Tochter der Wellen - A.L. Knorr - E-Book

Tochter der Wellen E-Book

A.L. Knorr

5,0

Beschreibung

Im Land der Meerjungfrauen Nach ihrer Rückkehr kann Mia sich endlich an ihre Vergangenheit erinnern. Sie erinnert sich an ihre Jugend, an ihre Mutter, und an das Land der Meerjungfrauen. Okeanos, ein Reich tief unter den Wellen. Sehnsüchtig erinnert sich Mia an Okeanos´ Schönheit und Wildheit. Und an seinen Untergang. Denn seit unzähligen Jahren befinden sich die Reiche von Okeanos und Atlantis miteinander im Krieg, und es liegt an Targa und Mia diesen Krieg zu beenden und zusammen die letzten Meerjungfrauen vor dem Aussterben zu retten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 351

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Prolog5

Mia5

Kapitel 18

Kapitel 218

Kapitel 326

Kapitel 432

Kapitel 657

Kapitel 765

Kapitel 877

Kapitel 988

Kapitel 1096

Kapitel 11104

Kapitel 12109

Kapitel 13123

Kapitel 14129

Kapitel 16142

Kapitel 17150

Kapitel 18162

Kapitel 19174

Kapitel 20184

Kapitel 21192

Kapitel 22198

Kapitel 23204

Kapitel 24211

Tochter der Wellen

Die Töchter der Elemente – Band 11

von A.L. Knorr

Impressum:

Titel: Tochter der Wellen

Originaltitel: Salt and Souvereignity

Autor: A. L. Knorr

ISBN:

Verlag: VVM

Cover: Damonza

Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2022

Prolog

Mia

„Ich kann ihn nicht finden.”

Antoni kam ins Wohnzimmer und warf seinen Mantel über die Lehne des Sofas neben der Tür. „Niemand weiß, wo er ist.”

Mein Herz sank und ich schaute meine Tochter Targa an. Ich hatte Jozef bei uns haben wollen, wenn ich meine Geschichte erzählte, und hatte die Aufforderung meiner Kinder, ohne ihn anzufangen, abgelehnt. Allein der Gedanke, ihn wiederzusehen - jetzt, da meine Erinnerungen zurückgekehrt waren -, brachte mich ins Schwitzen. Normalerweise leide ich nicht unter Nervosität, aber in diesem Fall, unter diesen Umständen ... nur eine Tote hätte keine Schmetterlinge im Bauch gehabt.

Targa schaute von mir zu Antoni und wieder zurück. „Wie kann das sein? Es ist Dienstag Mittag, er arbeitet für unser Bergungsteam. Müsste er nicht bei der Arbeit sein?”

„Du wirst es nicht glauben, aber er hat gekündigt.” Antoni setzte sich neben Targa und nickte Emun, der neben mir saß, grüßend zu.

Targa starrte ihn ungläubig an. „Gekündigt?”

Ich schloss die Augen, als Schuldgefühle und Gewissensbisse mich wie ein Eimer Eiswasser überspülten. Bei meiner letzten Begegnung mit Jozef hatte ich seine Einladung zum Abendessen abgelehnt. Es war keineswegs sicher, dass er deswegen gekündigt hatte, aber ich hatte so ein Gefühl, dass beides miteinander verbunden war.

Ich öffnete die Augen und schluckte die Tränen hinunter. Es war zu viel auf einmal. „Weißt du, warum?”, fragte ich.

Antoni schüttelte den Kopf. „Ich habe mit Lizster, seinem Chef, gesprochen. Jozef hat keinen Grund genannt und mit einer Frist von nur achtundvierzig Stunden gekündigt. Keine Nachsendeadresse oder Telefonnummer, und seine Wohnung ist bereits vermietet.” Antonis haselnussbraune Augen waren voller Mitgefühl. „Es tut mir so leid, Mira.”

Kurz nachdem ich mein Gedächtnis wiedererlangt hatte, hatte ich selbst auf die Suche nach Jozef gehen wollen, aber Targa und Emun erlaubten mir nicht, die Villa zu verlassen, bevor sie sicher waren, dass ich mich nicht wieder verlieren würde. Der Schock lief in Wellen durch unseren kleinen Kreis. Selbst Antoni - der nicht mit mir verwandt und nicht direkt betroffen war - sprach einige Stunden lang kaum, während er verarbeitete, was geschehen war.

Ehrlich gesagt hatte ich mich noch nie so erschöpft gefühlt wie in den Tagen, seit Targa mich nach Hause gerufen und Emun mir den Aquamarin geschenkt hatte, der jetzt an einer Kette an meinem Hals hing.

Ich hatte versucht, Jozef auf seinem Handy anzurufen, bekam aber eine Nachricht, dass die Nummer nicht mehr vergeben war. Ich hatte ihm E-Mails geschickt, die unbeantwortet blieben, und hatte schließlich Antoni gebeten, ihn für mich zu suchen.

„Es tut mir wirklich leid, dass wir deinen Freund nicht finden können, Mutter.” Emun lehnte sich gegen das Sofa, um mich besser ansehen zu können. „Aber da er nicht gefunden werden kann und ich wahrscheinlich sterben werde, wenn wir auch nur noch eine Minute warten - macht es dir etwas aus, wenn wir ohne ihn anfangen?”

Seine Worte waren zaghaft, unsicher und voller Sehnsucht.

Ich nahm seine Hand. Er ergriff meine Finger und drückte sie. Emun hatte sehr lange auf diesen Moment gewartet, und ob mit oder ohne Jozef, ich wollte nicht, dass er noch länger warten musste.

Ich räusperte mich und begann: „Ich wurde am 4. März 1810 geboren und erhielt den Namen Bel Grant ...”

„Warte, Mom.” Targa griff nach ihrer Tasche auf dem Couchtisch und kramte darin. Sie holte ihr Telefon heraus, aktivierte den Bildschirm und wählte etwas aus. „Hast du etwas dagegen, wenn ich dich aufnehme? Das ist viel zu wichtig, um es etwas so Fehlbarem wie dem menschlichen Gedächtnis zu überlassen, geschweige denn dem Gedächtnis der Sirenen.”

„Natürlich habe ich nichts dagegen", sagte ich. „Es ist eine gute Idee. Eine Aufnahme ist zwar nicht so lebendig wie die Erinnerungen in der Halle von Anamna, aber so eine Aufnahme ist viel bequemer.”

Die Kinder (sie waren keine Kinder, aber ich konnte nicht umhin, sie so zu sehen) schauten einander an.

