Tier zuliebe. - Birgit Klaus - E-Book

Tier zuliebe. E-Book

Birgit Klaus

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Beschreibung

Die Unlust am Fleischessen wächst, die Zahl der Vegetarier auch. Aber gerade Gut- und Gernesser graut es vor dem Komplettverzicht. Ein Jahr ohne – mit Sachkenntnis und Situationskomik dokumentiert die Fernsehmoderatorin Birgit Klaus ihren Selbstversuch als Vegetarierin, die Abgründe der Fleischindustrie und die Erkundung vegetarischer Delikatessen. Sie stellt sich der verdrängten Wirklichkeit der Massentierhaltung und Schlachthöfe und fragt sich, auf welcher ethischen Grundlage ein Tier zum besten Freund des Menschen erhoben wird, während ein anderes als Schlachtvieh zur Welt kommt.

Ob Birgit Klaus’ Cholesterinspiegel sinken und sie stattdessen unter Eisenmangel leiden wird, ob Menschen wie sie den Planeten retten oder ob „Bio“ der Schlüssel zum legitimen Fleischverzehr ist, das Buch fordert die Auseinandersetzung mit einem Thema, dessen Relevanz für die Menschlichkeit einer Gesellschaft nicht verkannt werden darf - tierzuliebe und uns zuliebe.

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Seitenzahl: 206

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Wer Tiere quält, ist unbeseelt,und Gottes guter Geist ihm fehlt.Mag noch so vornehm drein er schauen,man sollte niemals ihm vertrauen.

(Goethe)

Inhaltsverzeichnis

InschriftVorwortProlog: Nie wieder grillen?TEIL 1
Mitgefühl und KonsequenzIm SchlachthofOhne Empathie kein MenschVom Geheimnis der SpiegelneuronenDie ersten VegetarierMotivationshilfePhilosophische Schutzimpfung
Copyright

Vorwort

Ständig soll ich ein schlechtes Gewissen haben! Mein CO2-Fußabdruck sei enorm groß, höre ich immer wieder. Nicht nur meiner, sondern der eines jeden in der westlichen Welt. Weil wir zu viel Auto fahren, zu viel Energie verbrauchen, auf zu großer Fläche wohnen, zu oft in den Urlaub fliegen, zu oft duschen, zu heiß duschen, zu viel essen, zu viel Essen wegschmeißen – weil wir sind. Ich wohne auf einem »Berg« und ich brauche mein Auto. Zugegeben: Ich fahre auch grundsätzlich lieber Auto, als öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Und ich lebe auf einer relativ großen Fläche. Sind deswegen andere besser als ich? Im ökologischen Sinne vermutlich ja. Der eine oder andere jedenfalls …

Zwar glaube ich nicht, dass jemand seine 100-Quadratmeter-Wohnung aufgibt, um in eine 30-Quadratmeter-Wohnung zu ziehen, nur um seine persönliche CO2-Bilanz zu verbessern, aber vielleicht läuft er häufiger mal in die Stadt als ich. Vielleicht duscht er kürzer? Das schlechte Gewissen ist bestimmt – zumindest manchmal – angebracht. Was könnte ich also tun, um all jenen etwas entgegenzusetzen, die mit dem erhobenen Zeigefinger vor meiner Nase rumfuchteln? Kein Fleisch mehr essen, das wäre doch was. Das tut am wenigsten weh – dachte ich mir im Frühjahr 2010 und spielte mit dem Gedanken, das Fleischessen auf Zeit mal einzustellen. Mein persönlicher CO2-Fußabdruck würde sich dadurch enorm verringern, denn immerhin verursacht weltweit die industrielle Tierzucht mehr schädliche Treibhausgase als der gesamte Verkehr.

Das waren sie also, meine ersten Überlegungen, einige Wochen bevor ich auf vegetarische Kostprobe ging. Doch je mehr ich mich mit der Materie beschäftigte, desto wichtiger wurde mir eine andere Sache: das Leid, das wir Tieren zumuten für ein bisschen Genuss. Steht das im Verhältnis? Wer gibt dem Menschen das Recht, sich so selbstverständlich anderer Lebewesen zu bedienen? Wir brauchen kein Fleisch zum Überleben – wir sind keine Inuit, die auf Robbenfleisch angewiesen sind, weil sich auf Eis schlecht Getreide anbauen lässt. Wir essen trotzdem Fleisch – viel und billiges Fleisch. Und behelfen uns dazu einer typisch menschlichen Eigenschaft: dem Verdrängen, das auch ich gut beherrschte.

Für meine »Kostprobe« wollte ich den Schalter im Kopf umlegen und sehen, was passiert, wenn ich mit offenen Augen durch die Welt gehe, wenn ich die unbequemen Gedanken an das gequälte Dasein unserer Mitgeschöpfe zulasse, wenn ich mich ernsthaft mit ihnen auseinandersetze. Und ich wollte auf Entdeckungstour gehen. Ich wollte sehen, ob man auch als genussfreudiger Mensch, für den ich mich halte, Alternativen zum Fleisch findet, die den Gaumen und die Sinne befriedigen, denn schließlich schmeckt mir Fleisch.

Im Laufe meines Experiments setzte dann ein nie dagewesener Boom ein: Zeitungen und Zeitschriften entdeckten das Thema Vegetarismus. Die Artikel schossen wie Pilze aus dem Boden. Bücher erschienen, darunter zwei Bestseller, in Talkshows wurde diskutiert. Und je größer das Thema in den Medien gehandelt wurde, desto vielschichtiger wurden die Aspekte, die zutage traten. So wurde mir im Zuge meiner Recherchen klar, dass ich konsequenterweise Veganerin werden müsste. Denn auch konventioneller Käse ist ein Klimakiller 1 und auch für Käse werden Tiere gequält – bei der Herstellung braucht man Lab aus den Mägen von Kälbern. Einblicke in die industrielle Milchproduktion lassen einen auch nicht besser schlafen. Wer ist schon dafür, dass Kühen sofort nach der Niederkunft ihre Kälber weggenommen werden, dass sie ihren Nachwuchs nicht einmal kurz beschnuppern und stillen dürfen …

Doch Veganismus wäre Stoff für ein weiteres Experiment, ein zweiter Schritt – irgendwann vielleicht. Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden. Und wenn Sie Ihr Haus umweltgerecht sanieren, beginnen Sie vielleicht mal mit den Fenstern oder mit dem Dach … später dämmen Sie die Mauern. Ich wollte meinen Selbstversuch praxisnah gestalten. Ich wollte sehen, wo die Hürden und Stolpersteine sind in unserer auf Fleischkonsum ausgerichteten Gesellschaft, erleben, wie ich mich verändere und wie mein Umfeld auf mich reagiert. Ich wollte einfach mal aufhören, Fleisch zu essen. Tier zuliebe.

Birgit KlausBaden-Baden im April 2011

Prolog: Nie wieder grillen?

