ihren Fuß hier hineingesetzt hatte. Vorsichtig tastete sie sich weiter nach vorne, ließ den Lichtkegel über die Fensterfront gleiten. Das zweite Fenster war gesplittert.

Sie war gerade im Begriff sich umzudrehen, als ihr Lichtstrahl auf etwas Helles fiel. Eine Bewegung! Roswitha erstarrte.

Sie hielt die Luft an, zwang sich, weiter geradeaus zu sehen. Aber ihr Herzschlag schien verräterisch die eisige Stille zu übertönen. Bumbumm. Bumbumm. Bumbumm. Mit zitternden Händen ließ sie das künstliche Licht herumirren und leuchtete die Ecken aus. Da! Vor Schreck entglitt ihr das Handy, fiel mit einem hellen Klack auf die alten Dielen. Augen. Eine Gestalt! Vor dem Fenster, was zur … Hechelnd bückte sie sich zu Boden, griff zitternd nach dem Handy, spürte das harte Plastik in ihrer Hand. Erstaunt registrierte sie die Wärme, die von dem Gerät auszugehen schien, fühlte den eigenen Herzschlag dagegen pochen. Sie richtete sich auf, drehte langsam den Oberkörper. Die Zähne fest aufeinandergepresst, richtete sie den Lichtkegel auf das Fenster. Bernstein leuchtete ihr entgegen. Eine Katze! Erleichtert atmete sie aus. »Fuck«, entfuhr es ihr. Sie lief die wenigen Meter zum Fenster und öffnete dieses. Der Stubentiger glitt lautlos durch den Spalt, maunzte und reckte ihr schnurrend das Köpfchen entgegen. »Na, kleiner Strolch?« Sie lachte auf. »Immerhin bin ich heute Nacht nicht allein hier!«

Kapitel 4

»Fünf Minuten zu spät, Frau Kollege.«

Schrenk fläzte, die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine weit von sich gestreckt, auf einem der Bürostühle, direkt gegenüber der Tür, Abler zu seiner Rechten.

Bereits im Türrahmen hatte sie registriert, dass kein freier Stuhl an den zusammengestellten Tischen frei war. Sie huschte in das enge Besprechungszimmer, griff nach einem der aufgestapelten Holzstühle in der Ecke des Raums und stellte diesen an eine freie Tischecke, sodass sie mit dem Rücken schräg zur Tür und nicht unmittelbar gegenüber von Schrenk saß.

Helen kam nie zu spät. Kurz vor zehn Uhr war eine ältere Dame auf dem Polizeiposten aufgetaucht, Abler hatte ihr aufgetragen, ihre Personalien aufzunehmen und sie im Anschluss an die Besprechung noch einmal herzubestellen. Selbstverständlich hatte Schrenk das mitbekommen.

Sie scannte die Gesichter der Kriminalbeamten. Keine einzige Frau war darunter. Abgesehen von dem Mann, der ihr am See begegnet und bekannt vorgekommen war, hatte sie die übrigen fünf noch nie zuvor gesehen.

»Wir benötigen ein größeres Zimmer«, meldete sich ein hagerer Mann im Rollkragenpullover eine halbe Stunde später zu Wort. Er hatte Ablers Berichterstattung aufmerksam gelauscht, sich Notizen gemacht und geschwiegen. Er saß Helen direkt gegenüber. Der leitende Kriminalhauptkommissar, wie sie vermutete. Sein kleiner Kopf mit dem ergrauten Haar, der waghalsig auf dem dürren Hals thronte, erinnerte sie vage an einen Graureiher. Offenbar hatte er keinen blassen Schimmer, wie sie hier oben arbeiteten. Als kleine Dienststelle, die nur tagsüber besetzt war, bestand Lenzkirch aus wenig mehr als einem etwa dreißig Quadratmeter großen Zimmer, das sich Gunnar, Schrenk und sie teilten. Dazu kam Ablers mickriges Büro. Ein schmaler Gang führte zum notdürftig eingerichteten Besprechungsraum und ein Stückchen weiter zu Toiletten und Badezimmer.