„Die Halle von Anamna?”, wiederholte Targa. „Was ist das?”

„Ich werde es euch erklären. Zuerst mussten wir nach London. Der Krieg mit Frankreich war vorbei, aber da ich noch ein kleines Kind war, hatte ich kein Interesse an solchen Dingen. Mein Leben drehte sich um meine Mutter.” Meine Kehle schnürte sich zu, als ich an das letzte Mal dachte, als ich sie gesehen hatte. Ich schob die schreckliche Szene beiseite. „Sie war wie eine Göttin für mich.”

Kapitel 1

Alle nannten meine Mutter Polly. Es war ein Name für süße kleine Mädchen, freundliche alte Damen mit Strickzeug auf dem Schoß oder kluge gefiederte Haustiere aus tropischen Ländern. Schon als Kind dachte ich, dass dieser Name nicht zu dem imposanten Charakter und dem Aussehen von Polly Grant passte.

Mit einer Größe von 1,80 m und so dunklen Augen, dass sie schwarz erschienen, war meine Mutter in einer Menschenmenge kaum zu übersehen. Wenn sie sprach, drangen ihre Worte mit einer Autorität hervor, die alle in Hörweite davon überzeugte, dass sie eine Frau war, die man lieber nicht herausfordern sollte. Sie trug ihr langes, dunkles Haar in einem Zopf um den Kopf geschlungen wie eine Krone, was ihre strenge, königliche Ausstrahlung nur noch verstärkte.

Ich war fünf. Wenn ich zu meiner Mutter aufblickte, war es, als würde ich zu einer Riesin aufschauen. Als ich auf dem Bahnsteig des Londoner Bahnhofs stand, hielt sie nicht meine Hand, sondern legte ihre Hand schwer auf meine Schulter. Sie blickte nach links, still wie ein Stein, ihre dunklen Augen auf die Gleise gerichtet, in die Richtung, aus der unser Zug kommen würde. Ihre Hand schien von Minute zu Minute schwerer zu werden. Das erdrückende Gewicht und die Hitze, die sie ausstrahlte, gaben mir das Gefühl, langsam in die Erde gepresst zu werden. Ich wollte ihre Hand wegschieben und tief durchatmen, aber ich wagte es nicht. Polly unterdrückte aufmüpfiges Verhalten sofort.

Ein kleiner, älterer Mann mit einer schwarzen Melone stand ein paar Meter entfernt rechts von mir. Er hielt eine Zeitung in den Händen und sein Gesicht war hinter den Seiten nicht zu sehen. Ich konnte nur die grauen Haarbüschel erkennen, die unter der Krempe seines Hutes hervorlugten. Ich starrte ihn an und wartete darauf, dass er die Zeitung zur Seite schob, damit ich sehen konnte, wie er aussah. Auf Züge zu warten war langweilig.

Ich schob meinen rechten Fuß zur Seite und bewegte mich langsam von meiner Mutter weg, gerade so weit, dass ich mich aus ihrem erdrückenden Griff befreien konnte.

„Lauf nicht herum, Bel”, sagte sie leise und sah nicht zu mir hinunter. Aber sie löste ihre Hand von meiner Schulter und das war alles, was ich wollte. Erleichtert atmete ich tief ein.

„Nein, Mama.” Ich griff in die Tasche meines Wollmantels und zog ein Stück zerknittertes Papier heraus. „Ich werfe nur dieses Papier in den Mülleimer.”

Sie warf mir einen kurzen Blick zu, antwortete aber nicht, sondern nahm wieder ihre Wächterstellung ein. Ich hatte gelernt, aus genau diesem Grund kleine Stücke Müll in meiner Tasche aufzubewahren.

Ich trat zurück, drehte mich um und suchte den Bahnhof nach einem Müllcontainer ab. Es waren nur wenige Fahrgäste auf dem Bahnsteig, denn es war kurz nach Mittag an einem Wochentag. Ich entdeckte den Mülleimer und machte mich auf den Weg dorthin, langsam und leise, denn nur ungehorsame Kinder rannten und schrien.

Ich genoss mein Stück Freiheit, warf die Verpackung weg und sah zu, wie sie hinunterfiel. Als ich zum Bahnsteig zurückkehrte, vergewisserte ich mich, dass Polly sehen konnte, wo ich war, aber ich ging nicht sofort zu ihr zurück. Ich stand ein wenig abseits und beobachtete den alten Mann beim Lesen der Zeitung.

Ein sechster Sinn sagte ihm, dass er beobachtet wurde. Sein Blick fiel schließlich auf das kleine Mädchen in dem blauen Wollmantel. Ich war beeindruckt von seinem dicken weißen Schnurrbart. Der Schnurrbart war an den Enden eingerollt wie ein kleines Paar Hörner. Unsere Blicke trafen sich. Sein Schnurrbart hob sich und seine rosigen Wangen wurden rund. Seine Augenwinkel bekamen Fältchen.

Auch ich lächelte, angezogen von seinen funkelnden Augen und seinem freundlichen Gesichtsausdruck. Der ausgewachsene männliche Mensch zog mich in seinen Bann, da ich nur mit wenigen von ihnen zu tun hatte. Nicht viele Menschen sahen mich so an, wie er mich ansah - als würde er mich wirklich sehen. Polly zog immer die ganze Aufmerksamkeit auf sich, und es machte mir nichts aus. Aber manchmal fühlte ich mich wie ein kleines Insekt, das tief über dem Boden fliegt, beschäftigt und unsichtbar.

Der alte Mann schaute meine Mutter an und dann wieder mich. „Du musst deine Augen von deinem Vater geerbt haben”, sagte er. „So blau. Wie der Himmel oder ein tropisches Meer.”

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Mein Vater war kein Teil meines Lebens und ich hatte keine Erinnerungen an ihn. Ich wusste natürlich, dass andere Kinder Väter hatten, aber Polly erinnerte mich gern daran, dass sie Mutter genug war, um die Rolle von beiden zu erfüllen. Bis zu diesem Moment hatte ich nie hinterfragt, woher meine Augenfarbe kam. Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass ich irgendein Merkmal von meinem Vater haben könnte. Es stimmte, meine Augen waren ganz anders als die meiner Mutter. Wir hatten das gleiche dunkle Haar, die gleiche weiße Haut, und wir waren beide schlank, aber ihre Augen waren dunkel und rund, während meine hell sind und an den äußeren Ecken ein wenig nach oben zeigen. Dass meine Augen anders waren als die meiner Mutter, war mir nie zuvor bewusst geworden, und dieser Moment veränderte etwas. Es war ein Moment des Erwachsenwerdens, des Hinterfragens, der Erkenntnis: Merkmale wurden vererbt, nicht wie von Zauberhand erfunden, sondern weitergegeben.