»Möchtest du mit uns grillen?«, fragt mich mein 19-jähriger Sohn Nicolas mit funkelndem Tatendrang in den Augen. Er hat ein paar Freunde eingeladen und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Ich sitze am Computer auf dem Dachboden und arbeite. Es ist zwar Wochenende, aber ich muss noch ein paar Texte schreiben. Das herrliche Wetter habe ich bisher erfolgreich ignoriert: Die Jalousien sind schon den ganzen Tag halb runtergezogen und die doppelt verglasten Fenster lassen das Gezwitscher der Vögel außen vor. Die würden laut verkünden, dass er endlich da ist, der erste, lang herbeigesehnte laue Sommerabend in diesem Jahr 2010, das bisher nicht viel zu bieten hatte an Sonne und Wärme. Ein Abend wie geschaffen dafür, den Grill im Garten anzuschmeißen. Arbeiten kann ich morgen schließlich auch noch. Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Grillen? Ich bin doch frischgebackene Vegetarierin! Ich darf ja weder Steak noch Wurst auf den Rost werfen!

Soll das meine Zukunft sein: Ausschluss vom kulinarisch gekrönten Zusammenkommen mit Freunden? Als ich vor vier Wochen aufgehört habe, Fleisch zu essen, habe ich an solche Situationen gar nicht gedacht. Ich hatte mich im Vorfeld nicht wochenlang mit detaillierten Ernährungsplänen beschäftigt, keine Fachliteratur über Vegetarismus gewälzt oder weise Ratschläge von vegetarischen Mitstreitern eingeholt. Nicht einmal entsprechend eingekauft habe ich vor dem Tag X. Ich habe einfach aufgehört. Wie konnte ich das übersehen?, frage ich mich jetzt, da ich mich ausgeschlossen fühle vom kollektiven Genuss. War es womöglich der falsche Zeitpunkt?

TEIL 1

Mitgefühl und Konsequenz

Die Frage hat für die Menschen nicht zu lauten:Können die Tiere denken? Sondern sie hat zu lauten:Können die Tiere leiden? Darüber aber gibt es wohl keinenStreit, und das Wissen um diese Leidensfähigkeit mussdaher die Hauptsache sein bei jeder Betrachtung derTierseele durch den Menschen.

(Jeremy Bentham)

Es ist ein kühler Sonntag und ich bin mit meinem Freund im südlichen Schwarzwald unterwegs, in einer Gegend, in der einem kaum eine Menschenseele begegnet. Idyllisch ist es im Hotzenwald. Nach einer dreistündigen Wanderung kommen wir zurück zum Ausgangspunkt, einem Waldparkplatz an einer wenig befahrenen Landstraße. Vielleicht alle zehn Minuten kommt hier mal ein Auto vorbei. Wir packen gerade unsere Jacken und Rucksäcke in den Kofferraum, als wir Zeugen eines Unfalls werden: Ein kleines weißes Kätzchen huscht über die Straße und wird ausgerechnet von dem einzigen Fahrzeug weit und breit erfasst. Der Fahrer des Geländewagens bremst kurz ab, wirft einen Blick in den Rückspiegel und drückt dann gleich wieder aufs Gaspedal. Zurück bleibt die angefahrene Katze, die jämmerlich maunzend mitten auf der Fahrbahn liegt. Eine kleine Blutlache hatte sich unter ihr auf dem Asphalt gebildet. Ratlos und schockiert stehen wir am Straßenrand. »Schau nicht hin«, meint mein Freund, aber das kann ich nicht. »Wir müssen etwas tun!«, rufe ich in meiner Verzweiflung.

Aber was? So grausam es klingt, es wäre ein Akt des Erbarmens, ins Auto zu steigen und das Kätzchen noch einmal zu überfahren. Aber wer soll das tun? Ich auf keinen Fall.Wie verdammt hilflos man in solch einer Situation ist! Die 110 wählen ist wohl auch keine Option – erstens, was soll ich da sagen? »Wir stehen gerade irgendwo im Hotzenwald, wie das nächste Dorf heißt, weiß ich nicht, aber da liegt eine kleine Katze halb überfahren auf der Straße. Ob sie noch lange lebt, wissen wir nicht, aber sie schreit erbärmlich und Sie müssen sofort kommen und helfen.« Zweitens habe ich keinen Empfang.

Ich schaue also weg und wieder hin, weg und wieder hin und hoffe, dass ein schneller Tod das Tier erlöst. Ist es nicht schon halb tot? Doch dann dreht sich die Katze aus eigener Kraft um und kauert auf allen vieren. Sie schaut mich mit großen Augen an und miaut leise. Sie ist also doch nicht halb tot, sie kommuniziert mit mir – oder versucht es jedenfalls. Ich muss auf die Straße gehen und sie wegtragen, denke ich. Wird sie mich beißen und kratzen? Sind verletzte Tiere nicht unberechenbar? Was, wenn ich ihre Verletzungen verschlimmere oder ihr noch mehr wehtue? Während mir diese Fragen durch den Kopf schwirren, kommt noch ein Auto angerast und überrollt das Tier zum zweiten Mal. Es zuckt noch kurz, aber diesmal überlebt das Kätzchen es nicht. Es ist tot, niedergestreckt von zwei Autos, deren Fahrer nicht einmal anhalten, um zu sehen, was sie angerichtet haben.

Das Bild des Kätzchens geht mir tagelang nicht aus dem Kopf. Immer wieder sehe ich vor mir, wie es sich mühsam umdrehte und mich Hilfe suchend, flehend anmiaute. Wie zum zweiten Mal ein Auto drüber donnerte und das Tier leblos liegen blieb. Wie hilflos ich mich gefühlt habe. Doch allmählich drängt sich ein anderer Gedanke zwischen diese Szenen: So wie das Kätzchen leiden andere Tiere Tag für Tag. Rinder, Schweine, Hühner. Nicht weil Autos sie versehentlich überfahren, sondern weil Menschen sie halten, um sie zu töten.

All die Gedanken, ob ich aus meiner Verantwortung für die Umwelt heraus Vegetarierin werden sollte, stehen nun als Motivation nur noch an zweiter Stelle, denn das Projekt »fleischlos leben« hat ein Gesicht bekommen. Ein Tier, dessen Leiden ich mit ansehen musste, steht stellvertretend für die vielen, die im Verborgenen leiden. Es ist der Moment, an dem ich mir vornehme, fortan mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und Argumente für und Informationen über Vegetarismus zu sammeln, mit dem Ziel: aus Einsicht eines Tages ohne Mühe auf Fleisch verzichten zu können. Die Ergebnisse meiner Recherchen überraschen mich nicht wirklich, vieles ist einem ja in irgendeinem Hinterstübchen schon bewusst, aber wenn ich einen unverklärten Blick auf die Fakten werfe, wird mir klar: Ich muss Konsequenzen aus meinem Wissen ziehen.

