Tiefer Fjord // Dunkler Abgrund - Ruth Lillegraven - E-Book

Tiefer Fjord // Dunkler Abgrund E-Book

Ruth Lillegraven

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Beschreibung

TIEFER FJORD Die Thriller-Sensation aus Norwegen – packendes Nordic Noir trifft auf erstklassigen Psychothriller  Ein kleiner Junge wird bewusstlos in eine Klinik in Oslo eingeliefert, er stirbt kurz darauf an den Folgen seiner Verletzungen. Der diensthabende Arzt Haavard ist überzeugt, dass der Junge misshandelt wurde. Bevor die Polizei die Eltern, pakistanische Einwanderer, vernehmen kann, wird der Vater des Jungen erschossen aufgefunden. Im Gebetsraum der Klinik. Ein Mord aus Fremdenhass? Haavards Frau Clara ist geschockt, als sie von den Ereignissen erfährt. Schon lange kämpft die Politikerin für ein neues Gesetz, das misshandelten Kindern früher helfen soll. Bisher war ihr Kampf vergebens. Kurz darauf wird eine iranischstämmige Frau ermordet und ausgerechnet Haavard gerät ins Visier der Ermittler. Clara muss ihn entlasten, um politisch weiter tragbar zu sein. Dabei weiß sie überhaupt nicht, wo ihr Mann zu den Tatzeiten war. Doch Haavard ahnt nichts von Claras dunkler Vergangenheit ... »Ich habe das Buch verschlungen und die Figuren haben mich nicht mehr losgelassen.«  Maja Lunde DUNKLER ABGRUND Du kannst deiner Vergangenheit nicht entkommen Clara Lofthus wird kurz nach dem Tod ihres Ehemannes zur neuen Justizministerin Norwegens ernannt. Ein anspruchsvoller Job – besonders für eine alleinerziehende Mutter. Doch plötzlich erhält sie Drohbriefe: Jemand weiß, was sie getan hat. Aber Clara lässt sich nicht einschüchtern und verzichtet auf Polizeischutz. Das bereut sie bitter, als sie nach einem langen Arbeitstag ihr Haus leer vorfindet: Ihre Zwillingssöhne Andreas und Nikolai wurden entführt! Die sonst so starke Clara verliert den Boden unter den Füßen. Verzweifelt begibt sie sich auf die Suche nach ihren geliebten Kindern und wird dabei von ihrer düsteren Vergangenheit gnadenlos eingeholt. Sie muss feststellen: Die Wahrheit kann ein tiefer, dunkler Abgrund sein … »Ein wahrer Pageturner« Hardanger Folkeblad »Eine Wucht! Dieser Thriller überzeugt mit seiner fesselnden, kraftvollen Prosa.«Dagens Næringsliv »Die klaren Sätze und präzisen Beschreibungen von Mensch und Natur sind eines Dichters würdig. Grandios!« Stavanger Aftenblad

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Tiefer Fjord // Dunkler Abgrund

Ruth Lillegraven wurde 1978 in Hardanger geboren und lebt heute in Bærum. 2005 debütierte sie mit einer Gedichtsammlung. Seitdem veröffentlichte sie Lyrik, Kinderbücher, ein Theaterstück und Romane. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie den Brage-Preis und den Nynorsk Literaturpreis.

TIEFER FJORD

Die Thriller-Sensation aus Norwegen – packendes Nordic Noir trifft auf erstklassigen Psychothriller Ein kleiner Junge wird bewusstlos in eine Klinik in Oslo eingeliefert, er stirbt kurz darauf an den Folgen seiner Verletzungen. Der diensthabende Arzt Haavard ist überzeugt, dass der Junge misshandelt wurde. Bevor die Polizei die Eltern, pakistanische Einwanderer, vernehmen kann, wird der Vater des Jungen erschossen aufgefunden. Im Gebetsraum der Klinik. Ein Mord aus Fremdenhass?

Haavards Frau Clara ist geschockt, als sie von den Ereignissen erfährt. Schon lange kämpft die Politikerin für ein neues Gesetz, das misshandelten Kindern früher helfen soll. Bisher war ihr Kampf vergebens.

Kurz darauf wird eine iranischstämmige Frau ermordet und ausgerechnet Haavard gerät ins Visier der Ermittler. Clara muss ihn entlasten, um politisch weiter tragbar zu sein. Dabei weiß sie überhaupt nicht, wo ihr Mann zu den Tatzeiten war. Doch Haavard ahnt nichts von Claras dunkler Vergangenheit ...»Ich habe das Buch verschlungen und die Figuren haben mich nicht mehr losgelassen.«  Maja Lunde

DUNKLER ABGRUND

Du kannst deiner Vergangenheit nicht entkommen

Clara Lofthus wird kurz nach dem Tod ihres Ehemannes zur neuen Justizministerin Norwegens ernannt. Ein anspruchsvoller Job – besonders für eine alleinerziehende Mutter. Doch plötzlich erhält sie Drohbriefe: Jemand weiß, was sie getan hat. Aber Clara lässt sich nicht einschüchtern und verzichtet auf Polizeischutz. Das bereut sie bitter, als sie nach einem langen Arbeitstag ihr Haus leer vorfindet: Ihre Zwillingssöhne Andreas und Nikolai wurden entführt! Die sonst so starke Clara verliert den Boden unter den Füßen. Verzweifelt begibt sie sich auf die Suche nach ihren geliebten Kindern und wird dabei von ihrer düsteren Vergangenheit gnadenlos eingeholt. Sie muss feststellen: Die Wahrheit kann ein tiefer, dunkler Abgrund sein … »Ein wahrer Pageturner« Hardanger Folkeblad

»Eine Wucht! Dieser Thriller überzeugt mit seiner fesselnden, kraftvollen Prosa.«Dagens Næringsliv

»Die klaren Sätze und präzisen Beschreibungen von Mensch und Natur sind eines Dichters würdig. Grandios!« Stavanger Aftenblad

Ruth Lillegraven

Tiefer Fjord // Dunkler Abgrund

Zwei norwegische Thriller in einem Band

Ullstein

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Sonderausgabe im Ullstein EbookAugust 2025© Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 Berlin 2025Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenAutorinnenfoto: © Ann Sissel Holthe

Covergestaltung: zero-media.net, MünchenE-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an [email protected] 978-3-8437-3640-4TIEFER FJORD© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 Berlin 2021Titel der norwegischen Originalausgabe: Alt er mitt (Kagge Forlag, Oslo)Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: © arcangel / Tony Watson (Schnee mit Fußspuren);© FinePic®, München (Bäume, Haus und Hintergrund)E-Book-Konvertierung powerded by pepyrusISBN 978-3-8437-2564-4DUNKLER ABGRUND

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024© 2021 Kagge ForlagTitel der norwegischen Originalausgabe: Av mitt blod (Kagge Forlag, Oslo)Covergestaltung: zero-media.net, München nach einer Vorlage von Caroline Teagle JohnsonCovermotiv: FinePic®, MünchenE-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3145-4

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

Tiefer Fjord

Prolog –

Clara

Teil 1

1 –

Haavard

2 –

Clara

3 –

Haavard

4 –

Clara

5 –

Haavard

6 –

Roger

7 –

Haavard

8 –

Clara

9 –

Haavard

10 –

Clara

11 –

Roger

12 –

Haavard

13 –

Clara

14 –

Haavard

15 –

Clara

Teil 2

16 –

Leif

17 –

Clara

18 –

Haavard

19 –

Clara

20 –

Leif

21 –

Clara

22 –

Haavard

23 –

Clara

24 – Haavard

25 –

Clara

26 –

Haavard

27 –

Roger

28 –

Haavard

29 –

Clara

30 –

Haavard

31 –

Clara

32 –

Haavard

33 –

Clara

34 –

Haavard

35 –

Clara

36 –

Haavard

37 –

Clara

38 –

Haavard

39 –

Clara

40 –

Susanne

Teil 3

41 –

Haavard

42 –

Clara

43 –

Haavard

44 –

Clara

45 –

Haavard

46 –

Clara

47 –

Leif

48 –

Haavard

49 –

Clara

50 –

Haavard

51 –

Clara

52 –

Leif

53 –

Clara

54 –

Leif

55 –

Clara

56 –

Leif

57 –

Haavard

Teil 4

58 –

Clara

59 –

Haavard

60 –

Clara

61 –

Haavard

62 –

Clara

63 –

Leif

64 –

Haavard

65 –

Clara

66 –

Haavard

67 –

Leif

68 –

Haavard

69 –

Clara

Teil 5

70 –

Sabiya

71 –

Roger

72 –

Sabiya

73 –

Clara

74 –

Leif

75 –

Clara

Dunkler Abgrund

Prolog – Andreas

Teil 1 – Arbeit

1 –

Clara

2 –

Leif

3 –

Sabiya

4 –

Clara

5 –

Halvor

6 –

Clara

7 –

Axel

8 –

Clara

9 –

Leif

10 –

Sabiya

11 –

Axel

12 –

Leif

13 –

Clara

14 –

Sabiya

15 –

Clara

16 –

Clara

17 –

Clara

Teil 2 – Die Kinder

18 –

Andreas

19 –

Clara

20 –

Andreas

21 –

Clara

22 –

Leif

23 –

Clara

24 –

Andreas

25 –

Clara

26 –

Andreas

27 –

Clara

28 –

Andreas

29 –

Clara

30 –

Andreas

31 –

Clara

32 –

Andreas

33 –

Clara

34 –

Andreas

35 –

Clara

36 –

Andreas

37 –

Clara

38 –

Andreas

39 –

Clara

40 –

Axel

41 –

Clara

42 –

Leif

43 –

Clara

44 –

Andreas

45 –

Clara

46 –

Clara

47 –

Halvor

48 –

Clara

49 –

Andreas

50 –

Clara

51 –

Andreas

52 –

Clara

Teil 3 – Gebirge

53 –

Clara

54 –

Andreas

55 –

Clara

56 –

Leif

57 –

Clara

58 –

Andreas

59 –

Clara

60 –

Andreas

61 –

Clara

62 –

Andreas

63 –

Axel

64 –

Clara

65 –

Leif

66 –

Andreas

67 –

Clara

68 –

Andreas

69 –

Clara

70 –

Andreas

71 –

Clara

72 –

Andreas

73 –

Clara

74 –

Andreas

75 –

Clara

Epilog –

Stian

Anhang

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Tiefer Fjord

Tiefer Fjord

 

