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Måns Mosesson

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Beschreibung

"Das Wunderkind, das am Leben zerbrach: Tim Bergling nannte sich Avicii und schuf Hits, die zum Soundtrack der Generation Instagram wurden." Spiegel Tim Bergling war ein musikalisches Ausnahmetalent und prägte mit seinen Melodien eine Ära, in der schwedische und europäische House Music die Welt eroberte. Doch zugleich war er ein zurückgezogener und verletzlicher junger Mann, der mit unmenschlicher Geschwindigkeit erwachsen werden musste. Nach mehreren Zusammenbrüchen und Krankenhausaufenthalten folgte 2016 das überraschende Tour-Aus - und kaum zwei Jahre später nahm Tim sich das Leben. Für "Tim. Die offizielle Avicii-Biografie" führte der vielfach ausgezeichnete Journalist Måns Mosesson Gespräche mit seiner Familie, seinen Freunden und seinen Kollegen im Musik-Geschäft. Sein Buch ist ein ergreifendes Porträt, das Tims unbändigen Antrieb ebenso beleuchtet, wie die dunkelsten Seiten seines Lebens.

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Seitenzahl: 501

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Måns Mosesson

Tim

Die offizielle Avicii-Biografie

Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Tim Bergling war ein musikalisches Ausnahmetalent und prägte mit seinen Melodien eine Ära, in der schwedische und europäische House Music die Welt eroberte. Doch zugleich war er ein zurückgezogener und verletzlicher junger Mann, der mit unmenschlicher Geschwindigkeit erwachsen werden musste. Nach mehreren Zusammenbrüchen und Krankenhausaufenthalten folgte 2016 das überraschende Tour-Aus – und kaum zwei Jahre später nahm Tim sich das Leben. Für »Tim. Die offizielle Avicii-Biografie« führte der vielfach ausgezeichnete Journalist Måns Mosesson Gespräche mit Tims Familie, seinen Freunden und seinen Kollegen im Musikgeschäft. Sein Buch ist ein ergreifendes Porträt, das Tims unbändigen Antrieb ebenso beleuchtet wie die dunkelsten Seiten seines Lebens

Inhaltsübersicht

Tim

Abends kamen die Kaninchen aus dem Gebüsch

Diese Erzählung beruht auf Hunderten von Interviews

Ich wurde 1989 als Kind sehr liebevoller Eltern geboren

Der Rauch stieg zu den schweren Kronleuchtern auf

Ich war ein ziemlich schüchternes Kind

Draußen im Wohnzimmer erwachten die Freunde

Akne kam zum ersten Mal in mein Leben

Häufig mussten die Freunde lange auf Tim einreden

In den Sommerferien fuhren Tim und Fricko nach Juan-les-Pins

Im Herbst 2006 kam Tim auf andere Gedanken

Arash Pournouri riss einen Streifen Tesafilm ab

Die erste Begegnung mit Arash verlief gut

Als Tim aufwachte, brannte ihm die Sonne ins Gesicht

»Habt ihr einen Termin beim Arzt machen können?«

Im Keller von »At Night« in der Styrmansgatan lag ein Raum mit einer Aufnahmekabine

Morgens schwebte Emily Goldberg aus dem Haus

»Wie sieht’s aus?«

Filip Åkesson trat hinaus auf den Gehweg des Sunset Boulevard

Während der Eroberung der USA

»Hej, ich habe die Bilder von Tim und von dir und Tim bekommen«

Die Tage im Krankenhaus waren die angst- und stressfreiesten, an die ich mich aus den letzten sechs Jahren erinnern kann

»Liebst du mich?«

Bildteil 1

»Ich brauche mehr Zeit«

»Was machst du«

Meine Art, Dinge aufzuschieben.

Im November 2012 fuhr Tim zurück nach Stockholm.

»Ich glaube, ich fahre Morgen nach Hause.«

Es fiel mir schwer, zu akzeptieren, dass ich nie mehr trinken sollte

Es waren noch drei Stunden bis zur Landung

»Geliebter liebster Tim!«

Als der Partyveranstalter Jesse Waits über das Poolgelände seines Nachtclubs XS blickte […]

Einen Monat nach dem stressigen Auftritt

Es war Herbst geworden

Schmerzen

Kurz vor Beginn des Jahres 2014

Der Projektor auf der gegenüberliegenden Straßenseite

Im Nachhinein ist es ganz deutlich

Es war der Sommer 2014

Einige Wochen später

Im Herbst 2014 kehrte Tim nach Stockholm zurück

Am Ende flog Tim zurück nach Los Angeles

»Hej u schrecklicher Bengel«

»Ich glaube, wir können einen starken Eindruck machen«

Tims eigenen Hoffnungen und Versprechen zum Trotz

Klas Bergling fühlte sich nicht gut

Auf regenglänzenden Straßen

Neben der nicht asphaltierten Auffahrt zur Klinik

Ich lerne weiter

Anfang Oktober 2015

Hör auf deine anderen Gefühle

Einige Monate später saß Tim auf einem Klappstuhl

Sobald der Brief veröffentlicht war

Klas Bergling hatte im Garten einen Lieblingsplatz

Viele der Ideen, die Tim beschäftigten

Es fiel Tim Bergling immer leichter

Ich muss lernen, wieder Musik anzuhören.

Produktionsmäßig trat Tim auf der Stelle

»Mein Freund :D!«

Es war kurz nach Neujahr 2018

In die Villa in Hollywood

»Ich lese und rede schon seit mehreren Jahren über diese Dinge«

Klas Bergling blieb stehen, um Atem zu holen

Am 16. April 2018 erhielt Paul Tanner einen Anruf

Zur gleichen Zeit

Über dem Horizont in Las Palmas ging die Sonne auf

Verbreite Freude durch meine Musik, in der Botschaft

Es war der erste richtig warme Frühlingstag

Salem Al Fakir und Vincent Pontare saßen in ihrem Studio

Und Liebe ist das Gefühl, das wir lieben

So vergingen die Tage

Bildteil 2

Verzeichnis der Quellen

Songs

Dank

Abends kamen die Kaninchen aus dem Gebüsch. Grau und zerzaust, als hätten sie zwischen den Pinien eine Schlacht geschlagen. Es dauerte nicht lange, bis ein Turmfalke reglos über ihnen am Himmel schwebte, seine Flügel gegen den Wind ausbreitete und auf den richtigen Moment wartete, um auf seine Opfer hinabzustoßen.

Er sah so viel von hier oben.

Der Duft von Knoblauch und Rosmarin stieg zu ihm herauf – der Koch hatte wohl angefangen, das Abendessen zuzubereiten – und verband sich mit einem Hauch von den Zitronenbäumen unten im Wäldchen.

Der Sprinkler, der am Pool die Palmlilien duschte, gab ein friedliches Rauschen von sich.

Drei Wochen waren vergangen, und Tim Bergling hatte begonnen, seine Umgebung wieder wahrzunehmen. Er saß auf dem Dach des Klinikgebäudes, das Pflegepersonal hatte ihm geholfen, einen Liegestuhl auf die roten Ziegelplatten hochzustemmen. Im Dunst draußen über dem Mittelmeer ahnte er in der Ferne die Insel, zu der die Leute die Fähre nahmen, um zu schnorcheln und ihren Kater zu vergessen, bevor sie die ersten Pillen des Abends einwarfen und wieder von vorn anfingen.

Aber jetzt war hier Herbst. Die Party-Touristen waren nach Hause geflogen, das Privilege, das Space und das Pacha hatten die Saison beendet und waren geschlossen, sogar die Grillen waren verstummt.

 

Der Sommer 2015 war in einem einzigen dunklen Nebel vorbeigezogen, das erkannte er jetzt. Er hatte in der weißen Villa an der Südspitze von Ibiza gesessen und Stress gehabt, weil die Stücke nicht schwer genug gemixt waren und weil die Plattenfirma wollte, dass er nach London flöge, um Interviews zu geben.

Stories war als Nachfolgealbum für das erste gedacht, das Tim Bergling vor zwei Jahren von einem in den Clubs gefeierten DJ zu einem globalen Pop-Phänomen gemacht hatte. Die Platte war ein Jahr verspätet gewesen, und Tim hatte Probleme gehabt, sich zu fokussieren.

Es war lange her, dass sein Körper funktioniert hatte, wie er sollte. Und im letzten Jahr, nach der Operation im Krankenhaus, hatte er gefühlt, wie wieder etwas in seinem Bauch wuchs. Tim war besessen gewesen von diesem Klumpen. Je mehr er daran dachte, desto deutlicher fühlte er ihn. Wie einen Tumor, der es sich gutgehen ließ. Und während dies Unbekannte da drinnen größer geworden war, hatte er auf den Festivals des Sommers in ganz Europa gespielt und jeden Sonntag das Ushuaïa gefüllt, den protzigsten House-Club von Ibiza.

Als er am Nachmittag nach dem letzten Auftritt der Saison aufwachte, war er überzeugt gewesen, dass er nach Hause fliegen würde, nach Los Angeles.

Stattdessen waren sie alle im Erdgeschoss der Villa versammelt gewesen. Sein Vater Klas war da, sein Manager Arash war mit dem Flugzeug aus Stockholm gekommen, ebenso sein großer Bruder David. Der Tourneemanager, der Bodygard. Und natürlich die Kumpels, die Freunde seit seiner Kindheit, die ihn seit ein paar Jahren begleiteten, wohin er auch fuhr.

Sie hatten ihm erklärt, welche Sorgen sie sich machten. Dass sie es satthatten, Tag für Tag zu lügen, wenn sie gefragt wurden, wie es sei, für Avicii zu arbeiten. Geweint hatten sie, sie waren am Boden zerstört gewesen.

