Tildas kleiner Laden zum Verlieben - M.L. Busch - E-Book + Hörbuch

Tildas kleiner Laden zum Verlieben Hörbuch

M. L. Busch

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Beschreibung

Vintage, Verwirrung und vermeintlich ungeschickte Küsse …
Die charmante Liebesgeschichte voller Humor, Romantik und einer Prise Spannung

Vintage ist Tildas große Leidenschaft. In ihrem Geschäft "Der kleine Laden" verkauft sie Antiquitäten und Trödel. Daher ist sie umso überraschter, als plötzlich Conrad, der attraktive Typ von gegenüber, in ihren Laden stürmt. Im Gepäck hat er einen Karton, in dem sie zwischen all den Kleidungsstücken eine Bibel und einen ungeöffneten Brief findet.

Conrad ist ein erfahrenes Männermodel und für seinen Charme bekannt. Als er nach der Trennung von seiner Ex-Freundin als "Montagsküsser" beschimpft wird und der Hashtag in den sozialen Netzwerken viral geht, trifft ihn das schwer. Umso erstaunter ist er, als plötzlich Tilda in seiner Wohnung auftaucht. Sie hat die Bibel dabei und eine Menge Fragen. Auf eigene Faust beschließ Tilda, das Geheimnis zu lüften, und bittet Conrad um seine Unterstützung. Doch während sie dem Rätsel auf der Spur sind, entsteht zwischen ihnen eine gewisse Spannung …

Erste Leser:innenstimmen
„Dieser humorvolle Liebesroman bietet eine herrliche Mischung aus Romantik und Spannung.“
„Die Kombination aus einem charmanten Männermodel, einer leidenschaftlichen Vintage-Ladenbesitzerin und der Suche nach den Geheimnissen der Vergangenheit ist erfrischend und einzigartig.“
„Die Charaktere dieser Wholesome Romance sind liebevoll und authentisch, und ihre Liebesgeschichte hat mich zum Schwärmen gebracht.“
„Wer auf der Suche nach einem wundervollen Feel-Good-Roman ist, dem kann ich diesen hier wärmstens empfehlen.“

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

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Zeit:7 Std. 59 min

Veröffentlichungsjahr: 2023

Sprecher:Jana Marie Backhaus-TorsJohann-Christof Laubisch

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Über dieses E-Book

Vintage ist Tildas große Leidenschaft. In ihrem Geschäft "Der kleine Laden" verkauft sie Antiquitäten und Trödel. Daher ist sie umso überraschter, als plötzlich Conrad, der attraktive Typ von gegenüber, in ihren Laden stürmt. Im Gepäck hat er einen Karton, in dem sie zwischen all den Kleidungsstücken eine Bibel und einen ungeöffneten Brief findet.

Conrad ist ein erfahrenes Männermodel und für seinen Charme bekannt. Als er nach der Trennung von seiner Ex-Freundin als "Montagsküsser" beschimpft wird und der Hashtag in den sozialen Netzwerken viral geht, trifft ihn das schwer. Umso erstaunter ist er, als plötzlich Tilda in seiner Wohnung auftaucht. Sie hat die Bibel dabei und eine Menge Fragen. Auf eigene Faust beschließ Tilda, das Geheimnis zu lüften, und bittet Conrad um seine Unterstützung. Doch während sie dem Rätsel auf der Spur sind, entsteht zwischen ihnen eine gewisse Spannung …

Impressum

Erstausgabe Juli 2023

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-360-9 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-620-4

Covergestaltung: Larissa Siepmann unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © 昊 周, ©Terri Francis, © Yelena Panyukova, © Robert Kneschke, © Dace Spalvina depositphotos.com: © belchonock adobe.stock.com: © gilles lougassi
, © fedotovalora, © banphote, © ARTYuSTUDIO, © amedeoemaja Lektorat: Stephanie Schilling

E-Book-Version 26.03.2024, 10:38:07.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Tildas kleiner Laden zum Verlieben

Montagsküsser

Mann, der, obwohl er umwerfend aussieht, schlecht küsst. Abgeleitet vom Wort: Montagsauto.

1

Tilda

„Endlich geschafft.“ Erschöpft schüttele ich meine Hand aus. Amanda Rose King, mit einem Herzchen statt eines i-Punkts. So habe ich es in der letzten halben Stunde in fünfzig Bücher geschrieben, auf die erste Buchseite gleich unter den Titel.

Romantische Liebesromane lassen sich um ein Vielfaches besser verkaufen, wenn sie von der Autorin signiert angeboten werden. Und bei einem Bestseller wie Zuckerkuss bedeutet das; klingelnde Kassen für mein kleines, aber feines Unternehmen.

Bisher habe ich zweihundertneununddreißig Bücher mit Widmung verkauft. In Liebe, Amanda Rose King stand in jedem einzelnen davon. Da meine einfallsreiche Verkaufsmasche dermaßen gut funktioniert, überlege ich, den nächsten Schritt zu wagen: Die persönliche Widmung.

Ungeahnte Möglichkeiten würden sich auftun.

Man braucht kein Genie zu sein, um zu wissen, dass ein individueller Gruß bei einer anspruchsvollen Leserschaft weitaus besser ankommt als ein allgemeingehaltenes In Liebe.

Da eh schon jeder im Umkreis denkt, dass ich Amanda persönlich kenne, – was ich natürlich nicht tue – sollte das Risiko nicht allzu groß sein. Selbstbewusstes Auftreten kombiniert mit Vorwitz sind der Schlüssel für ein gutes Gelingen. Zumindest, wenn es um meine Existenzgrundlage geht, welche ich mit jeder Menge Herzblut aufgebaut habe.

Mein Geschäft Der kleine Laden ist mein Ein und Alles und liegt mitten in Berlin. Es ist winzig, wie der Name bereits verrät. Die Verkaufsfläche umfasst gerade mal fünfundzwanzig Quadratmeter und macht jede Überwachungskamera überflüssig. Hinter meinem Verkaufstresen bekomme ich alles mit.

Aber wie bei so vielen anderen Dingen im Leben, kommt es nicht auf die Größe an. Die Sachen, die es bei mir zu kaufen gibt, sind verschiedenartig und stets von mir persönlich ausgewählt. Nicht selten arbeite ich mit Künstlern zusammen und verkaufe ihre Artwork in Kommission. Die Kunden kommen zu mir, wenn sie ein besonderes Geschenk suchen. Und da ich mich stets bemühe, in jeder Preisklasse etwas anzubieten, werden sie nie enttäuscht. In meinem Laden gibt es die ausgefallensten Dinge. Vintage, Antiquitäten, Kunst und sogar Schnickschnack für Kinder ab dem Vorschulalter. Wer gerne auf den Trödelmarkt geht, kommt auch gerne zu mir.

Leider herrscht seit ein paar Wochen eine Flaute, sodass mir die Idee, im Namen der Autorin zu signieren, kam. Zum Glück hat mein Einfall gezündet und die Kasse ordentlich klingeln lassen.

Beflügelt von meiner nächsten originellen und, wie ich finde, cleveren Idee mit der persönlichen Widmung, greife ich nach dem Stift, den ich gerade erst weggelegt habe und ziehe die Schublade meines Schreibtisches auf. Irgendwo muss hier noch ein schlichter weißer Büttenkarton sein.

Nachdem ich fündig geworden bin, fasse ich mir ein Herz, überwinde die letzten Skrupel, und schreibe: Sie möchten Ihr Zuckerkuss-Exemplar mit persönlicher Widmung? Kein Problem, sprechen Sie uns an.

Als bestünde die Gefahr, dass der Stift im nächsten Moment Feuer fängt und mich in Brand setzt, lasse ich ihn fallen. O Gott! Bestürzt von der Leichtigkeit, mit der ich die Worte verfasst habe, trete ich ein Stück zurück. Was habe ich getan? Wie konnte ich nur? Ich fühle mich schlecht. Jedenfalls ein bisschen und ein paar Sekunden lang.

Wie unehrlich und aalglatt du doch bist!Das Karma wird dich finden, Tilda. Du begehst eine Straftat.

Einen Moment lassen meine eigenen Worte mich innehalten. Aber … Herr im Himmel! Wer glaubt schon an Spiritualität? Oder an Karma? Was ich mache, ist maximal ein kleines Vergehen, niemals eine Straftat. Bestimmt machen sowas auch andere Leute.

Kaum sehe ich die akkurat geschwungenen Buchstaben auf dem strahlend weißen Büttenkarton mit der Riffeloptik, verfliegt mein schlechtes Gewissen und macht Bewunderung Platz.