Motto

Alles ist nah, alles ist fern, so weit.Alles ist dem Menschen nur geliehen auf Zeit.Alles ist mein, alles wird mir genommen,schon bald wird mir alles genommen.Der Baum, die Wolke, der Boden,auf dem ich gehe – nichts bleibt.»Am schönsten ist es in der Dämmerung«(Det är vackrast når det skymmer – Auszug)

Pär Lagerkvist

Prolog – Clara

1988

Der Wagen krachte mit einem so fürchterlichen Knall aufs Wasser, dass ich richtig überrascht war, als ich die Augen wieder aufmachte und wir trotzdem noch am Leben waren. Ich bin noch nie geflogen, aber ich denke, so fühlt sich ein Flugzeugabsturz an. Ein paar Sekunden danach war es auf einmal ganz still, ich hab gedacht, alles ist noch mal gut gegangen, wir treiben mit dem Auto im Wasser wie in einem Boot, bis uns jemand rettet. Aber dann ist das Wasser zu den Lüftungsöffnungen und überall reingeschossen, und mir wurde klar, dass niemand uns retten konnte.

Oh, Entschuldigung, ich sollte wohl besser von vorn anfangen … Also, es war ein Mittwoch, unser Heimatkundelehrer war krank, darum hatten wir früher schulfrei als sonst. Ich hätte zu Papa nach Hause gehen können, ich wohne bei ihm. Aber Magne, mein Stiefvater, hatte gesagt, wir könnten mal zusammen Mama im Krankenhaus besuchen, wenn ich wollte. Sie war wegen irgendwelchen Frauensachen operiert worden. Jetzt passt es gut, wegen der ausgefallenen Schulstunde, dachte ich. Also bin ich zu dem Hof hochgegangen, wo Magne und Mama wohnten. Er schien sich zu freuen, als er mich sah. Wir setzten uns ins Auto, fuhren den steilen Kiesweg vom Hof runter zur Hauptstraße und bogen in Richtung Krankenhaus ab. Als wir auf die weite Kurve zufuhren, blendete uns die sehr helle Sonne.

Ja, und dann ging alles so schnell, ich erinnere mich nicht genau.

In der einen Sekunde fuhren wir in die Kurve rein, in der nächsten sind wir auf meiner Seite aus der Kurve rausgeflogen. Wir waren wohl zu schnell. Ich konnte eigentlich nur noch schreien, dann sind wir auf dem Wasser aufgeschlagen. Magne hat meinen Sicherheitsgurt aufgemacht und gerufen, ich soll das Fenster runterlassen und da aussteigen. Natürlich habe ich gedacht, er tut dasselbe, aber dann habe ich mich umgedreht und gesehen, dass er immer noch auf dem Fahrersitz saß, steif und schlank, ich begriff nicht, ­warum. Ich versuchte, meine Tür von außen zu öffnen, aber es ging nicht, sie war wie abgeschlossen. Dann wollte ich um das Auto rumschwimmen, es hat eine Weile gedauert. Der Wagen ist immer schneller gesunken, ich rüttelte an der Fahrertür, aber auch sie saß felsenfest. Ich schlug ans Fenster, versuchte, zu Magne Kontakt aufzunehmen, aber er hat einfach nur dagesessen. Dann musste ich zur Oberfläche schwimmen.

Das Wasser war viel kälter, als ich gedacht hätte, meine Glieder wurden steif, und ich habe es mit letzter Kraft ans Ufer geschafft. Dann habe ich zitternd und weinend auf einem Stein gesessen. Ich glaube ja eigentlich nicht an Gott, ganz sicher kann man aber auch nicht sein, nicht wahr, also habe ich ein bisschen gebetet. Aber Magne ist nicht aufgetaucht, und irgendwann wurde mir klar, dass er das nie mehr tun würde, dass ich ihn nie mehr wiedersehen würde.

Entschuldigung, ich will eigentlich nicht weinen, aber es ist so ein schrecklicher Gedanke, dass er mir geholfen hat und ich ihn einfach untergehen ließ. Mama tut mir so leid, und Magne auch.

»Danke, Clara«, sagt der Polizist und nickt zu der Solo-Limonade und der Puddingschnecke auf dem Tisch hin, ich soll mich bedienen, aber mir wird schon beim Anblick des gelben Puddings übel.

Der Polizist scheint ganz in Ordnung zu sein, ich frage mich trotzdem, ob er einer von denen ist, die nicht verstehen, nicht verstehen wollen.

Durch das Fenster sehe ich Leute parken, die zu der Arztpraxis neben dem Gemeindehaus wollen, in dem wir sitzen.

Auf der anderen Straßenseite sehe ich den Laden. Die Schule. Und das Altersheim. Ringsherum liegen die Berge, behüten uns. Oder sperren uns ein.

Dahinter liegt der Fjord.

Teil 1

1 – Haavard

Was auch passiert, lass dich nicht scheiden.

Diesen Rat hatte mir ein geschiedener Freund am Abend davor gegeben, beim Bier, im Hintergrund lief die Premier League. Eine Scheidung ist so scheißteuer, sagte er. Du wirst ausgeplündert. Mal dir ein finanzielles Worst-Case-Szenario aus und multipliziere es mit zwei. Nein, mit drei! So teuer ist eine Scheidung.

Okay, ich halte aus, ich stehe es durch.

Die Terrassentür fällt laut zu, das ist Claras passiv-aggressive Art, mich zu wecken. Durch die wehenden weißen Gardinen zeichnet sich ihre hochgewachsene, schmale Gestalt auf der Terrasse vor dem Schlafzimmer ab.

Clara ist ein Gewohnheitstier. Sie steht morgens gern ein paar Minuten so da, in derselben Titanic-Positur, wie auf der Fähre, wenn wir nach Westnorwegen fahren.

Die letzten Tage über hat eine fast brutal drückende, flirrende Hitze in der Luft gelegen, ganz ungewohnt nach dem langen, strengen Winter und dem mehr oder weniger ausgefallenen Frühling. In der Schule der Jungs, auf der Straße, in den Geschäften, überall reden die Leute darüber, dass eben noch Winter war, dass es keinen Frühling gegeben hat, und jetzt diese plötzliche afrikanische Hitze.

Ich selbst genieße sie. Wenn Clara endlich ihren Gesetzesvorschlag durchbringt, können wir vielleicht einen Ausflug nach Kilsund machen. Meine Eltern werden nicht jünger, und wir müssen die Hütte für die Saison klarmachen.

»Du musst aufstehen«, sagt Clara, als sie wieder reinkommt. »Sonst schafft ihr es nicht rechtzeitig zur Schule.«

Wir sind diese Woche an der Reihe, eine Gruppe von Schülern zu begleiten, und ich habe versprochen, das heute zu übernehmen.

Mir ist etwas übel, ich habe eine Fahne. Das waren gestern ein paar Bier zu viel, oder ich vertrage weniger als früher.

Die Augen lasse ich zu, tue so, als würde ich noch schlafen. Es hat Clara immer irritiert, dass ich kein Morgenmensch bin wie sie. Aber das bedeutet nicht, dass ich es nicht aus dem Bett schaffe, um die Kinder zur Schule zu begleiten, denn das mache meistens ich.

»Haavard?« Sie stupst mir mit dem Knie ans Bein. Es tut weh.

»He, was soll das?«, frage ich verärgert. »Tust du mir mit Absicht weh?«

Sie seufzt.

»Ich habe um acht eine wichtige Besprechung und muss gleich aus dem Haus.«

»Und ich habe bis morgen früh durchgehend Dienst«, murmele ich.

»Du bist nicht der Einzige, der Leben retten muss«, sagt sie.

Ich schwinge die Beine aus dem Bett, setze mich auf die Bettkante und gähne.

»Haben die Kinder gefrühstückt?«

»Sind gerade dabei.«

Jetzt steuert sie das Bad an, das sie als ihr privates Reich ansieht, um dort ihr Ministeriumsgesicht aufzusetzen. Mich packt der Übermut, ich springe auf und spurte an ihr vorbei. Ohne die Tür zu schließen, mache ich den Klodeckel auf und pinkele im Stehen, dass es nur so spritzt.

Sie steht draußen, kein Wort.

Warum muss sie ums Verrecken noch hier stehen und rummaulen, dass sie keine Zeit hat und ich mich beeilen soll, wo sie längst hätte fahren können? Was kontrolliert sie mich und treibt mich an, als wäre ich nicht daran gewöhnt, mit den Kindern allein zu sein, sie ist doch kaum zu Hause?

Seit sie an dem Gesetzesvorschlag arbeitet, ruft sie an, um Bescheid zu sagen, dass sie zum Abendessen nach Hause kommt, nicht wie sonst, wenn sie es nicht schafft.

Pfeifend spaziere ich aus dem Badezimmer.

Ohne einen Blick geht sie rein, schließt die Tür ab.

Ich ziehe mich an und gehe runter.

Die Jungs sitzen am Esstisch. Ihr Anblick in den Pyjamas lässt mich innerlich immer ganz weich werden. Die schmalen Hälse, Nikolais vom Schlaf verstrubbeltes Haar, die Locken in Andreas’ Nacken.

Doch dann sehe ich, dass sie Schokopops essen. Noch dazu jeder mit seinem iPad vor der Nase.