„Wohin reist ihr?”, fragte der freundliche Mann, und ich mochte seine Stimme. Sie war sanft und weich, und er stellte mir diese Frage, als ob er wüsste, dass Polly sofort auf uns aufmerksam werden würde, wenn er zu laut sprach, und unser Gespräch dann beendet sein würde.

„Zum Meer”, sagte ich ebenso leise. „Wohin reist du?”

„Bel.” Meine Mutter schaute herüber. Sie schnippte mit ihren behandschuhten Fingern und zeigte auf den Boden neben sich.

Langsam, ein wenig verlegen, ging ich zu meinem Platz hinüber, und das Gewicht ihrer Hand legte sich wieder auf meine Schulter. Der Fremde sah mir nach. Er schien zu wissen, dass er meine Frage lieber nicht beantworten sollte. Aber er beobachtete uns, bis sich der Blick meiner Mutter wieder abwandte und zu den Gleisen zurückkehrte. In der Ferne ertönte ein Pfiff.

Der alte Mann löste eine Hand von der Zeitung, griff in seine Jackentasche und zog einen Zettel heraus. Er hielt ihn zwischen zwei Fingern, so dass ich seine Fahrkarte sehen konnte, auf der „Cornwall” stand. Er zwinkerte mir zu und sein Schnurrbart lüftete sich wieder. Ich auch, sagte er lautlos.

Ich sah ihn nie wieder, aber er hatte mir etwas zum Nachdenken gegeben.

Einige Zeit später, als der Zug durch die grünen Moorlandschaften tuckerte, gab Polly mir ein Sandwich. Nachdem ich es gegessen hatte, nahm sie das Tuch, in das es eingewickelt war, schüttelte die Krümel aus und steckte es zurück in ihre Tasche. Sie hatte auch gegessen und wirkte entspannt, sogar erleichtert. Wenn es überhaupt einen richtigen Moment für meine Frage gab, dann war es dieser.

„Mama, warum haben wir unterschiedliche Augen?”

„Weil du so geboren wurdest”, antwortete sie schnell.

Enttäuscht starrte ich wieder auf das vorbeiziehende Grün. Aber das war das Beste, was ich von Polly zu erwarten hatte. Für Kinder war es nicht wichtig zu wissen, warum etwas so war; dieses Privileg war nur den Erwachsenen vorbehalten. Und ich nahm an, dass ich eines Tages, wenn ich älter war, auch viel mehr verstehen würde.

Bei grauem Himmel und Nieselregen erreichten wir Brighton. Als wir aus dem Zug stiegen, atmete ich die Seeluft so tief ein, wie ich sie in meinen kleinen Lungen halten konnte. Die salzige, feuchte Luft an der Küste durchdrang mich bis ins Mark. Ich wusste zwar nicht, was wir hier taten, aber ich wusste, dass es etwas mit dem Meer zu tun hatte und mit einem kürzlichen Ereignis in meinem Leben, das Polly als meine Salzgeburt bezeichnete.

Erst ein paar Wochen zuvor hatte sie mich in einen Ort außerhalb Londons namens Allhallows mitgenommen. Es war ein Ausflug bei Nacht, wie die anderen zuvor, und immer an denselben leeren Strand. Ich wusste, was mich erwartete. Mama und ich gingen zusammen im Meer schwimmen, im Schutz der Dunkelheit und weit weg von den Gaslampen der Zivilisation. Während wir schwammen, lag Polly im seichten Wasser des Strandes und sah mir beim Spielen zu. Ich genoss es, wie sich das Wasser auf meiner Haut und der Sand unter meinen Füßen und zwischen meinen Zehen anfühlte. Sie beobachtete mich einfach - ruhig, geduldig und ohne Erklärung.

In Allhallows erwartete ich die gleiche Art von vergnüglichem abendlichen Schwimmen. Diese kleinen Ausflüge waren zu meiner Lieblingsbeschäftigung geworden, und obwohl Polly mir nie sagte, wann sie einen für uns geplant hatte, kamen sie immer häufiger vor.

Aber in Allhallows geschah etwas anderes - ich verwandelte mich.

Obwohl sich die Verwandlung richtig und sogar gut anfühlte, war ich erschrocken über das, was mit mir geschah. Polly hatte mir nie ihre wahre Natur gezeigt, also verstand ich meine eigene nicht. Aber als sie sah, wie sich die Muskeln und Knochen meiner Beine zusammenzogen, wie sich die Haut in Schuppen verwandelte, glitt sie im Wasser zu mir herüber.

„Entspann dich einfach, Bel”, flüsterte sie. „Du wirst zu dem, wozu du geboren wurdest.”

Und dann verwandelte sie sich neben mir, so dass ich verstehen konnte, dass dies normal war und dass sie die ganze Zeit darauf gewartet hatte.

Nach Allhallows wurde das Leben zu einer wahren Flut von Aktivitäten. Ich verstand die Veränderung im Verhalten und in der Routine meiner Mutter nicht, aber ich verstand, dass es etwas mit dem zu tun hatte, was in Allhallows geschehen war - dass meine Salzgeburt etwas im Kopf meiner Mutter ausgelöst hatte.

Sie strahlte eine Aura der Erregung aus, und obwohl ich nicht sagen konnte, dass sich ihr Verhalten verändert hatte, spürte ich diese neue Energie. Sie schien glücklicher zu sein und darauf zu warten, dass irgendein Ziel erreicht wurde. Sie traf sich mit Leuten, mit denen sie zusammengearbeitet hatte oder die für sie gearbeitet hatten. All diese Treffen schienen eine Vorbereitung für die Abreise aus England zu sein.

Als ich nun mit meiner Mutter an einem leeren Strand in der Nähe von Brighton stand, der Nachthimmel sternenlos und voller grauer Wolken, begriff ich, dass dies der Moment war, auf den sie sich vorbereitet hatte.

„Wir werden schwimmen, Bel. Für eine lange Zeit. Wir haben einen langen Weg vor uns.” Während sie dies sagte, zog sie ihr Kleid, ihre Unterröcke, ihre Schuhe und Strümpfe aus. Sie entledigte sich jedes einzelnen Kleidungsstücks und legte es auf einen Haufen im Seegras. Sie forderte mich auf, dasselbe zu tun, bis unsere Haare das einzige waren, was uns noch bedeckte.