Schließlich hatte Tim sich bereit erklärt, in die Klinik zu gehen, hauptsächlich, um ihr ewiges Gejammer loszuwerden, dass er unzuverlässig und schlampig geworden sei.

An den ersten Tagen, während der einleitenden Entwöhnung, hatte er hauptsächlich geschlafen. Aber dann hatte Paul Tanner, der die Behandlung leitete, ihm geraten, zu schreiben.

 

Meine erste Erinnerung ist, dass ich mit meiner Mutter ein Bad nehme, oder wenn sie mir ein Wiegenlied singt, oder mein Vater, der hereinkommt und die alten Kassetten mit Märchen von der A-Seite auf die B-Seite wendet, während ich versuche einzuschlafen.

 

Die Wörter kamen mit scharfen Kanten. Er hatte so lange in der Betäubung des weichen Selbstbetrugs gelebt, dass es ihm zuerst zuwider war. Aber er sah den Sinn ein – die Erlebnisse in Worte zu fassen, machte es leichter, über sie zu sprechen, half ihm, eine Sicht auf das Leben einzunehmen, das ihn hierhergebracht hatte, an diesen Ort im September 2015.

Wenn die Sätze erst einmal kamen, fiel es ihm schwer, ein Ende zu finden. Statt zu schlafen, saß er am Computer und schrieb die Nächte hindurch. Er erzählte von seiner Kindheit und Jugend, von seinen Geschwistern, wie er die Musik entdeckt hatte und wie seine Karriere Fahrt aufnahm. Er schrieb über die komplizierte Beziehung zu seinem Manager Arash und die Zeit mit seinen Freundinnen Emily und Racquel.

An den Nachmittagen fanden lange Gespräche mit dem behandelnden Arzt statt. Sie diskutierten über Begriffe wie Überlebensstrategie und Verdrängung. Tim analysierte die neuen Informationen systematisch, wie er es immer getan hatte.

Er erkannte jetzt, wie viel er verdrängt hatte. Er hatte sich selbst so lange vorwärts gezwungen, dass es alltäglich geworden war.

Plötzlich sah er die Dinge radikal anders. Auch die anstrengenden Gefühle, die er eigentlich nicht haben wollte, mit denen er sich seit der Kindheit herumgeschlagen hatte – die Nervosität, die Rastlosigkeit, die Angst –, vielleicht hatten sie auch ihr Gutes? Er begann, an sie zu denken wie an einen Kompass, ein Instrument, das ihm helfen konnte, eine neue Richtung einzuschlagen.

 

Das Gefühl als solches kann eine positive oder negative Energie haben, aber kein Gefühl ist vorsätzlich negativ.

 

Er hatte schon so lange Grenzen überschritten, im Schmerz gelebt. Dem physischen in seinem Bauch, aber auch dem psychischen. Er war nicht nur gegen die Wand gelaufen, er war hindurchgekracht, mehrmals. Er hatte sich im Grenzland des Todes bewegt, so fühlte es sich wirklich an.

Er wünschte, er hätte früher zugehört.

Diese Erzählung beruht auf Hunderten von Interviews, unzähligen Stunden von Gesprächen mit Menschen, die Tim Bergling kannten und mit ihm arbeiteten. Seine Familie hat mir Zugang zu Handyaufzeichnungen, Chatgesprächen, Zeichnungen, Fotos und Hörbüchern ermöglicht, die Tim mit wachsender Intensität durchpflügte. Ich habe private wie professionelle Videoaufnahmen ansehen können und Einblicke gewonnen, wie Tim seine Stücke in dem Programm, in dem er komponierte, strukturierte.

Ich habe Clubs auf Ibiza und in Miami und seine früheren Wohnungen in Stockholm und Los Angeles besucht, habe auf Autofahrten durch die Wüste in Las Vegas, auf House-Festivals in Amsterdam, bei Gebäck und Tee in London und bei Lachs und Kartoffeln im schonischen Skillinge Gespräche geführt.

So weit wie möglich habe ich versucht, Tims Perspektive auf einen häufig schwer fassbaren Wirrwarr von Ereignissen und Abläufen einzufangen. Die mehr als vierzigtausend Mails, die Tim im Lauf von zehn Jahren erhielt und schickte, waren eine unschätzbare Quelle. Auch auf persönliche Notizen, Diskussionen in Internetforen sowie Unterhaltungen per SMS, auf Messenger und Whatsapp konnte ich mich stützen.

 

Tim Bergling feierte seine größten künstlerischen Erfolge in einer Zeit, in der psychische Leiden unter jungen Menschen in großen Teilen der Welt stark zunahmen. Die Gründe dafür sind zahlreich und komplex, doch dass die Zahlen in die Höhe geschossen sind, ist messbar und unbestritten. In Schweden haben psychische Krankheiten unter jungen Erwachsenen seit 2006 um siebzig Prozent zugenommen. Die stressbezogenen Diagnosen werden immer mehr: Schlafschwierigkeiten, Rastlosigkeit, Niedergeschlagenheit, Angst. Auch die Selbstmordrate steigt in dieser Altersgruppe besorgniserregend – in vielen der Länder mit hohem Durchschnittseinkommen ist Selbstmord bei Personen unter dreißig Jahren inzwischen eine der häufigsten Todesursachen. In Schweden ist die Anzahl junger Menschen, die freiwillig ihr Leben beenden, seit dem Beginn des neuen Jahrtausends stetig angestiegen, in den USA sind die Zahlen in den letzten zehn Jahren in die Höhe geschnellt. Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge nehmen sich mehr Menschen das Leben, als an Magenkrebs, Leberzirrhose, Brustkrebs und Alzheimer sterben. Selbstmord tötet mehr Menschen als Kriege, Überfälle, Terrorismus und häusliche Gewalt zusammengenommen.

Hinter einem Suizid verbirgt sich fast immer irgendeine Form von psychischem Leiden, beispielsweise eine Depression oder Angst. Noch immer sind diese Themen von Scham und Schweigen umgeben. Es fällt uns unglaublich schwer, mit jemandem, dem es schlecht geht, zu sprechen. Die Angst, etwas Falsches zu sagen und dadurch die Situation noch zu verschlimmern, kann leicht zu einem echten Hindernis werden. Die Forschung zeigt jedoch, dass solche Befürchtungen unbegründet sind: Man braucht keine feinen und perfekten Antworten. Das Wichtigste ist, dass man zu fragen wagt, wie es dem anderen geht. Und dass man bereit ist, zuzuhören. Durch Gespräche, nicht durch Schweigen können wir Leben retten.

Es gibt gewisse Einschränkungen, wenn man über berühmte Menschen schreibt, die sich das Leben genommen haben. Um nicht Gefahr zu laufen, dass die Schilderung ähnliche Handlungen auslöst, sollte man vermeiden, den physischen Ort und die Tat an sich zu schildern. In der vorliegenden Erzählung sind auch nicht die spezifischen Details wichtig, die Tims letzte Stunden umgeben, sondern was zu ihnen hinführte und was wir möglicherweise von seinem Tod lernen können.

Wenn es dir so schlecht geht, dass du die Situation unerträglich findest, oder wenn du aktive Pläne hast, dir das Leben zu nehmen, solltest du sofort den Notruf 112 wählen.

Wenn du daran gedacht hast, dir selbst Schaden zuzufügen, oder wenn du glaubst, dass jemand in deiner Nähe Unterstützung nötig hat, ist Hilfe immer möglich. Du kannst mit jemandem sprechen, dem du vertraust, oder eine der folgenden Nummern anrufen:

 

Deutschland:

0800–111 0 111 oder 0800–111 0 222 (Telefonseelsorge)

0800–111 0 550 (Nummer gegen Kummer, Eltern) oder 0800–111 0 333 (Kinder und Jugendliche)

 

Österreich:

142 (Telefonseelsorge) oder 147 (Kinder und Jugendliche)

 

Schweiz:

143 (Dargebotene Hand) oder 147 (Kinder und Jugendliche)

Ich wurde 1989 als Kind zweier sehr liebevoller Eltern, Klas und Anki, geboren. Mein Vater nannte sich manchmal Papierhändler (mit einem Lächeln), ein deutlicher Hinweis auf das Bescheidenheitsideal in der schwedischen Gesellschaft. Tatsächlich besaß er mehrere Büroartikelläden und hatte viel Geld. Meine Mutter war eine erfolgreiche Schauspielerin, mein Bruder war ebenfalls Schauspieler, als ich aufwuchs.

Der Rauch stieg zu den schweren Kronleuchtern auf, die an der Decke des Saals hingen. Die Pfeile der Jäger zischten durch die Luft, und die Magier schleuderten Feuerbälle gegen die zwei Köpfe des Drachen, aber dieser Chef war ein richtig zäher Teufel. Seine scharfen Zähne leuchteten im Dunkeln, während er nach jedem Clanmitglied schlug, das sich zu nähern wagte.

Gemeinsam mit Druiden, Priestern und Magiern hatte der Ritter Important stundenlang gekämpft, um bis hierhin zu kommen, zu der vorletzten Bestie, die vernichtet werden musste, bevor der Kampf gewonnen war. Der Clan war taktisch und clever vorgegangen – manchmal hatten sie sich alle vierzig in einem gesammelten Trupp bewegt, manchmal hatten sie sich aufgeteilt, um genügend Dracheneier zu zerstören, ohne unterzugehen.