Im Schlachthof

Gerechter Gott! Aus wie vielen Marterstunden der Tiere lötet der Mensch eine einzige Festminute für seine Zunge zusammen!

(Jean Paul)

Sie kreischen in Panik und vor Schmerz. Eigentlich werden Schweine vor der Schlachtung entweder mit Kohlendioxid oder der Elektrozange betäubt, aber beide Methoden können nicht gewährleisten, dass die Tiere auch wirklich das Bewusstsein verlieren. Bei der Betäubung mit CO2 kommt hinzu, dass die Tiere für 10 bis 20 Sekunden unter Erstickungsängsten leiden, bevor die Wirkung des Gases einsetzt. Als Nächstes landen die Tiere auf einem Förderband, an dem der sogenannte »Stecher« auf sie wartet. Der soll das Tier vor dem anschließenden Verbrühen ausbluten lassen. Jedem Schwein bleiben bei der durchschnittlichen Taktung zwei Sekunden zum Sterben. Der Haken dabei ist, der Stecher trifft bei dem hohen Schlachttempo (in den hochindustrialisierten Schlachthöfen 1500 Schweine pro Stunde) nicht immer die großen Gefäße des Tieres. Diejenigen, die deshalb nicht rechtzeitig ausbluten oder gar von dem Stecher übersehen werden, kommen wieder zu Bewusstsein – wenn sie es überhaupt verloren haben – und werden bei lebendigem Leibe verbrüht.

Das passiert bei einem Prozent der Schweine, durchschnittlich bei 15 Schweinen pro Stunde, schätzt Klaus Tröger. Er ist Tierarzt und Leiter des bundeseigenen Instituts für »Sicherheit und Qualität bei Fleisch« in Kulmbach und beklagt, dass es keinerlei Kontrollsystem gibt, das meldet, wenn die Tötungsstrategie versagt hat, um lebende Tiere vor dem Verbrühen zu schützen. So werden in Deutschland rein rechnerisch jährlich über 500 000 Tiere bei der Schlachtung unnötig gequält. Bei Rindern verläuft die Tötungsmaschinerie übrigens nicht besser. Bei ihnen wird seit Jahrzehnten per Bolzenschuss getötet, der aber zu oft sein Ziel verfehlt, da ein Rinderhirn gerade mal apfelsinengroß ist. Der Todesschuss geht bei bis zu 7 Prozent der Tiere vorbei und rund 200 000 Rinder sterben jährlich eben nicht den sogenannten »Gnadentod«.

Und wie sieht es aus bei den Hühnern? Gezüchtet werden nur noch Hochleistungsrassen: Legehennen oder Masthühner. Bei den Hühnern herrscht die höchste Industrialisierung in der Tierzucht überhaupt. Sie stammen aus den Labors einiger weniger weltweit operierender Zuchtfirmen. Nur zwei große Firmen beherrschen fast den gesamten weltweiten Markt der Hybridtiere — das sind die Legehennen, die zwischen 280 und 310 Eier pro Jahr legen können, und die Masthühner, die zehnmal mehr Brustfleisch bei halb so viel Futter ansetzen als normale Hühner. Die Zeiten, in denen »normale« Hennen die Eier lieferten und die Hähne das Fleisch, sind längst vorbei. Diese »Zweinutzungshuhn« oder »Zwiehuhn« genannten Tiere sind heute unwirtschaftlich.

Für den bundesdeutschen Konsum werden 60 bis 70 Millionen speziell gezüchtete Hochleistungslegehennen benötigt, da wir Deutsche im Jahr durchschnittlich mehr als 200 Eier pro Person verzehren – gerechnet werden hierbei nicht nur die Frühstückseier, sondern auch die vielen Eier, die sich als Zutat in anderen Lebensmitteln verstecken, in Nudeln, Knödelteig, Fertigsuppen und -saucen, in Brotaufstrichen, Majonäse und Salat-Dressings, außerdem in vielen Süßigkeiten, zum Beispiel in Pralinen, Keksen oder Kuchen.

Die Legehennen, die uns diesen enormen Konsum ermöglichen, müssen in einer Legehennenbrüterei zunächst ausgebrütet werden. Da man sich das Geschlecht des Kükens im Ei (noch) nicht aussuchen kann, zeigt sich erst nach dem Schlüpfen, ob das Küken erwünscht ist. Gut die Hälfte der bebrüteten Eier sind »Ausschuss«: alle Männchen nämlich, die deshalb »Eintagsküken« genannt werden. Klingt niedlich. Man denkt dabei vielleicht an Eintagsfliegen, die vor Sonnenuntergang sterben, weil ihre Lebensuhr eben abgelaufen ist. So ist das bei den Küken aber nicht. Nachdem das Küken geschlüpft ist, wirft man einen kurzen Blick auf die Stelle, die Auskunft über das Geschlecht gibt – es wird »gesext«, so der Fachbegriff. Wenn es ein Männchen ist, wird es so achtlos in eine Tonne mit Gas geworfen, als wäre es ein fauler Apfel. Rund 30 Sekunden dauert der jämmerliche Erstickungstod des Kükens. In veralteten Betrieben landet es gar im Häcksler, der den »Ausschuss« zu »Kükenmousse« verarbeitet, wie es im Fachjargon heißt.

Und das klassische Masthuhn? Das Küken kostet mit 33,15 Cent weniger als eine Kiwi. Es wiegt nach dem Schlüpfen 40 Gramm und kommt zunächst in den Stall – aber nicht in den eines klassischen Landwirts, sondern in den eines abhängigen Lohnmästers. Schon drei Tage später muss sich seine Körpermasse verdoppelt haben. Nach einem Monat wiegt es 38-mal mehr als am Tag des Schlüpfens. Der Preis für das Küken hat sich aber nicht verachtunddreißigfacht: Für das ausgewachsene Masthuhn erhält der Mäster gerade mal 90 Cent. Das Leben des Huhns ist kurz: nämlich zwischen 30 und 38 Tage. Im Handel ist es dann als tief gefrorenes Hähnchen zu einem Kilo-Preis von 1,63 bis 2,99 Euro zu haben. Ein Hähnchen aus biologischer Erzeugung würde im Vergleich pro Kilo zwischen 7,95 und 10,30 Euro kosten.