»Wir können zusätzliche Büroräume im Revier anfordern. Von dort sind es etwa dreißig Minuten nach Seebrugg.«

Der Graureiher schnaubte und nuschelte ein »Das fängt ja gut an«, bevor er sich wieder Abler zuwandte.

»In Ordnung. Ich werde vier Männer dort unterbringen, in …«

»… Titisee-Neustadt«, ergänzte Abler. »Helen, kannst du bitte im Revier anrufen und vier Arbeitsplätze anfordern, ein Büro für die Einsatzleitung sowie einen Konferenzraum im Fall Seebrugg?«

Helen nickte und wartete darauf, dass Abler weitersprach. Mit Unbehagen registrierte sie, dass er sie stattdessen fixierte.

»Jetzt. Anrufen.«

Verwirrt erhob sie sich und eilte aus dem Zimmer.

»Du kannst direkt im Büro bleiben und den Bericht von der Mentzler aufnehmen«, hörte sie Abler noch rufen, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Die Mentzler, genau. Die alte Dame, die etwas zu Protokoll geben wollte.

Helen lief den Gang entlang und ließ sich, im Büro angekommen, gegen die Wand sacken. Der kalte Druck gegen ihren Rücken fühlte sich gut an. Sie schloss die Augen und lauschte, wie die Luft durch ihre Nase strömte. Dann richtete sie sich abrupt auf, lief zu ihrem Schreibtisch und griff nach dem Telefon.

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, ließ sie sich gegen die Lehne ihres Bürostuhls zurückfallen und starrte an die Decke. Sechs Beamte saßen im Konferenzraum, bei einem davon – dem Graureiher vermutlich – musste es sich um die Einsatzleitung handeln. Sie hatte nicht damit gerechnet, in den Fall involviert zu werden, obwohl dies, ihrem Dienstgrad nach, angemessen wäre. Noch zumindest. Denn, sollte Gunnar recht behalten, würde sie nicht mehr lange hierbleiben – und Schrenk zog über ihrem Kopf bereits seine Kreise wie ein Aasgeier. Dass man ihr noch nicht einmal die Kollegen der Kriminalpolizeidirektion vorgestellt hatte, erkannte sie als Zeichen dafür, dass ihre Tage gezählt waren. Abler hatte sich geirrt. Sie hatte ihm widersprechen, anmerken wollen, dass fünf Arbeitsplätze, zuzüglich des Büros für die Einsatzleitung, benötigt werden würden. Ablers vehemente Reaktion aber hatte sie tief beschämt und so war sie eilig aus dem Zimmer gelaufen, froh darüber, dass keiner der Beamten ihr Gesicht sehen konnte.

Nervös kratzte sie über die Tischplatte und lauschte dem betörenden Geräusch, das der Nagel im Holz hinterließ. Sechs. Es mussten insgesamt sechs Plätze sein. Helen griff nach dem Hörer, legte ihn aber gleich darauf wieder aus der Hand. Sie würde dem Zwang widerstehen, noch einmal anzurufen und die Angaben zu korrigieren. Sollte Abler sich geirrt haben, musste er eben selbst anrufen.

Aus dem Konferenzraum hörte sie Stimmen lauter werden, kurz darauf wieder abebben. Leises Gemurmel drang zu ihr durch, unmöglich zu verstehen, unmöglich zu ignorieren. Sie öffnete ihr Computerprogramm, suchte die Nummer der alten Dame heraus und griff erneut nach dem Hörer.

Wie ein knorriger Baum wirkte die Frau vor dem Eingang, unbeweglich wartend, dass sich der Himmel öffnen und ein neues Zeitalter einläuten würde.

»Guten Tag, Frau Mentzler.«

Helen hielt ihr die Tür auf und begleitete die Frau zu dem Stuhl, den sie vor ihren Schreibtisch platziert hatte.

»Ja kann ich nicht erscht emol ablegen?«, schrie die Alte.