Jetzt stand Important versteckt hinter einer der Steinwände in der Burg, die in den Eastern Kingdoms in den Fels hineingehauen war. In seiner rotgelben Rüstung bewegte er sich geschmeidig und schnell. Er war ein Paladin, ein Ritter mit magischen Fähigkeiten, der zu Hilfe eilte, wenn ein anderes Clanmitglied im Begriff war, die Lebenskraft zu verlieren.

Important war überhaupt ein Charakter, der seinem Namen alle Ehre machte. Er hatte Messer in beiden Schulterstücken seiner Rüstung, bewegliche Eisenhandschuhe und einen Gürtel, der das Allerbegehrenswerteste war. Zwischen dem Visier des Helms und der dunklen Kapuze leuchteten seine Augen in einem intensiven Weiß.

Es kam vor, dass der Ritter in Sturmwind, der Hauptstadt der Allianz, umherritt, nur um die neidischen Blicke der anderen zu fühlen, wenn sie die mächtigen Hörner an der Rüstung seines Pferdes sahen – ein deutliches Zeichen dafür, dass er ein leidenschaftlicher Soldat war.

Der sechzehnjährige Tim Bergling saß an die Wand gelehnt in seinem Bett und steuerte Important genau dahin, wo er ihn haben wollte. Seine Finger hämmerten auf der Tastatur, während der Ritter lief, um wieder einen in Bedrängnis geratenen Zauberer zu retten.

Tims Kumpel Fredrik Boberg, den alle Fricko nannten, saß neben ihm auf dem Bett und schaute zu. Man konnte sehen, dass die Jungen schon seit vielen Stunden spielten – zwischen Gläsern mit schal gewordener Coca-Cola lagen angeknabberte Süßigkeiten, Chipskrümel und ausgespuckte Snusprieme.

Fricko und die anderen Freunde waren gleich nach der Schule in die Wohnung von Tims Eltern in der Linnégatan gekommen, hatten ihre Computer und Bildschirme in den vierten Stock geschleppt und sie in Tims Zimmer installiert. Inzwischen war es weit nach Mitternacht, und der Kriegszug in World of Warcraft war noch nicht beendet. Einer der anderen war beinahe über seiner Tastatur eingeschlafen.

 

In diesem kleinen Zimmer hatte Tim sich in seiner gesamten Kindheit und Jugend wohlgefühlt. Hier hatte er Porträts seiner Eltern und Freunde gezeichnet, Gedichte über das Herbstlaub und das Mädchen in seiner Klasse geschrieben, das er am liebsten mochte. Seine Eltern hatten ihm ein Abo der Zeitschrift Illustrerad Vetenskap geschenkt, darin hatte er alles verschlungen, was er über Satelliten, archäologische Ausgrabungen und Roboter finden konnte. Besonders der Weltraum faszinierte ihn. Er war ein kleiner Junge gewesen, als ein Teleskop in einer Umlaufbahn außerhalb der Erdatmosphäre ausgesetzt wurde. Hubble, wie dieses mülltonnenähnliche Gebilde genannt wurde, war mit Kameras ausgestattet, die aus der großen Höhe Bilder von allem, von erlöschenden Sternen wie von leuchtenden Galaxien aufnehmen konnten.Tim blätterte die Bilder von einer gigantischen Gaswolke durch, die einem schaurigen Märchenbuch entnommen zu sein schienen – gewaltige Säulen von Staub und Gas waren ultraviolett erleuchtet und erinnerten an ein Monster, das in den Kosmos hinausheulte. Wahrscheinlich war unser eigenes Sonnensystem vor unendlich langer Zeit an einem ähnlich abgelegenen Ort entstanden. Aber das schnellste Raumschiff, das der Mensch erfunden hatte, würde über hundert Millionen Jahre brauchen, um dorthin zu gelangen, in die Sphäre des Unbegreiflichen und Ewigen.

Während Tim in solche Gedanken versunken dasaß, machte seine Mutter sich sehr oft in der Küche zu schaffen und kochte Köttbullar und Spaghetti für ihren Sohn hinter der geschlossenen Tür rechts vom Herd.

Ihr geliebter kleiner Timelim, der so ersehnt worden war, als er im letzten Herbst der Achtzigerjahre geboren wurde.

Wenn sie daran zurückdachte, erinnerte sich Anki, wie sehr sie ein gemeinsames Kind mit Klas gewollte hatte, obwohl sie beide gerade havarierte Ehen hinter sich gelassen und die Vierzig schon überschritten hatten.

Tim war ein echter Nachzügler. Als er kam, hatten seine drei Geschwister schon einen guten Teil ihrer Teenagerjahre hinter sich. Linda und David, Tims Halbgeschwister aus einer früheren Beziehung des Vaters, waren als Erste ausgezogen, Ankis Sohn Anton hatte nicht viel später das Elternhaus verlassen. So waren sie nur noch zu dritt im Haushalt. Vielleicht, dachte Anki, war dies einer der Gründe dafür, dass Tim ein wenig zurückhaltend und vorsichtig war.

Gleichzeitig eigenwillig und bestimmt. In der Vorschule hatte er weder Nudeln noch Kartoffelbällchen gegessen, keinen Obstsalat und keine Rhabarbercreme. Tim lehnte alles ab, was die anderen Kinder in sich hineinstopften – beharrlich hatte er auf einer Kost bestanden, die ausschließlich aus Knäckebrot und Butter bestand. Beim jährlichen Luciaumzug hatte einer der Lehrer Tim in den Saal tragen müssen, weil er nicht wagte, auf dem Fußboden zu gehen, und bei einem Zirkusbesuch hatte Tim sich geweigert, mit hineinzugehen.

»Ich kenne den Clown nicht«, hatte er kategorisch erklärt und war draußen geblieben.

Er wollte manchmal seine Ruhe haben, Raum für sich selbst, das gab er deutlich zu erkennen. Wenn er und Anki über etwas gestritten hatten, kam es vor, dass Tim sich einschloss. Sie kommunizierten dann mit Zetteln, die sie unter der Tür seines Zimmers hin und her schoben.

»Okay. Ich gebe es zu«, schrieb Tim nach einem solchen Streit. »Es ist mein Fehler. Und dafür bitte ich um Entschuldigung. Aber ich finde, es war gemein, ›Couch Potato‹ zu sagen. Das siehst du doch ein?«

»Du hast recht, Entschuldigung«, antwortete Anki und schob den Zettel in Tims Zimmer.

Danach waren sie wieder Freunde, und Tim kam heraus.

Vielleicht waren diese Vorsicht und die Nachdenklichkeit ein familiäres Erbe von ihrer Seite, überlegte Anki. Sie arbeitete als Schauspielerin und war während ihrer Karriere oft wegen der Intensität ihres Spiels gelobt worden – einige Jahre vor Tims Geburt hatte sie eine Hauptrolle in dem Film Mitt liv som hund (dt. Mein Leben als Hund) gespielt. Jetzt pendelte sie zwischen Stockholm und einem Aufnahmestudio in Hallstahammar hin und her, wo sie in der Soap Vänner och fiender eine Mutter spielte. Wie viele andere in der Theaterwelt hatte Anki während großer Teile ihres Lebens an mangelndem Selbstbewusstsein gelitten. Sie fand sich zu groß, zu selbstbezogen und zu tollpatschig. Wenn sie lachte, sah sie aus wie ein pralles Weihnachtsferkel, fand sie; es fehlte nur der glänzende Apfel im Mund.

Es gab in Anki Lidéns Leben auch ein Vorher und ein Nachher.

Sie war als Teenager von einem fremden Mann ohne jeden Anlass in einen Wald gezogen worden, wo er versucht hatte, sie zu erwürgen. Dieses Ereignis hatte sich für immer in ihrem Körper festgesetzt, sie hatte Angst im Dunkeln und war empfindlich. Sie konnte kein Halstuch tragen, ohne zu spüren, wie ihr die Atemwege zugedrückt wurden. Vielleicht hatte dieses Trauma auch ihr Kind beeinflusst, gleichsam indirekt?

Tim hatte auf jeden Fall einen abwartenden Zug, den sie kannte. Wenn sie alle sechs bei einem Familienessen versammelt waren, konnten die anderen drei Geschwister ununterbrochen durcheinanderschreien und einen wüsten Lärm machen. Tim saß still daneben und ließ plötzlich einen besonders witzigen und passenden Kommentar los. Dann lächelte er sein wunderbar schiefes Lächeln und ging zurück in sein Zimmer, um seine Forschungen fortzusetzen.

Tims Vater war der Besitzer und Betreiber von Skottes, einer Firma, die Büromaterial an Unternehmen verkaufte. Auf den ersten Blick konnte Klas Bergling einen zugeknöpften und korrekten Eindruck machen, besonders, wenn er über die Einkaufspreise von Kugelschreibern und Lochern diskutierte. Wenn man ein bisschen an der Oberfläche kratzte, hatte jedoch auch Klas eine künstlerische Ader, eine pochende Kreativität, die freigesetzt werden wollte. Er war mit dem Duft von Terpentin aufgewachsen, in der Werkstatt der Königlichen Oper, wo sein Vater Chef der Requisite war. Bei Familientreffen improvisierte er gern kleine Sketche, in denen er einen ehrgeizigen Filmregisseur oder einen angesäuselten Verkäufer darstellte. Und an einem freien Samstagvormittag war es nicht ungewöhnlich, dass Klas die Stereoanlage im Schlafzimmer lauter stellte. Im Morgenrock walzte er umher, während die kraftvolle Stimme seines Hausgottes Ray Charles gegen die Stuckdecke schlug. Der blinde Soulsänger aus dem amerikanischen Süden hatte einen unübertroffenen Swing am Klavier, er konnte vor dem Mikrofon brüllen oder flüstern, sodass er sich wie ein ganzes Orchester anhörte. Sonst fand sich viel Blues in der Vinylsammlung, oft aus Chicago, zum Beispiel Gitarristen wie Buddy Guy oder Freddie King, verbrauchte Männer, die von Untreue und Eifersucht, Gewalt und Elend erzählten.