Sie ging bis zu den Knien ins Wasser, hielt mir ihre Hand hin und winkte. Ich rannte zu ihr, platschend im Wasser, mein kleines Herz pochte und mein Geist war voller explodierender Sterne.

„Wohin gehen wir?”, fragte ich, als wir in tieferes Wasser hinaus wateten.

„Wir gehen nach Hause”, sagte sie und tauchte unter.

Wir schwammen mit sehr wenig Zeit zum Ausruhen oder Erkunden, was für mich als junge und neugierige Sirene, die erst kürzlich ihre Salzgeburt gehabt hatte, sowohl emotional schmerzhaft als auch körperlich erschöpfend war. Zwar musste ich mich anstrengen, um mitzuhalten, aber noch schwieriger war es, durch dieses neue Unterwasseruniversum zu schwimmen und nicht anhalten zu dürfen. Es gab so viel zu erkunden, so viel zu lernen. Und die Natur hatte uns so perfekt geschaffen, um die Umgebung zu genießen, dass ich nicht verstehen konnte, warum meine Mutter nicht von jeder unglaublichen Besonderheit angezogen wurde, der wir begegneten.

Wir sahen jede Art von Meerestieren, die man sich vorstellen kann: riesige Massen anmutiger Rochen, einige so groß, dass sie wie Unterwasserschiffe vorbeizogen, mit ihren seltsamen viereckigen Mäulern, die von einem Ende zum anderen doppelt so lang waren wie Pollys ganzer Körper. Wir schwammen durch Wälder aus leuchtend buntem Seetang, der sich anmutig bewegte und mit pelzigen Algen bedeckt war. Dort versteckten sich leuchtend orangefarbene und rote Fische, die aus den Blättern lugten. Große, stachelige Krustentiere krabbelten über die geschwungenen, blassen Landschaften. Der Boden war mit Sand bedeckt und spuckte Blasen aus Ritzen, in denen sich kleine gelbe Krebse aufhielten. Doch die Naturwunder waren nur ein Teil dieses beeindruckenden Reiches, denn wir kamen auch an unzähligen Wracks vorbei, nicht nur an Schiffen, sondern auch an anderen seltsamen Formen, fremdartigen Gebilden, die halb im Sand begraben und mit Korallen verkrustet waren.

Zwei Unterwasserstädte, weit entfernt und tief im Schatten, glitten an mir vorbei, während ich dem langen und kräftigen Fischschwanz meiner Mutter folgte. Ich staunte sie an und bettelte, hinabtauchen und sie erkunden zu dürfen.

„Wir haben keine Zeit zu verlieren, Bel”, antwortete meine Mutter, „selbst jetzt ist Okeanos in Gefahr.”

„Aber wodurch?”

Okeanos war ein Ort, das wusste ich und es war unser Zuhause, aber da hörte mein Verständnis auf. Meine Mutter erklärte nicht, warum sie es so eilig hatte. Ich sollte ihr einfach vertrauen.

„Wenn du älter bist, wirst du es verstehen.”

Ich musste mich damit begnügen, mir vorzunehmen, dass ich hierher zurückkehren und alles erkunden würde, wenn ich einmal erwachsen war und gehen konnte, wohin ich wollte. Ich würde diese Städte nicht vergessen. Die eine hatte schlanke, hoch aufragende Türme mit weichen Rundungen und Bögen. Die andere hatte kantige Ecken, große, brutale Mauern mit riesigen Steinen, die eng und fast nahtlos zusammengefügt waren. Beide beherbergten nun Millionen von Unterwasserarten, von mikroskopisch kleinen Algen, die in leuchtenden Farben auf die Steine gemalt waren, bis hin zu riesigen Aalen, die ihre Köpfe aus Spalten steckten, wobei die Größe ihres reißzahnbewehrten Mäuler nur andeutete, wie lang die dazugehörigen Körper sein mussten.

Wir hielten an, um eine Mahlzeit zu uns zu nehmen, und Polly ermunterte mich, so viel zu essen, wie ich nur konnte. Ich hätte wissen müssen, dass etwas im Gange war, denn normalerweise nahm sie meine Essgewohnheiten nicht unter die Lupe.

Wir schwammen weiter, und das Terrain änderte sich erneut. Anstatt mich neugierig zu machen, vermittelte mir die kahle und karge Gegend ein Gefühl unguter Vorahnung. Plötzlich schien es nirgendwo mehr Leben zu geben - keine Fische, keine Krustentiere, nicht einmal Seegras. Wo es Sand gab, war er schwarz und grau; wo es Felsen gab, waren sie dunkel wie Tinte und scharf wie Rasierklingen. Sogar die Beschaffenheit und der Inhalt des Wassers veränderten sich. Das Atmen wurde etwas schwieriger, und es schmeckte säuerlich. Ich spürte, wie meine Kiemen arbeiteten, um Sauerstoff aus dem Wasser zu ziehen.

„Was ist das für ein Ort, Mama?”, fragte ich, während ich hinter ihr herschwamm und mich wie immer so sehr anstrengte, dass mein Schwanz schmerzte und mein Herz pochte.

„Es ist die Apotreptikó”, antwortete sie.

„Was ist das?”

Sie seufzte hörbar. „Schwimm einfach weiter, Bel. Wir sind bald da.”

Und so schwamm ich, und schwamm und schwamm. Ich verstand jetzt, warum sie mich so viel hatte essen lassen, denn hier gab es keine Nahrung. Ich wurde wieder hungrig, aber ich wusste, dass es besser war, nicht nach der Jagd zu fragen - es gab nichts zu jagen, und wenn doch, hätte Polly mir wahrscheinlich nicht erlaubt, etwas zu essen, das hier an diesem sauerstoffarmen und giftigen Ort überleben konnte.

Mein Blick hob sich von der Düsternis und den zerklüfteten Rändern unter uns auf die zunehmende Helligkeit am Horizont. Als Polly schneller wurde, folgte ich ihr gern und war froh, diesen seltsamen und leeren Ort zu verlassen.

Aus der Apotreptikó herauszukommen fühlte sich besser an, als aus dunklem Regen und Schatten in helles, warmes Sonnenlicht zu kommen. Die Welt erwachte zum Leben, und die Grenze zwischen der Apotreptikó und diesem üppigen und schönen Dschungel hätte nicht deutlicher sein können, wenn sie mit Tinte gezogen worden wäre.

Ich seufzte vor Behagen, als das sauerstoffreiche Wasser meine Kiemen füllte und die Gerüche von sattem Grün und reichen Mineralien meine Sinne wiedererweckten.