Wunderschön. Einzigartig. Stolz schwellt meine Brust und lässt mich ausatmen. Die letzten Zweifel verpuffen wie heiße Luft.

Du bist eine Meisterin deines Fachs, Tilda. Eine begnadete Künstlerin. Die Worte meines ehemaligen Professors hallen in mir nach und lassen mich die gewohnte Zufriedenheit empfinden. Wenn der Laden pleite geht, weil ich auffliege, kann ich mein Geld mit Grußkartenschreiben verdienen.

Vielleicht bin ich voreingenommen und überheblich, aber der Schwung des kleinen Ms gelingt mir auch nach den vielen Jahren des Pausierens noch ausgesprochen gut. Prof. Dr. Jonn, mein Typografieprofessor im zweiten Semester, wäre stolz auf mich. Meine kaligrafischen Übungen waren immer die besten der Klasse. Damals dachte ich, die Hochschule für bildende Künste wäre der richtige Ort für eine kreative und vor Ideen überschäumende Person wie ich es bin. Weit gefehlt.

So weit meine künstlerische Ader auch ausgeprägt war, es reichte nicht, um länger über die Runden zu kommen. Ohne einen Job, der für ein regelmäßiges Einkommen sorgte, ging es nach zwei Semestern nicht weiter. Meine mickrigen Rücklagen waren schneller aufgebraucht, als ich es für möglich gehalten hatte. Zum Glück hielt das Schicksal eine auf mich zugeschnittene Lösung bereit. Sogar mein Wohnungsproblem löste sich auf einen Schlag.

***

Dass ich im Alter von fünfundzwanzig Jahren ohne die nötige Qualifikation den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt habe, war ein Abenteuer. Ein Abenteuer, in das ich mich jederzeit wieder stürzen würde.

An den kleinen Laden, der früher „Hilles Lädchen“ hieß, bin ich durch die Erbschaft einer entfernten Tante gekommen. Tante Hildegard ist im Alter von vierundachtzig hinter der Ladentheke an einem Schlaganfall gestorben. Ganz plötzlich. Sie war eine Großcousine meiner Mutter. Da niemand aus der wohlhabenden Familie von Tante Hildegard das heruntergewirtschaftete Geschäft mit seinem Ramsch und Trödel übernehmen oder verkaufen wollte, haben alle Erbberechtigten das Erbe abgelehnt. Alle außer mir. Ich habe den kompletten Nachlass übernommen. Mit all seinen Rechten und Pflichten.

Glück für mich, denn die kleine Wohnung über dem Geschäft gehörte ebenfalls zum Erbe und wurde zu meinem neuen Zuhause.

Auch fünf Jahre nach der Eröffnung des kleinen Ladens an der Oderberger Straße bereue ich den Abbruch meines Studiums nicht. Ich verdiene keine Millionen, aber ich liebe, was ich tue, und das ist um ein Vielfaches mehr wert.

Hingerissen blicke ich auf meine ausgezeichnete Freitechnik mit den geschwungenen Ms. Erneute Bedenken und Skepsis überkommen mich und machen Platz für Besorgnis. Diesmal klingt mein Ausatmen eher wie ein Seufzen.

Wird jemand die Ähnlichkeit zu Amandas Schrift auffallen? Sollte ich den Büttenkarton lieber von jemand anderem beschriften lassen? Nur zur Sicherheit? Äußerst ungern möchte ich ins Visier eines übergenauen Gesetzeshüters kommen. Ich könnte Gioseppe aus dem Eiscafé gegenüber fragen. Er schreibt die Eissorte des Monats immer mit Kreide auf eine Schiefertafel, die über seiner Ladentheke hängt. Die Schönschrift des aus Italien stammenden Eisverkäufers ist nicht so ausgebildet wie meine, aber dennoch ganz passabel.

Ein Blick in das Chaos meiner Schreibtischschublade verrät mir, dass dies der letzte Büttenkarton war.

Na, dann…

„Das Schicksal hat bestimmt, Tilda“, rede ich laut mit mir selbst. Entschlossen lege ich mein eindrucksvoll kalligraphiertes Schild auf den Stapel Bücher, die ich gerade signiert habe und bringe alles zusammen in den Verkaufsraum. Ein Platz im Schaufenster wäre sicher angemessen für das Schild. Ich könnte es auf einen Stapel Zuckerkuss-Exemplare stellen, gleich neben die eigens von mir gestrickten Socken und Schals.

Verdammt ja! Ich bin ein Genie – ein wahres Verkaufstalent. Mit meinem neuen Plan schlage ich sicher noch mal zweihundertfünfzig Exemplare des Bestsellers los. Das wird der bereits abflauenden Geschäftsflaute den Rest geben. Ich liebe meine Idee so sehr, wie ich Zuckerkuss liebe. Hoffentlich kommt die gute Amanda nie dahinter, dass ich ihr einen Teil der lästigen Signierarbeit abnehme.

Es wäre mir sehr unangenehm, da ich ihre Geschichte vom verliebten Zuckerbäcker doch so mag.

Wie kann sie dir böse sein, wo du doch dafür sorgst, dass ihre Verkaufszahlen stetig steigen?, versuche ich mich zu beruhigen. Du spielst ihr tagtäglich Geld in die Kassen.

Ich komme nicht dazu, meinen inneren Monolog fortzuführen, da Kundschaft den Laden betritt.

Ach du grüne Neune!

Im ersten Moment bin ich schockiert und denke, Gott bestraft kleine Sünden sofort, aber dann sehe ich, dass die Frau, die gerade mein Allerheiligstes betreten hat, nicht Amanda Rose King ist. Zum Glück. Sie sieht meiner favorisierten Bestsellerautorin lediglich unglaublich ähnlich. Die Augen der Kundin stehen weiter auseinander und die Nase ist etwas spitzer.

Alles ist paletti! Amanda Rose King befindet sich nicht in meinem Geschäft.

Die Erkenntnis reicht nicht aus, um meinen sprunghaft angestiegenen Puls zu beruhigen. Was hat das zu bedeuten? Alles Zufall?

Verdammt! Muss ich mir Sorgen machen? Möchte das Universum damit etwas ausdrücken? In meinem Magen bildet sich ein Klumpen, der sich schwer und groß anfühlt.

Bitte lieber Gott, lass mich den Fingerzeig verstehen, sollte es einer sein. Mit wenig subtilen Vorwarnungen kann ich nichts anfangen. Ich brauche klare Anweisungen.

„Guten Tag“, werde ich lächelnd begrüßt.

„Äh. Hey. Guten Tag“, antworte ich und ignoriere das klumpige Gefühl.

Reiß dich zusammen, Tilda – und starr nicht so dämlich. Vor dir steht nicht Amanda.

„Entschuldigung.“ Ich schüttele den Kopf, um meinen Blick loszureißen. „Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie Amanda Rose King ähnlichsehen?“

Verwunderung schlägt mir entgegen. „Wer ist Amanda Rose King? Muss ich die Frau kennen?“

„Eine Bestsellerautorin.“ Kurz schnappe ich nach Luft. Schwer zu glauben, dass jemand so unwissend sein kann. „A. R. Kings letzter Liebesroman hat sich zehn Wochen auf den Bestsellerlisten gehalten“, erkläre ich stolz, als wäre das allein mein Verdienst.

Die Kundin klammert sich an ihre Handtasche und fängt an, mich zu mustern, als müsste sie abwägen, ob ich eine vertrauenswürdige Person bin oder ihr nur etwas aufschwatzen möchte. Unter Umständen wirke ich tatsächlich ein wenig besessen. Zugegeben, die wenigsten Menschen wissen, wie der Autor oder die Autorin hinter der Geschichte aussieht.

„Was kann ich für Sie tun?“ Endlich übernimmt die Geschäftsfrau in mir das Ruder. Besser ich gebe der unechten Amanda nicht zu viel Zeit, mich in Augenschein zu nehmen. Mein Kleidungsstil ist heute Morgen etwas experimentell und nicht jedermanns Sache. In einem Anflug von Übermut habe ich eine lilafarbene hautenge Cordhose mit einer schwarzen Bluse mit Rüschenärmeln kombiniert. Lila und Schwarz sind natürlich nicht gewagt, aber die gelben wadenhohen Boots, die, wie ich finde, hervorragend dazu passen, schon.