Ich deute auf das Paket mit den Schokopops. »Die sind nur am Wochenende erlaubt! Das wisst ihr genau. In dem Zeug sind nicht mehr Nährstoffe als in der Verpackung.«

»Mama hat gesagt, wir dürfen«, rufen sie im Duett.

Im Schrank finde ich eine Packung Paracetamol und schlucke eine mit Milch, die ich direkt aus dem Karton trinke.

»Und was sagt eure Oma übers iPad?«

Noch mal im Duett: »Unfug!«

»Nein. Sie sagt, ihr kriegt noch viereckige Augen.«

Die Jungs schlürfen die Schokokissen und die Milch auf, die jetzt hellbraun geworden ist, während sie sich wegen irgendeines Fortnite-Spiels zanken, das sie in ihrem Alter noch gar nicht haben dürften.

Jetzt kommt auch Clara runter.

»Schokopops?« Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Im Ernst?«

»Sie haben sich geweigert, was anderes zu essen. Du warst ja nicht hier, irgendwas müssen sie ja frühstücken.«

»Herrgott noch mal«, murmele ich.

Plötzlich springen die Jungs auf und laufen zur Gartentür hinaus.

»He!«, rufe ich. »Wo wollt ihr hin? Kommt zurück! Sofort!«

Kurz darauf sind sie wieder da, jeder hat zwei Äste Flieder in der Hand. Eigentlich will ich schimpfen, weil sie ohne Erlaubnis aufgestanden sind, und wegen der abgerissenen Zweige, aber ich verkneife es mir, sie sind so süß und stolz.

»Einer für Mama und einer für Papa«, sagt Nikolai. Andreas lächelt sein zeitloses Lächeln. »Bitte nicht mehr streiten.«

»Nein«, sage ich. »Und vielen Dank, das ist lieb von euch.«

Ich suche eins meiner Skalpelle von der Arbeit im Durcheinander der Schublade, um die Zweige anzuschneiden. Beim zweiten rutscht das Messerchen aus irgendeinem Grund ab, mir direkt in die Kuppe des Mittelfingers.

»Verdammte Scheiße!«, rufe ich.

»Die Skalpelle sollten auch wirklich nicht überall rumfliegen, das habe ich dir schon x-mal gesagt«, sagt Clara.

»Danke«, fauche ich. Es blutet stark.

»Was ist passiert, Papa?«, fragt Nikolai.

»Zum Teufel noch mal«, sage ich, dann reiße ich mich zusammen. »Ich habe mir in den Finger geschnitten.«

»Tut es weh?«

»Ein bisschen. Zum Glück bin ich Arzt, da kann ich es selbst nähen«, sage ich, es soll aufmunternd klingen. Nicht sehr überzeugend.

»Es kann doch nicht so schwer sein, ein bisschen aufzupassen?«, sagt Clara, ach so empathisch. Jedes Mal, wenn die Kinder oder ich uns wehtun, reagiert sie genervt. Sie scheint es als ein Zeichen der Schwäche anzusehen.

Ich untersuche den Finger, reiße ein Blatt Küchenpapier ab und wickele es darum, versuche, wieder der coole Papa zu sein.

»Fluchen ist aber verboten, Papa«, sagt Andreas.

»Tut es sehr weh?«, fragt Nikolai.

»Tschüss dann.« Mit raschen Schritten geht Clara durch Küche und Flur. Erst als die Haustür ins Schloss fällt, lockere ich die Schultern und lächele die Kinder richtig an.

So geht es also bei uns zu. So weit ist es gekommen.

2 – Clara

Wer ein richtiger Minister sein will, greift kaum jemals selbst zum Telefon. Für gewöhnlich ruft die Sekretärin von Justizminister Anton Munch an und fragt, ob ich rüberkommen kann.

Im Ton höflich, aber die Frage ist rein rhetorisch.

Her mit dir. Pronto.

»Ich komme.« Ich stehe auf, streiche mein Kostüm glatt, speichere das Dokument, an dem ich arbeite. Mein drittes Kind. Ein Vorschlag zur Gesetzesänderung. Prop. 220 L. 78 Seiten. 11. Kapitel. Vorbemerkung, Zielsetzung. Geltendes Recht, Erwägungen und Vorschläge. Anmerkungen. Dann der neue Gesetzestext.

Und ganz am Schluss wie immer die absurde Formel Wir, Harald, König von Norwegen.

Der Gesetzesvorschlag soll dafür sorgen, dass alle Instanzen, ob Krankenhaus oder Jugendamt, Kindergarten oder Gesundheitswesen, stärker verpflichtet sind, jeden Verdacht von Gewalt gegen Kinder oder Missbrauch weiterzugeben.

Diese Meldepflicht ist im geltenden Recht bislang zu unverbindlich formuliert, überall steht die Schweigepflicht im Vordergrund.

Das soll anders werden.

Der Vorschlag ist so gut wie fertig. Jetzt arbeite ich noch am Text, straffe ihn und feile und poliere an ihm herum wie an einer Skulptur, damit er rundherum glänzt.

Und ich setze meine Ehre daran, den aufgeblasenen, unverständlichen Stil zu vermeiden, den wir Juristen gewöhnlich produzieren, lauter verschachtelte Nebensätze und Einschübe, bis es eine unlesbare Soße wird, wegen der die PR-Leute sich die Haare raufen, wenn sie Presseerklärungen zustande bringen müssen. Jedes Jahr neu werden etliche externe Berater engagiert, die uns beibringen sollen, uns verständlich auszudrücken. Klartext sozusagen.

Klartext können sie haben.

Ich klackere auf meinen Stilettos durch die Gänge zur politischen Abteilung. Absätze auf braunem Schiffsboden. In den Verwaltungsetagen haben wir nur Linoleum, hier im Allerheiligsten ist Teakholz verlegt, mit schwarzen Streifen zwischen den Deckplanken.

Der Erste, dem ich bei den Politikern begegne, ist dieser idiotische, auf den Hinterbeinen stehende ausgestopfte Eisbär. Wahrscheinlich auf Spitzbergen geschossen, auf der Treppe vor der Kirche. Gereckter Rücken, starrer Blick. Ich reiche ihm gerade mal bis zum Ellbogen. Er hört auf den Namen »Oddbjørn«.

Seit einiger Zeit arbeite ich direkt Minister Munch zu, abseits vom Dienstweg. In den letzten Monaten bin ich ihm und damit meinem Ziel immer näher gekommen.

Sämtliche Einwände und Fragen der verschiedenen Vorgesetzten habe ich in diesen Tagen gelöst. Der Vorschlag muss zwar noch eine Anhörung überstehen, bevor er dem Parlament vorgelegt werden kann, aber wenn der Minister sein Okay gibt, ist schon viel gewonnen.

Ein Ministerium spürt schnell, ob es an seiner Spitze eine Führungspersönlichkeit hat oder nicht. Munch ist jetzt seit einem Jahr im Amt, inzwischen merkt man, dass er viel heiße Luft produziert, aber ich sehe ihn weniger kritisch als andere, eben wegen meines Projekts.

Der Höhepunkt war vor einer Woche. Wir saßen in seinem Büro, er lehnte sich im Schreibtischstuhl zurück, faltete die Hände hinter dem Kopf und sagte:

»Okay, Clara. Wir machen das.«

Auch jetzt sitzt er wieder hinter seinem großen braunen Schreibtisch, dahinter passende Bücherschränke.

Am Tag nach der Schlüsselübergabe hat er die Gemälde, die in seinem Büro hingen, rausgeworfen und durch einen riesigen Flachbildschirm-Fernseher ersetzt. Außerdem hat er das Büro mit Hunderten Miniaturhelikoptern und Militärfahrzeugen geschmückt, was die Journalisten nur zu gerne in ihren Artikeln erwähnen.

Der aufgeräumte Teakholzschreibtisch, das Obst, die weißen Kaffeetassen, der Fernseher, die Schnellhefter, die ironi­schen Kaktustrophäen der Boulevardzeitschrift Se og Hør, nichts scheint besonders, aber der Mann hinter dem Schreibtisch sitzt auf einem der mächtigsten Posten des Landes.

»Komm rein«, sagt er jetzt, ohne von seinem Telefon aufzublicken.

»Hei Clara«, sagt eine Stimme. Erst jetzt bemerke ich Ernst Woll hinter dem Besprechungstisch in der Ecke.

Das gesamte politische Führungspersonal besteht aus Männern. Woll ist der tougheste und der einzige Jurist. Sein Büro ist das größte, sein Einfluss der größte.

Früher gab es immer nur einen Minister und einen Staatssekretär, jetzt ein ganzes Rudel Staatssekretäre, dazu noch politische Referenten. Alle kämpfen sie um die Gunst des Justizministers, wetteifern darum, wer am fleißigsten ist und am meisten zustande bringt.

Alle, die ein politisches Amt innehaben, müssen unablässig beweisen, dass sie es auch ausfüllen, und dafür müssen sie sich in alles Mögliche einmischen. Darum verzögern die Staatssekretäre ständig die Arbeit und stehlen den Mitarbeitern ihre Zeit, die Besseres zu tun hätten.

Der Minister ist mit seiner Funktion als Galionsfigur beschäftigt und damit, seine Sache in den Medien und auf Facebook gut zu machen, die Staatssekretäre sitzen in den Besprechungen, sind den Fachreferenten auf den Fersen und treffen die meisten politischen Entscheidungen.

Trotzdem habe ich Munch dazu bringen können, sich für meinen Gesetzesvorschlag zu engagieren. Und es ist mir gelungen, Woll zu umgehen. Bis jetzt.

»Wir werden dich nicht lange aufhalten«, sagt Woll.

»Kein Problem«, sage ich.

»Ja, Clara.« Munch blickt endlich von seinem Telefon auf. »Unser Vorschlag ist im Kabinett diskutiert worden …«

Stille.