Auch Tims ältere Geschwister hatten viel Musik gehört und sich nach Kräften bemüht, ihrem kleinen Bruder ihren Geschmack weiterzugeben. Linda hatte die gesamte Gang mit den Glamrockern von Kiss bekannt gemacht, David hatte sich das meiste angehört, was auf MTV lief, von Hiphop bis Grunge. Anton hatte im Gymnasium angefangen, Schlagzeug in einer Rockband zu spielen.

In den Sommern pflegte die Familie mit dem Auto nach Skillinge in Österlen hinunterzufahren, einem Teil von Skåne. In dem alten Fischerdorf hatten sie ein Backsteinhaus gekauft, das zwar etwas mitgenommen und von Feuchtigkeit befallen war, dafür aber einen Blick aufs Meer bot. Während Klas mit nacktem Oberkörper E-Gitarre spielte, schreinerte Tim Kojen und lernte unten im Hafen Opti-Segeln. Wenn er zusammen mit einem Freund an einer Straßenkreuzung einen Flohmarkt veranstaltete, brachte Anki ihrem Sohn Hamburger und Limo hinaus.

Ein Dorfnachbar der Familie war der hervorragende Posaunist Nils Landgren, der eines Tages seine Bestände durchforstete und nicht mehr benötigte Instrumente auf dem Marktplatz verkaufte. Tim erstand einen ausgemusterten Synthesizer der Marke Yamaha aus den Siebzigerjahren und stellte ihn ins Zimmer neben dem Flur. Einen großen Teil des Sommers verbrachte er mit dem Versuch, das neue Instrument zu verstehen.

Tim klimperte und drückte, die Logik erschloss sich ihm nie ganz, aber irgendwie fühlte es sich dennoch richtig an. Er hatte noch keine klare Vorstellung davon, was er mit seinem Leben machen würde, doch er fühlte, dass er kreativ veranlagt war. Ankis Ex-Mann, der beliebte Sänger Tommy Körberg, spukte irgendwo in Tims Hinterkopf herum – seine Künstlerkarriere war ein Beweis dafür, dass man sein Leben nach eigenem Gutdünken gestalten konnte.

Zurück in Stockholm, bekam Tim von seinem Vater eine sechssaitige Fender aus Mahagoni. Verglichen mit dem Synthesizer war die Gitarre leichter zu spielen. Tim übte Klassiker wie Eric Claptons Tears in Heaven und House of the Rising Sun von den Animals. Aus voller Lunge versuchte er, die Nationalhymne Du gamla du fria und Nordmans Vandraren zu singen.

Sein Gesang war schwankend und schief, aber sein Gitarrenspiel wurde immer sicherer.

Als seine Mutter ihm vorschlug, Gitarrenunterricht zu nehmen, fand Tim den Gedanken nahezu absurd.

Natürlich würde er es sich selbst beibringen.

Ich war ein ziemlich schüchternes Kind – nicht so, dass das besonders viel verhinderte, aber ich hatte ohne Zweifel eine Schüchternheit in mir, wahrscheinlich von meiner Mutter geerbt, die überhaupt immer sehr empfindsam war.

 

Jedes Wochenende guckten wir Filme und kauften massenhaft Naschi, und dann und wann gingen wir auf ein Fest.

Draußen im Wohnzimmer erwachten die Freunde einer nach dem anderen. Sie mussten in den frühen Morgenstunden eingeschlafen sein, als die Drachen in World of Warcraft getötet waren und sie sich nicht länger wach halten konnten.

Die Teenager rieben sich ihre verquollenen Augen. Diesmal hatten Johannes Lönnå und Fricko sich auf das Ecksofa der Familie Bergling gezwängt, während Jakob Lilliemarck sich die grünen Rückenkissen als Schlafunterlage auf den Fußboden gelegt hatte. Sie streckten ihre steifen Körper und schlurften zur Küche.

Die Tür zu Tims Zimmer war wie üblich geschlossen, was bedeutete, dass ihr Gastgeber noch schlief und nicht gestört werden wollte. Tim konnte grantig werden, wenn sie ihn vor dem Lunch weckten, das wussten sie. Stattdessen holte Fricko den Toast heraus und streckte sich nach der Salami im Kühlschrank. Die Freunde rührten sich jeder ein Glas O’Boy an, sagten Klas und Anki Guten Morgen und setzten sich wieder ins Wohnzimmer zum Filmegucken.

»Verdammt, ich hab einen Trick entdeckt, wie man noch mehr experience kriegt«, platzte Tim heraus, als er endlich aus dem Bett gestiegen war und zum Sofa kam. Wie üblich hatte er noch länger vor dem Bildschirm gesessen, nachdem die anderen sich hingelegt hatten, war auf einen Greif aufgesprungen und nach Kalimdor, dem Kontinent der Blutelfen und Trolle, geflogen, um bis sechs Uhr früh nach schwarzen Lotusblüten zu suchen. Die Pflanzen würden Important noch kraftvoller und noch brauchbarer beim nächsten Überfall des Clans machen.

»Euch ist wohl klar, was das bedeutet«, lächelte er. »Ist doch saugeil!«

»Wir sollten ne Runde rausgehen«, entgegnete Fricko, der sich zwar auch für das Computerspiel interessierte, aber bei Weitem nicht auf dem gleichen Level wie sein Freund. Tim war nicht zu bremsen in seiner Beharrlichkeit; wenn er sich einmal für etwas entschieden hatte, gab es keine Alternative. Aber auch er wollte gern an die Sonne.

Sie stürmten die Treppen hinunter und wandten sich auf der Linnégatan nach rechts.

Auch Fricko war hier zwischen den massiven Steinhäusern von Östermalm aufgewachsen. Er wohnte mit dem Blick auf Gärdet, das weite Feld jenseits des Radiohuset, und war genau wie Tim ein künstlerischer Mensch. Frickos Vater war ein erfolgreicher Fernsehproduzent, und er selbst besuchte die Musikschule Adolf Fredrik. Er wollte eines Tages Schauspieler werden. Er hatte Tim vor ein paar Jahren zu Beginn der Oberstufe kennengelernt; ihr gemeinsames Interesse an Filmen hatte sie zusammengebracht. Zielbewusst ackerten sie die Klassiker durch, die Pate-Filme und alles von Quentin Tarantino und den Coen-Brüdern. Stundenlang konnten sie dasitzen und die Symbolik und Handlung in Twin Towers analysieren, oder sie hingen einfach ab mit einem Musical wie Jesus Christ Superstar oder Das Phantom der Oper. Tim mochte Frickos Freundlichkeit und seine Offenheit. Er war auf eine Weise vergesslich und zerstreut, die man einfach liebenswert finden musste. Sie waren bryschor, Brüder.

Die Viertel um den Karlaplan waren die Landschaft der Kumpelgang. Auf halbem Weg zwischen Tims Haus und der Gärdesskola, wo er die Oberstufe absolvierte, lag Fältöversten, ein Einkaufszentrum, wo die Gänge zwischen Sportläden und Konditoreien als Freizeitgelände fungierten. Im Lebensmittelladen Sabis wurden so gut wie immer Kostproben von reifem Käse und gekochtem Schinken angeboten, an denen die Jungen sich sattessen konnten. Auf dem Dach des Einkaufszentrums lagen Wohnhäuser, zu denen man mit einer Rolltreppe hinauffahren konnte. Zwischen den Beeten auf den Höfen dort oben liefen sie herum, rauchten heimlich und schmiedeten Pläne, wer als Nächster am Kiosk beim Maximtheater Bier kaufen solle. Der Alte da nahm fast zweihundert Kronen für einen Sechserpack, wollte aber nie einen Ausweis sehen. Wer die doppelten Codewörter kannte, durfte sogar geschmuggelten russischen Wodka kaufen.

 

In den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende war der Stadtteil der Jungen auf eine neue Art und Weise ins Scheinwerferlicht gerückt worden. Der Rest von Schweden hatte zwar immer eine klare Meinung zu Östermalm gehabt – mindestens einhundert Jahre lang war der Stadtteil ein Symbol für Wohlstand und Zufriedenheit gewesen. Die Häuser von der vorigen Jahrhundertwende, die die Esplanade am Karlavägen säumten, strahlten Reichtum und Macht aus. Hier wohnten Unternehmer, Diplomaten und Freunde des Königshauses in Wohnungen, die ebenso prächtig waren wie die Fassaden; das war das Bild, das auszumalen die Klatschzeitungen nicht müde wurden.

Doch mit der Entwicklung des Internets bekam Östermalm Mitte der Nullerjahre eine besondere Art von Korrespondenten. Blogger, die Katrin und Alex und Sofi und Bella hießen, saßen im Hotel Anglais oder im Café Mocco und berichteten darüber, wer welche Clubs frequentierte, wer mit wem zusammen war und wer Schluss gemacht hatte. Schauplatz war so gut wie immer der Stureplan, das Viertel zwischen dem schläfrigen Karlavägen und der lärmenden Stadt.

Tagsüber war der Stureplan der finanzielle Mittelpunkt des Landes, wo die Fondsverwalter mit verrutschten Schlipsen und unter den Arm geklemmten Ledertaschen umhersausten. Gegen Abend verwandelte die Gegend sich in ein wimmelndes Vergnügungsviertel, wo die Menschen frierend vor Clubs und Restaurants wie Sturecompagniet, Grodan, Berns und Spy Bar Schlange standen. Die Internet-Blogger beobachteten dieses Nachtleben mit Argusaugen. Hier wurden Hierarchien errichtet, Streitereien angefangen und geschlichtet.