„Ich suche nach einem Geschenk für meinen Freund.“ Ihr Blick heftet sich an meine Fräulein-Rottenmeier-Bluse. „Er hat Geburtstag und sammelt Dosenöffner.“ Sie beendet ihre Musterung, bevor ihr meine Schuhe auffallen. „Meine Nachbarin hat mir versichert, Sie würden einige interessante Vintage-Stücke verkaufen und ich hätte nirgendwo eine bessere Chance, etwas für meinen Robin zu finden.“

Einen vintage Dosenöffner?

Sowas gibt‘s?

Schwer vorstellbar.

Welche Frau schenkt ihrem Schatz einen rostigen Dosenöffner zum Geburtstag? Was ist das überhaupt für eine merkwürdige Liebesbekundung? Ist dieser Robin der verschlossene Typ, der einen subtilen Hinweis benötigt?

„Äh ja. Natürlich“, reiße ich mich zusammen und räuspere mich, ohne länger über den tieferen Sinn dieses Geschenkes nachzudenken. „Ich habe ein paar erschwingliche Schätze aus den frühen Zwanzigern und Dreißigern da. Vielleicht möchten Sie die durchsehen.“ Geschäftig setze ich mich in Bewegung. „Ob sich ein Dosenöffner darunter befindet, kann ich nicht versprechen, aber wir haben ein paar sehr schöne silberne Löffel. Möglicherweise würden die Ihrem Robin auch gefallen.“

2

Conrad

„Hast du gesehen, was Juliane in den sozialen Netzwerken gepostet hat?“, frage ich meinen Freund Hagen, während ich auf dem Handy durch das Profil meiner Ex-Freundin scrolle und mich neben ihn auf die Couch fallen lasse.

„Jep.“ Der Klugscheißer, der sich eine WG mit mir teilt, grinst auf eine schadenfrohe Art, die mir nur allzu vertraut ist. „Außerdem ist mir aufgefallen, dass sie für ihre Anschuldigungen reichlich Bestätigung in den Kommentaren bekommen hat.

„Ihre Anschuldigungen sind eine Unverschämtheit“, rege ich mich auf und spüre, wie neuer Zorn in mir hochkocht. „Nichts davon ist wahr“, erkläre ich, während ich mir die Kommentare ansehe, die natürlich hauptsächlich von Julianes BFFs stammen. Gut möglich, dass sich darunter ein paar meiner Verflossenen befinden. In den letzten Monaten ging es heiß her. Eigentlich schon in den letzten Jahren.

„Bist du zu mir auf die Couch gekommen, um von mir gebauchpinselt zu werden?“ Hagen stößt mich in die Seite und wartet, bis ich ihn ansehe. „Ich weiß nicht, wie gut deine Küsse sind, Alter, und kann Julianes Behauptungen weder dementieren noch bekräftigen. Wir haben schließlich noch nie …“ Eine eindeutige Handbewegung, die meinen Mund mit seinem verbinden soll, folgt den Worten.

Igitt.

Ganz üble Vorstellung. Mein Freund liebt Zwiebeln und Zaziki über alles. Niemals würde ich darüber nachdenken, ihm auf diese Weise näher zu kommen. Davon abgesehen, stehe ich nicht auf Männer.

In der Regel liebt die Frauenwelt mich und liegt mir zu Füßen. Zumindest solange keine beleidigten Ex-Freundinnen im Netz über mich herziehen.

„Sie hat mich den schlechtesten Küsser aller Zeiten genannt“, beschwere ich mich, obwohl ich weiß, dass es wenig Sinn macht und ich Hagen mit meinem offen zur Schau gestellten Frust nur mehr Stoff zum Tratschen gebe. „Außerdem hat sie ihre Lügen mit dem Hashtag Montagsküsser gekrönt. Montagsküsser!“, wiederhole ich, weil diese Ungeheuerlichkeit für einen erfahrenen Mann wie mich schwer zu fassen ist. „Das Wort hat die Bitch von Montagsauto abgeleitet.“

Hagens Grinsen verbreitert sich und zeigt mir, dass er die Erklärung nicht gebraucht hätte. „Originell ist der Hashtag allemal, das musst du zugeben. Auch wenn ich nicht glaube, dass er in den Top-10 landet. So berühmt bist du dann doch nicht. Sorry, mein Hübscher.“

Ein empörter Laut entschlüpft mir. „Juliane möchte mir schaden, weil ich mit ihr Schluss gemacht habe. Das ist der alleinige Grund. Sie hat Angst und Sorge. Ohne mich fehlen ihr die nötigen Kontakte, um ihre Karriere als internationales Model anzutreiben.“ Eigentlich müsste meinem Freund das klar sein.

„Gut möglich.“ Hagen hebt die Schultern. „Sie kennt dich und dein Ego ziemlich gut und weiß, wo sie dich treffen kann.“

Bitte?

Die Worte sind eine Beleidigung. Sie verletzen mich mehr als sie sollten.

„Behauptest du gerade, dass ich eingebildet bin? Anmaßend? Dass ich ein zu großes Ego habe?“ Sind denn alle um mich herum verrückt geworden? Ich bin selbstbewusst, nicht eingebildet. Das ist ein Unterschied. Als Model muss ich selbstsicher rüberkommen, sonst werde ich von keinem Auftraggeber gebucht. Ein gesundes Selbstbewusstsein ist der Schlüssel zum Erfolg. Das weiß doch jeder.

Hagens Miene verändert sich. Plötzlich ist jedes überhebliche, leicht spaßige Grinsen verschwunden. An den gehobenen Augenbrauen und dem durchdringenden Blick erkenne ich, dass er mehr als bereit ist, mir seine Sicht auf die Dinge aufzutischen.

„Nein, das behaupte ich nicht. Ich weiß, dass du arrogant bist und die meiste Zeit auf einem zu hohen Ross thronst.“ Die Couch wackelt, als mein Freund sich mit seinen eins zweiundneunzig erhebt. „Schau mal in den Spiegel Conrad, und überprüfe, wie hoch du deine Nase wirklich trägst. Du bist ein hochbezahltes Supermodel, das einmal zu oft auf der Fashion Week gelaufen ist. Viele Menschen haben dich in den letzten Jahren hochgelobt und für dein Aussehen und deine Ausstrahlung bewundert. Ich denke, in einem rachsüchtigen Post einer Ex-Freundin als Montagsküsser betitelt zu werden, hilft dir von Wolke sieben auf den Boden zu schweben. Zeig Klasse und finde dich damit ab. Steh drüber! So einfach ist das.“

Kaum ausgesprochen, dreht Hagen sich um und verschwindet in sein Zimmer. Verwirrt von dem Gefühlsausbruch sehe ich ihm nach. Anscheinend ist nicht nur Juliane eifersüchtig auf meinen Erfolg. Mein bester Freund ist es ebenfalls.

***

Da die Menschen in meinem Umfeld mich offensichtlich für egoistisch und selbstbezogen halten, beschließe ich, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Wäre doch gelacht, wenn ich sie nicht überzeugen könnte. Ich gehöre schließlich zu den Guten. Ich trage meine Nase niemals oben. Hagen schätzt mich völlig falsch ein.

Oder?

Erste Zweifel überkommen mich. Unter Umständen hat mein Freund ein winziges bisschen recht. In den letzten Wochen habe ich mich wirklich ein wenig gehenlassen und mich und meine Bedürfnisse an die erste Stelle in meinem Leben gesetzt.

Aber sollte nicht jeder bei sich selbst an erster Stelle stehen. Selbstfürsorge – Self-Care – nennt sich das. Daran ist nichts falsch. Ich habe schließlich eine Verantwortung mir gegenüber. Körper, Geist und Seele und so weiter …

Mit dem Ziel, etwas Gutes für andere zu tun und Hagen eines Besseren zu belehren, stelle ich den leeren Karton, den ich zuvor aus dem Keller geholt habe, auf mein Bett.

„Zeit für ein bisschen Gemeinnützigkeit“, spreche ich zu mir selbst und öffne den Deckel.

Suchend blicke ich mich um. Wovon in meinem Reich kann ich mich trennen? Was hat Wert und lässt sich gebraucht weiterverkaufen? Mein Zimmer, welches ich erst seit wenigen Monaten bewohne, platzt bereits aus allen Nähten. Es sollte nicht schwer sein, etwas Angemessenes zu finden. Designerstücke habe ich schließlich zuhauf. Mein Kleiderschrank ist voll davon.

Nicht selten können wir die Sachen, die wir bei einem Shooting präsentiert haben, behalten. Manchmal ist etwas dabei, das ich auch tragen würde, aber das ist nicht die Regel. Für gewöhnlich reicht mir eine bequem gewordene Jeans und ein schlichtes weißes T-Shirt, im Winter kombiniert mit einem Hoodie. Ich bin nicht anspruchsvoll. Eingebildet auch nicht.