»Ja?« Mir dämmert, dass diese Besprechung in eine andere Richtung laufen könnte als gedacht. Die beiden schauen einander kurz an. Munch wirkt widerwillig. Woll zuckt mit den Schultern, scheint bereit, es hinter sich zu bringen.

»Und, ja … Wir müssen ihn auf Eis legen«, sagt Munch endlich.

Die Härchen an meinen Armen stellen sich unter der weißen Seidenbluse auf.

»Wie meinst du das?«, frage ich mit belegter Stimme. »Die Minister haben doch meine Vermerke gelesen?«

»Du weißt doch, so was passiert ständig. Kontroverser Vorschlag. Koalitionsregierung. Die anderen halten ihn für zu radikal. Und ich habe gerade andere Sachen auf der Platte, die ich unbedingt durchbringen muss.«

»Aber das wäre das Wichtigste, was du in deiner Amts-zeit tust«, sage ich. »Wissen deine Kollegen nicht, was das für die Schwächsten in unserer Gesellschaft bedeuten würde?«

Hinter meinem Rücken lacht Woll ein kurzes, trockenes Lachen und unterbricht mich:

»You win some, you lose some. Die Sache ist gelaufen.« In seiner Stimmung knistert eine Spur Schadenfreude.

So sind sie. Es geht ausschließlich um Macht.

Alles kann Verhandlungssache sein. Alles kann gekippt werden.

»Du hast den Minister gehört. Danke, dass du gekommen bist«, fügt Woll noch hinzu und steht auf. Ein ministerieller Rauswurf.

Munch sieht wieder auf sein Mobiltelefon, mich schaut er nicht mehr an.

Ich drehe mich um, fast überrascht, dass mein Körper gehorcht, gehe aus der Tür, am Schreibtisch von Munchs Sekretärin vorbei, an dem gigantischen Obstkorb, der hier doppelt so groß ist wie in den Fachabteilungen.

Vorbei am Eisbären, der in seiner täppischen Freundlichkeit plötzlich erschreckend wirkt.

Vorbei an den Teilen der Helikopter- und Militärfahrzeugsammlung, die bis ins Vorzimmer gedrungen sind, aus der Abteilung hinaus, durch die Flure.

Irgendwann bin ich endlich zurück in meinem Büro, ziehe die Tür hinter mir zu, rutsche an der Innenseite zu Boden und bleibe dort mit angezogenen Knien sitzen.

Haavard nennt mich immer die Eiskönigin. Er selbst kann bei jeder sich bietenden Gelegenheit weinen.

Ich glaube, ich habe seit dem Tag vor dreißig Jahren nicht mehr geweint, und ich habe auch nicht vor, damit anzufangen. Aber jetzt lege ich die Hände vors Gesicht, die Fingerspitzen auf den Augen. Ich versuche, ruhig zu atmen. Es gelingt mir nicht.

Als ich dreizehn war, im Jahr nach dem Unfall, übernachtete ich manchmal allein auf der Sommeralm. Drei, vier Nächte nacheinander. Ich kochte mir selbst, heizte ein, las, wanderte.

Einmal kam ich auf die Idee, einen Berg in der Umgebung zu besteigen, den Trollskavlen. Eine lange, anstrengende Wanderung, aber mein Vater hatte mir erklärt, welchen Weg er als Jugendlicher gegangen war, ich hatte ihn auf der Karte verfolgt und wusste, dass ich es schaffen konnte. Und ich hätte es auch geschafft, wenn der Sonnenschein, bei dem ich aufgebrochen war, nicht plötzlich von dichten Wolken verdeckt gewesen wäre.

Wenige hundert Meter vor dem Gipfel zog dichter Nebel auf.

Erst verschwand der Gipfel. Dann sah ich überhaupt nichts mehr.

Alles war weiß.

Ich nahm Karte und Kompass hervor und bewegte mich voran, meinte, es sei die richtige Richtung. Irgendwann kam ich zu einem Steilhang, den ich wohl vorher erstiegen hatte. Ich drehte mich um, Angst im Bauch, und kletterte runter, bis ich auf einmal mitten im Hang stecken blieb, angespannt wie Spiderman, und weder vor noch zurück konnte.

Ich hatte mich verstiegen. Mein Vater hatte mal erzählt, dass das in den Bergen Schafen auf der Sommerweide manchmal passiert. Dann stehen sie da auf einem schmalen grünen Vorsprung im schwarzen Fels und blöken.

Manchmal kann man sie mit Seilen hochhieven, wenn sie erreichbar sind, aber manchmal bleibt nur, sie abzuschießen.

Jetzt ging es mir auch so. Es war weit bis nach unten, ich wusste nicht, wohin ich die Füße setzen sollte.

Nach einer Weile versuchte ich es trotzdem, Tritt um Tritt. Ein Haltegriff hier, einer dort.

Für einen oder zwei Meter ging das gut. Dann stürzte ich ab.

Viele Minuten lag ich da und rang nach Luft, erst dann konnte ich anfangen nachzuspüren, ob ich mir etwas gebrochen hatte.

Dasselbe Gefühl habe ich jetzt, wo ich am Boden des Ministeriums für Justiz und öffentliche Sicherheit sitze, dreißig Jahre später.

Ich habe so viel in diesen Gesetzesvorschlag investiert. Er bedeutet mir mehr als alles andere.

Und jetzt haben die beiden da oben ihn mir weggenommen, ihn zerstört, ohne die geringste Ahnung, was sie damit anrichten.

3 – Haavard

Kaum habe ich den weissen Kittel angezogen und die Abteilung betreten, wird mir klar, dieser Dienst wird ein Marathon. Bei dem schönen Wetter war die ganze Stadt auf den Beinen. Und uns wird jetzt das Fallobst geliefert, in Form von Verletzungen und Krankheiten. Die Patienten kommen Schlag auf Schlag. 15 Uhr 35: ein kleines Mädchen im diabetischen Koma. 16 Uhr 21: ein asthmakranker Junge mit allergischem Schock. 16 Uhr 53: ein Geschwisterpaar nach einer Massenkarambolage. 17 Uhr 20: ein lebensgefährlich dehydrierter Sechsjähriger.

Und dann, um 18 Uhr 53, kommt eine ganze Familie.

Der Mann, Mitte dreißig, trägt einen ungefähr vierjährigen Jungen in den Armen. Wahrscheinlich in Norwegen lebende Pakistaner, vielleicht auch Afghanen. Der Junge hat eine blaue kurze Hose und ein rotes T-Shirt an. Am rechten Zeigefinger ein Star-Wars-Pflaster. Dreck unter den Fingernägeln. Ein Armband aus kleinen Kugeln mit Buchstaben darauf. Der kleine Kopf, blauschwarzes Haar.

Leblos hängt er in den Armen seines Vaters.

»Muss mit Arzt sprechen!«, ruft der Vater. Er trägt ein blaues Chelsea-Sweatshirt und ein Basecap. Sein Gesicht ist voller Aknenarben.

Direkt hinter ihm kommt Roger angerannt, und mit ihm eine Wolke von Aftershave. Ein süßlicher Duft, aus der Mode gekommen, vielleicht aus einer dieser Flaschen, die wie ein männlicher Torso oder eine Matrosenuniform oder so aussehen.

Natürlich habe ich weder gegen Schwule noch gegen Krankenpfleger etwas. Und Roger ist fachlich ganz ausgezeichnet, einsatzfreudig, erfahren, warmherzig und fürsorglich. Einer mit vielen Qualitäten. Nur übertreibt er es leider immer mit dem Duft.

»Ich habe versucht, ihm klarzumachen, dass ich ihn aufnehme«, sagt er jetzt. »Eigentlich müssten sie in die Notaufnahme. Aber er ist mit dem Jungen sofort weitergelaufen. Und jetzt schicken wir sie doch nicht wieder weg, oder?«

»Nein, natürlich nicht.«

Hier im Krankenhaus Ullevål haben wir die besten Notfallteams, andere Krankenhäuser schicken uns ihre schwersten Fälle, meist mit dem Krankenwagen zur zentralen Aufnahme. Aber manchmal bringt jemand sein Kind selbst. Wer weiß, wo die Kinderstation ist, kommt direkt hierher.

So diplomatisch wie möglich sage ich zu dem Vater: »Ich bin der diensthabende Arzt. Was ist deinem Jungen passiert?«

»Bist du blind, Arzt?« Der Vater baut sich dicht vor mir auf, in den Augen Angst und Wut zugleich. Erinnert mich an die Stadtstreicher, die in dem Viertel, wo ich aufgewachsen bin, auf den Schulhof kamen.

»Siehst du nicht, er ist ohnmächtig, Arzt! Er wacht nicht auf!«

Die Mutter trägt einen Hijab, Jogginghosen schauen unter dem Salwar Kamiz hervor. Sie fuchtelt beim Reden mit den Händen. Der Mann sagt etwas in einer mir unverständlichen Sprache, sie verstummt.

Der Junge ist so klein und dünn, schmale Hüften und ein Hals wie ein Vögelchen, dieselben blauen und orangen Sneaker wie Andreas sie hat, nur dass diese schmutzig und abgetragen sind, mit einem Loch am großen Zeh.

»Wie alt ist er?«, frage ich, nehme dem Mann den Jungen aus den Armen und lege ihn auf den Untersuchungstisch.

Vier Finger. Die Mutter schaut mich flehend an, ringt die Hände, ihre Knöchel sind weiß.

»Was ist passiert?«

»Er ist gefallen. Von Baum. Und eingeschlafen. Jetzt will er nicht mehr aufwachen! Tu was, Arzt!«

Ich gebe Roger ein Zeichen, dass er Kollegen hinzurufen soll. »Er braucht ein CT«, sage ich halblaut.