Tims großer Bruder Anton war ein Teil dieser Welt geworden. Wie seine Mutter Anki hatte er eine tragende Rolle in einer Soap gespielt, und jetzt datete er eine Gesellschaftsfotografin, die bei den Galapremieren im Rigoletto oder Grand Bilder machte. Manchmal begleitete Tim Anton zu solchen Events, aber er hielt sie für ziemlich sonderbare Veranstaltungen. Modebloggerinnen, Schauspieler, Politikerinnen und Soap-Promis, die Kinokarten bekamen, um dafür profimäßig in die Kameras zu lächeln.

Tim stellte sich auf dem roten Teppich neben seinen Bruder, sah aber auf den Bildern nicht selten ein wenig mürrisch aus. Er stand neben dem Trubel, oder vielleicht eher: Er schwebte darüber. Als ob dieses Promitheater ihn nichts anginge.

Lieber ging er mit seinen Freunden in den Videoladen am Östermalmstorg und kaufte losen Naschkram. Wenn sie dann wieder auf Tims Bett saßen, konnten sie die ganze Herr der Ringe-Trilogie an einem Stück sehen, oder Actionfilme mit Denzel Washington und Tom Cruise. Auf einer Reise mit der Familie nach Thailand hatte Tim einen ganzen Stapel von DVDs mit Raubkopien gekauft, die sich jetzt heiß liefen. Während sie noch mehr Limo tranken und das Bettlaken mit Chips vollkrümelten, amüsierten sie sich über die Serie The Office mit Tims Lieblingskomiker Ricky Gervais. Tim liebte das Timing und den untergründigen und scharfsinnigen Humor des Briten. Aus den gleichen Gründen liebten sie die Fernsehserie South Park: Sie war hysterisch albern, aber gleichzeitig smart. Eric Cartman und die anderen Jungen in der Serie fungierten als Motor, um sich über den amerikanischen Präsidenten George Bush, heuchlerische Hollywood-Promis und im Prinzip alles, worüber gerade öffentlich diskutiert wurde, lustig zu machen.

In der letzten Staffel gab es zur Begeisterung der Jungen eine ganze Folge über World of Warcraft. Cartman war besessen von der Idee, einen besonders üblen Gegenspieler unschädlich zu machen, und versuchte, seine spielenden Kumpels zu überreden, ihm bei diesem Kampf zu Hilfe zu kommen.

Tim und seine Freunde saßen auf dem Bett und lachten, als Cartman mit seiner coolsten Wichtigstimme zischte, dass es bedeutend wertvoller sei, Computerspiele zu spielen, als sich draußen in der Sonne zu vergnügen.

Akne kam zum ersten Mal in mein Leben, enorme Wirkung auf das Selbstvertrauen.

 

An schlechten Aknetagen schwänzte ich die Schule. Scheute mich, an den Wochenenden auszugehen, tat es trotzdem, aber nur, wenn meine Haut »rein« genug war.

 

Spürte, dass die Mädchen sich nicht für mich interessierten.

Häufig mussten die Freunde lange auf Tim einreden, damit er abends mit ihnen rausging.

»Ich muss mir nur noch die Haare machen«, rief er aus dem Badezimmer neben dem Flur.

»Aber die hast du doch schon gemacht!«

»Zwei Minuten, versprochen. Dann komme ich!«

Tim betrachtete seine Nase im Spiegel. Er hatte sie nie gemocht, er fand, dass die Nasenspitze so nach oben zeigte, dass sie einer Schweineschnauze ähnelte. Jetzt war sie außerdem das Epizentrum von Kratern ausgequetschter Haut geworden, die über die Wangen zur Stirn aufstiegen. Er verfluchte die verdammten Pickel, weil sie immer wieder den Weg zurückfanden.

Er war mit seinen Eltern bei einem Arzt in Aspudden gewesen, bei einem anderen in Östermalm. Er hatte Kortisonsalben probiert, hatte Abdeckstifte und Gelees getestet, doch nichts schien zu helfen.

Er fand sich selbst albern, weil er so wahnsinnig auf die Akne reagierte. Es war ein Zug, der ihm missfiel, dass er sich gleichsam hineinsteigerte und anfing, Katastrophengedanken zu wälzen. Während seines Heranwachsens hatte er ständig Angst gehabt, an Krebs zu erkranken. Es war nicht ungewöhnlich, dass an ihren Spielabenden einer der Freunde fühlen musste, ob er nicht einen giftigen Knubbel in der Brust hatte. Aber jetzt? Immerhin ging er ins letzte Oberstufenjahr und sollte entspannter sein. Dennoch kreisten die Gedanken in seinem Schädel. Wenn er an all die Blicke dachte, die ihn beurteilen würden, sobald er über die Schwelle trat, fühlte er sich nahezu gelähmt.

Wie gesagt, albern.

»Tim, nun komm schon!«

Die Kumpels standen immer noch in der Küche und warteten, irritiert darüber, dass es jedes Mal das Gleiche war. Tim schien keinerlei Begriff von Zeit zu haben, lebte ein bisschen in seiner eigenen Welt. Hatte er überhaupt eine Ahnung, was eine Uhr war?

Schließlich gab Tim klein bei, das tat er fast immer, machte trotz allem mit, wenn die Kumpels was vorhatten. Sie nahmen Kurs auf die rot-gelben Regimentsgebäude ein paar Straßenecken weiter. Am Rande der Grünfläche ragte ein Felsen auf wie eine Wand zur Linnégatan, und dahinter lag eine geräumige Senke. Im trockenen Gras des Kessels gab es natürliche Hänge und Absätze, auf denen man sitzen konnte, und die Jugendlichen waren dem Blick der Erwachsenen, die auf der Straße vorbeigingen, praktisch entzogen. Keiner konnte ahnen, dass sich in der Mitte der Felsformation eine kleine Fete anbahnte.

Jemand hatte einen tragbaren Lautsprecher mitgebracht, der knisternd schwedische Hiphopper wie Snook oder Fronda oder italienische Tanzmusik zum Mitsingen von Produzenten wie Gigi d’Agostino oder DJ Satomi von sich gab. Die Kumpelgang nannte diesen Stil Teenietechno – sie wussten, dass er als ein bisschen läppisch galt, aber die Direktheit der Songs war unwiderstehlich.

Mit etwas Glück hatte einer von ihnen eine Flasche Kokoslikör oder eine halbe Flasche Wodka aufgetrieben, und wenn das Glück ihnen noch holder war, tauchten ein paar Mädchen von der Französischen Schule auf und setzten sich lachend ins Gras zwischen den Felsspalten.

Tim hatte vor einigen Jahren zum ersten Mal Alkohol getrunken, als es ihm gelungen war, eine angebrochene Flasche Gin aus dem elterlichen Vorrat mitgehen zu lassen. Jetzt fand er, dass er beinahe anfing, sich an das Prickeln im Bauch und an die Wärme zu gewöhnen, die mit jedem Schluck seine Wangen tiefer erröten ließ. Er mochte die Person, zu der er wurde, wenn der Rausch sich in seinem Körper ausbreitete. Er war auf natürlichere Weise er selbst, wurde draufgängerisch und schlagfertig. Vor allem half der Alkohol ihm dabei, das verdammte Grübeln sein zu lassen. Seine Nervosität ließ nach, und der Kopf öffnete sich. Die Mädchen und Jungen in der Felsenkluft, die Tim weniger gut kannten, hätten sicher Schwierigkeiten gehabt zu glauben, dass er vor einer Weile noch zweifelnd am Spiegel gestanden hatte – jetzt zeigte der Bursche im Kapuzenpulli eine völlig andere Seite.

Tim hob ein paar Stöckchen aus dem trockenen Gras auf und klemmte die Zigarette dazwischen, damit seine Eltern keinen Rauchgeruch an seinen Händen wahrnehmen konnten, wenn er nach Hause kam. Dann nahm er einen Zug von seiner Fluppe und brach in sein intensives Lachen aus, unerwartet laut und polternd.

 

Ein paar Viertel nordwestlich der geheimen Felsspalte erhob sich die Backsteinburg von Östra Real. Das Gymnasium mitten in Östermalm war eine traditionsreiche Schule: Zu ihren Absolventen zählten Chefredakteure, Unternehmensführer und sogar ein schwedischer Ministerpräsident.

Der siebzehnjährige Filip Åkesson saß auf der Steintreppe, die zum Schuleingang führte, und entfernte ein wenig Schmutz von seinen Seglerschuhen der Marke Prada. Filip Åkesson wusste, wie man aussehen sollte – er hatte zum Beispiel kapiert, dass Lacoste nicht mehr in war. Die armen Schweine, die mit dem Krokodil auf der Brust herumliefen, glaubten sicher, es sähe schick aus, doch in Wirklichkeit waren ihre Polohemden bloß irgendwelche Mitbringsel, die ein Elternteil auf der letzten Geschäftsreise am Flughafen gekauft hatte. Stattdessen trug er das Haar zurückgekämmt und dazu einen Schal von Gucci. Die Hose und das Hemd saßen genauso eng, wie es sein sollte.

Die Jungen auf der Schule wurden danach eingestuft, wo sie wohnten und was ihre Väter machten. Der Vater von einem war Banker, und sie wohnten in einer Dachwohnung am Strandvägen – das war der Jackpot. Der Vater eines anderen Typen leitete die Finanzabteilung einer Fluggesellschaft, ein anderer hatte eine Hotelkette unter sich – auch nicht schlecht.