Den einen Monat ihres Lebens vegetieren die Hühner auf engstem Raum zusammengepresst vor sich hin. Bewegung stünde ihnen aber auch bei mehr Raum nicht offen, denn ihre Knochen entwickeln sich viel langsamer als ihr Brustfleisch, das durch die Zucht auf schnelles Wachsen programmiert wurde. Am Ende ihrer 30 Tage werden die Hühner von Sammelmaschinen »geerntet«. Das bedeutet: Eine Maschine mit Gummifingern fährt durch den Stall und befördert die Tiere auf ein Fließband. Von dort werden sie in Kisten gesteckt, die ein LKW zur Geflügelschlachterei bringt. Hier landen sie wieder auf einem Förderband und jetzt fährt das Huhn – langsam, damit es keinen Stress empfindet – seinem Tod entgegen. Wer meint, da stecke womöglich Mitgefühl dahinter, der irrt. Das Huhn soll keinen Stress empfinden, weil sein Fleisch sonst fasrig zu werden droht. Und das möchte man dem Endverbraucher ersparen. Eineinhalb Stunden dauert deshalb diese letzte »Reise« eines Masthuhns. In manch einem Schlachthof treten mehr als 12 000 Tiere in dieser Zeit die Reise an. Am Ende gleiten die Tiere durch eine Röhre, in der sie mit Kohlendioxid betäubt werden, dann werden sie getötet. In älteren Schlachtanlagen läuft es anders ab: Dort werden die lebendigen Tiere mit den Füßen an einer Förderkette aufgehängt und ihr Kopf in ein Wasserbad getaucht, das unter Strom steht. So oder so ähnlich ergeht es Hühnern täglich milliardenfach auf der ganzen Welt. Und es werden nicht weniger: Wurden 1960 noch sechs Milliarden Hühner geschlachtet, sind es heute 45.2

Weit abgeschottet von uns erleben Milliarden Tiere also in den Schlachthöfen tagtäglich Panik, Schmerzen und Qualen. Doch das Tier im Schlachtbetrieb wird von uns nicht als Kreatur wahrgenommen. Wir machen uns keine Gedanken darüber, wie die letzten Minuten des Hühnerschlegels oder des Wiener Schnitzels auf unseren Tellern ausgesehen haben mögen – klar, sonst würde uns ja auch der Appetit vergehen. Wir leben besser damit, wenn wir es einfach mit einem »Stück« Fleisch zu tun haben. Das ist grotesk. Denn gerade das, was uns Menschen als Spezies auszeichnet, ist Empathie, die Fähigkeit, mitfühlen zu können.

Ohne Empathie kein Mensch

Mitleid mit Tieren hängt mit der Güte des Charakters sogenau zusammen, dass man zuversichtlich behaupten darf:Wer gegen Tiere grausam ist, kann kein guter Mensch sein.

(Arthur Schopenhauer)

Das Mitfühlenkönnen ist ein wertvolles Gut. Es ermöglicht soziales Miteinander und das wiederum das Entstehen von Kultur. Diese Kette ist es, die im Laufe der Evolution den Menschen eben zum Menschen gemacht hat — eine These, die viele Forscher vertreten, zum Beispiel auch der niederländische Zoologe und Anthropologe Carel van Schaik. »Kultur macht schlau«, sagt er. Schaik ist nicht nur Direktor des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich, sondern auch international anerkannter Primatenforscher. In einem Orang-Utan-Forschungsprojekt im Regenwald von Tuanan in der indonesischen Provinz Zentralkalimantan auf Borneo versucht er die These zu belegen, dass es neben kulturellen Innovationen nicht zuletzt eben auch die Empathie ist, die zum hohen Entwicklungsstand des Menschen geführt hat. Während Evolutionsbiologen normalerweise den Zeitpunkt der Menschwerdung dort festlegen, wo wir begannen, Werkzeuge zu benutzen, hält van Schaik einen anderen Moment für entscheidend: nämlich als wir anfingen, in Familienverbänden zu leben. Genau da machte unser Gehirn seiner These nach einen gewaltigen Sprung.

Van Schaik will also genau wissen: Weshalb hat sich vor etwa acht bis sechs Millionen Jahren die eine Affenart so weiterentwickelt, dass sie heute Sonden zum Mars oder Menschen auf den Mond fliegen kann, während die andere im Dschungel geblieben ist? Viele Primatenforscher heben immer wieder hervor, dass Mensch und Menschenaffe im Wesentlichen gleich seien – schließlich haben sie zu 98,7 Prozent die gleiche Erbsubstanz. Den kleinen, aber entscheidenden Unterschied macht die Hirngröße: Das Gehirn eines Menschen ist dreimal größer als das der Menschenaffen. Wie kommt es? Wann und vor allem warum fing unser Gehirn zu wachsen an? Eine Frage, die viele Nicht-Vegetarier gerne zum Anlass nehmen, um zu betonen: Nur dank des hochwertigen Eiweißes aus dem Fleisch sei das Gehirn des Menschen größer geworden.

Aber was ist das für ein Argument? Selbst wenn unsere aasfressenden Vorfahren vor zwei Millionen Jahren durch die Gegend streiften, um hier und da das Gehirn oder das Knochenmark eines von Raubtieren zurückgelassenen Kadavers zu essen – was für eine unappetitliche Vorstellung – und sie dadurch in den Genuss langkettiger, mehrfach ungesättigter Fettsäuren kamen, die das Gehirnwachstum begünstigt haben könnten – es gibt genügend Raubtiere, die ständig tierisches Eiweiß zu sich nehmen und trotzdem haben sie ein viel kleineres Hirn als der Mensch. Und warum? Weil sie laut van Schaik eben nicht dieselbe Initialzündung hatten. Als der Homo erectus, der erste Vertreter der Gattung »Homo«, vor ca. zwei Millionen Jahren als Jäger und Sammler durch die Savanne zog, war sein Gehirn zwar schon recht groß, zwischen 700 und 900 Kubikzentimeter, aber das entscheidende Wachstum setzte erst ein, als er anfing, sich gemeinsam mit anderen um seine Jungen zu kümmern. Die gemeinsame Aufzucht, für die Empathie und Abstimmung notwendig waren, ließ laut van Schaik neue Strukturen, Gehirnwindungen und -verbindungen sprießen und das kostbare Organ stetig wachsen. Aber warum hat das Gehirn der Menschenaffen keinen Sprung gemacht? Leben die nicht zum Teil auch in familienartigen Strukturen? Das möchte ich von Carel van Schaik wissen, der soeben erst von einer Südafrika-Expedition zurückgekehrt ist. Ein Anruf am anthropologischen Institut beschert mir eine freundliche Aufklärung, bei der ich als frühere alleinerziehende Mutter im ersten Moment allerdings leicht zusammenzucke:

Menschenaffenmütter sind alle alleinerziehend, während Menschenmütter, zumindest bei den Jägern und Sammlern, immer von vielen Seiten Hilfe bekommen. Wir haben also andere Familienstrukturen. Die gemeinschaftliche Jungenaufzucht hat eine neue Psychologie hervorgerufen, die im Allgemeinen eine größere Zusammenarbeit ermöglicht und allmählich größere Hirne gefördert hat (und energetisch ermöglicht). Es ist ein allgemeiner Trend unter Tieren, dass größere Intelligenz sich besser durchsetzen kann unter den Bedingungen der gemeinschaftlichen Jungenfürsorge. Das ist jedenfalls der Kern des Argumentes.