Polly drehte sich um, und schenkte mir ein seltenes Lächeln. „Willkommen in Okeanos.”

Meine Augen weiteten sich. „Das ist unsere Heimat?”, Ich schaute bis zum Horizont dieses weiten, ressourcenreichen Landes, aber ich sah keine anderen Sirenen und auch keine Anzeichen für Orte, an denen sie hätten leben können.

„Das ist der äußerste Teil davon”, erklärte Polly. „Wir haben noch weit zu schwimmen, aber wir sind jetzt in unserem Gebiet.”

Wir jagten und aßen, dann schliefen wir eine Zeit lang, bevor wir weiterzogen. Ich blickte über meine Schulter zurück auf die Schwärze der Apotreptikó, die sich hinter uns entfernte, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Irgendwann danach - ich glaube, es waren mehr als zwei Tage - wurde ich Zeuge von etwas, das eine Vorahnung der kommenden Dinge war. Wäre ich etwas älter gewesen und hätte man mir etwas mehr erzählt, hätte ich dieses Ereignis mit dem Grund in Verbindung gebracht, warum Polly es so eilig hatte, nach Okeanos zurückzukehren. Erst später habe ich die beiden Dinge miteinander verbunden.

Zwei Kreaturen wurden sichtbar, als wir über die Spitze eines Korallenbergs schwammen. Wie alles andere waren auch die Korallen farbenprächtig, reich an Fischen und Meeresbewohnern, das Wasser blitzsauber und köstlich. Meine Mutter wandte sich sofort diesen beiden Kreaturen zu, und als sie auf sie zuschwamm, erkannte ich, dass sie menschenähnlicher waren als wir.

Einer war eindeutig männlich, mit einer schmalen Taille und langen Gliedmaßen. Das Weibchen war blass und schlank. Beide hatten langes, krauses Haar, verfilzt und hoffnungslos verknotet. Polly hätte nie zugelassen, dass mein Haar in einen solchen Zustand geriet. Während unserer Ruhepausen hatte sie mir beigebracht, wie ich mein Haar mit den Fingern relativ unverknotet und frei von Algenwuchs und meine Kopfhaut und Haut frei von Parasiten halten konnte. Sie sagte mir, dass die Pflegegewohnheiten einer Sirene gleichbedeutend mit ihrer Gesundheit und Vitalität seien, und dass dies keine Frage der Eitelkeit, sondern der Hygiene war. Wir ließen unsere Nägel wachsen, aber wenn sie sich zu stark wölbten oder spiralförmig wurden, schnitten wir sie ab.

Ich starrte diese beiden ungewöhnlichen Wesen mit einer Mischung aus Entsetzen und Neugier an. Sie waren zu dünn - sogar hager - und durchsuchten die Oberfläche der Korallen mit einer Verzweiflung, die sich in ihren Bewegungen und verängstigten Gesichtern zeigte. An ihren kahlen Schädeln klebten fette graue Parasiten, und das Weiße ihrer Augen war gelblich gefärbt. Sie hatten die Gliedmaßen, Körper und Gesichter von Menschen, aber Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen. Ihre Füße waren lang und biegsam und erinnerten mich an die Flossen einiger Fischarten, die ich gesehen hatte... weniger effizient als unsere, aber in der Lage, sich unter Wasser schnell fortzubewegen. Ich fragte mich, warum sie in so schlechtem Zustand waren. Mein Magen drehte sich vor Mitleid mit ihnen um.

Als Polly auf sie zu schwamm, klammerten sie sich aneinander und starrten ihr aus aufgerissenen Augen entgegen.

„Was macht ihr hier?” Sie winkte mit einer Hand in die Richtung, aus der wir gekommen waren. „Ihr habt hier nichts zu suchen”, zischte sie. „Verschwindet, schnell, bevor ich unsere Foniádes auf euch hetze.”

Sie hatten sie verstanden, ob nun, weil sie unsere Sprache sprachen oder weil niemand die Feindseligkeit in Pollys Ton und ihren Bewegungen missverstehen konnte, wusste ich nicht. Aber sie schwammen hastig den Weg zurück, den wir gekommen waren, in Richtung der Apotreptikó.

Polly sah ihnen mit einem Ausdruck des Ekels nach. Sie murmelte vor sich hin. „Odenyalis, du hast das Herz einer Verräterin. Es ist schlimmer, als ich dachte.”

„Mama”, fragte ich zaghaft, denn diesen Blick hatte ich bei ihr noch nicht oft gesehen. „Was sind sie?”

„Atlanter”, spuckte sie aus und kehrte den beiden den Rücken zu.

„Warum können sie nicht hier essen? Sie sehen hungrig aus und es gibt doch genug.” Ich hätte noch hinzufügen können, dass sie höchstwahrscheinlich sterben würden, bevor sie das weitläufige Gebiet der Apotreptikó vollständig hinter sich gelassen hätten, aber ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter es nicht gutheißen würde, wenn ich sie auf das Offensichtliche hinwies.

Sie warf mir einen angewiderten Blick zu.

„Oder?”, fügte ich zaghaft hinzu, um zu verdeutlichen, dass ich nicht viel wusste und mich irren konnte.

„Es spielt keine Rolle, wie viel Essen - oder irgendetwas anderes - wir haben, es gehört uns. Uns. Nun, beweg dich. Wir werden bei Tagesanbruch am Hof sein, aber so wie es aussieht, nicht früh genug.”

Beunruhigt bemühte ich mich, mit meiner Mutter gleichauf zu bleiben, während wir unserem Ziel immer näher kamen.

Kapitel 2

Auch wenn ich die Landschaft schön fand, nachdem wir die Einöde der Apotreptikó hinter uns gelassen hatten, war sie nichts im Vergleich zu der Schönheit, die sich unter uns offenbarte, als wir Okeanos durchquerten. Am besten kann man es als Gebirge beschreiben. Und so wie viele der größten Gebirgsketten der Erde über dem Wasser weitreichend und visuell beeindruckend sind, war Okeanos es auch.

Scheinbar endlose Gipfel und Täler erstreckten sich, so weit das Sirenenauge sehen konnte. Die höchsten und imposantesten Gipfel durchbrachen die Wasseroberfläche und reichten bis in den Himmel. Einige Täler schlängelten sich eng durch steile Canyonböden, während andere sich träge in die Breite zogen und sichtbare Ströme schnell fließenden Wassers enthielten - Unterwasserflüsse, die durch die wechselnden Temperaturen und die sich verändernde Oberfläche des Meeresbodens angetrieben wurden. Jede Oberfläche war geschäftig und voller Leben. Es schien unzählige Risse in den Felsen zu geben, aus denen Lebewesen auftauchten und in denen sie verschwanden.