Helen hielt in der Bewegung inne, unschlüssig, was die Greisin von ihr erwartete.

»Ach lassen’se. Isch egal. Ich bin eh glei wieder weg.«

»Nehmen Sie doch bitte Platz«, stammelte Helen, als die Frau sich bereits auf dem Stuhl niedergelassen hatte.

»Ich komm’ jetzt das zweite Mal hierhergelaufen. Wissen Sie, wie weit des isch? Aber gut, was will man anderes erwarten? Wenn hier mal was passiert, dann isch keiner da!«, plärrte die alte Frau. »Hat man ja gesehen, erscht die Mädchen, dann brennt’s überall und jetzt die alte Tennert no im Schluchsee.«

Helen horchte auf. »Was sagen Sie da?«

Schnell umrundete sie den Tisch und tippte die Worte Schluchsee und Tennert in das Protokollfeld des Dienstprogramms. Sie würde den Text in einem zweiten Durchgang überarbeiten und von der Frau unterzeichnen lassen, aber jetzt musste sie schnell sein, damit ihr nichts entging. Details, das waren ihre Stärke. Sie waren im Polizeiberuf nicht das Salz in der Suppe, sondern eher der Fonds.

»Was?« Die Frau hielt sich eine Hand vor das linke Ohr.

»Frau Mentzler«, Helen sprach betont langsam und mit lauter Stimme, »wer ist im Schluchsee?«

»Hä?« Frau Mentzler runzelte die Stirn und starrte Helen unverwandt an. Dann sog sie scharf die Luft ein, setzte zu einem weiteren Wortschwall an, hielt aber unwillkürlich inne. Stattdessen kniff sie die Augen zusammen, schien einen Augenblick lang unbeteiligt, beugte dann ihr Gesicht weit über die Tischplatte und raunte Helen zu: »Des mit dene Flüchtlinge, da müssen’se schon ein Aug’ drauf haben, gell?«

Helen schüttelte verwirrt den Kopf. »Was meinen Sie?«

Unbeirrt blökte die Alte weiter: »Überall isch Krieg. Ja. Ja ja. Überall. Und hit isch Blu Mandei.« Schlagartig hellte sich das Gesicht der Alten auf und sie entblößte einen zahnlosen Oberkiefer. »Blu Mandei«, wiederholte sie triumphierend.

Die Frau hatte Helen aus der Fassung gebracht. Sie war im Begriff den Bericht aufzunehmen, in jedem Augenblick konnte die Tür zum Konferenzzimmer geöffnet werden und ein verstimmter Abler das Büro betreten, um Helen die nächste Aufgabe zu übertragen. Stattdessen würde noch immer die alte Mentzler dasitzen und Schimpftiraden über Flüchtlinge über die Tischplatte schreien.

»Blu Mandei. Wenn die Kerle wieder zu viel ge-soffen ha-ben«, sagte sie in bemühtem Hochdeutsch und rückte näher an die Tischplatte heran. Dabei ließ sie ein Augenlid wild zucken und johlte »Dann isch Blu Mandei am nägschte Tag. Da könne die nit arbeiten. Blu Mandei.« Die Alte kicherte.

Helen straffte die Schultern und holte tief Luft. »In Ordnung, Frau Mentzler. Blue Monday, ich verstehe. Aber was haben Sie gerade über eine Frau im Schluchsee gesagt?«

Die Frau hob eine Hand an ihr Ohr und runzelte die Stirn.

Helen spürte, wie ihre Stimmung dem Nullpunkt entgegensteuerte. Mit einem letzten Rest Selbstbeherrschung wiederholte sie ihre Frage, dieses Mal mit lauterer Stimme.

»Na die Leich’. Des isch doch die Tennert. Die isch ja scho seit zwei Tag’ verschwunde.«

Schnell tippte Helen die Worte verschwunden und zwei Tage ein.

»Wer ist Frau Tennert? Von wo ist sie verschwunden? Warum wurde das nicht gemeldet?«, sprudelte es aus Helen hervor.