Das Gehirn ist mit dem sozialen Lernen also geradezu explodiert und der Homo infolgedessen schlauer geworden. So ist tatsächlich auch der Neocortex, der für das Mitfühlen im Gehirn zuständig ist, der neuere Teil unseres Gehirns. Dass nicht allein der Verzehr von tierischem Eiweiß uns im Laufe der Jahrmillionen zu Menschen gemacht hat und wir deshalb in ewiger Dankbarkeit geradezu verpflichtet sind, auf immer munter weiter Tiere zu töten und zu essen, wie das manch ein ideologischer Fleischesser gerne hätte, ist eindeutig. Heute brauchen wir kein Fleisch mehr, weder um uns weiterzuentwickeln noch zum Überleben. Wir können uns frei entscheiden. Und leider entscheiden wir uns oft dazu, das Leid vieler Tiere einfach zu ignorieren – das klingt angesichts der Wichtigkeit der Empathie in unserer Vorgeschichte wie ein Rückschritt.

Gleichzeitig kann die Empathie im Umgang mit Tieren auch bizarre Formen annehmen. Ich denke an eine mir bekannte ältere Dame, eine Dackelbesitzerin, die ihren Hund derart verwöhnt, dass ich mich richtig abgestoßen fühle. Vom Feinkost-Hundefutter über das schicke Wintermäntelchen bis zum Schlafplätzchen mit Deckchen auf dem Sofa. Nichts ist zu gut oder zu teuer für den Dackel.

Wie geht es zusammen, dass jemand wie die ältere Dame ihren Hund behandelt wie ein geliebtes Kind, aber gerne auch ein »Stück« Fleisch verspeist, ohne zweimal darüber nachzudenken, was es einmal war, ob dieses Tier ein geschundenes Dasein in einem Mastbetrieb führte, bevor es möglicherweise unter Schmerzen geschlachtet wurde, um möglichst günstig auf dem Teller zu landen? Es ist paradox.

Vom Geheimnis der Spiegelneuronen

Von hundert gebildeten und feinfühlenden Menschenwürden schon heute wahrscheinlich neunzig nie mehrFleisch essen, wenn sie selbst das Tier erschlagen odererstechen müssten, das sie verzehren.

(Bertha von Suttner)

Es ist früher Nachmittag und ich sehe mit meiner Freundin M. einen Filmausschnitt, in dem eine Kuh friedlich auf einer saftigen Weide liegt und in die Kamera blinzelt. Das Gesicht der Kuh ist kurz in einer Nahaufnahme zu sehen und sie wirkt äußerst zufrieden mit sich und der Welt. Doch M., die übrigens keine Vegetarierin ist, sieht nur die Kennzeichnungsmarke im Ohr der Kuh und ruft aufgebracht: »Ach nein! Warum muss man denen so einen Knopf ins Ohr machen? Das tut bestimmt weh!«

Ein klarer Fall von aktiven Spiegelneuronen, denke ich. Diese Wunderzellen in unserem Gehirn machen Empathie für uns erst möglich. Sie lassen uns vermutete Schmerzen, in diesem Fall die der Kuh, nachempfinden. Durch die Spiegelneuronen fühlen wir mit, was unser Gegenüber fühlt. Oder im Falle der Kennzeichnungsmarke im Ohr: irgendwann mal gefühlt haben könnte. Entdeckt wurden die Spiegelneuronen erst Mitte der 1990er Jahre – in einem Versuchslabor der Universität Parma. Dort forschte Giacomo Rizzolatti mit seinem Team an Affengehirnen. Er pflanzte den Tieren Elektroden ein, um zu sehen, welche Nervenzellen reagieren, sobald eines der verkabelten Äffchen nach einer Nuss greift. Und da entdeckte er die Sensation: Einzelne Zellen feuerten immer, egal, ob die Tiere selbst nach der Nuss griffen oder ob sie einen Mitarbeiter dabei einfach nur beobachteten. Die Nervenzellen mit der Doppelfunktion schienen das Gesehene im Gehirn also zu »spiegeln« – daher der Name »Spiegelneuronen«.

Mit diesen Spiegelneuronen kommen wir Menschen zur Welt. Sie lassen uns zusammenzucken und selbst Schmerzen empfinden, wenn wir zum Beispiel beobachten, dass jemand sich mit dem Brotmesser schneidet oder sich den Kopf anstößt. Männer haben übrigens im Durchschnitt etwas weniger davon als Frauen, aber grundsätzlich sind diese Nervenzellen bei uns allen immer aktiv, wenn auch mal mehr, mal weniger. Warum also, frage ich mich, melden sich nun diese tollen Dinger nicht, wenn wir Fleisch beim Metzger kaufen? Wenn sogar die Form des Tieres noch erkennbar ist wie bei einem geköpften Brathähnchen oder einem gehäuteten Hasen? Selbst wenn wir ein komplettes Spanferkel am Spieß über dem Feuer rotieren sehen oder eine tote Gans stopfen, scheinen die Spiegelneuronen – bei den meisten Menschen – zu »schlafen«.

Ich habe zwar noch nie eine Gans gestopft, aber ich kann mich erinnern, dass ich beim Anblick eines Suppenhuhns immerhin dachte, dass der kleine, weiße Körper, der da tot vor mir lag, jämmerlich gedemütigt wirkte. Trotzdem: Hätte mir ein solches Huhn wirklich leidgetan, hätte ich es vermutlich nicht essen können. Stattdessen konnte ich diese Gedanken ganz schnell wegpacken und zuschlagen. Wieso geht das? Warum feuern keine Spiegelneuronen im Gehirn, wenn wir ein »Stück« Fleisch in die Pfanne werfen? Fragen, die Professor Joachim Bauer von der Uniklinik Freiburg mir beantworten kann. Der Wissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut ist dem Geheimnis der Spiegelneuronen seit vielen Jahren auf der Spur.

Was machen meine Spiegelneuronen, wenn ein Brathähnchen vor mir liegt? Eigentlich müsste mir dieses doch bei genauer Betrachtung leidtun …

In diesem Falle ist keine Spiegelreaktion zu erwarten, da Spiegelzellen nur auf Lebewesen reagieren, deren Sprache oder Körpersprache wir verstehen. Die Körpersprache, also der Augenausdruck oder die Gesichtszüge eines Hühnchens, finden im Gehirn eines Menschen keinen Zugang zu den Spiegelzellen. Tiere, die uns sehr nahestehen, d. h. deren Körpersprache wir verstehen, lösen in uns ohne Frage bestimmte Empathiereaktionen aus. Dies ist der Grund, warum es uns widerstrebt, einen Hund oder ein Pferd zu töten, um es zu essen. Bei Fischen oder Hühnern besteht ein deutlich größerer Abstand. Die Gedanken, die wir uns aber über den Sinn oder Unsinn des Tieretötens machen, werden in anderen Hirnarealen produziert, vor allem im Bereich des präfrontalen Cortex. Moralische Überlegungen werden vor allem von dort aus in Gang gesetzt.

Kann man Spiegelneuronen bewusst an- und abstellen?