Verdammt! Ich bin so wenig eingebildet, dass ich kein Problem damit habe, Kleidung im Wert von tausenden Euro in den Ramschladen gegenüber zu geben. Wenn das keine gemeinnützige, von Herzen kommende Geste ist, weiß ich es auch nicht. Hagen wird sich wundern. Aber so was von.

Höchstwahrscheinlich macht die Ladenbesitzerin einen Luftsprung, sobald sie hört, dass ich bereit bin, ihr meine Sachen zu schenken. Sollte sie meine Designerstücke nur für den Bruchteil ihres Wertes verkaufen, kann sie von dem Gewinn ihr komplettes Geschäft renovieren.

Von meiner grandiosen Idee beschwingt, stopfe ich so viele unvergessliche und extravagante Kleidungsstücke in den Karton, dass es unmöglich ist, den Deckel zu schließen. Womöglich hätte ich besser einen Koffer genommen.

Egal. Irgendwie bekomme ich den Kram schon über die Straße. Noch schnell die Gürtel von Gucci aus der letzten Kollektion oben draufgelegt, dann kann es losgehen.

Warum habe ich mich nicht schon früher von dem unnützen Ballast in meinem Leben erleichtert? Obwohl ich mich noch von nichts getrennt habe, fühle ich mich bereits beflügelt wie lange nicht. So überwältigend fühlt sich also Loslassen an.

Julianes Hasspost vom Montagsküsser ist vergessen, als ich die quietschende Tür zum kleinen Laden aufstoße. Beinahe hätte ich auf dem Weg über die Straße einen Teil der Sachen verloren. Zum Glück ist das nicht passiert.

Mit lautem Gebimmel fällt die Tür hinter mir ins Schloss und ich stehe zum ersten Mal in dem Ramschgeschäft, welches alles und nichts zu verkaufen scheint. Bisher hatte ich kein Bedürfnis, einen Fuß in diesen sonderbaren Store zu setzen. Warum auch? Im Schaufenster lag noch nie etwas Ansprechendes. Nur Trödel und Bücher.

„Hallo?“, rufe ich, weil niemand da zu sein scheint. Der vollgestopfte Verkaufsraum ist wahrlich winzig. Ich kann mich mit dem Karton im Arm kaum umdrehen. Hoffentlich reiße ich nicht eines der wackelig aussehenden Regale um.

„Moooment!“, höre ich eine Stimme, die offensichtlich aus dem Nebenraum kommt. „Bin gleich da.“

Da auf dem Tresen neben der Kasse Platz ist, stelle ich mein Hab und Gut dort ab. Erste Zweifel überkommen mich. Braucht dieser Laden noch mehr Zeug? An der hinteren Wand sehe ich einen Kleiderständer, auf dem zu meiner Verwunderung einige Designerstücke hängen. Auf den ersten Blick erkenne ich einen Mantel von Versace und einen Hosenanzug von Prada, den ich letztes Jahr zur Eröffnung eines Kaufhauses getragen habe. Wie kommt der hier her? Ich dachte, er wäre ein Einzelstück.

Möglicherweise gibt es hier doch nicht nur Ramsch.

„Was kann ich für Sie tun?“, kommt die Frage leicht atemlos. Vor mir steht eine Frau, höchstens eins fünfundsechzig groß, blonde lange Haare mit einem frechen Grinsen, das einem Kind aus dem Kindergarten gleichkommt. Sogar ein paar vereinzelte Sommersprossen entdecke ich auf ihrer Nase. Sie ist etwa in meinem Alter; siebenundzwanzig, höchstens achtundzwanzig. Auf keinen Fall über dreißig.

Ihre Klamottenkombination lässt darauf schließen, dass sie ein Mensch ist, der keine Scheu vor Farbe hat. Nur mit Mühe unterdrücke ich ein Schmunzeln als ich den Blick senke. Die gelben hochglänzenden Boots erinnern mich stark an meine Gummistiefel aus Kindertagen.

Ob sie eine Aushilfskraft ist?

„Könnte ich bitte den Eigentümer sprechen?“, frage ich, weil mir die Frau zu jung für eine Geschäftsinhaberin erscheint. Sogar für einen heruntergewirtschafteten Laden wie diesen.

„Steht vor Ihnen.“ Ihr Lächeln hat an Kraft verloren und Argwohn macht sich breit.

Tatsächlich?

„Äh. Ja. Gut“, stammele ich von der Neuigkeit aus dem Konzept gebracht. „Ich wohne in dem Haus gegenüber und habe ein paar außergewöhnliche und sehr interessante Kleidungsstücke für Sie. Für Ihr Geschäft, meine ich.“

Was ist los, Conrad? Wo ist deine Coolness? Warum klingt deine Stimme so kratzig?

Die Frau schüttelt vehement den Kopf, bevor ich weiterreden und ihr meine Schätze anpreisen kann. „Nein, danke.“ Sie schiebt den Karton in meine Richtung. Das Lächeln ist verschwunden. „Klamotten verkaufe ich nicht.“

„Ach wirklich? Und was ist das da?“ Ich deute auf den Kleiderständer mit dem besonderen Hosenanzug. Eine offensichtlichere Lüge gibt es kaum. Hält sie mich für blöd?

„Diese Sachen stehen nicht zum Verkauf. Das ist meine Garderobe. Es geht Sie zwar nichts an, aber ich streiche gerade meinen Kleiderschrank und wollte nicht riskieren, dass ich ein paar meiner besten Stücke mit Farbe ruiniere.“

Nun gut, das erklärt den Ständer. Trotzdem verstehe ich ihre Einstellung nicht.

„Wie können Sie mein Angebot ungesehen ablehnen?“, frage ich ohne Verständnis. „Sie wissen doch gar nicht, welche Schätze sich hier drin befinden.“ Unnachgiebig schiebe ich den Karton zurück und lockere meine Schultern. Ein Gespräch wie dieses, verursacht Spannungen im Nacken.

„Ist mir egal.“ Wieder wird der Karton über den Tresen gerückt. Was soll dieses Spielchen? Unter keinen Umständen schleppe ich das Ding zurück in meine Wohnung. Mein Ziel war es, Gutes zu tun.

„Hören Sie, ich schenke Ihnen die Sachen“, versuche ich es in versöhnlichem Tonfall. „Ich möchte die Stücke nicht an Sie verkaufen. Sie bekommen sie unentgeltlich. Umsonst. Gratis. Kostenlos. Als Spende.“ Deutlicher kann ich es nicht erklären. Mit jedem Wort bin ich lauter geworden, als wäre mein Gegenüber schwerhörig.

„Nein. Danke.“ Die Frau überkreuzt die Arme und wirkt abweisend wie ein Türsteher vor einem Nachtclub. Was ist das für eine merkwürdige Geschäftsfrau? Hat sie mich nicht verstanden? Sie schlägt ohne Frage den Deal ihres Lebens aus. Wie unprofessionell – und dumm.

„Wenn Sie diese einzigartigen Designerstücke verkaufen, könnten Sie Ihre Ladentür streichen und die stumpf gewordene Glasscheibe Ihres Schaufensters austauschen lassen …“ Mit angeekeltem Blick sehe ich zur Decke, an der sich ein Wasserfleck befindet. „… und noch einige andere Dinge machen lassen.“ Obwohl es nicht nötig ist, deute ich mit dem Finger nach oben.

Ohne die Arme zu lösen, beugt die Unbelehrbare sich vor. „Ich. Verkaufe. Keine. Kleidung.“ Sie spricht abgehackt und betont jedes Wort, als wäre ich schwer von Kapee. „Was verstehen Sie daran nicht?“

Heiliger Samariter. Anscheinend ist es gar nicht so leicht, sich mustergültig zu verhalten und beispielhaft voranzugehen. Das gute Gefühl, welches mich erfüllt hat, als ich den Laden betreten habe, ist verpufft.

Sei’s drum! Wenn die Frau kein geschenktes Geld möchte, ist das ihr Pech. Verzichtet sie eben auf die Renovierung ihrer Bruchbude. Frustrieren lasse ich mich von dem Rückschlag nicht.

„Machen Sie mit den Sachen, was Sie wollen. Werfen Sie sie in den Müllcontainer oder spenden Sie sie der Wohlfahrt.“ Langsam weiche ich zurück. „Es ist mir egal.“ Mit der Hand tippe ich mir grüßend an die Stirn. „Ich verschwinde.“

Ohne mich nochmal umzudrehen, verlasse ich den Laden, den ich sicher kein zweites Mal betreten werde. Nicht in diesem Leben.