Die Mutter fängt an zu weinen, der Mann herrscht sie an. Ich stehe kurz still. Muss mich besinnen, ein paar Sekunden lang. Der Junge ist bewusstlos. Draußen vor dem Fenster singen die Vögel. Ich wäre auch gern im Freien.

Denn ich spüre dieses besondere kribbelnde Gefühl, so wie wenn du erkennst, dass das Kopfweh an einem Hirntumor liegt, dass der Ausschlag durch Leukämie ausgelöst wird, dass du bald jemandem eine Nachricht überbringen musst, die er lieber nicht hören würde.

Das Gefühl umgibt mich wie kalte Luft.

Ich beuge mich über den Jungen. Er riecht säuerlich nach Erbrochenem. Aber auch nach Staub und Sonne und etwas anderem, Kaugummi, Zahncreme, Shampoo und einem schwachen Duft von Ingwer, Knoblauch und Curry.

»Gehen Sie ein bisschen spazieren«, sage ich zu den Eltern. »Ich kümmere mich um Ihren Sohn.«

Sie wirken skeptisch, verlassen aber den Behandlungsraum. Kurz darauf kommt Sabiya herein.

»Was ist los?« Sie ist außer Atem.

Sabiya ist kaum größer als 1,55, und wegen ihres leichten, lautlosen Gangs sieht es aus, als würde sie durch die Flure schweben. Ihr schulterlanges Haar glänzt immer, sie hält es mit einer Spange zusammen. Weder Schmuck an den Fingern noch Nagellack, ganz nach Vorschrift. Ihre Bewegungen sind effizient, aber graziös.

»Weiß nicht«, antworte ich. »Bestenfalls schwere Gehirnerschütterung. Vom Baum gefallen.«

Sie steht still da und mustert den Jungen mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.

»Aha«, meint sie schließlich und fängt an, den Jungen auszuziehen, während sie Roger und Bente, eine Krankenschwester, herumkommandiert.

Hinter ihrem Rücken zwinkere ich Bente zu, die wie üblich rot wird.

Ausziehen und Nachprüfen ist eines von Sabiyas Steckenpferden. Vor ein paar Wochen hat sie in der Morgenrunde einen kurzen Vortrag gehalten, mitsamt einer Powerpoint-Präsentation, Fotos von Rücken mit den Spuren von Peitschenhieben oder Mündern voller Wunden, Röntgenbilder von gebrochenen Knochen. Wir bekommen das im Studium beigebracht. Aber wenn man im Krankenhaus anfängt, muss es immer so schnell gehen, da sind die Zeichen leicht zu übersehen. Da müssen wir besonders aufpassen, uns die wenigen Sekunden Zeit nehmen, auch dann nachzuschauen, wenn das Kind eigentlich wegen etwas anderem eingeliefert wurde. Alle nickten etwas schuldbewusst, als sie das sagte.

Jetzt bückt sie sich und rollt den Ärmel des roten Pullovers hoch.

»Verdammt«, sage ich, als ich die Flecken auf der Innenseite des Armes sehe. Kleidung ist trügerisch, mit ihr sieht alles ganz normal aus. Sabiya greift eine Schere, schneidet die Sachen des Jungen auf.

Überall Hämatome. Auf den Schultern, an den Beinen.

Ich hole tief Luft. »Verdammte Scheiße.«

»Ja, da gibt es keinen Zweifel«, sagt Sabiya, immer noch beeindruckend professionell. Gemeinsam mit Roger heben wir den Jungen in ein Bett, dann schieben wir es eilig durch die Flure zur Notaufnahme, wo das CT gemacht werden soll. In solchen Situationen möchte ich Roger nicht im Wege sein. Niemand von uns hat mehr Erste-Hilfe-Erfahrung als er, niemand hat mehr Verletzte und Kranke in Krankenwagen hinein- oder aus ihnen herausgehoben.

19 Uhr 40. Das CT ist fertig. Sabiya und ich warten auf die Bilder. Ein paar Kollegen kommen dazu, Kardiologen und Anästhesisten.

Da hören wir hinter uns schwere Schritte und gehetzte Atemzüge. Der Vater des Jungen stürmt herein.

»Zutritt verboten«, sage ich bestimmt und gehe ihm entgegen. Er steht unerschütterlich da.

»Was hast du gesagt, Arzt?«

»Sie müssen draußen warten.«

»Scheißrassist«, sagt er.

»Die Regeln gelten für alle«, sagt Roger barsch.

Widerwillig entfernt sich der Mann, läuft aber im Flur unruhig auf und ab wie ein zorniger Ochse.

Als ich mich wieder umdrehe, steht Sabiya da und blickt mich mit einem merkwürdigen Ausdruck an.

»Kennst du ihn?«, frage ich.

Sie nickt, sagt aber nichts weiter, und da kommen die Röntgenbilder. Es ist wohl das allererste Mal, dass ich Sabiya fluchen höre. Ich sehe ihr über die Schulter, sehe den großen Schatten auf dem Bild.

Wie ein unheilvoller Tintenfleck.

»Traumatische Hirnblutung. Er muss sofort operiert werden«, sage ich.

Sabiya nickt nur kurz, sie hat feuchte Augen und ist blass um die Nase.

Wir schieben das Bett mit dem Jungen zurück in unsere Abteilung. Der Vater bleibt uns dicht auf den Fersen.

Die Anästhesisten kontrollieren auf dem Monitor Blutdruck und Puls, Sauerstoffsättigung und Herzschlag. Die Kollegen bereiten Narkose und Intubation vor, schließen das Beatmungsgerät an.

Die Eltern kommen herein. Die Mutter weint, der Vater brüllt etwas wie, wir sollen gefälligst aufpassen, unseren Job tun. Jemand schiebt ihn wieder hinaus. Roger folgt ihm auf den Flur und versucht, ihn zu beruhigen.

Sabiya geht zu dem Jungen, streichelt ihm vorsichtig die Wange, auf der staubigen Haut sind Tränenspuren. Dann nimmt sie die kleine Hand mit dem Star-Wars-Pflaster und redet leise und ruhig auf Panjabi mit ihm. Der Junge ist so klein und blass, kann nichts erklären oder verstehen. Aber es muss einfach gut gehen, bald wird er die Augen wieder aufmachen, sich langsam erholen. In den nächsten Tagen werde ich regelmäßig nach ihm schauen, werde mir genug Zeit nehmen, um mit ihm zu reden und zu scherzen, ich werde sehen, wie er auflebt und fröhlicher, sicherer wird.

Noch während ich das denke, fallen Puls und Sauerstoffsättigung plötzlich schnell ab.

Verflucht, denke ich. Verflucht, verflucht, verflucht. Verzweiflung befällt mich. Wir dürfen ihn nicht verlieren.

Der Anästhesist legt sofort einen venösen Zugang am Arm des Jungen, um Adrenalin zu spritzen.

»Besorg Notfallblut«, sage ich zu Roger.

Wir legen dem Jungen schnell eine Infusion und geben ihm weitere Mittel, um den Blutdruck zu stabilisieren. Er wird zum OP gebracht. Wir eilen hinterher. Vor dem OP übernimmt der Anästhesist, wir müssen zurückbleiben.

Es ist 21 Uhr 10. Keiner sagt etwas. Sabiya wandert ruhelos auf und ab. Ich gehe zum Fenster. Draußen rumpelt die Straßenbahn vorbei. Autos warten an der roten Ampel. Während die Leute ringsum auf den Restaurantterrassen ihre Gläser auf den Sommer erheben, während die Welt sich weiterdreht wie üblich, wird der kleine Junge wieder aus dem OP geschoben.

Der Neurochirurg, einer unserer erfahrensten, schüttelt den Kopf.

»Die Blutung ist zu groß, nicht mit dem Leben vereinbar.«

Am liebsten würde ich mich auf den Boden setzen und weinen.

Vier Jahre lang hat er leben dürfen. Vier Jahre lang mit blauen Flecken.

Er wird zu seinem Zimmer zurückgeschoben.

»Wir müssen die Angehörigen informieren«, sage ich. »Und die Mutter versteht kein Norwegisch.«

Ich höre mir selbst zu und begreife, wie feige und pathetisch es von mir ist, Sabiya diese Aufgabe zuzuschieben.

Ohne ein Wort nimmt sie die Eltern beiseite.

Der Vater schlägt mit der Faust auf die Wand ein. Die Mutter sinkt zusammen. Sabiya streichelt ihr den Rücken. Wir anderen stehen ratlos da. Später muss ein weiteres CT gemacht werden, zur Bestätigung, dass die Blutversorgung des Gehirns unterbrochen ist und der Junge für tot erklärt werden kann. All das dauert seine Zeit, es wird wahrscheinlich nicht vor morgen passieren. Dann müssen wir die Eltern auch nach einer Organspende fragen. Wir versuchen, den Angehörigen Zeit für ihre Entscheidung zu lassen, allzu lange warten können wir aber auch nicht.

In unserer Gruppe herrscht eine andere Wärme als sonst. Wir stehen das hier gemeinsam durch. Es tut weh. Aber wir haben auch andere Patienten, kranke Kinder warten auf uns, um die wir uns nicht kümmern konnten, während wir dieses eine zu retten versuchten. Der Ausnahmezustand darf nicht zu lange dauern.

Da kommt der Vater gerannt. Bente möchte ihm die Hand auf die Schulter legen, er wischt sie weg.

»Es tut mir sehr leid«, sage ich.

»Wo ist der Gebetsraum?«

Ich sage nicht, was ich denke: Ein Vater, der seinen Sohn zu Tode prügelt, hat im Gebetsraum nichts verloren. Was er getan hat, ist unverzeihlich. Ich drehe mich nur halb weg.

»Bente«, murmele ich. »Zeigst du ihm, wo das ist?«

Während sein Rücken durch die Glastür verschwindet, lege ich beide Hände flach an die Wand, lasse den Kopf dazwischen sinken, atme tief durch.