Filip Åkessons Vater war Architekt, sie wohnten in Bromma. Es könnte besser sein. Dennoch spürte Filip, dass er sich den höheren Schichten in der Schule annäherte. Er wurde zu allen Partys eingeladen und hatte einen Typen im Treppenhaus der Schule mit Klebeband festgebunden und mit einem Paintballgewehr auf ihn geschossen, was ihm in seinem Freundeskreis ein hohes Maß an Anerkennung eingebracht hatte. Filip war laut und zeigte, dass er etwas mit seinem Leben anfangen wollte. Was genau, war bislang noch unklar, doch das spielte keine große Rolle. Wichtig war die Energie, dass er am Ball blieb, sich bediente.

Seine Eltern hatten ihm einen iPod geschenkt, auf dem fast viertausend Musikstücke Platz hatten. Wie die meisten Jungen in Östermalm hatte Filip früher schwedischen Hiphop gehört, aber im Sommer 2006 hatte er zwei Franzosen entdeckt, die unwiderstehlich eingängige Dancemusic machten. Bob Sinclars World, Hold On (Children of the Sky) und David Guettas The World is Mine liefen in seinem MP3-Spieler in Endlosschleife.

 

Es hatte etwa ein Jahrzehnt vor Filip Åkessons Geburt in Chicago angefangen, als Frankie Knuckles im Club The Warehouse Ende der Siebziger Platten aufgelegt hatte. Knuckles verstand es, die Discostücke von damals so geschickt zu einem einzigen ununterbrochenen Strom zusammenzumixen, dass auf der Tanzfläche das Gefühl von Zeit und Raum aufgehoben wurde. Er benutzte die allerneuesten Geräte wie Sampler und Drumcomputer, um eigene Versionen seiner Lieblingsstücke zu produzieren. Nach und nach ließ er die großen Gesten und ausschweifenden Melodien weg – die Geräte machten die Rhythmen präziser, die Drums härter, den Bass dominanter. Der Song war auf suggestives Stöhnen und Laute reduziert, die vor allem dazu dienten, den Rhythmus des Stückes zu verstärken.

Die Musik wurde nach dem Club getauft, in dem sie erfunden worden war, und schließlich kurz und gut House genannt.

Wenn Filip Åkesson sich diese alten Stücke jetzt anhörte, klangen sie urzeitlich. Man konnte das Rauschen der Schnitte in den Bändern und das mechanische Kratzen und Scharren der Drumcomputer erkennen. Beinahe drei Jahrzehnte später regierte stattdessen die Software. Die Dateien in Filip Åkessons Kopfhörern waren die erste wirklich digitale Musik: Tracks, die aus binären Codes gebaut waren, mit Klängen, die so manipuliert und auf die Spitze getrieben waren, dass sie in der physischen Welt keine Entsprechung mehr hatten. Es war Musik aus der Zukunft. Die MP3-Dateien lud Filip von Blogs herunter, die House Heaven, Project 1408, Face The Music und Living Electro hießen und wo jemand, der als Erster einen neuen Remix des Italieners Benny Benassi auflegte, der King war.

Wie die anderen vom Wirtschaftszweig hatte Filip Åkesson seinen Spindschrank im ersten Stock unter dem Wandgemälde, auf dem der Gott Thor den Hammer schwang, um das Böse in der Welt zu besiegen. Filips Schritte hallten im Treppenhaus, als er zu einer weiteren tristen Unterrichtsstunde ins Erdgeschoss hinunterlief, wo die Schüler des gesellschaftswissenschaftlichen Zweigs ihre Schränke hatten.

An den schwarzen Holztischen auf der linken Seite saßen immer Tim Bergling und seine Clique. Filip hatte Tim auf dem Radar, weil es ein Gerücht gegeben hatte, dass seine Mutter Schauspielerin sei. Es hieß sogar, sie habe mal in einem ihrer Filme eine Nacktszene gespielt. Es gab jedoch andere Promikinder, die einen höheren Rang einnahmen – einer war Sohn des Intendanten Martin Timell, ein anderer des Sängers Tomas Ledin. Gemessen daran war Tims Mutter keine große Nummer, und es schien auch kein besonderer Starglanz von ihr auf Tim abgefärbt zu haben. Im Gegenteil. In Filips Augen waren Tim und seine Kumpels nur Nerds, die über Dota oder World of Warcraft oder etwas anderes Dämliches diskutierten.

Es reichte ja schon, zu checken, wie er aussah – Tim hatte Pickel, trug geblümte Dreiviertelhosen und ein langärmeliges Hemd mit Holzknöpfen am Hals. Die Sohlen seiner Adidasschuhe waren ausgetrocknet und vergilbt.

Tim Bergling umwehte nicht gerade ein Hauch von Hollywood.

In den Sommerferien vor dem zweiten Jahr am Gymnasium fuhren Tim und Fricko mit ein paar Freunden nach Juan-les-Pins an der französischen Riviera.

Eines Abends hatten sie im Le Village gefeiert, oder war es im Whisky à Gogo – wie auch immer, auf jeden Fall hatte einer von ihnen auf dem Heimweg von einem Typen an der Strandpromenade Hasch gekauft. Die Gang ging hinunter zum Strand, wo Tim im Schutz der Dunkelheit ein, zwei Züge von dem Joint nahm.

Zuerst passierte nichts. Danach nichts. Dann trocknete plötzlich Tims Hals aus. Er fühlte, wie sein Herz zu rasen begann. In seinem Kopf ein Dröhnen, das anwuchs wie ein Düsenmotor, der zum Start auf Touren gebracht wird. Jeder Herzschlag pochte heftig gegen seine Stirn, doch als er seinen Puls kontrollierte, zeigte sich, dass alles in Ordnung war: Sein Herzrhythmus war normal.

Er wusste, dass er wohl eigentlich nur gegen die eigenen Gedanken ankämpfte, doch das half ihm wenig. Vielleicht würde er jetzt sterben?

Das Gefühl ging vorüber, Tim kam nach Stockholm zurück und vergaß das Erlebnis, bis er eines Tages elf Stunden am Stück am Computer gesessen hatte. Müde und erschöpft stand er auf. In diesem Moment drehte es sich wieder in seinem Kopf.

Als er zur Besinnung kam, blickte er auf die Snusdosen, die in einem hohen Stapel auf einem Regal über dem Kopfende des Bettes standen. Daneben hing ein gerahmtes Bild von ihm selbst, auf dem Regal über dem Schreibtisch standen dicht gedrängt die DVDs mit den Raubkopien. Wohin Tim den Blick auch wandte, kam es ihm so vor, als seien die Gegenstände plötzlich weit entfernt und er könnte sie nicht erreichen.

Er dachte, es würde besser werden, wenn er eine Weile schlief, aber am Tag darauf war es genauso. Er war irgendwie eingekapselt, gehörte nicht länger der realen Welt an. Es war ein anderes Gefühl als die Angst vor Krebs. Jenes Unbehagen spürte er physisch in der Brust, dies hier war etwas, was er nicht leicht festmachen konnte. War er psychisch krank geworden? Tim hatte gehört, dass Cannabis Psychosen auslösen könne: Zustände, in denen man nicht in der Lage war, die Wirklichkeit zu deuten, und im schlimmsten Fall anfing, sich verfolgt zu fühlen, oder Stimmen hörte, oder glaubte, die Welt zu regieren.

Nach einigen angsterfüllten Tagen beschloss Tim, alles seiner Mutter zu erzählen. Er hatte gekifft, und jetzt war etwas mit seinem Kopf nicht in Ordnung. Vielleicht war er wahnsinnig geworden.

»Es ist, als wäre ich außerhalb von allem«, sagte er zu Anki. »Ich habe den Kontakt mit mir selbst verloren.«

Seine Eltern waren in erster Linie erfreut darüber, dass Tim das Vertrauen und den Mut hatte, ihnen zu erzählen, was in Frankreich passiert war. Es würde sich schon wieder einrenken. Klas versuchte seinen Sohn zu beruhigen, indem er ihm erzählte, er habe in Tims Alter ähnliche Empfindungen gehabt. Eine Art Verwirrung und Unsicherheit. Angsterfüllte Nächte, in denen es ihm so vorkam, als löse die Wirklichkeit sich auf. Er habe damals seine Gedanken niedergeschrieben. Wenn er seine Grübeleien in Worte fasste, lösten sich die Knoten, das Dasein wurde wieder stabil. Tim brauche keine Angst vor diesem Unbehagen zu haben, wichtig sei, herauszufinden, was da spukte.

Sie kontaktierten die Kinder- und Jugendpsychiatrie und begleiteten Tim ins Krankenhaus in Sabbatsberg, wo er von einem Psychologen empfangen wurde, der auf Gespräche mit jungen Menschen spezialisiert war.

Tim verließ das Krankenhaus mit gemischten Gefühlen. Es war zwar schön, sich alles von der Seele zu reden, aber dass er es nötig hatte, Hilfe zu suchen, bestärkte ihn gleichzeitig in der Überzeugung, dass etwas mit ihm ernsthaft nicht in Ordnung war.

Anki imponierte ihr Sohn. Sie dachte daran, wie sie selbst als Teenager gewesen war – nie hätte sie ihren Eltern auch nur das Geringste über ihr Innenleben verraten.