3

Tilda

Eine Bibel. In dem Pappkarton, den der selbsternannte Wohltäter aus dem Haus gegenüber gestern vorbeigebracht hat, liegt Die Heilige Schrift. Eine Familienbibel von 1887. Eine Schmuckausgabe mit Goldrand und handgeschriebenem Stammbaum der Familie auf der ersten Seite.

Was für ein unerwarteter Fund.

Wie gut, dass ich den Karton nicht ungesehen zu den Müllcontainern hinausgetragen habe. Was wird eine Bibel aus dem 19. Jahrhundert wohl wert sein?

Unter Umständen befinden sich noch weitere Schätze in dem verbeulten Karton. So unheimlich und aufdringlich wie der gutaussehende Typ auch war, ich werde die Sachen nun doch einer genauen Prüfung unterziehen müssen. Bei Büchern, egal welcher Art, werde ich schwach. Ich liebe die Literatur. Ob Sachbuch, Roman oder eine alte Heilige Schrift; ich werde wie magisch angezogen.

Nachdenklich halte ich inne. Womöglich habe ich gestern zu früh abweisend reagiert. Nicht zum ersten Mal in meinem Leben handele ich überstürzt und ohne nachzudenken. Mein Temperament kann durchaus mit meiner Sturheit mithalten, was mich bereits des Öfteren in Schwierigkeiten gebracht hat.

Vorsichtig drehe ich das Buch in meinen Händen und überlege. Kann ich die wertvolle Bibel, die auf dem Boden des Kartons gelegen hat, ohne Rücksprache behalten? Sie ist schließlich weit über einhundert Jahre alt. Gut möglich, dass der Wohltäter gar nicht wusste, dass der Schatz noch im Karton lag, als er seine Designerklamotten, die unerwartet hochwertig sind, eingepackt hat.

Der Typ, der etwa in meinem Alter war, wohnt gegenüber. Das hat er zumindest behauptet. Es sollte also ein Leichtes sein, ihn ausfindig zu machen, auch wenn ich seinen Namen nicht behalten habe. Hat er ihn mir überhaupt genannt? Ich erinnere mich nicht. Seine selbstgefällige Art ist mir unangenehm aufgestoßen, sodass ich eigentlich nichts von dem, was er von sich gegeben hat, behalten habe.

Mit Ehrfurcht schlage ich die Bibel auf und blättere durch die Seiten. Leidenschaft und stille Erregung überkommen mich und lassen ein Kribbeln unter meinen Fingerspitzen entstehen. Bloß kein Blatt beschädigen. Der Besitzer scheint das Buch nicht gut behandelt zu haben. Einige Seiten sind eingerissen und es gibt sogar ein paar lose in der Mitte. Wie schrecklich.

Mein Herz blutet, während ich den Schaden genauer begutachte. Wie kann man einem Buch das antun? Es ist barbarisch, egal wie alt eine Publikation ist.

Was ist das?

Unverhofft halte ich ein Foto in der Hand. Ein altes Frauenportrait in Schwarz-Weiß. Es muss in der Mitte zwischen den losen Seiten gesteckt und sich durch das Umblättern gelockert haben.

Grundgütiger. Meine Augenbrauen heben sich und ich halte inne. Was…? Aus dem Kribbeln unter meinen Fingerspitzen wird ein Zittern. Mein Atem stockt. Beinahe lasse ich das Foto fallen, als ich es näher an mein Gesicht halte, um auch die feinsten Züge erkennen zu können.

Die Frau sieht aus wie ich.

Unmöglich!

Ausgeschlossen!

Echte Doppelgänger gibt es nicht. Höchstens welche, die sich ähneln.

Ich bin wie erstarrt und fühle mich, als hätte mir eine Abrissbirne mit Wucht ins Gehirn geschlagen. Am liebsten würde ich mich irgendwo festhalten. Mir ist sogar etwas schwindelig.

Wie kommt eine Fotografie von mir in die Bibel des Typen von gegenüber? Bin ich durch das Aufschlagen der Bibel in einer Zeitreise gelandet?

Deine Fantasie geht mit dir durch, Tilda. Weniger Fernsehen, mehr wahres Leben.

Ungläubig, durcheinander und einer Eingebung folgend drehe ich das Bild um. Elfriede Bruns, 1942, steht dort in Bleistift von Hand geschrieben.

Zum Glück.

Die Welt ist doch nicht aus den Fugen geraten. Es steht nicht Tilda Kleine, 2023 auf der Rückseite.

Erleichtert atme ich aus und merke erst jetzt, dass ich die Luft angehalten habe. Die Frau ist jemand anderes. Sie ist nicht ich. Sie ist eine Elfriede, von der ich noch nie gehört habe. Bruns? Ihr Nachname ist mir völlig unbekannt.

Nachdenklich drehe ich das Bild in den Händen wieder um. Aber warum sieht sie aus wie ich? Merkwürdig. Alles Zufall? Eigentlich glaube ich nicht an Zufälle.

Die Ähnlichkeit ist so erschreckend, dass ich meine Meinung über Doppelgänger im Allgemeinen überdenken muss.

Oder …

Unter Umständen halte ich die Fotografie einer Verwandten in der Hand. Die Frau könnte meine Mutter sein. Wohl eher meine Großmutter, wenn ich das Jahr berücksichtige. Aber es gibt oder gab, soweit ich weiß, keine Bruns in unserer Familie.

Tilda, in jeder Familie gibt es Geheimnisse. Möglich ist vieles. Deine Mutter redet nicht gerne über die Vergangenheit. Ihr oftmals sonderbares Verhalten sollte dir nach dem Fund zu denken geben. Du weißt zu wenig über den Familienzweig deines Vaters, um jegliche Eventualitäten ausschließen zu können.

Verdammt! Ich zittere immer noch.

Die Übereinstimmung in unseren Gesichtszügen ist zu frappierend. Es muss einen erklärbaren Zusammenhang dafür geben. Die Gene sind schuld. Nichts anderes ist denkbar. Ich möchte keinen Klon haben. Bitte nicht! Sowas ist gruselig. Elfriede Bruns ist sicher längst tot – sie muss tot sein. Die Frau auf dem Bild ist zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren alt. Wenn das Foto von 1942 stammt, wäre sie heute über einhundert Jahre alt.

Unwahrscheinlich. Nur selten habe ich von Menschen gehört, die so alt geworden sind.

Einer Eingebung folgend blättere ich in der Bibel nach vorn. Auf der ersten Seite habe ich eine stammbaumähnliche Zeichnung gesehen. Möglicherweise hilft sie mir, den Namen und die Jahreszahl in Zusammenhang zu bringen.

Die handschriftlichen Eintragungen beginnen mit den Hauseltern. Der Hausvater ist ein Wilhelm Meinhard, gefolgt von der Hausmutter, Aletta Meinhard, geb. Lehm. Darunter steht das Datum der Trauung.

Danach kommen Angaben zu den Eltern des Hausvaters, den Kindern und Patenkindern von Wilhelm und Aletta. Sogar ein paar Sterbefälle sind eingetragen. Sonstige wichtige Familienerlebnisse gab es damals offenbar keine, denn dieser Bereich ist leer. Dummerweise taucht der Name Elfriede Bruns nirgendwo auf.

Eine Sackgasse.

So einfach ist es also nicht. Wäre auch zu schön.

Mit einem Seufzen lege ich das Foto zurück in die Bibel und möchte sie gerade weglegen, als mir ein weiteres Papier auffällt. Es liegt am Buchende und wäre mir beinahe entgangen. Ich ziehe vorsichtig an der weißen Ecke, die etwa einen halben Zentimeter herausragt und stelle fest, dass es kein Papier aus der Zeit um neunzehnhundert ist. Es ist ein Briefumschlag. Weiß, neu und aus überdurchschnittlich guter Qualität. Mit hochwertigen Papiersorten kenne ich mich wegen meines Kunststudiums aus.

Der Umschlag wurde laut Poststempel vor vier Wochen verschickt und ist ungeöffnet. Er stammt von einem Notar und ist an Johan Meinhard adressiert. Die Hausnummer verrät mir, dass es eine der Wohnungen von gegenüber sein muss.

Treffer.

Konzentriert halte ich die Luft an und denke.

Johan Meinhard wollte ein paar Klamotten loswerden und hat dabei versehentlich seine Familienbibel mit abgegeben, schlussfolgere ich messerscharf und atme aus.