Man kann sich durchaus aktiv gegen eigene empathische Impulse stellen, so wie das z. B. Himmler in einer berühmt-berüchtigten Rede von seinen SS-Leuten verlangt hat. Aber auch in anderen Kontexten kann es wichtig sein, empathische Gefühle zu verdrängen, z. B. wenn Chirurgen operieren oder wenn wir das blutende Knie eines Kindes verbinden. Es nützt dem Kind wenig, wenn wir vor lauter empathischem Mitleiden einen Nervenzusammenbruch produzieren. Eine kurze Mitfühlreaktion reicht aus und sollte uns dann alsbald veranlassen, etwas Vernünftiges zu tun, was hilfreich ist.

Primaten haben ja offenbar auch Spiegelneuronen. Wie sieht es aus bei anderen Tieren?

Darüber liegen noch keine Ergebnisse vor. Meine Vermutung ist, dass alle Tiere, die sozial abgestimmte Verhaltensweisen zeigen, über bestimmte Formen von Spiegelresonanzen verfügen.

Ist es ein Zeichen von Fortschritt in der Menschwerdung, wenn Spiegelneuronen besonders aktiv sind?

Ja und nein. Ohne Spiegelsystem gäbe es keine Empathie. Doch nicht alles, was spiegelt, ist gut. Wir stehen immer in Gefahr, »zu viel« vom anderen in uns hineinzulassen und dabei unsere Identität zu verlieren. Es kommt also darauf an, eine Balance zu wahren.

Wäre es denkbar, dass wir alle, die wir regelmäßig unsere Spiegelneuronen ignorieren/unterdrücken/ausknipsen etc., wenn wir Fleisch essen, insgeheim einen großen Knacks davontragen?

Ich würde es nicht pathologisieren. Dass wir massenhaft Tiere töten und verwerten, ist jedoch sicher ein Anzeichen dafür, dass wir dabei sind, uns in vielen Bereichen ein Stück der natürlichen Sensibilität für die Kostbarkeit des Lebens abzutrainieren.

Nun frage ich mich und abschließend auch Professor Bauer, ob es vielleicht mit der größeren Anzahl an Spiegelneuronen und folglich der größeren Empathiefähigkeit zusammenhängt, dass mehr Frauen als Männer vegetarisch leben. Das hält er zumindest für möglich. Wobei die ersten Vegetarier, die von sich reden machten, Männer waren – und das schon vor langer, langer Zeit.

Die ersten Vegetarier

Wer mit dem Messer die Kehle eines Rindes durchtrennt und beim Brüllen der Angst taub bleibt, wer kaltblütig das schreiende Böcklein abzuschlachten vermag und den Vogel verspeist, dem er selber das Futter gereicht hat — wie weit ist ein solcher noch vom Verbrechen entfernt?

… sprach Pythagoras vor rund 2500 Jahren. Der Philosoph ist so was wie der erste »offizielle« Vegetarier der Antike. Er war strikt dagegen, Tiere zu töten und sie zu essen. Vor allem war er überzeugt davon, dass alles, was der Mensch den Tieren antut, irgendwann auf den Menschen zurückkommt.Viele haben sich damals seiner Lebens- und Ernährungsweise angeschlossen. Menschen, die kein Fleisch aßen, wurden daher jahrhundertelang »Pythagoräer« genannt, der Begriff »Vegetarier« etablierte sich erst im 19. Jahrhundert von der englischen Vegetarian Society ausgehend.

Pythagoras steht mit der Vorstellung, dass wir das, was wir Tieren antun, irgendwann büßen, nicht allein. Interessanterweise sind Menschen aller möglichen Religionen und Kulturkreise unabhängig voneinander zu genau derselben Schlussfolgerung gekommen. Prominent ist die Überzeugung vor allem im Buddhismus und im Hinduismus, aber auch in der Anthroposophie. Das Schlüsselwort der fernöstlichen Religionen heißt in diesem Zusammenhang »Karma«. Es bedeutet wörtlich »Tat« oder »Handlung«, aber auch »Wirkung« oder »Folge«. Gemeint ist, dass jede unserer Handlungen früher oder später – in diesem oder in einem mutmaßlichen nächsten Leben – Folgen hat. Die wesentliche Voraussetzung im Denken sogenannter »karmischer Zusammenhänge« und Bedeutungen ist, dass alle Lebewesen, nicht nur alle Menschen, eine unsterbliche Seele haben. Der Kirchenvater Thomas von Aquin hat das im 13. Jahrhundert vehement bestritten. Er meinte, Tiere hätten keine Seele. Frauen allerdings auch nicht. Kommentar überflüssig.

Dennoch bleibt festzuhalten, dass institutionalisierte Religionen die Frage nach der Seele nicht einheitlich beantworten. Ein Beweis ist hier auch schwer möglich – nicht umsonst heißt das entscheidende Schlüsselwort »Glaube«. Aber es finden sich Bibelstellen, die an die Karma-Theorie erinnern: »Täuscht euch nicht: Gott lässt keinen Spott mit sich treiben; was der Mensch sät, wird er ernten« (Gal 6,7). Buddha lehnte den Fleischverzehr ab, da er andere Lebewesen weder verletzen noch töten wollte – wer das Fleisch anderer Lebewesen zu sich nehme, zerstöre das Mitgefühl für anderes Leben. Mitgefühl ist ein oberstes Prinzip der buddhistischen Lehre. Laut Buddha hat jedes Lebewesen ein Recht auf Sicherheit und Schutz. Jedes Lebewesen.

Motivationshilfe

Ich hege keinen Zweifel darüber, dass es ein Schicksal desMenschengeschlechts ist, im Verlaufe seiner allmählichenEntwicklung das Essen von Tieren hinter sich zu lassen.

(Henry David Thoreau)

Meine Recherche hat Konsequenzen: Der Entschluss, mit dem Fleischessen aufzuhören, zunächst für ein Jahr, steht für mich fest. Ich bin von der Richtigkeit dieser Entscheidung überzeugt – aber ich ahne auch, dass ich zwischendurch eine stärkere Motivation brauchen werde, um durchzuhalten. Also nehme ich mir Richard David Prechts Buch Wer bin ich und wenn ja wie viele? zu Hilfe, das sich mit den großen philosophischen Fragen des Lebens und unserer Zeit beschäftigt. Ich knöpfe mir das Kapitel Jenseits von Wurst und Käse — dürfen wir Tiere essen? vor. Das habe ich vor längerer Zeit schon einmal gelesen. Während ich jetzt darin blättere, erinnere ich mich an eine wenig erfreuliche Situation im Urlaub auf Sizilien …

Am Ende eines anstrengenden Wandertages saß ich mit guten Freunden in einem schönen »Hotel-Resort« auf der Terrasse. Wir blickten auf das Meer, die Sonne ging gerade unter und die Grillen zirpten so laut, wie es nur im Süden möglich ist. In dieser Bilderbuchatmosphäre diskutierten wir bei einer guten Flasche Rotwein, köstlicher italienischer Salami, Oliven und Baguette über Gott und die Welt, als ich einen Gedanken äußerte, der die Stimmung schlagartig kippen ließ: »Der moderne Mensch sollte eigentlich vegetarisch leben. Ich bin mir sicher, dass es eines Tages so kommen wird — alles nur eine Frage von Zeit und geistiger Weiterentwicklung.« Peng! Meine These war wie der Anpfiff zum Angriff — plötzlich lag Aggression in der Luft. Es war, als hätte ich etwas Unerhörtes gesagt, das nur eine – relativ kurze – Antwort verdiente: »Quatsch.« Von einer Sekunde zur anderen war ich zur Persona non grata geworden. Ich hatte den Eindruck, man hätte mir am liebsten die – zugegebenermaßen leckere – Salami aus der Hand gerissen.