Einmal, zweimal, dreimal.

4 – Clara

Heute mag ich mit niemandem reden, eigentlich nicht mal mit meinem Vater. Aber ich rufe ihn jeden Tag an, das ganze Jahr über. Wenn er nichts von mir hört, macht er sich Sorgen. Als die Jungs im Bett sind, wähle ich seine Nummer.

»Hallo, wie geht’s?«, frage ich, als er abnimmt.

Ich sehe ihn vor mir. Er steht beim Telefonieren gern am Fenster und blickt über den Fjord. Er schaut sowieso gern in die Ferne. Steht da und glotzt, hat Mutter immer gesagt. Also habe ich das wahrscheinlich von ihm.

»Jaaa«, antwortet er mit zittriger Stimme.

»Was ist los?«

»Ich hab mich nicht so ganz auf dem Damm gefühlt und beim Arzt vorbeigeschaut.«

»Ja?« Meine Kopfhaut kribbelt.

Er murmelt so leise, dass ich es nicht verstehe.

»Papa, kannst du etwas lauter sprechen?«

»Ja, er hat mich dann mit dem Krankenwagen hierhergeschickt.«

»Wo ist hierher?«

»Ins Krankenhaus«, sagt er. »Sie sagen, ich habe vielleicht einen kleinen Schlaganfall gehabt oder so … Bist du noch da?«

Ich muss mich räuspern. »Ja.« Mir ist schwindlig.

»Das kommt sicher in Ordnung«, sagt er. Er klingt allerdings überhaupt nicht zuversichtlich. »Bis morgen muss ich erst mal hier bleiben, vielleicht auch länger. Ah, jetzt kommen sie Blut abnehmen. Bis später.«

Als ich auflege, spüre ich es.

Etwas Nasses rinnt aus meinen Augen, ich kann es nicht zurückhalten.

Und dann ruft Haavard an.

5 – Haavard

»Ja bitte?« Claras Stimme klingt belegt, wahrscheinlich ist sie über ihrem Mac eingenickt, das passiert ihr öfter.

Es ist 21 Uhr 40. Die morgendliche Missstimmung dürfte jetzt verflogen sein, obwohl sie ein Elefantengedächtnis hat.

»Clara, könntest du mal nachschauen, ob die Jungs gut schlafen?«

»Wie meinst du das?«

Sie klingt nicht mehr sauer. Nur müde und etwas traurig.

»Nur kurz mal nachschauen. Ob alles in Ordnung ist …«

»Also wirklich, ich sitze hier nebenan im Wohnzimmer, seit ich sie ins Bett gebracht habe. Und sie haben deinen Schlaf, die würden nicht mal aufwachen, wenn über dem Haus ein Flugzeug die Schallmauer durchbricht. Was hast du denn?«

Ich schlucke.

»Ist was passiert?«

Ich stehe allein in einem dunklen Waschraum unserer Abteilung. Und jetzt bricht es aus mir heraus.

»Dieser verfluchte Mistkerl mit seinem Chelsea-Sweatshirt, voll auf Anabolika …«

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«

»Kommt mit seinem Vierjährigen hier reingerannt. Angeblich ist der Junge vom Baum gefallen. Wir untersuchen ihn, überall Hämatome, Abschürfungen und Brandwunden … Das CT zeigt eine massive Hirnblutung. Jetzt liegt er hier, hirntot, wir warten nur noch darauf, die Geräte abzustellen.«

»Oh mein Gott«, flüstert Clara ins Telefon.

»Und damit nicht genug, der Mann schlägt hier die ganze Zeit Krach. Als ob wir schuld wären! Eben gerade hat er Zugang zum Gebetsraum verlangt. Zum Beten! Schlägt seinen kleinen Sohn tot und will dann beten! Was ist das für eine Welt. Du hättest den Jungen mal sehen sollen, Clara, er hat mich so an unsere Jungs in dem Alter erinnert. Hatte sogar die gleichen Sneaker an wie Andreas.«

Ein paar Sekunden lang herrscht Stille, ich höre leise Geräusche, sie scheint sich zu bewegen. Dann flüstert sie, wahrscheinlich steht sie in der Tür des Kinderzimmers:

»Die Jungs schlafen.«

»Danke«, erwidere ich, ebenso flüsternd, und mir ist es sehr ernst damit.

Um zehn gehe ich ins Freie. Ich brauche unbedingt eine Pause, um den Rest des Nachtdienstes durchzuhalten. Wenn ich nachher wieder drin bin, darf ich nicht vergessen, die Polizei anzurufen. Das ist in diesem Fall Standard.

Im Foyer des Krankenhauses steht ein Seeräuberschiff mit schwarzer Totenkopfflagge, eigentlich ziemlich unpassend an diesem Ort.

Ich drehe draußen eine kleine Runde und will eben wieder reingehen, da sehe ich eine Gestalt im Gebüsch dicht am Gebäude, die sich vornübergebeugt erbricht.

»Sabiya«, sage ich. »Alles in Ordnung?«

»Nein.« Sie legt sich die Finger auf die Augen und zieht sie straff zur Seite, haut gegen die Wand, krümmt sich wieder und schlägt sich die Hand vor die Stirn, als wollte sie sich selbst bestrafen.

Sabiya ist von uns allen die Professionellste und besonders beherrscht, aber jetzt wirkt sie völlig außer sich.

»Ich verstehe …«, setze ich an.

»Nichts verstehst du.« Ein wilder Ausdruck tritt in ihre Augen. »Mukhtar Ahmad ist ganz in meiner Nähe aufgewachsen. Er ist zwei Jahre jünger als ich. Unsere Väter haben zusammen bei der Straßenbahn gearbeitet.«

»Wer?«

»Der Kindesmisshandler. Wir haben uns damals schon alle vor ihm gefürchtet. Ich habe mit seinem kleinen Bruder gespielt, als der so alt war wie sein Sohn jetzt. Du hast ja keine Ahnung, was …«

Ihr Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse, und die Tränen fließen.

»Entschuldige«, sagt sie. Ich streichele ihr über die Wange.

»Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen.« Ich tätschele ihr den Kopf wie meinen Jungen. »Das macht gar nichts. Wein ruhig.«

Sie lehnt sich an meine Brust, aber nur kurz. Dann erstarrt sie, richtet sich auf und schlägt mir mit der Faust gegen die Schulter, mehrmals.

»Du lieber Gott, Haavard. Und wir stehen einfach nur da.«

»Ja.« Ich erwidere ihren Blick.

Sie schaut mich an, wendet sich nicht ab.

»Verflucht noch mal. Wir müssen was tun.«

6 – Roger

Ich sehe sie, als ich rauskomme.

Haavard und Sabiya.

Sie stehen unter den Bäumen in der Nähe des Eingangs und unterhalten sich. Oder streiten sie? Sie wedelt mit den Armen, gestikuliert, er schüttelt den Kopf, umarmt sie.

Was machen zwei diensthabende Ärzte jetzt draußen? Ich betrachte sie ein paar Sekunden, dann gehe ich weiter.

Es ist 22 Uhr 05, mein Dienst dauert noch mindestens eine halbe Stunde, aber ich muss Ahmad finden, ihm klarmachen, was er getan hat, es ihm begreiflich machen.

In diesem Moment verdient er es absolut nicht, auf einem Gebetsteppich zu liegen und sich heilig zu fühlen.

Sabiya und Haavard und alle anderen rennen aufgescheucht durch die Gegend, und ein Kindesmörder läuft frei herum.

Als sie sich vorhin um den Jungen gekümmert haben, wusste ich sofort, es war hoffnungslos. Ich habe viele Stunden mehr als jeder Arzt vor den Monitoren gesessen, aber uns vom Pflegepersonal bemerken die ja kaum. Hol dies, hol das, mach dies, mach das. Sonst reden die ja nicht mit mir, wenn sie nicht müssen, geschweige denn, dass sie mich um Rat fragen, dabei hab ich auf allen Posten gearbeitet, habe Tausende Babys auf die Welt gebracht, Neugeborene in der Geburtsabteilung versorgt und Frühchen auf der Frühgeborenen-Intensivstation, ich habe Väter getröstet und Müttern die Hand gehalten.

Aber die sehen nur einen Pfleger, jemanden, der unter ihnen steht.

Askildsen, der Stationspfleger, sagt, es hätte Klagen gegeben, mein Aftershave riecht angeblich zu stark. Stell dir vor! Nicht Patienten oder Angehörige hätten sich beschwert, nein, es muss einer von den Ärzten sein. Vornerum ist bei denen alles so toll, vier Kinder, dicker Volvo und Hund und Hütte in den Bergen, Urlaub in Italien und Familienfotos auf Facebook, aber hinter der Fassade stinkt es gewaltig.

Haavard hat Sabiya getätschelt wie einen Hundewelpen. Der Mann ist attraktiv, ja, auf so eine etwas struppige Westend-Art, aber ich kann ihn nicht leiden. Er ist zu easy, bleibt irgendwie immer an der Oberfläche, als ob ihn nichts wirklich berühren könnte, typisch für so Leute, die in einem großkotzigen Haus mit Riesengarten aufgewachsen sind. Jovial und gradlinig, das schon, aber trotzdem ein Oberklasse-Pisser aus Vinderen.

Und Sabiya?

Mag schon sein, dass sie die anderen täuschen kann mit ihrem Brave-Mädchen-Look, mit Perlenohrsteckern und dezentem Lipgloss. Aber ich bin in Linderud aufgewachsen, auch so einem Viertel: Ich weiß genau, man kriegt die Frau aus dem Getto raus, aber nicht das Getto aus der Frau.

Ahmad und Sabiya sind vom selben Schlag. Der Unterschied ist nur, dass sie sich angepasst hat.