Schade. Irgendwie hätte ich die Bibel mit dem seltsamen Foto gerne behalten und zu meiner Sammlung alter Bücher gestellt. Aber mit dem neuen Wissen ist das unmöglich. Da das Couvert von einem Notar hier aus Berlin stammt, geht es vermutlich um etwas Wichtiges. Ich muss Johan sein Erbstück zurückbringen – und den Brief ebenfalls. Sicher sucht er bereits danach. Außerdem möchte ich ihn nach dem Foto fragen. Die Gelegenheit ist günstig, etwas herauszufinden.

Warum ist der Brief ungeöffnet? Ist der Inhalt zu brisant? Oder kennt sein Besitzer ihn bereits und hat den Umschlag deshalb nicht mehr beachtet? Meine Neugier, die nicht selten mit Ungeduld einhergeht, ist eine lästige Eigenschaft, die ich zu gerne ablegen würde. Genau wie mein Temperament und meine Sturheit bringt sie mich oft in Schwierigkeiten.

Achtsam lege ich die Bibel auf den Tresen. Den Umschlag betrachte ich noch einen Moment, bevor ich ihn unter den Buchdeckel klemme und beides zur Seite schiebe.

Heute handele ich besonnen. Meine Ungeduld ersticke ich im Keim. Wie es sich gehört, werde ich in der Mittagspause bei Meinhard klingeln und die Sachen zurückbringen. Und wenn ich Glück habe, erfahre ich, wer Elfriede Bruns war und warum sie mir so verdammt ähnlichsieht.

4

Tilda

Vier Stunden später klingele ich mit der Bibel unter dem Arm im Haus gegenüber. Allerdings ist der Name J. Meinhard neben dem Klingelknopf durchgestrichen und von einem Conrad Faterhaar mit fettem schwarzem Filzstift überschrieben worden.

Was für ein Reinfall. Womöglich werde ich gleich eine schlimme Enttäuschung erleben. Mit wenig Hoffnung drücke ich die Tür auf, als der Summer ertönt. Wenigstens ist dieser Conrad zu Hause und ich muss nicht wiederkommen.

Seine Überraschung, als ich nach Luft ringend die vierte Etage erreiche, ist nicht zu übersehen. Meine Kondition lässt stark zu wünschen übrig. Vielleicht sollte ich wieder mit dem Joggen anfangen. Früher, bevor ich die Verantwortung für ein Geschäft übernommen habe, habe ich regelmäßig Sport getrieben. Da wären die paar Stufen ein Klacks gewesen.

„Ach nee, die ach so nette Ladenbesitzerin von gegenüber“, werde ich wenig freundlich begrüßt. Der Mann vor mir ist eindeutig der Wohltäter mit den Designerklamotten. Höchstwahrscheinlich Conrad Faterhaar. „Bist du gekommen, um mir meine Sachen zurückzubringen?“ Fassungslosigkeit begleitet die Worte.

Zu gerne würde ich antworten, etwas Entschuldigendes sagen, aber mir fehlt der Sauerstoff. Die Luft in der vierten Etage scheint dünn zu sein. Die Bibel an die Brust gedrückt stehe ich am Treppenansatz und konzentriere mich auf meine Atmung. Dabei mustere ich verstohlen mein Gegenüber. Sah er eben auch schon so gut aus? Der Mann vor mir trägt eine tiefsitzende Jogginghose und ein schlichtes weißes T-Shirt. Seine hellbraunen Haare stehen ab, als hätte er geschlafen oder wäre sich mit der Hand über den Kopf gefahren. Und der herausfordernde Blick … Ist das ein Muttermal gleich über seiner rechten Augenbraue? … Sehr sexy.

Tief einatmend suche ich nach meiner Konzentration. Heiliger Sauerstoff. Ab Morgen steht regelmäßiges Lauftraining auf dem Programm. Keine Ausreden, Tilda.

„Du solltest die Sachen doch wegwerfen, wenn du sie nicht behalten möchtest“, werde ich belehrt, bevor ich den Mund aufmachen und etwas sagen kann.

Erst in dem Moment, als Conrad die Korridortür, ohne auf meine Antwort zu warten, schließen möchte, kann ich wieder sprechen.

„Moment. Entschuldige.“ Tief durchatmen. „Wegen deiner Sachen bin ich nicht gekommen.“ Mein Seufzen ähnelt einem langen Ausatmen. Endlich habe ich mich wieder unter Kontrolle. Verdammtes Höhentraining. „Also eigentlich bin ich doch wegen der Sachen hier.“ Etwas zittrig reiche ich ihm die Bibel. „Die lag auf dem Boden deines Kartons. Es ist ein Erbstück aus dem 19. Jahrhundert und sicher wertvoll.“ Ich zucke mit den Schultern. „Vermutlich möchte Herr Meinhard seinen Besitz zurückbekommen.“

Conrad starrt auf das Buch in seinen Händen und scheint zu überlegen, was er damit anfangen soll. „Die gehört mir nicht. Ich bin nicht gläubig und besitze keine Bibel“, bekomme ich eine Abfuhr. Der Tonfall lässt arg zu wünschen übrig.

Sein abweisendes Verhalten ist meine Schuld. Warum war ich gestern eigentlich so unfreundlich? Diese Kratzbürstigkeit ist sonst gar nicht meine Art. Verständlich, dass Conrad Faterhaar mich nicht leiden mag. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er meinen kleinen Laden wenig wertschätzt und für ein heruntergekommenes Trödelgeschäft hält. Keiner darf so etwas über mein Heiligtum denken. Zumindest nicht, wenn er sich gut mit mir stellen möchte.

„Natürlich gehört sie dir nicht. Wie ich schon sagte, vermute ich, dass sie einem Johan Meinhard gehört“, antworte ich freundlich, ohne auf die Abwehr zu reagieren. „Es liegt ein Brief in der Mitte“, sage ich und deute an, nachzusehen. „Könnte wichtig sein. Der Absender ist ein Notar, hier aus Berlin.“

Conrads Haltung entspannt sich minimal. Er lehnt sich lässig mit der Schulter gegen den Rahmen und schlägt die Heilige Schrift auf. Vorsichtig und mit spitzen Fingern schlägt er die Seiten um, wie ich es nicht erwartet hätte. Anscheinend hat er Respekt vor einem Buch, das fünf Mal so alt ist wie wir. Sein bedachtsames Umblättern katapultiert ihn auf meiner Sympathieskala umgehend fünf Plätze nach oben. Vielleicht ist er doch kein totaler Reinfall. Erneut mustere ich ihn, diesmal mit anderen Augen. Verdammt! Wie sexy kann es aussehen, sich gegen einen Türrahmen zu lehnen? – Mit einem Buch in der Hand.

„Tut mir leid. Johan Meinhard ist vor drei Monaten ausgezogen. Ich habe sein Zimmer übernommen. Der Karton, den ich dir gebracht habe, war einer seiner übriggebliebenen Umzugskartons. Dass sich noch etwas darin befand, habe ich wohl übersehen.“

Die Hand hebend weise ich Conrad an, das Buch zu behalten. „Kannst du deinem Freund nicht sein Erbstück zurückgeben? Der Brief stammt schließlich von einem Notar und könnte wichtig sein.“ Das Foto erwähne ich nicht. Es scheint mir in diesem Augenblick unpassend. Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass der Mann vor mir etwas darüber weiß.

„Johan ist nicht mein Freund. Er war mein Vormieter.“ Conrad zieht den Brief heraus und tritt ins Treppenhaus. „Hier, nimm mal.“

Plötzlich halte ich das wertvolle Buch in der Hand und muss zusehen, wie Conrad ohne einen Funken Anstand den Umschlag aufreißt.

„Halt. Stopp“, versuche ich ihn zu bremsen. Es ist zu spät. „Der ist nicht für dich.“ Entsetzt von seiner Tat, schüttele ich den Kopf. „Du hast mir gerade erzählt, dass du nicht mit Johan befreundet bist.“ Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Warum machst du das? Schon mal etwas von Briefgeheimnis gehört?“

„Bullshit! Das Schriftstück sowie die Bibel gehören mir. Ich habe Johans WG-Besitz vorschriftsmäßig für einen obligatorischen Euro übernommen, als ich eingezogen bin. Irgendwo auf meinem Schreibtisch liegt dafür sogar ein quittungsähnlicher Wisch.“

„Du hast dieses kostbare Buch für einen Euro gekauft?“ Die Vorstellung lässt mich nach Luft schnappen, als würde ich weitere vier Etagen im Laufschritt nehmen. Warum passiert mir nie sowas?