Schon wünschte ich, ich hätte den Mund gehalten, hätte den schönen Abend nicht gestört durch meine Äußerung, die nun wie eine Wand zwischen uns – im äußerst unerfreulichen Verhältnis von eins zu drei – stand, als mir einfiel, dass ich doch bei Precht geradezu unschlagbare Argumente für meinen Standpunkt gelesen hatte. Ich kramte fieberhaft in meinen Gehirnwindungen, doch Prechts Argumente wollten mir partout nicht mehr einfallen. Zumal ich unter Stress stand, denn die heftige Reaktion meiner Freunde hatte mich erschreckt. Erklären konnte ich mir ihre Aggressivität nur so, dass sie sich angegriffen fühlten.Womöglich weil sie wussten, dass ich eigentlich recht hatte? Heißt es nicht immer: Je mehr man sich gegen etwas wehrt, desto mehr zeigt es, wie sehr man selbst betroffen ist? – zumindest laut Populärpsychologie. Später erfuhr ich, dass die Freundin, die meine Äußerungen besonders aufgebracht hatten, selbst als Kind Vegetarierin war. Als Erwachsene hat sie sich ganz langsam und allmählich wieder unter die Fleischesser eingereiht. Möglicherweise ohne in Wirklichkeit davon überzeugt zu sein?

Jetzt, ein Jahr nach Sizilien und eine überfahrene Katze später, schlage ich endlich nach. Das Kapitel, das sich mit der Frage beschäftigt, ob wir Tiere essen dürfen, beginnt mit einer Science-Fiction-Szene: – genau diese ist der Schlüssel zur Argumentationskette gegen den Fleischverzehr, der mir an jenem Abend auf Sizilien entfallen war. Dabei ist sie so einfach und gleichzeitig eindringlich: Außerirdische, die Menschen weit überlegen sind, landen auf der Erde, sperren sie ein, machen Experimente mit ihnen und essen sie gnadenlos auf. Besonders gern die Kinder. Auf die Frage, wie sie so barbarisch sein können, antworten sie:

Wir sind intelligenter als ihr und vernünftiger und können lauter Dinge, die ihr nicht könnt. Wir sind eine viel höhere Spezies, ein Dasein auf einer ganz anderen Stufe…und deshalb dürfen wir mit euch machen, was wir wollen…außerdem: Selbst wenn unser Verhalten nicht ganz in Ordnung sein sollte – eines steht trotzdem fest: Ihr schmeckt uns halt so gut.3

Bedarf diese fiktive Szene einer Interpretation? Wohl kaum. Da finden wir unser aller Argumente, Ausreden und Rechtfertigungen, wenn wir Tiere essen. So verdammt einfach kann man es auf den Punkt bringen.

Ich will nicht mehr zu den Menschen gehören, die ausblenden, verdrängen und unter den Teppich kehren, die Berichte über Massentierhaltung und Schlachthöfe verfolgen und am nächsten Tag weitermachen, als wäre nichts geschehen, als wären sie nicht indirekt Zeugen grausiger Zustände im Schlachthof gewesen: schreiende Rinder an Haken, denen Blut aus dem Rachen schießt, Schweine, die bei lebendigem Leib verbrüht werden, Hühner, die, bereits geköpft, ziellos durch die Gegend rennen.

Werde ich das schaffen?Vielleicht ist das Fleisch (in diesem Fall mein eigenes) ja zu schwach … Da hilft nur, den Geist weiter zu schärfen.

Philosophische Schutzimpfung

Der Philosoph Richard David Precht – das ist »mein Mann« in der Frage, ob wir aus philosophischer Sicht Fleisch essen dürfen oder nicht. Ich treffe ihn an einem verregneten Nachmittag in Baden-Baden. Ob er wohl selbst Vegetarier ist?, frage ich mich, als ich ihn sehe: Schlank, fast ein wenig hager und irgendwie asketisch wirkt er. Doch langsam. Zunächst zu den Fragen, die mir seit geraumer Zeit auf den Nägeln brennen:

Welche Argumente gibt es aus philosophischer Sicht gegen den Fleischkonsum?

Höhere Wirbeltiere und auch einige andere Tiere sind sehr leidensfähige Wesen. Unter Menschen ist Leidensfähigkeit ein sehr wichtiges Kriterium, jemanden zu achten und ihm keinen Schaden zuzufügen. Es gibt ja Menschen, die über viele höhere Qualitäten des Menschseins nicht verfügen, zum Beispiel Neugeborene oder demente, ältere Menschen, die wir, obwohl sie nicht so intelligent sind wie wir, gleichwohl in unsere Wertegemeinschaft mit einbeziehen, nämlich mit dem Argument, dass es sich um »leidensfähige Menschen« handelt. Also leidensfähige Wesen. Nun handelt es sich bei Tieren darum auch, je nach Tierart oder Tiergattung natürlich sehr unterschiedlich. Aber weil sie leidensfähig sind, müssen wir diese Leidensfähigkeit berücksichtigen. D. h., wir können nicht einfach so mit ihnen umspringen, als wären sie Sachen.

Gibt es noch weitere Argumente von Philosophen gegen das Schlachten und Essen von Tieren?

In der modernen Diskussion gibt es noch ein zweites. Das ist der Hinweis von Tom Regan [1938 geborener amerikanischer Philosoph und Aktivist in der Tierrechtsbewegung], dass Tiere in der Lage sind, Absichten und Wünsche zu haben, also Präferenzen zu entwickeln. Auch das ist etwas, das wir bei Menschen sehr hoch anrechnen und das ein Grund dafür ist, dass wir Rücksicht auf jemanden nehmen, weil er Wünsche, Absichten, Ziele, Zwecke in seinem Leben verfolgt. Und da Tiere das bis zu einem gewissen Grad auch tun, müssen wir sie als Lebewesen, die Wünsche und Absichten haben – zum Beispiel den Wunsch, am Leben zu bleiben oder keine Leiden zu erfahren – respektieren.

Heißt das, dass man einen Unterschied machen darf oder muss zwischen einem Regenwurm und einem Rind?