Wir schwammen auf den größten dieser Berge zu. Polly sagte, er hieße Califas und sei das Herzstück unseres Reiches.

Ich entdeckte die ersten Sirenen, die in diesen Tälern schwammen. Fasziniert starrte ich sie an, denn die einzige andere Sirene, die ich bis zu diesem Zeitpunkt gesehen hatte, war meine Mutter. Ich bemerkte sogar einige junge Sirenen, nicht viel älter als ich, die mit den Älteren schwammen.

Polly grüßte diese Sirenen nicht, aber irgendwie kommunizierte sie doch mit ihnen. Denn die Sirenen hielten inne und schauten ihr nach. Einige schienen untereinander Blicke auszutauschen, während andere beobachteten, wie wir über ihnen vorbei schwammen, bevor sie uns in einigem Abstand folgten.

Ich wollte unbedingt fragen, wer sie waren, warum sie uns folgten und ob ich mit ihnen reden konnte, aber das Gesicht meiner Mutter hatte etwas Ernstes und Feierliches an sich, und in den Gesichtern der anderen lag sogar noch mehr Ernst. Also hielt ich den Mund und vertraute darauf, dass sich bald alles aufklären würde.

Wir schwammen lange und sammelten Sirenen zu einer Prozession zum Berg Califas. Wir erreichten den gewaltigen Berg, aber meine Mutter wurde nicht langsamer und tauchte in eine unauffällige Felsspalte ab. Als ich zu lange zögerte, schwammen Sirenen an mir vorbei und folgten ihr hinein. Mir wurde klar, dass ich meine Mutter verlieren würde, wenn ich mich ihnen nicht anschloss, denn sie wartete nicht auf mich.

Als ich hinein schlüpfte, sank die Wassertemperatur, und meine Augen mussten sich an Dunkelheit gewöhnen - das Schimmern der Biolumineszenz in den Fischschwänzen der Sirenen um mich herum war die einzige Beleuchtung. Der Riss wurde zu einem Tunnel, und die Tunnelwände schlossen sich und öffneten sich, bevor sie in andere Tunnel mündeten. Das Innere des Califas war ein riesiges Netz von Höhlen, Tümpeln, Flüssen, Gängen und Kavernen. Ich folgte dem Weg der anderen Sirenen und hatte Mühe, diejenigen vor mir in dem engen Korridor zu überholen.

Die Welt wurde in grünen und blauen Farbtönen heller. Das Geräusch von plätscherndem und tropfenden Wasser, das an den Steinwänden widerhallte, erreichte meine Ohren.

Mein Kopf durchbrach die Oberfläche und ich kletterte zusammen mit den anderen Sirenen aus dem Wasser in eine riesige gewölbte Höhle, die von Licht durchflutet war.

Niemand sprach, als wir auf menschlichen Beinen standen und durch die riesige Höhle gingen, wobei wir von einem schwachen blauen Licht beleuchtet wurde, das von Glühwürmchen und Algen an den Wänden ausging.

Ich reckte den Hals, um meine Mutter zu finden, und sah sie durch eine große Tür gehen, die von einem sanften weißen Licht erhellt wurde. Jemand hatte ihr Kleidung gegeben, und ihr Körper war mit einem einfachen Gewand bedeckt, das in der Taille mit einem Band zusammengebunden war. Ihr langes Haar lag tropfend auf ihrem Rücken und ein Kreis aus Feuchtigkeit breitete sich auf ihren Schulterblättern aus.

In mir stieg Empörung darüber auf, dass die anderen Sirenen nicht erkannten, dass ich ihre Tochter war und mich vorbei ließen, und ich wollte sie anschreien, mich durchzulassen. Aber niemand sprach, und in diesem Moment herrschte eine ernste Stille, die ich nicht zu brechen wagte.

Eine nach der anderen gingen die Sirenen durch die Tür. Dann kam ich an die Reihe. Eine Treppe führte hinauf und hinauf und hinauf, und meine jungen Beine, die nach der langen Zeit in Sirenengestalt nicht mehr an das Laufen gewöhnt waren, begannen zu schmerzen.

Je höher wir kamen, desto heller wurde es, aber ich konnte zu keinem Zeitpunkt den Himmel sehen. Der lange, stille Aufstieg gab mir Zeit, die seltsame Umgebung zu mustern. Das Spiel der Beleuchtung in diesem Höhlensystem veränderte sich ständig und war faszinierend zu beobachten. Aus Rissen im Felsen schienen Speere aus Licht, brachen sich, stachen in andere Risse und brachen sich erneut.

Die Temperatur stieg, und wir kamen an vielen Räumen vorbei, die mit Farben und Becken gefüllt waren und auf den ersten Blick wie Kunstwerke aussahen. Aber es gab kein Anhalten, denn die Sirenenprozession bewegte sich in gleichmäßigem Schritt vorwärts.

Als ich endlich die letzte Stufe erreichte, hatten sich die Sirenen vor mir bereits zu einem Halbkreis ausgebreitet. Da es unmöglich war, über die Köpfe der Menge hinwegzusehen, drängelte ich mich nach vorne. Irgendetwas war im Gange, das meine Mutter betraf, und ich war außer mir vor Neugier und auch vor Angst, es zu verpassen.

Als ich die erste Reihe erreichte, hielt ich an.

Viele der Sirenen im Raum hatten sich irgendwoher Kleidung besorgt, aber ebenso viele standen nackt und tropfnass da und schauten mit ernsten Gesichtern nach vorne. Mein Herz klopfte, und in meinem Bauch zogen winzige Angstfische ihre Kreise.

Das war der Moment, als ich sie sah.

Nicht einmal der Anblick meiner Mutter, die in einem Kreis aus hellem Sonnenlicht stand, das durch ein Loch in der Decke einfiel, konnte meine Augen von ihrem Anblick ablenken. Und ich wusste sofort, wer sie waren: Die Foniádes.

Es waren acht, und sie waren anders als alle anderen Sirenen, die ich bisher gesehen hatte oder die ich mir in meiner Fantasie hätte ausdenken können.

Sie waren größer als Polly, jede von ihnen breit und stark mit muskulösen Körpern. Weiblich in Form und Silhouette, aber auch raubtierhaft. Ihre Pupillen waren groß, selbst bei dem hellen natürlichen Licht im Raum. Ihre Iris waren tief indigoblau, und das wenige Weiße, das noch sichtbar war, leuchtete blau-weiß. Ihre Blicke bewegten sich rasch und wachsam, aber es war schwer zu erkennen, wohin sie schauten.