»Sie müssen lau-ter spre-chen«, krähte die Alte.

Helens Geduldsfaden riss. Sie starrte der Frau ins Gesicht und brüllte: »Frau Mentzler, Sie sagen mir jetzt, verdammt noch mal, wer Frau Tennert ist und von wo sie verschwunden ist!«

Eine Tür wurde aufgerissen und ein wutschäumender Abler polterte über den Gang.

»Das wird ein Nachspiel haben«, raunte er Helen im Vorbeigehen ins Ohr und wandte sich der alten Dame zu.

»Frau Mentzler«, sagte er mit Engelsstimme und spuckte die nächsten Worte in Helens Richtung, »die Kollegin nimmt gerade den Bericht auf, wie ich höre.«

Die Frau kniff die Augen zusammen. »Ich hab’ Ihrer Kollegin grad erzählt, dass die Frau Tennert verschwunden isch«, antwortete sie dem Polizeihauptkommissar mit brüchiger Stimme und schielte zu Helen hinüber. »Aber des isch ja noch lang kein Grund, mich so anzuschreien. Den ganzen weiten Weg bin ich gekomme und draußen isch es kalt. Da kann man doch ä bissle freundlich sein, oder, Herr Polizischt, was meinen Sie?«

Abler wiegelte die alte Dame mit einigen freundlichen Worten ab und entfernte sich in Richtung Gang, allerdings nicht, ohne sich, vor der Tür des Konferenzraums, auf dem Absatz umzudrehen und Helen einen warnenden Blick zuzuwerfen.

»Also, Frau Mentzler«, presste Helen zwischen den Zähnen hervor. »Wer ist Frau Tennert?«

Die Alte setzte zu einem weiteren »Hä?« an, schien es sich jedoch anders zu überlegen und blaffte: »Des weiß doch ich nit! Fragen’se halt e’mol nach beim Paulinenstift. Do hat’ se ja g’wohnt. Wenn man des so nenne kann.«

Sie starrte noch immer an die Wand. Minuten zuvor war die Seniorin vor sich hin schimpfend aus der Tür getrippelt und Helen hatte resigniert. Sie hatte sich erneut taub gestellt und sich Helens Aufforderung, das Protokoll gegenzuzeichnen, widersetzt. Die Konferenz konnte jeden Augenblick enden und Helens Unbehagen wuchs von Sekunde zu Sekunde. Was sollte sie Abler sagen? Dass sie es noch nicht einmal fertigbrachte, ein verdammtes Protokoll korrekt aufzunehmen?

Als hätte er ihre Gedanken erraten, wurde die Tür zum Konferenzraum aufgerissen und Abler eilte den Gang entlang, geradewegs auf ihren Schreibtisch zu. Sofort versteifte sie sich. Er hatte gerade das Dienstzimmer erreicht, als ihn jemand an der Schulter zurückhielt. Sie sah, wie er sich zu dem Mann umdrehte, dessen Gesicht sie noch immer nicht zuordnen konnte. Sie hörte, wie die beiden leise einige Sätze wechselten, Abler sich daraufhin straffte und mit großen Schritten an ihrem Schreibtisch vorbeimarschierte, gefolgt von den Kriminalbeamten. Es war mittlerweile nach zwölf Uhr und Helen vermutete, dass Abler die Belegschaft zum Mittagessen mitnehmen wollte. Mit etwas Abstand folgte Schrenk. Wie eine Hyäne schlich er durch das Büro und streifte sie im Vorbeigehen mit seinem Blick.

Der Mann stand noch immer im Gang. Als Schrenk die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah sie aus dem Augenwinkel, wie er sich in Bewegung setzte und geradewegs auf ihren Schreibtisch zusteuerte.

»Frau Winter.«

Helen richtete sich auf und blickte in die grünen Augen des Mannes. Einen Moment lang war sie sprachlos, nuschelte dann einen knappen Gruß. Hatte Abler ihren Namen erwähnt?