„Ja. Den Umzugskarton, das Buch, die Hälfte der Kücheneinrichtung und den Kleiderschrank. Das Bett wollte ich nicht.“ Er zwinkert mir zu. „Zu viel Vorgeschichte. Außerdem hatte die Matratze Flecken, die ich nicht hinterfragen, geschweige denn entfernen wollte.“

Einen Augenblick denke ich nach und verdaue das Gehörte. „Das Briefgeheimnis bleibt trotzdem bestehen“, kläre ich den Checker von Morgen auf. Möglicherweise klinge ich unbeabsichtigt etwas besserwisserisch.

Die Antwort ist ein Augenrollen. „In dem Fall habe ich wohl eine Straftat begangen.“ Er faltet die Papiere aus dem Umschlag auseinander. „Gewöhn dich dran. Ich bin ein böser Junge.“ Die letzten Worte klingen verrucht und lassen mich innehalten.

Flirtet er mit mir? Ist das eine subtile Anmache? Warum verursacht sein überaus unreifer Kommentar mir eine Gänsehaut? Wäre es jetzt nicht an mir, mit den Augen zu rollen?

Überrascht und irgendwie angefixt mustere ich den Briefaufreißer erneut. Diesmal schaue ich genauer hin.

Lange Beine, breite Schultern und eine schmale Taille lassen mich unauffällig schlucken. Wie viel verflixten Sport treibt dieser Kerl eigentlich? Sicher kommt er kein bisschen aus der Puste, wenn er die Treppe zu seiner Wohnung hochsteigt.

Bevor ich zu Starren oder noch schlimmer zu Sabbern anfange, reiße ich mich zusammen und schlucke ein bisschen Spucke hinunter. Kein Flirten. Auch kein Nachdenken über; was wäre, wenn.

Du bist wegen des Briefes hier, Tilda. Nicht um dich an einem Männerkörper zu ergötzen, der wahrlich nicht zu verachten ist.

Conrad liest schweigend, ohne meine Blicke zu bemerken. Ohne aufzuschauen, lässt der Kerl mich zappeln. Ich versuche, an seiner Miene zu erkennen, worum es in dem Schreiben gehen könnte, aber das ist schwer. Sogar unmöglich.

Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren. Wie lang ist dieser verdammte Brief? Es kostet mich alle Mühe, ruhig dazustehen und abzuwarten.

Einen Augenblick später gewinnt meine Ungeduld die Oberhand und ich gebe nach. Also schön. Da das Kind längst in den Brunnen gefallen ist, trete ich vor und recke das Kinn. Mir ist egal was Conrad von meinem Verhalten hält. Dann denkt er eben, dass ich mich nicht unter Kontrolle habe. Soll mir recht sein.

„Ein Erbvertrag?“, lese ich den Betreff, von meiner Position aus, auf dem kopfstehend. „Wusste ich doch, dass es um etwas Wichtiges geht.“ Die Bestätigung ist eine Wohltat. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht.

„Jep. Der gute Jo erbt einen Porsche Cayenne, sobald ein Herr Otto van Hausen das Zeitliche segnet.“ Conrad scheint wenig beeindruckt von dem Erbe.

Interessant. „Ein direkter Verwandter ist dieser Otto aber nicht. Im Stammbaum der Bibel taucht sein Name nicht auf.“

Conrad hebt den Blick und lächelt. Es ist ein einnehmendes Lächeln, das mir die Knie weich werden lässt. Der Kerl sieht wirklich verboten gut aus, wenn er auf diese smarte Weise den Mund verzieht. „Da war aber jemand neugierig“, stellt er fest. „Hauptsache mich kritisieren, weil ich den Brief geöffnet habe.“ Seine Miene bekommt einen herausfordernden und zugleich gönnerhaften Zug.

„Moment, ich habe lediglich in einem Erbstück geblättert“, rechtfertige ich mein Handeln und trete von einem Fuß auf den anderen. „Ein Briefgeheimnis habe ich nicht verletzt.“

„In dem Fall bist du das brave Mädchen und ich der böse Junge.“ Conrads Schmunzeln verbreitert sich und treibt meinen Blutdruck in die Höhe. Warum ist mir plötzlich so komisch zumute? Und warum redet er schon wieder davon, zu den Bösen zu gehören? Ist das Wunschdenken?

Kann mal einer das Rauschen in mir drin abstellen.

Höchste Zeit für einen Themenwechsel.

Den Kommentar und das komische Gefühl ignorierend, hole ich das Foto zwischen den Seiten hervor. „Schau mal, das habe ich ebenfalls gefunden. Sieht mir die Frau auf dem Bild nicht zum Verwechseln ähnlich?“ Meine Stimme zittert. Schnell räuspere ich mich, um es zu überspielen.

Conrad starrt erst auf das Foto und anschließend in mein Gesicht. Danach wieder auf das Foto.

„Verrückt. Was macht deine Oma in der Bibel von Jo?“ Genau wie ich dreht Conrad das Bild um. „1942“, kommentiert er stirnrunzelnd.

„Die Frau ist nicht meine Oma“, erkläre ich. „In unserer Familie gibt es keine Bruns. Allerdings bin ich als Einzelkind bei meiner Mutter aufgewachsen. Meinen Vater kenne ich nicht näher. Ich habe ihn nur wenige Male als Kind getroffen.“ Nachdenklich reibe ich mir übers Kinn. „Aber Mama hat den Namen Bruns nie erwähnt.“

Warum erzählst du ihm deine Lebensgeschichte? Macht er auf dich den Eindruck, als würde ihn das interessieren?

Gleichgültig, wie von mir erwartet, gibt Conrad mir das Foto samt Erbvertrag zurück. „Hier. Bitte.“

„Danke.“ Umsichtig und ohne den losen Seiten weiteren Schaden zuzufügen, stecke ich beides zurück in die Bibel. „Und jetzt?“, frage ich, das kostbare Buch an meine Brust gedrückt. Irgendwie habe ich ständig das Bedürfnis, das wertvolle Stück zu halten und vor äußeren Einflüssen zu schützen.

„Keine Ahnung.“ Conrad stößt einen Seufzer aus. „Verkaufe das Buch in deinem Laden und rahm dir deine Doppelgängerin ein.“ Mit abweisender Miene macht er Anstalten, zurück in die Wohnung zu gehen.

Nein!

Bitte? Das kann er nicht ernst meinen. Panik, umsonst gekommen zu sein, befällt mich und lässt mich erneut unruhig auf der Stelle treten.

„Stopp!“, versuche ich ihn aufzuhalten, indem ich den Fuß vorschiebe. „Wir müssen diesem Johan seine Sachen zurückgeben. Der Vertrag ist sicher wichtig für ihn. Kennst du zufällig seine neue Adresse?“

„Nope.“ Mehr Unwille schlägt mir entgegen, bevor er kurz innehält. „Aber vielleicht … mein Mitbewohner Hagen kann dir möglicherweise helfen. Er hat vor mir mit Johan in dieser Wohnung zusammengewohnt.“

Natürlich könnte ich Conrad die Sachen dalassen, mit der Bitte, sie an Johan Meinhards neue Adresse zu senden. Aber dann würde ich nichts über die Frau auf dem Bild erfahren. Außerdem wirkt der Mann vor mir nicht, als hätte er Lust, für mich ein Päckchen zur Post zu bringen.

„Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass dein Freund Johan bittet, in meinen Laden zu kommen und die Sachen dort abzuholen? Zu gerne würde ich deinen Vormieter kennenlernen.“

„Du möchtest erfahren, wer die Frau ist“, durchschaut Conrad meine Bitte und wirkt plötzlich freundlicher.

„Erwischt. Ja, ich möchte dem seltsamen Foto auf den Grund gehen. Sollte es eine unbekannte Verwandte in meiner Familie geben, will ich mehr darüber erfahren.“

Conrad scheint einen Moment nachzudenken. „Hast du nächsten Samstag gegen sechzehn Uhr Zeit?“, fragt er, als ich schon denke, er sagt nichts mehr.

„Äh. Ja. Der kleine Laden schließt samstags um sechzehn Uhr.“

„Wenn das so ist, kannst du mich zur Modenschau ins Fashion Center begleiten. Johan Meinhard stellt mit mir und ein paar anderen die neue Winterkollektion von Julius Kopp vor.“

Mir klappt der Mund auf. Heute jagt eine Überraschung die nächste.