Ihre Haut war nicht rosig und warm, sondern von kühler, blaugrauer Farbe. Die langen Arme endeten in kräftigen, mit Krallen versehenen Händen, und als eine von ihnen die bläulichen Lippen öffnete, kamen strahlend weiße Zähne zum Vorschein, die ein wenig zu spitz waren, um freundlich zu wirken. Sie trugen einfache, enge, ärmellose Tuniken, die knapp unter dem Schambein endeten und der Farbe ihrer Haut entsprachen. Sie alle hatten hohe Wangenknochen und Haare in Grau-, Schwarz- und Blautönen. Bei einigen war es an den Seiten geschoren, bei anderen war es zu engen Reihen am Kopf zusammengedreht und floss über den Rücken. Mir fiel auf, dass jede von ihnen einen türkisfarbenen Edelstein trug - einige am Hals, andere im Haar, wieder andere am Handgelenk.

Mein Verstand platzte vor Fragen über diese Sirenen - wenn sie denn welche waren. Die Tatsache, dass meine Mutter den Atlantern gedroht hatte, die Foniádes auf sie loszulassen, hatte eine sofortige Wirkung gezeigt. Diese Kreaturen waren schon furchteinflößend, wenn sie einfach nur so an den Steinen lehnten, und ich konnte mir nicht vorstellen, was sie anrichten konnten, wenn sie auf einen Feind losgelassen wurden.

Erst als ich mich an diesen abweisenden Sirenen sattgesehen hatte, bemerkte ich, dass meine Mutter vor einem Thron aus leuchtend blauem Stein stand, auf dem eine Königin saß, die eine Krone und eine Halskette aus demselben blauen Stein trug. Diese Sirene richtete sich auf. Langsam und ernst stieg sie von ihrem Thron herunter. Odenyalis - ich wusste, dass dies ihr Name war, weil meine Mutter von ihr gesprochen hatte, wenn auch nicht mit großer Wertschätzung - war wunderschön. Sie trug ein ähnliches Gewand wie Polly - schlicht, langärmelig und in der Taille zusammengebunden.

Odenyalis stand meiner Mutter gegenüber und hielt ihr die Hände hin. Polly legte ihre Hände auf die angebotenen Handflächen. Odenyalis küsste sie einmal auf jede Wange, bevor sie mit ihren schlanken Händen die Krone aus blauen Edelsteinen von ihrem Kopf nahm. Sie drehte die Krone um und setzte sie Polly auf den Kopf, dann steckte sie ihr die Halskette und den Ring an den Finger und küsste sie erneut, aber diesmal an der Kehle, an der hohlen Stelle zwischen den Schlüsselbeinen. Dann legte Odenyalis zwei Finger in diese hohle Stelle, schloss die Augen und senkte den Kopf. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie wieder aufblickte, die Hand fallen ließ und sich in den Kreis der Sirenen begab. Ich beobachtete ihr Gesicht und fand, dass sie glücklich, ja sogar erleichtert wirkte, aber so, als würde sie sich bemühen, ihre Gefühle zu verbergen. Einige Sirenen nahmen Odenyalis bei der Hand, und es wurde geflüstert, aber ich konnte nicht verstehen, was gesagt wurde. Ich weiß jetzt, dass ich es nicht verstehen konnte, weil es in einer alten Sprache war, die inzwischen verloren gegangen ist, aber die Sirenen dankten Odenyalis für ihren Dienst.

Polly wandte sich der Menge zu. „Ich, Apollyona von Okeanos, nehme demütig die Krönung des Salzes an und diene euch als Herrscherin.”

Apollyona?, dachte ich. Das ist ihr richtiger Name? Und irgendwie passte das alles zusammen. Dieser Name passte viel besser zu ihr, als Polly es je getan hatte. Bestürzt dachte ich, dass ihr die wenigen Menschen in ihrem Leben wohl nicht wichtig genug gewesen waren, um ihnen ihren echten Namen zu verraten. Erst später verstand ich, dass alle Sirenen zwei Namen hatten.

Eine nach der anderen näherten sich die Sirenen Apollyona und berührten den Raum zwischen ihren Schlüsselbeinen. Einige küssten ihre Wangen, andere nicht, aber alle berührten den Ansatz ihres Halses.

Ich war an der Reihe und hoffte auf einen Hinweis von ihr, auf ein Wort, dass sie mich zur Seite nehmen und mir später alles erklären würde. Aber ihr Blick fiel auf mich wie auf jede andere auch. Das einzige Signal, dass ich mich von den anderen Sirenen in der Höhle unterschied, war ein winziges Lächeln. Sie empfing meinen Gruß - sie war jetzt meine Königin. Ich trat zur Seite, damit die nächste Sirene an die Reihe kommen konnte, auch die Foniádes. In diesem Moment bemerkte ich, dass nicht nur die Foniádes und die Herrscherin diese leuchtend blauen Edelsteine trugen, sondern jede Sirene im Raum, außer denen, die wie ich noch nicht die Pubertät durchlaufen hatten.

Ich zog mich zurück und beobachtete meine Mutter in der Hoffnung, dass sie sich noch einmal mir zuwenden würde, und bemerkte eine andere Sirene, die den anderen im Raum nicht ähnlich war. Aber im Gegensatz zu den Foniádes fiel sie mir eher durch ihre Schönheit und Farbe auf als durch ihre Größe oder einschüchternde Gesichtszüge.

Sie war zierlich und hatte langes blaues Haar - bauschig und fein -, das sich bewegte, als ob sie in einer Brise stünde, aber ich dachte, es sei nur leicht wie Seide. Ihr Gesicht war klein und spitz, die äußeren Augenwinkel waren nach oben gebogen. Ihre Augen schienen die Farbe zu wechseln, mal grün, mal blau, dann wieder grau. Auch sie war einfach gekleidet, aber mit mehr Charakter. Sie trug ein kurzes blaues Kleid mit nur einem Träger über der rechten Schulter. Sie war viel kleiner als Apollyona und reichte der neuen Herrscherin gerade bis zum Hals, aber irgendwie wirkte sie genauso majestätisch wie sie.