»Ein Gutes hat die Sache«, sagte sie zu ihrem Mann. »Wir brauchen uns von jetzt an keine Sorgen mehr zu machen, dass Tim auf Drogen abfährt.«

 

Äußerlich war Tim in den folgenden Wochen beinahe wie immer. In der Schule wurde seine Aufmerksamkeit auf anderes gelenkt, er lachte am Tisch und neben den Schränken, unterhielt sich mit den Klassenkameraden über Dokumentarfilme und Spiele. Doch abends, wenn er allein war und schlafen wollte, beschlich ihn die Angst. Er fürchtete, dass die Gedanken wieder angekrochen kämen, wenn er die Lampe ausmachte. Nach drei Wochen war sein Unbehagen immer noch nicht verschwunden, im Gegenteil, es war eher noch schlimmer. Jetzt drehten sich seine Grübeleien nicht mehr um die schlechte Erfahrung in Frankreich als solche, sondern um all das, was sie ausgelöst hatte. Es machte ihm Angst, dass er Angst hatte und dass er nicht verstand, woher das Gefühl kam. Er führte doch in jeder Hinsicht ein gutes Leben, konnte sich glücklich schätzen, war geradezu verwöhnt. Er wuchs in aller Geborgenheit in einer der reichsten Gegenden Schwedens auf, in seiner Kindheit konnte er keine großen Traumata entdecken.

Musste das nicht bedeuten, dass mit ihm selbst etwas nicht stimmte? Dass die toxischen Gefühle einfach da waren, in seinem Inneren, so beständig wie die steinernen Häuser auf Östermalm? Vielleicht war er verflucht, mit einem kaputten Gehirn ausgestattet, schon jetzt verkorkst.

Wenn er sich anstrengte, seine Situation zu analysieren, fanden die Gedanken in seinem Kopf keinen festen Punkt, sondern prallten hin und her. Im Internet las Tim etwas über Realitätsverlust, einen Zustand, in dem die Umgebung einem unwirklich erscheint. Es erinnerte ihn an die Mutter in dem Film Requiem for a Dream, der ihn sehr beeindruckt hatte. Darin träumte eine Frau in mittleren Jahren davon, eines Tages an einem Wettbewerb im Fernsehen teilnehmen zu dürfen. Sie begann, Pillen zu nehmen, um Gewicht zu verlieren, damit sie in ihr Lieblingskleid passte. Der Wahnsinn eskalierte, und nach einer Weile knabberte sie Pillen wie kleine Süßigkeiten, während die Wohnung sich um sie schloss. Am Ende war das ganze Wohnzimmer verzerrt und bedrohlich, und als sie von einem Krankenwagen abgeholt wurde, fragte sie in ihrer Verwirrung die Sanitäter, ob sie sie ins Fernsehstudio brächten.

Realitätsverlust. Das klang wirklich unangenehm. Konnte es bei ihm so etwas sein? Wie auch immer, Tim hatte die Lust verloren, auf Partys zu gehen. Er hatte das Gefühl, dass in einem Rauschzustand alles passieren könnte.

Um sich bei anderen, die etwas Ähnliches erlebt hatten, Rat zu holen, startete er einen Thread auf Flashback, dem größten schwedischen Diskussionsforum im Netz, wo Menschen aus dem ganzen Land sich über alles Mögliche austauschten, von Gartenpflege bis hin zu Rauschzuständen und Promiklatsch.

Tim schrieb:

 

Es kommt mir vor, als könnte ich nicht so klar denken wie vor drei Wochen. Wenn das Gefühl richtig schlimm ist, kommt mir alles sinnlos vor.

Habe auch Angst davor, die Selbstkontrolle zu verlieren, wenn ich so drauf bin. Habe früher nie solche Probleme gehabt, fürchte aber, dass meine Angst zunimmt, wenn ich betrunken werde, und ich das Gefühl bekomme, nichts spielt mehr eine Rolle, und mir das Leben nehme oder so :P.

 

Während die Wochen vergingen, dachte Tim sich ein Modell aus, um seiner Angst Herr zu werden. Er würde ganz einfach einen Schnitt machen. Aufhören, so verdammt viel zu denken. Wenn er sich mit etwas anderem beschäftigte, würde es bestimmt abklingen.

Im Herbst 2006 kam Tim tatsächlich auf andere Gedanken. Es gab einen Hit, der den ganzen Sommer über im Radio gelaufen war. Nervig, aber irgendwie auch unwiderstehlich. Der pochende synthetische Bass, ratternde Drums, und dann der Text, den kein Erwachsener in ganz Stockholm zu begreifen schien. Wer nichts von Computern verstand, glaubte, dass das Lied von einem Boot handelte. In Wirklichkeit war Boten Anna die digitale Liebesgeschichte eines Moderators auf einem Chatkanal, von einem Typen gesungen, der sich Basshunter nannte. Nur wenige Monate zuvor war er noch ein gemobbter Computernerd gewesen, der sein Witzlied als Spaß für seine Kumpels online gestellt hatte. Nach ein paar Monaten war es die am meisten heruntergeladene Single aller Zeiten in Skandinavien.

Es war in jeder Hinsicht ein alberner Song, fand Tim. Er funktionierte vielleicht für die Teenies, aber kaum für jemanden, der auf die Oberstufe des Gymnasiums ging. Trotzdem, die Melodie hatte was. Wenn man sie erst einmal im Kopf hatte, verschwand sie nicht mehr.

Eines Abends im Herbst 2006 erhielt Tim eine MSN-Nachricht von Jakob, der ein Video auf YouTube gefunden hatte, einer neuen Site, auf der jeder, der wollte, Videos einstellen konnte.

Tim drückte auf Play und sah einen grauen Bildschirm, der von einem quadratischen Muster ausgefüllt wurde. Ganz links verlief eine schwarzweiße Klaviatur, digitale Tasten, die genau wie bei einem richtigen Klavier gezeichnet waren.

Die Stimme mit halländischem Akzent, die sprach, gehörte Basshunter, der zeigte, wie er seine Hits produzierte. Mithilfe der Maus zog er mintgrüne Klötze über den Bildschirm – sieben Minuten später hatte er die Grundelemente für ein Lied.

Es sah einfach aus, und lustig. Tim lud sofort eine privat kopierte Version von FL Studio herunter, dem Programm, das Basshunter benutzte. Diese belgische Software hatte vorher Fruity Loops geheißen und war eines der Programme, die die Art und Weise, Musik zu machen, revolutioniert hatten. Nur zehn Jahre zuvor hätte ein Musiker ein Studio benötigt oder Hunderttausende von Kronen für Maschinen und Instrumente ausgeben müssen. Jetzt ließ sich alles vom Schlafzimmer aus erledigen.

Tim tastete sich vorwärts, er hatte genug auf der Gitarre geklimpert, um die Grundlagen zu verstehen. Wenn man die grünen Klötze im oberen Teil des Quadratmusters anbrachte, wurden die Töne hoch, weiter unten befanden sich die tieferen Oktaven. Das Programm erlaubte es Tim ganz einfach, Akkorde zu zeichnen. Er setzte einen Klotz nach oben, einen anderen nach unten, hörte sich das Ganze an. Wenn er das Grüne in die Breite zog, klang der Ton länger.

Links gab es eine Spalte mit voreingestellten Sounds. Synthetische Gitarren, Becken und Geigen. Manche hörten sich an wie schüchterne Regentropfen auf einem Fensterblech, andere zischten scharf wie Speck in der Pfanne. Die Töne konnten heulen wie ein Feuergefecht zwischen Raumschiffen oder dahinkriechen wie in einem gruseligen Horrorfilm. Ein ganzes Orchester, nein, Hunderte, handlich verpackt in digitaler Form.

Ungeduldig experimentierte Tim herum, blieb ganze Nächte auf und zog und verschob. Wenn etwas misslang, machte er einen neuen Versuch.

Bald erkannte er, dass ein und derselbe Akkord ganz unterschiedliche Stimmungen bekommen konnte, je nachdem, welchen Sound er aus der linken Spalte wählte. Was in dem einen Digitalsynth ruhig pulsierte, konnte in einem anderen zum schrillen Heulen werden. Er hatte einen Synth entdeckt, der Z3ta+ hieß, wo er zwischen Sounds mit Namen wie Trance Delivery, Foreign Attack, Space Bell und Fusion Poly wählen konnte. Jetzt fand er einen jammernden Ton, der die Melodie geradezu anstrengend nasal machte.

Es war perfekt. Er wusste, dass Jakob und Fricko und die anderen es cool finden würden, wenn er ein Lied machte, das so irritierend wie möglich war. In der Soundbank Vengeance Essential Clubsounds Volume 2 gab es eine eifrig rührende Hi Hat, die er in dichter Folge ausstreute. Es gab dort auch eine eingespielte Stimme, die schrie: »The beat, the bass and the party – let’s go!«

Jetzt fing es an, sich nach etwas anzuhören. Um deutlich zu betonen, dass dies eine Parodie war, legte er noch eine weitere Stimme darüber, die ununterbrochen sagte: »BASS! BASS! BASS! BASS! BASS!«

Es war vielleicht nicht gut, aber es wurde ätzend und witzig.

 

Filip Åkesson kletterte über die Laderampe hinein, folgte dem Puls, der in den Betonwänden vibrierte. Als sein Kumpel und er weiter in das schäbige Lagerhaus im Industriegebiet von Nacka vordrangen, öffnete sich der Raum, und Åkesson blickte sich im Rauch der Nebelmaschine um.

Dies hier war etwas völlig anderes als die langweiligen Unterrichtsstunden am Östra Real.

Die grünen Laserstrahlen, die wie ein wirbelndes Spinnennetz über der Tanzfläche schwebten, Mädchen mit blondierten Haaren und eng anliegenden Kleidern und Jungs aus den Vororten in teuren Jacketts und Sneakers mit vergoldeten Spangen. Der hart wummernde Elektro, der gegen die Trommelfelle schlug.