Ich wohne im Viertel Rosenhoff. Die Leute finden immer, das klingt idiotisch, mitten in Oslo, aber ich kann den Fjord ein bisschen sehen, ich habe meine Musik, meine Serien und meine Freunde, und ich habe Mama. Ich besuche sie jeden Tag, sitze neben ihr und halte ihr die Hand und rede mit ihr. Einen Lover hab ich nicht, auch keine Kinder, aber ich versuche, den Kindern bei uns im Krankenhaus all meine Liebe und Fürsorge zu geben.

Der Junge heute gehört zum Schönsten, was ich je gesehen habe. Wie unschuldig er in den Armen seines Vaters gelegen hat. Wie kann jemand seinem Kind bloß so was antun?

Nachdem ich den ganzen Abend in der Abteilung rumgerannt bin, ist mir heiß, ich bin verschwitzt, meine Achseln sind nass. Wenn ich nach Hause komme, nehme ich eine lange kalte Dusche, dann lege ich mich in frisch gewaschenes Bettzeug.

Zum Glück ist die Abendluft etwas erfrischend, sie legt sich wie ein kühler Mantel über meine erhitzte Haut.

Aber genau in dem Augenblick sehe ich ihn, den Mann, der seinem eigenen Sohn die Zukunft gestohlen hat. Er geht direkt vor mir.

Ich folge ihm, geräuschlos und vorsichtig wie der rosarote Panther, und gleich ist mir wieder heiß.

Außer uns ist niemand unterwegs, und der Typ scheint ziellos rumzulaufen. War das mit dem Beten nur ein Bluff? Oder hat er nicht verstanden, wo der Gebetsraum liegt?

Ich gehe nur zehn Meter hinter ihm, aber er hat Kopfhörer in den Ohren, wirklich unglaublich, und kümmert sich nicht um mich.

Irgendwann bleibt er stehen, geht eine Metalltreppe rauf und fasst an den Griff einer blauen Stahltür. Hier kommen sie also zum Beten hin, die Muslime mit ihrer Doppelmoral, die dafür verantwortlich sind, dass die Haushaltshilfe nicht die Lebensmittel einkauft, die die Hilfsbedürftigen haben wollen, dass ethnisch norwegische Kinder in der Schule gemobbt werden, in der Stadt Leute zusammengeschlagen werden, wenn sie mit ihrem Liebsten Hand in Hand gehen, nur weil er vom selben Geschlecht ist.

Alles an diesem Kerl macht mich rasend wütend, der Stiernacken, das kurz geschnittene Haar, das Basecap und das blaue Chelsea-Sweatshirt mit der Samsung-Reklame auf der Brust.

Ich verspüre eine irrsinnige Lust, ihm die Fresse zu polieren, seinen Kopf gegen eine Wand zu knallen, irgendwas zu tun.

7 – Haavard

Kurz vor Mitternacht stehe ich auf dem Flur, untersuche meinen linken Mittelfinger. Das Pflaster löst sich beim Händewaschen, also habe ich es abgezogen, aber darauf geachtet, dass ich bei Patientenkontakt immer Handschuhe trage. Zum Glück hat die Wunde relativ schnell zu bluten aufgehört, sie scheint sich schon zu schließen, aber ich muss den losen Hautfetzen bei der nächsten Gelegenheit abschneiden.

Da kommen zwei Polizeibeamte in Uniform durch die Glastür der Abteilung, eine Frau und ein Mann.

Der dürfte kurz vor der Pensionierung stehen, wirkt aber schlank und durchtrainiert. Braun gebranntes Gesicht, Kurzhaar, scharfer Blick. Sicher einer, der sein Leben lang im Morddezernat gearbeitet hat und sich trotz seiner guten Kondition auf einen Herzinfarkt zubewegt, nach vielen Jahren mit zu wenig Schlaf und zu viel Arbeit.

Die Frau ist jünger, um die vierzig, mit mädchenhaften Sommersprossen, gepflegten Fingernägeln und einem langen Pferdeschwanz, an den Spitzen heller als am Haaransatz.

Sie stellen sich vor, sie kommen vom Dezernat für Gewaltverbrechen, ich kriege nur die Vornamen mit. Elin und Morten.

»Sind Sie bereit, als Zeuge auszusagen? Sie haben das Recht abzulehnen.«

»Nein, in Ordnung.« Ich habe das schon früher mitgemacht, wenn wir die Polizei hinzuziehen mussten.

»Möchten Sie einen Rechtsbeistand?«

»Nein, nein …«

Die steifen, förmlichen Sätze bringen mich fast zum Lächeln.

»Dann fangen wir jetzt an. Haben Sie einen Patienten namens Faisal Ahmad?«, fragt Elin, und erst da fällt mir ein, dass ich in all dem Chaos eines ganz vergessen hatte.

Die Polizei anzurufen.

Als Diensthabender wäre das mein Job gewesen. Dass sie jetzt hier auflaufen, bedeutet, dass Sabiya das übernommen hat.

»Hatten Sie in irgendeiner Form Kontakt mit Faisal Ahmads Vater, Mukhtar Ahmad?«, fragt die Polizistin.

»Natürlich. Er war heute Abend länger hier.«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Tja. So kurz nach halb zehn? Da wollte er den Weg zum Gebetsraum wissen. Wir hätten ihn vielleicht zurückhalten sollen, aber das war wirklich nicht so leicht. In seiner Situa­tion konnten wir ihm das nicht verwehren.«

Sie schauen einander kurz an, ich sehe, sie sind ein eingearbeitetes Team, arbeiten gut zusammen.

»Sie kommen doch, weil jemand aus unserer Abteilung Sie angerufen hat, oder?«, erkundige ich mich.

Jetzt schüttelt die Frau den Kopf.

»Nein, wir kommen wegen eines Leichenfunds auf dem Gelände des Krankenhauses. Der Tote ist bislang nicht identifiziert. Laut Ausweis könnte es sich um Mukhtar Ahmad handeln. Und am Empfang haben wir erfahren, dass sich ein Patient namens Faisal Ahmad hier in der Abteilung befinden soll. Trifft das zu?«

»Das könnte man so sagen«, antworte ich.

Die ärztliche Schweigepflicht gilt auch gegenüber der Polizei. Darauf würden sich manche meiner prinzipientreueren Kollegen jetzt wohl berufen.

Aber wenn auf dem Gelände des Krankenhauses ein Toter gefunden wird …

Es dauert einen Moment, bis mein Gehirn richtig verarbeitet, was sie eben gesagt hat.

»Entschuldigung, sagten Sie, Mukhtar Ahmad ist tot?« Ich stehe mit offenem Mund da.

»Das versuchen wir zu ermitteln«, sagt Morten.

»Erst noch einmal zurück zu Faisal Ahmad«, sagt die Polizistin.

Ich versuche, mich zu konzentrieren.

»Der Junge hatte eine Gehirnblutung«, sage ich schließlich. »Wurde heute Abend operiert, aber die Blutung war zu umfangreich, mit dem Leben nicht vereinbar. Der Vater ist gleich danach gegangen. Faisal wird noch beatmet, aber das Gerät wird bald abgestellt. Einen Schädelbruch hatte er auch. Der Vater behauptet, er sei vom Baum gefallen, aber er hatte auch alte Brüche und wies andere Anzeichen für Misshandlung auf. Alte und frische Hämatome, dazu diese schwere Hirnblutung. Es kann keinen Zweifel geben, das ist ein Fall von familiärer Gewalt.«

»Wann haben Sie heute angefangen zu arbeiten?« Morten klingt wie einer aus Trondheim, der seit der Polizeihochschule in Oslo lebt. Elin ist dem Akzent nach eine echte Bergenerin.

»Kurz vor drei habe ich den Dienst angetreten, fünf vor oder so.«

»Haben Sie das Haus während des Dienstes verlassen?«

Ich zögere kurz.

»Nein.«

»Was für einen Eindruck hatten Sie von Ahmad?«

»Nicht den besten.« Ich bin erleichtert über den Themenwechsel. »Laut. Aggressiv. Schnell beleidigt. Hat die ganze Zeit rumgeschrien.«

»Ist seine Frau noch hier?«

»Soweit ich weiß, ist sie zu den anderen Kindern nach Hause gefahren.«

Elin schaut auf ihre rosa Trainingsuhr.

»Hätten Sie die Möglichkeit mitzukommen und eine vorläufige Identifizierung vorzunehmen? Wir wollen ganz sicher sein, bevor wir mit den Angehörigen Kontakt aufnehmen.«

»Wer hat die Leiche gefunden?«, frage ich, während wir über das Gelände gehen.

»Ein Wachmann war zufällig in der Nähe, er glaubte, einen Schuss gehört zu haben, und beschloss, die Umgebung genauer abzusuchen. Er hat dann hier in der Notaufnahme Bescheid gegeben, und die haben uns angerufen. Jetzt versuchen wir, sämtliche Bewegungen in dem entsprechenden Zeitraum zu rekonstruieren.«

»Er ist erschossen worden?«

Ohne eine Antwort führt Elin mich zum Tatort, und ich stelle keine weiteren Fragen.

Das Krankenhausgelände hat sich in eine Art Rummelplatz verwandelt, mit Absperrband, Polizeiwagen und blinkendem Blaulicht. Außerhalb der Absperrungen haben Journalisten Stellung bezogen.

Ich muss einen weißen Schutzanzug anziehen. Wir erklimmen die fünf Stufen der Stahltreppe, gehen durch eine blaue, nur angelehnte Tür: Raum für Glaubensausübung und lebensanschauliche Praxis.

Der Raum misst vielleicht zwanzig Quadratmeter.

In seiner Mitte liegt ein Mann auf dem Bauch, er trägt ein blaues Chelsea-Sweatshirt.

»Bleiben Sie auf der Plastikfolie hier«, instruiert mich Elin.