Mein Blick folgte ihr, als sie sich auf die Treppe zubewegte, die nach unten führte. Sie legte eine Hand auf den Felsen neben der Treppe und hielt einen Moment inne, dann schaute sie über ihre Schulter zurück und ihr Blick fiel auf mein Gesicht. Sie lächelte - ein kurzes, verschmitztes Grinsen -, drehte sich um und verschwand im Treppenhaus. Es war so schnell gegangen, dass ich dachte, ich hätte es mir eingebildet, aber nein, sie hatte mich angelächelt.

Als die letzten Sirenen mit Ausnahme der Foniádes den Raum verlassen hatten, erhob ich mich von dem Steinsitz, den ich gefunden hatte, und schaute meine Mutter hoffnungsvoll an. Aber sie winkte die Foniádes zu sich.

„An der südöstlichen Grenze”, sagte meine Mutter, ihre ersten Worte als neue Herrscherin, „fanden wir zwei Atlanter, die Uns bestahlen. Enya erlaubte ihnen, innerhalb unserer Grenzen zu grasen, aber das wird während Unserer Herrschaft nicht mehr geduldet werden. Das neue Edikt besagt, dass es keinem Atlanter erlaubt ist, in Unserem Gebiet zu wildern. Findet die beiden, denn ich bin sicher, dass sie inzwischen zurückgekehrt sind. Bringt sie zu mir.”

Die Foniádes drehten sich um und gingen fort. Ich kämpfte gegen den Drang an, mich an die Wand zu drücken, als sie vorbeigingen, aber sie nahmen keine Notiz von mir.

Apollyona stand mit dem Rücken zu mir, stumm und scheinbar in Gedanken versunken.

„Mutter?” Meine Stimme klang klein und verloren in dieser Höhle.

Apollyona schaute über ihre Schulter, als ob sie sich erst jetzt daran erinnerte, dass sie eine Tochter hatte. Sie straffte die Schultern und winkte mich zu ihr. „Was gibt es, Bel?”

Ich wollte zu ihr rennen, ich wollte meine Arme um sie werfen, und aus einem unerklärlichen Grund wollte ich Sirenentränen vergießen, bis ich mich besser fühlte. Aber Apollyona verachtete diese Art von „Schwächeanfall”, und das Wichtigste auf der Welt für mich war, ihr zu gefallen. Also näherte ich mich, die Hände verschränkt, langsam und nach außen hin ruhig.

„Was passiert hier?”

Sie schaute auf mich herab, und die funkelnden Juwelen auf ihrem Kopf und die Kette an ihrem Hals verliehen ihr mehr königliche Ausstrahlung als jeder menschlichen Königin, die ich auf Gemälden an Land gesehen hatte, obwohl ihr Gewand einfach und ihre Füße nackt waren.

„Ich bin deine Herrscherin”, antwortete sie. „Geh und mach dich mit deinem neuen Zuhause vertraut. Und halte dich von Ärger fern.”

Das war alles? Ich blinzelte sie verwirrt an.

Sie legte mir eine Hand auf die Schulter und ihre Stimme wurde ein wenig wärmer. „Du bist zu jung, um einen Edelstein zu brauchen. Wenn es so weit ist, komm zu mir.” Damit küsste sie mich auf den Kopf, das einzige Zeichen von Zuneigung, das ich seit meiner Ankunft auf Okeanos von ihr oder jemand anderem erhalten hatte. „Und jetzt geh und lerne deine Sirenenschwestern kennen. Ich habe Dinge zu erledigen.”

Damit wandte sie sich ab und verließ den Raum durch einen Bogengang hinter dem Thron. Ich sehnte mich danach, ihr zu folgen, um zu sehen, was sie als Herrscherin zu tun hatte, um alles über meine neue Heimat, über die Foniádes und über die blauhaarige Sirene zu erfahren. Vor allem aber wollte ich einfach bei ihr sein, als ihre Tochter. Meine Mutter war nie perfekt gewesen und hatte mich nicht gut ausgebildet, aber sie liebte mich auf ihre Art. Sie war meine erste Liebe, und ich hatte das Gefühl, sie in einem Alter verloren zu haben, in dem ich mein eigenes Wesen kaum verstand. Ich wollte Polly zurück.

Aber es würde nicht mehr so sein, wie es gewesen war, und die schmerzlichste Lektion meines jungen Lebens war, dass sich alles verändert.

Ich wünschte mir bitterlich, ich hätte mehr auf alles geachtet, was Polly je zu mir gesagt hatte, als wir nur zu zweit gewesen waren. Ich wünschte, ich hätte die mit ihr verbrachten Momente in mich aufgesogen, den Klang ihrer Stimme genossen, dem Klopfen ihres Herzens in den seltenen Momenten gelauscht, in denen sie mich im Arm gehalten hatte. Ich hatte etwas verloren, von dem ich dachte, dass ich es nie verlieren könnte, und niemand hatte mich davor gewarnt - nicht einmal Polly.

In vielerlei Hinsicht traf mich Apollyonas Aufstieg zur Königin von Okeanos wie ein Todesfall. Polly war tot, und die Sirene, die auf dem Thron saß, sah zwar aus wie sie und klang auch wie sie, war ihr aber in Wirklichkeit ganz und gar nicht ähnlich.

Ich wurde die Tochter von allen und von niemandem, die Verantwortung von allen und von niemandem, für den Rest meiner Kindheit.

Kapitel 3

Das Leben als präpubertäre Sirene in Okeanos war sicher, einfach und geschützt. Die Jahre vergingen, und ich näherte mich dem Zeitpunkt, an dem ich meinen ersten Paarungszyklus haben sollte. Erst nachdem ich einen vollständigen Zyklus abgeschlossen hatte, würde ich meinen Edelstein erhalten.

Inzwischen hatte ich gelernt, dass Sirenen von Natur aus Nomaden sind, auch die Bewohnerinnen von Okeanos. Das Gebiet von Okeanos ist riesig, größer als die meisten europäischen Länder, und die Sirenen hatten das Sagen. Es war nicht ungewöhnlich, dass eine Sirene monatelang verschwand, um dann wieder aufzutauchen und den anderen von ihren Abenteuern zu berichten, bevor sie wieder verschwand. Das Umherstreifen und Erkunden lag in unserer Natur, und es gab so wenige Raubtiere, die uns angreifen konnten, dass wir allein weit herumzogen und vor nichts Angst hatten.

Es war unwahrscheinlich, dass uns die großen Haie des Ozeans angreifen würden, obwohl ich erst viel später in meinem Leben und dank eines gewissen Ozeanographen erfuhr, warum. Die einzigen Raubtiere, die wir fürchten mussten, waren so selten, dass kaum eine Sirene sie je gesehen hatte - der Riesenkalmar und der Krake.