Filip hatte so lange davon geträumt, dies alles in echt zu sehen, dass er sich intuitiv dazugehörig fühlte.

 

Nach seiner Geburt in Chicago waren der House und sein kantigerer Cousin Techno von neugierigen Briten aufgesogen worden, die den Sound aus den USA nach Europa brachten. Und mit der Musik kamen die Partys. Filip Åkesson hatte von dem mythenumwobenen Sommer 1988 gehört, als tanzwütige Engländer auf Feldern an der Autobahn, die um London herumführte, illegale Ravepartys veranstaltet hatten. Er kannte die Love Parade, die im Jahr darauf die Straßen von Berlin mit Menschen überflutet hatte, die den Wind der Liberalität und das Recht auf freie Liebe gefeiert hatte.

Seitdem waren die Partys weitergegangen, in heruntergekommenen Fabrikhallen und an entlegenen Waldrändern auf dem ganzen Kontinent, und hatten die Dancemusic zu einer modernen europäischen Volksmusik gemacht: ein Flickenteppich von unterschiedlichen Stilen, die sich zuweilen gegenseitig befruchteten, aber ebenso häufig ganz und gar wesensverschieden klangen.

Im Jahr 2007 baute man in Frankreich seinen House auf gefilterten Discosamples, die über verwischten Bassläufen dahinschwebten. In England dröhnte zerhackter Bass in einem klebrigen Stil, der dubstep genannt wurde, aus den Piratensendern. Am größten und mächtigsten war die Szene in den Niederlanden, wo Tiësto mit seiner Trance, die auf großartigen Streicherarrangements über rummelnden Drums gebaut war, ganze Stadien füllte.

In Schweden war die Szene nicht ganz so groß, zumindest nicht zahlenmäßig. Aber der Boden bebte, und Leute wie Filip Åkesson, die glaubten, zur Avantgarde zu gehören, erkannten die Zeichen. In Stockholm entwickelte sich eine besondere musikalische Ausdrucksform, die ebenso bombastisch wie euphorisch war und die nicht zuletzt an diesem Abend in der Lagerhalle im südlichen Teil der Stadt ertönte.

Filip Åkesson mischte sich unter die Menschen, die sich in natürlicher Lässigkeit zu den Bassläufen bewegten. Nur ein paar Wochen zuvor hatte er zum ersten Mal Ecstasy getestet und gespürt, wie die kleine Pille die Musik in jedem Muskel vibrieren und anschwellen ließ. Die Melodien wurden wunderbar, die Trommelwirbel wie ein zusätzlicher Körperteil. Auch diesmal hatten sie auf der Terrasse beim Vater eines Kumpels vorgeglüht, und die Musik pulsierte in wohligen Zuckungen durch Filips Körper. Es hatte etwas Magisches, wie diese Musik langsam wuchs.

Wer das nicht verstand, empfand die Musik vielleicht als eintönig, aber das war ja gerade der Clou. Die Monotonie machte die Musik suggestiv und eindringlich, sie sprach alle Sinne an. Der Abend war ein Meer, auf dem sich langsam ein Sturm aufbaute.

Ein Typ in verschlissenen Jeans, T-Shirt und umgedrehter Baseballcap mit LA Dodgers-Logo kam auf die kleine Rampe, die als Bühne diente. Langsam schob er die Regler für einen neuen Song hoch, riss sich das Cap vom Kopf und entblößte einen fest geknoteten Zopf.

Da war er: Steve Angello. Von allen House-Musikern in Stockholm war er der krasseste, daran zweifelte Filip Åkesson keine Sekunde. Man brauchte ihn nur anzusehen, die Ausstrahlung von Angellos Körpersprache war klar: Er pfiff auf alles und alle. Gerader Rücken und Brust raus durch alle erdenklichen Schwierigkeiten.

Die schwedische Presse war natürlich zu lahm, um zu begreifen, was hier abging, welch knisternde Szene in den letzten Jahren in der Hauptstadt geschaffen worden war – aber was spielte das für eine Rolle, wenn Angellos Freundin einen eigenen Blog hatte? Zwischen Hautpflegetipps und Lackpumps erzählte sie davon, wann ihr Freund in den Clubs am Stureplan am Pult stand, Clubs, von denen Filip Åkesson träumte, dass er eines Tages dort eingelassen würde. Sie plauderte von Willkommensdrinks im Grodan, F12 und Laroy und postete Bilder von Axwell und Sebastian Ingrosso, zwei anderen Produzenten, mit denen Steve Angello mehr und mehr zusammenarbeitete.

Ein bisschen im Spaß und ironisch – um zu betonen, wie klein, aber prominent die schwedische Szene war – hatten sie angefangen, ihr Trio Swedish House Mafia zu nennen. Im Sommer fuhren sie nach Ibiza, der Party-Insel im Mittelmeer, von der Filip schon wusste, dass sie das Himmelreich war, und spielten dort Platten ein. Die Bilder im Blog zeigten Sebastian Ingrosso mit einem ständigen Drink in der Hand im legendären Club Pacha, wo sie gemeinsam mit dem Star David Guetta auftraten. Steve Angello saß mit Strohhut am Strand und las in der Musikzeitung Mixmag über sich selbst.

Das Traumleben.

Während der Bass zwischen den Wänden hallte, begann Filip, zu einem weiteren harten Synthriff in die Luft zu boxen.

Dies hier war seine Welt, all das, wonach er immer gesucht hatte.

 

Tim Bergling ging nicht in Clubs, sie interessierten ihn nicht. Stattdessen hatte er vier Monate am Computer gesessen, vollkommen absorbiert, hatte aber noch keinen richtigen Druck auf seine Songs gekriegt.

Wenn er beschreiben sollte, in welchem Genre er tätig war, war er unsicher. Was war dies überhaupt für eine Musik? »Weiß nicht richtig«, schrieb er im Forum Studio, einer Internetplattform, wo unsichere Anfänger mit gestandenen Produzentenprofis zusammenkamen. »Teenie-Simpel-Eurodance-Techno möglicherweise«, entschied er schließlich.

Ende Januar 2007 stellte er dort die Frage, wie er FL Studio in den Griff bekäme:

 

Ich möchte gern fragen, ob irgendein FL-Veteran mit ein bisschen extra Zeit und Lust mir helfen könnte, einen Song fertigzustellen, mit dem ich ziemlich zufrieden bin. Es ist nämlich so, dass ich TAGELANG mit Kompressor und Bassboost und Vocodern etc. herumgetüftelt habe, um Stimme und Bass Drum etc. gut klingen zu lassen, komme aber nicht weiter:/. Ich komme nicht klar mit dem Kompressor, und der Song zerrt wie wahnsinnig bei 30 % Gain …

 

Tim verschlang die Tipps, die er bekam. Er schaute noch mehr Videos auf YouTube an, in denen andere Produzenten Finessen und Einstellungen erklärten.

Das Übliche war offenbar, als Erstes nach Drums und einem Basslauf zu suchen, die hübsch zusammenpassten. Das war die eigentliche Grundlage, das Rückgrat eines Tracks, so weit schien Einigkeit zu bestehen. Die Mischung konnte ohne Weiteres mit einem Sampling oder etwas Stöhnen gewürzt werden, aber es waren die Drums und der Bass, die die Produktion vorantrieben.

Tim dachte instinktiv anders: Er begann mit einer Melodie. Wenn er sie nicht schon im Kopf hörte, pflegte sie von selbst zu kommen, sobald er die Akkorde aufzeichnete.

War die richtige Melodie am Platz, stand die nächste Herausforderung bevor. Tim suchte nach einem passenden Softwaresound und begann zu drehen und zu ziehen. Das Witzige an FL Studio war, dass jeder Ton bis zur Unkenntlichkeit verdreht und verzerrt werden konnte. Durch die Software wurden die Instrumente aus ihren klassischen Rollen befreit – feingestimmte Streichinstrumente konnten zu gedämpften Rhythmusinstrumenten werden, ein kurzer und aggressiver Trompetenstoß ließ sich so filtern, dass er als weicher Basston wahrgenommen wurde.

Erst wenn die Akkorde vom Klang her stimmten, machte Tim sich daran, den Rest des Songs zu bauen. Dann hörte er, welcher Typ von Drum nötig war und welche anderen Effekte er verwenden würde.

Auf YouTube lief das Video zu Feel the Vibe (Till the Morning Comes), einem Song von Axwell von Swedish House Mafia. Tim studierte die nach vorne gehende und doch weiche Produktion, den rollenden Bass, der so fett war wie Schlagsahne. Er hörte, wie der Basslauf in einem luftigen und eleganten Schwung mit der Melodie zusammenwirkte. Es gefiel Tim, dass der Song euphorisch und weich war, ohne dass es sich albern anhörte. Die Musik war fröhlich und hatte trotzdem Biss. Es fiel ihm schwer, zu verstehen, wie Axwell ein derart sattes Klangbild hinbekam. Waren Tims eigene Beats mit spitzem Bleistift gezeichnet, so waren Axwells Songs mit farbenfrohen Pastellkreiden gemalt.

Tim saß nächtelang vor dem Computer, lernte weiter und stellte Fragen, genau wie er sie zuvor in dem Spieleforum gestellt hatte. Wenn die Freunde ihn besuchten, war offensichtlich, dass Tim auf etwas Neues abgefahren war. Wenn sie Filme ansehen oder eine neue Unternehmung in Gang bringen wollten, saß ihr Kumpel nahezu unansprechbar vor dem Bildschirm. Sie warteten eine Stunde, sie warteten zwei. Es war, als hörte Tim sie nicht.