Nach der ersten Argumentation, die ich anfangs genannt habe, und der zweiten – Stichwort »Wünsche und Absichten« – müsste man diese Unterschiede durchaus machen. Man müsste den Lebenswert eines Lebewesens abhängig machen erstens von dem Ausmaß seiner Leidensfähigkeit und zweitens von seinen Möglichkeiten, den Wunsch zu entwickeln, am Leben zu bleiben und keinen Schaden zu erleiden. Das würde die Krabbe sehr wesentlich vom Rind unterscheiden. Es würde aber auch dazu führen, dass wir ganz sicher keine Kraken essen dürften, weil sie sehr hoch entwickelt sind. Es würde sich somit eine Art Abstufung entwickeln: Tiere, die wir auf gar keinen Fall essen dürfen, bis hin zu Tieren, wo wir sagen würden »na ja …«.

Welche Tiere dürften wir dann nach dieser Unterscheidung essen?

Es gibt natürlich keine sicher festgelegte Grenze. Als ein Mensch, der sich sehr intensiv mit Fischen beschäftigt hat – das ist eine große Leidenschaft von mir –, weiß ich, dass es auch unter Fischen enorme Intelligenzbestien gibt, die mit Sicherheit Wünsche und Absichten haben. Wir wissen heute auch, dass die Leidensfähigkeit von Fischen enorm ausgeprägt ist, nachdem die Angler uns jahrhundertelang erzählt haben, Fische würden nicht leiden. Fische leiden sehr. Insofern gilt das Argument: »Einen Fisch essen ist weniger schlimm als ein Huhn« sicherlich nicht. Es gibt eine Reihe von Fischen, die intelligenter sind als Hühner. Sichere Grenzen gibt es nicht. Da ist immer eine Grauzone, in der wir entscheiden müssen.

Gibt es denn in der Philosophie ein einziges Argument dafür, Tiere zu essen?

Ich kann Ihnen ein lustiges sagen: Ein Schwein kann wenigstens potentiell weglaufen, ein Salat kann es nicht. Aber das wichtigste Argument ist eigentlich kein philosophisches. Man sagt, der Mensch hätte sich nicht so entwickeln können und nicht überleben können, wenn er nicht Tiere gegessen hätte. Das stimmt. Man kann einem Inuit am Polarkreis nicht verbieten, eine Robbe zu essen oder Wale, weil er sonst sterben würde. Er könnte sonst gar nicht genug Eiweiß zu sich nehmen. Aber in unserem Kulturkreis müssen wir definitiv kein Fleisch mehr essen, da hat sich einiges verändert.

Es heißt immer, dass unser Gehirn sich nicht hätte entwickeln können, wenn wir kein Fleisch gegessen hätten …

Das ist eine sehr lustige These. Sie stammt aus den Zwanzigerjahren. Schon im neunzehnten Jahrhundert gab es die Parole: »Geist braucht Fleisch«, in den Zwanzigerjahren hat man versucht, das wissenschaftlich zu beweisen, auch noch in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Es gehört zu den hartgesottensten Gerüchten, die unausrottbar sind, dass die tierischen Proteine Grund für das Gehirnwachstum waren. Wenn wir die Frage ganz ehrlich beantworten wollen, dann müssen wir sagen: Wir wissen es nicht. Wir wissen überhaupt gar nicht, warum das menschliche Gehirn in der Zeit vom Australopithecus bis zum Homo sapiens seine Kapazität mehr als verdreifacht hat in einer relativ kurzen Zeit. Kein Paläoanthropologe, kein Hirnforscher weiß ganz genau, warum das so war. Die Proteine mögen einen Beitrag dazu geleistet haben, aber sie waren mit Sicherheit nicht der Hauptgrund.

Inwiefern ist es ein Zeichen der geistigen Reife und Entwicklung der Spezies Mensch, dass er auf Fleisch verzichtet?

Als einziges Lebewesen, das in der Lage ist, moralische Normen aufzustellen, also nicht nur ein »Wollen« zu formulieren, sondern auch ein »Sollen«, und als einziges Wesen, das einen umfassenden Gerechtigkeitssinn hat, wäre es doch merkwürdig, dass wir von dieser Fähigkeit gegenüber Tieren keinen Gebrauch machten, obwohl wir uns doch so rühmen, dass wir uns kraft dieser Fähigkeit von ihnen unterscheiden.

Ist es also eine Art Bestimmung des modernen Menschen, sich vegetarisch zu ernähren, oder würde das zu weit gehen?

Ich halte eine vegetarische Ernährung für die ethisch konsequentere Form der Ernährung. Ich würde mich aber nicht auf einen Marktplatz stellen und die Leute dazu auffordern, Vegetarier zu werden, weil ich weiß, wenn man zu große Anforderungen an Menschen stellt, die nicht bereit sind, darauf einzugehen, dann blockieren sie. Deshalb glaube ich, dass wir den langen Weg nehmen müssen über das Verbot der industriellen Tierhaltung, über Ökohöfe und vieles andere mehr, um die Sensibilität sukzessiv in der Bevölkerung zu steigern, und ich glaube, da sind wir auf einem guten Weg.

Wie handhaben Sie das mit dem Fleisch: Sind Sie Vegetarier?

Ich esse ab und zu Fleisch, aber durchaus mit schlechtem Gewissen. Und habe in der Zeit, in der ich mein Buch über das Verhältnis von Mensch und Tier geschrieben habe, meinen Fleischkonsum deutlich reduziert – ich hatte zuvor viel Fleisch gegessen – und habe dann angefangen, erst mal keine Wurst zu kaufen und dann mehr und mehr auf Fleisch zu verzichten. Das war auch schon ein Prozess des sich selbst einer Sache Bewusstmachens. Am Anfang hätte ich eigentlich gerne ein Buch geschrieben, mit dem ich gerechtfertigt hätte, dass Fleisch zu essen in Ordnung ist, aber je tiefer ich mich in die Materie reingedacht habe, umso klarer wurde mir, dass das nicht geht.

Was hindert Sie daran, ganz konsequent »Nein« zu sagen?

Ich glaube zum Teil meine Willensstärke. Ist sicher ein relativ wichtiges Argument.

Die ist nicht groß genug?

Die ist nicht groß genug. Das gilt aber nicht nur für das Fleischessen. Ich denke, in vielen Bereichen unterbieten wir in unserer Lebenspraxis unsere moralischen Maßstäbe. Wir halten viele Dinge in der Welt für gut und richtig, die wir nur zum Teil umsetzen und zum Teil befolgen. Wir kennen uns selber auch als fehlerhafte Lebewesen. Ich würde sagen, wenn viele Menschen deutlich weniger Fleisch essen würden, wären wir auch schon einen großen Schritt in die richtige Richtung. Und wenn viele Menschen das tun würden, würde ich mich motiviert sehen, ganz darauf zu verzichten.

Das motiviert mich wiederum, endlich mit dem Aufhören anzufangen.

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