Ich würde gern fragen, ob es wirklich in Ordnung ist, wenn ich hier reingehe, verkneife es mir aber. Schließlich haben sie mich selbst dazu aufgefordert.

Neben der Leiche knien zwei Beamte von der Spurensicherung, ebenfalls in weißen Schutzanzügen, und fotografieren sie aus verschiedenen Blickwinkeln. Der eine macht eine Aufnahme von einer angesengten Stelle auf dem Chelsea-Sweatshirt.

Ich bücke mich und betrachte das zur Tür gedrehte Gesicht.

Seine Augen sind gebrochen, die Haut hat bereits etwas Gummiartiges, obwohl sein dunkles Haar ihn weniger gelblich wirken lässt als einen ethnischen Norweger nach Eintreten des Todes.

Er muss hier eingetreten sein und sich gewaschen, sich für das Gebet bereit gemacht haben, all das.

Ob er Trauer empfunden hat? Reue? Oder hat er die Welt ganz allgemein verflucht, wütend auf alle und jeden, wie in unserer Abteilung? Wer war er eigentlich? War er wirklich gläubig, oder war das nur ein Trick, um die Abteilung zu verlassen?

Schämte er sich? Trauerte er um seinen Sohn? Hatte er ihn geliebt?

Wie dem auch sei, ich empfinde nichts als Erleichterung darüber, dass er weg ist. Hinter mir räuspert sich die Polizistin. Ich stehe auf, nicke ihr zu.

»Ja, das ist er«, sage ich zu ihr, als wir hinausgehen. »Der Mann, der mit seinem Sohn zu uns gekommen ist.«

»Gut. Danke erst mal. Sie hören dann noch von uns.« Zu meiner Überraschung schiebt sie sich eine Portion Kautabak unter die Lippe, extra starken.

Ich gehe weg, so schnell, wie es nur geht, ohne zu rennen.

Unterwegs sehe ich Beamte mit Hunden, andere suchen das Gelände mit Metalldetektoren ab. Überall Leute.

In unserer Abteilung herrscht nächtliche Stille, aber Sta­tionspfleger Askildsen ist gekommen, jemand muss ihn alarmiert haben.

Nachdem ich ihm alles geschildert habe, schüttelt er den Kopf: »Mein Gott, was für eine Geschichte. Ich bleibe heute Nacht hier.«

Askildsen lebt allein. Er liebt schottischen Whisky und sieht sich sämtliche Spiele von Liverpool im Fernsehen an. Abgesehen davon ist unsere Abteilung sein einziger Lebensinhalt. Wahrscheinlich wird er sich am Tage seiner Pensionierung in Staub auflösen.

»Wirkt sonst aber eher ruhig hier«, meint er.

»Mittlerweile schon.«

»Dann geh mal nach Hause, Haavard.«

Erst will ich ablehnen, aber dann merke ich, wie erledigt ich bin. Wir Stationsärzte haben von fünfzehn Uhr nachmittags bis um zehn Uhr am nächsten Vormittag Dienst. Das ist sonst schon heftig genug. Heute kommt es mir unvorstellbar lang vor.

»Danke. Ich glaube, da nehme ich dich beim Wort.«

Ich schaue im Stationsbüro vorbei, setze mich hin, greife nach dem Mobiltelefon.

Auf der Website der Boulevardzeitung VG wird schon vom Mord im Krankenhaus Ullevål berichtet. Ein Videofilm ist eingestellt, man sieht eine blonde Journalistin vor dem Haupteingang, sie deutet auf das Gebäude hinter sich.

Ich lege das Telefon weg, sitze da und blicke in die samtblaue sommerliche Dunkelheit hinaus, auf den Mond, die Hausdächer, die beleuchteten Fenster. Ich will das Skalpell nehmen, das in der Mulde zwischen meinem Tisch und Sabiyas gelegen hat, um den Hautstreifen an meinem Finger wegzuschneiden. Aber jetzt ist es nicht mehr da, Sabiya muss es weggeräumt haben.

Auf ihrem Tisch steht ein Foto von ihr, ihrem Mann und den drei Kindern. Fröhliche, sommerlich gekleidete Menschen. Eine schöne Familie, nur der stechende Blick des Mannes ist mir etwas unbehaglich.

Über den Dächern blinken die Sterne. In diesen Häusern schlafen Tausende Menschen. Das Krankenhaus schläft nie.

In meiner Kindheit hörte ich manchmal meinen Vater in seinem Arbeitszimmer Selbstgespräche führen, wenn es mit einer Sache hart auf hart ging.

Jetzt versuche ich dasselbe.

Diese Schicht war außergewöhnlich belastend, sage ich zu mir, aber doch nur eine Schicht unter anderen.

Manchmal können wir eben ein Kind nicht retten. Und manchmal werden Leute erschossen, in Oslo wie in anderen Großstädten auch. Es passieren eben Dinge, die nicht passieren sollten.

Aber der Pep Talk hilft mir nicht. Ich kann den Anblick des kleinen Faisal und die gebrochenen Augen seines Vaters auf dem Boden im Gebetsraum einfach nicht vergessen.

Ich habe ein ganz fremdes Körpergefühl, eine Empfindung, als ob alles sich verändert hätte. Sie bleibt, als ich die Treppen ins Parkhaus hinuntergehe, bleibt, während ich mit dem Fahrrad durch die Straßen fahre.

Die Nacht ist unendlich schön. Der Mond scheint, kein Mensch ist auf den Straßen, nur ich allein, mitten in der Sommernacht, mitten in Oslo, umgeben vom Duft der Traubenkirschen und des Flieders, der gerade aufgeht.

Alles blüht früh in diesem Jahr. Blüht und stirbt.

8 – Clara

Als ich aufwachte, lag Haavard schlafend neben mir. Eigentlich hätte er heute bis zehn Uhr arbeiten müssen, aber offenbar ist er nachts irgendwann nach Hause gekommen. Ich bin aufgestanden, ohne ihn zu wecken, habe die Jungs und die anderen Schüler zur Schule begleitet, wie ge­-plant.

Jetzt bin ich schon seit ein paar Stunden im Büro.

Gerade packe ich meine Sachen für eine Besprechung, die mir ziemlich im Magen liegt – es geht noch einmal um meinen Gesetzesvorschlag –, da kommt einer der politischen Referenten hereinspaziert, ohne anzuklopfen, ohne zu fragen, ob es mir recht ist. »Wie schade, dass sie deinen Vorschlag abgeschossen haben«, sagt er lächelnd.

Er ist sicher erst fünfundzwanzig und hat schon drei Kinder zu Hause in Südnorwegen, aber trotzdem ist er noch völlig verpickelt. Seine Haare glänzen von Wachs, sie riechen muffig, wie bei den Jungs zu Hause in den Neunzigern.

Die Staatssekretäre haben ja manchmal wenigstens noch Arbeitserfahrungen aus dem zivilen Leben, aber die politischen Referenten sind Rotznasen aus den Jugendorganisationen der Parteien, die haben noch nie ein paar Schritte draußen in der wirklichen Welt getan.

Dafür haben sie die Hoheit über die Terminkalender, sie koordinieren die politischen Besprechungen, sind im Ministerium die Anlaufstelle für die Medien, kümmern sich um den Facebook-Auftritt und halten sich überhaupt für unersetzlich.

In Wahrheit ist niemand leichter zu ersetzen als ein politischer Referent.

»Du, ich habe gerade nicht so richtig Zeit.« Ich schaue auf die Uhr. »In einer halben Stunde habe ich eine wichtige Besprechung mit …«

»Kein Problem, ich wollte dir nur das hier geben.« Er wirft einen Aktenordner auf meinen Tisch. »Aus dem Vorzimmer des Ministers. Damit kannst du dich amüsieren, du hast ja jetzt Zeit genug.«

Ich öffne den Aktendeckel. Du lieber Himmel. Briefe aus der Bevölkerung.

Da könnte er mich auch gleich zum Kaffeekochen schicken.

Die meisten Briefschreiber sind völlig durchgedreht. Trotzdem sind wir verpflichtet, ihnen zu antworten. Es ist ein ganzer Stapel. Viele Briefe.

Der politische Referent ist nicht befugt, mich damit zu beauftragen. So was muss über den Dienstweg kommen. Ich weiß, dass er das weiß. Aber ich bringe es nicht über mich, mich auf sein Niveau zu begeben und jetzt Zeit damit zu verschwenden.

»Danke«, sage ich nur.

Hinter mir räuspert sich jemand.

»Was geht hier vor?« Ministerialdirektorin Mona Falkum steht straff und aufrecht hinter ihm in einem ihrer klassischen anthrazitgrauen Kostüme.

Der politische Referent zuckt zusammen.

»Nichts. Ich hab nur reingeschaut, um ein bisschen zu reden.«

»Aha. Clara hat jetzt aber für Small Talk keine Zeit. Wir haben einen wichtigen Termin. Bist du bereit?«, fragt Mona, während der politische Referent sich aus dem Staub macht.

Ich schlüpfe in die Schuhe. »Ja. Mehr als bereit.« Als ich im Justizministerium anfing, war Mona meine Abteilungsleiterin. Jetzt ist sie die Bienenkönigin, die das Ministerium leitet, während die Minister kommen und gehen, eine Chefin, die sich vor uns stellt, die versucht, uns vor Munch und seinen Männern zu schützen.

Eins aber hat sie nicht geschafft.

Sie hat lange versucht, die Staatssekretäre und politischen Referenten dazu zu erziehen, dass sie ihre Aufträge über den Dienstweg in die Fachabteilungen geben, statt diese mit Streufeuer zu überziehen, aber damit ist sie gescheitert. Die heutigen Staatssekretäre wissen, dass sie einer Ministerialdirektorin formell nicht untergeordnet sind, sondern auf derselben Ebene stehen, die lassen sich von keinem Spitzenbürokraten dressieren.