„Eine Modenschau?“ Der Bruchteil einer Sekunde vergeht. „Oh! – Ich verstehe. Du bist ein Model“, stelle ich selten dämlich fest und unterdrücke den Drang, mir gegen die Stirn zu schlagen.

Tilda. Tilda.

„Richtig erkannt, ich verdiene mein Geld mit dem Präsentieren von Designerkleidung.“ Conrads Haltung bleibt lässig. Er schiebt sogar eine Hand in die Tasche seiner Jogginghose. „Manchmal ergibt sich auch ein Werbespot oder ein exklusives Katalogshooting, samt Modenschau, erklärt er plötzlich nicht mehr wortkarg. Meine Güte, er spricht gelassen, als wäre es das Normalste auf der Welt, bei einem Werbespot mitzuwirken.

Wahnsinn.

Mir fehlen die Worte, oder besser … sie stauen sich in meinen Gehirnwindungen und kommen nicht heraus. Der Typ vor mir ist ein Männermodel. Ein richtig echtes. Und nicht nur er. Auch Johan ist offenbar in der Branche tätig, sonst wäre er Samstag nicht an Conrads Seite. In dem Fall brauche ich mich auch nicht zu schämen, dass mir die Knie weich werden, sobald Conrad lächelt.

Es kostet mich einige Mühe, meine Überraschung abzuschütteln und zu antworten. „Danke für die Einladung. Ich komme gerne mit. Mein Name ist übrigens Tilda. Tilda Kleine.“

Conrad nickt und zieht sein Handy aus der Hosentasche, anscheinend hat er eine Nachricht bekommen. „Dann sehen wir uns Samstag, … Tilda.“ Er spricht, ohne aufzusehen. „Ich hole dich vor deinem Laden ab.“

Hast du das gehört? Er hat deinen Namen ausgesprochen. Und … er holt dich ab. Du hast ein Date mit einem echten Model.

Bevor ich etwas erwidern kann, schließt er die Korridortür.

Und nun?

Perplex stehe ich da und weiß nicht, wo ich hinschauen soll. Was für ein verrückter Tag.

Von den Erkenntnissen überwältigt, setze ich mich zögerlich in Bewegung. Mich durchströmen Aufregung und Vorfreude, während ich ohne Eile die Treppenstufen abwärts gehe. Ich war noch nie auf einer richtigen Modenschau. Ob dort alle so gut aussehen wie Conrad? Mein Frauenherz, das schon viel zu lange unter meinem Singledasein leidet, hat gerade einen Hüpfer gemacht.

5

Tilda

Ich staune nicht schlecht und kneife die Augen zusammen, um über die Entfernung und gegen die Sonne besser sehen zu können. Ist das ein Hund? Ich korrigiere: Ein Hundchen? Hat jemand während der Mittagspause einen Welpen vor meinem Laden an die Türklinke gebunden? Wenn das Tier nicht niedlich bellen und an der Leine zerren würde, wäre ich nicht mal sicher, ob das überhaupt ein Hund ist. Das weiße Fellknäuel hat einen überproportionierten kreisrunden Kopf und riesige Füße. Bestimmt ein besonders geratener Mischlingshund. Der Arme kann kaum etwas sehen, weil ihm das wuschelige, viel zu lange Fell in den Augen hängt.

Wie alt der Kleine wohl ist? Und wo zur Hölle ist sein Herrchen? Oder Frauchen? Wem gehört das arme Tier, welches völlig verängstigt wirkt und sich an der Leine stranguliert?

„Hi, mein Kleiner“, rede ich mit sanfter Stimme und strecke die Hand aus, während ich mich in Zeitlupe der Ladentür nähere. Die Bibel halte ich mit der anderen Hand an die Brust gedrückt. „Bitte nicht ziehen. Du musst stillhalten, sonst erwürgst du dich.“

Die Antwort meines neuen Ladenbeschützers auf meine Bitte ist ein lautes und kräftiges Bellen. Ein Knurren, welches mehr niedlich als gefährlich klingt, bekomme ich ebenfalls zu hören.

Verdammt. Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt.

Möglicherweise ist das Problem größer als gedacht. Wenn ich nicht gebissen werden möchte, muss ich mir etwas überlegen. Auch kleine Hundemilchzähne können spitz und gefährlich sein. Und da ich kein Blut sehen kann …

Um dem Hundchen die Angst zu nehmen und ihn zu beruhigen, setze ich mich im Schneidersitz in geringer Entfernung vor meinen Laden auf den Bürgersteig. Die Bibel lege ich auf meinen Schoß. Zum Glück ist der Boden trocken, sodass es nur kalt, aber nicht nass ist. Die wenigen Fußgänger und ihre merkwürdigen Blicke ignoriere ich fürs Erste.

„Ich hoffe, dir ist klar, dass ich das nicht für jeden dahergelaufenen Straßenköter machen würde. Meine Hose muss nach der Aktion vermutlich in die Wäsche“, spreche ich, ohne das Tier, das sicher aus Verzweiflung bellt, anzusehen. „Du kannst von Glück sagen, dass du so niedlich aussiehst. Mischlingshunde sind meine Lieblingshunde, musst du wissen.“ Langsam rutsche ich Zentimeter für Zentimeter näher an die Tür und hoffe, dass der Bürgersteig so sauber ist wie er aussieht. Das Bellen wird weniger und hört kurz darauf ganz auf. Nur dieses leise misstrauische Knurren, welches sich wie das Gurgeln meiner Munddusche anhört, bleibt.

„Danke“, murmele ich und heuchele Desinteresse. Ich schlage sogar die Bibel auf und tue so, als würde ich lesen. Kaum ist auch das leise Knurren verstummt, ziehe ich das Foto zwischen den Seiten hervor und stoße ein freudiges und nicht zu lautes „Ohh!“ aus, als würde mich der Anblick überaus begeistern.

Ein Segen, dass Welpen für gewöhnlich neugierig und leicht für sich zu gewinnen sind. Mein neuer Freund ist keine Ausnahme.

Wie ich mir erhofft habe, versucht das Hundchen zu mir und dem Foto zu gelangen und wedelt sogar mit dem Schwanz. „Wusste ich doch, dass du interessiert bist. Die jahrelangen Besuche im Tierheim, weil ich keinen eigenen Hund haben durfte, zahlen sich jetzt aus. Immer noch sind es die problembehafteten Geschöpfe, für die ich ein Händchen habe.“

Erfreut, dass meine wenige Geduld schon belohnt worden ist, beuge ich mich zu ihm. „Diese Kostbarkeit kann ich dir nicht geben, mein Kleiner.“ Ich stecke das Foto zurück. „Aber du könntest mit in den Laden kommen. Sicher habe ich im Kühlschrank etwas, das dir schmeckt. Du hast doch bestimmt auch Durst.“ Mutig strecke ich die Hand aus. Vorsichtig, aber ohne sich die Seele aus dem Leib zu bellen, riecht der Mischling an meinen Fingern. Seine Rute hält inne, als wäre er noch nicht sicher, ob ich vertrauenswürdig bin. Anscheinend mag er meine Pfirsich-Handcreme, denn er beginnt, meine Finger abzulecken. Auch das Schwanzwedeln setzt zögerlich wieder ein.

„Na also.“ Der Punkt geht an mich. Gedankenverloren tätschele ich ihm den Kopf und muss an meine Kindheit denken. Wie sehr habe ich die unterschiedlichen Tierheimbewohner geliebt. Jeden einzelnen, egal ob Hund oder Katze oder Kleintier. Ich mochte sie alle. „Lässt du mich jetzt die Tür aufschließen?“ Mit langsamen Bewegungen hole ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche. Anschließend lasse ich ihn auch daran riechen. Wie erwartet mag er meine Finger – oder die Handcreme – lieber.

In Zeitlupentempo und mit nassen Fingern stehe ich auf und unterdrücke den Drang, mir den Hintern abzuklopfen. Um nichts in der Welt möchte ich dem süßen Kleinen Angst einjagen und meine Mühe zunichte machen. Hoffentlich habe ich nicht in irgendwelchen Käfern gesessen. Gegen bellende Hunde habe ich nichts. Aber Insekten, egal welcher Art, sind mir zuwider. Sie stechen und summen und krabbeln überall hin. Nicht drüber nachdenken.

Die kostbare Bibel in sicherer Entfernung haltend, öffne ich die Ladentür. Das Hundchen folgt mir, bis die Leine ihn zurückhält. Er protestiert erneut mit lautem Gebell.

Meine armen Ohren! Das kann heiter werden.