»Ich möchte mich bei Ihnen vorstellen, Frau Winter. Mein Name ist Jens Kossnick. Ich habe die Gelegenheit genutzt und die Kollegen begleitet. Darf ich mich kurz setzen?«

Helen nickte irritiert und beobachtete, wie der Mann nach Schrenks Bürostuhl griff und zu ihr herüberrollte – zu nah! Unwillkürlich glitt sie ein Stück nach hinten. Er saß keine anderthalb Meter von ihr entfernt. Sie wich seinem forschenden Blick aus, zwang sich jedoch sofort dazu, die Nasenspitze des Mannes zu fixieren.

»Um es kurz zu machen. Gegen Sie wurden Vorwürfe erhoben, die Anhaltspunkte für ein Dienstvergehen geben. Als zuständiger Beamter der höheren Disziplinarbehörde bin ich in Ihrem Fall einbezogen worden und werde die Ermittlungen führen. Über die Einleitung des Verfahrens habe ich Sie hiermit unterrichtet. Was das für Sie bedeutet und wie es weitergeht … diese Punkte möchte ich auf dem Präsidium mit Ihnen klären. Dazu werde ich mich in Kürze mit Ihnen in Verbindung setzen.«

Schlagartig war die Übelkeit zurück. Unter ihrem Stuhl krallte sie die Fingernägel in das Hartplastik. Daher kannte sie ihn! Sein Konterfei hatte sie auf dem Organigramm im Polizeipräsidium gesehen, am Tag ihrer Ernennung zur Oberkommissarin.

»Ja«, presste sie hervor.

»Ich werde dem Vorwurf nachgehen und diesen eingehend prüfen. Ich möchte alles so transparent wie möglich gestalten und biete Ihnen hiermit an, dass Sie sich bei Fragen jederzeit bei mir melden können.«

Er griff in die Innentasche seines dunklen Sakkos und streckte ihr eine Visitenkarte entgegen. Mechanisch griff sie danach und drückte die Pappe zwischen ihren Fingern.

»Frau Winter, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich Sie für eine Sekretärin halten.« Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, musterte sie dann und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Das ist eine kleine Dienststelle und ich bin mir sicher, dass auch hier oben viel Arbeit anfällt.«

Wieder schwieg er und fixierte sie. Helen rutschte mit ihrem Rücken ein Stückchen weiter in Richtung Lehne, woraufhin ihr Stuhl ins Schlingern geriet.

»Es ist allerdings nicht Aufgabe einer Polizeioberkommissarin, Sekretariatsdienste zu übernehmen, schon gar nicht angesichts eines Mordfalls.«

Helen konzentrierte sich weiter auf die Nasenspitze des Mannes und zwang sich, sein markantes Parfum zu ignorieren, das in ihrer Nase kribbelte. Es war nicht unangenehm, es war irritierend.

»Wie erklären Sie sich das, Frau Winter?«

Helen versuchte, die passende Antwort zu finden, überhaupt irgendeine, setzte mehrfach an, schwieg, wollte aufspringen, ins Badezimmer rennen, die Schande mit kaltem Wasser fortspülen. Aber ihr Verstand zwang sie, sitzen zu bleiben und weiterhin die gerade geschwungene Nase des Mannes mit den markanten Wangenknochen zu fixieren. »Ich«, setzte sie an, wurde von ihrem Gegenüber jedoch unterbrochen.

»Sie müssen dazu nichts sagen. Eine Sache aber möchte ich Ihnen auf den Weg geben, bevor ich gehe. Lassen Sie sich von ihren Kollegen nicht die Butter vom Brot nehmen. Es hat einen Grund, warum Sie hinter diesem Schreibtisch sitzen und zwei Sterne Ihre Uniform schmücken. Auf ein baldiges Wiedersehen, Frau Polizeioberkommissarin.«

Sein Blick bohrte sich ein letztes Mal in ihren, dann erhob er sich und verschwand durch die Tür.

Kapitel 5