Tochter des Ozeans - A.L. Knorr - E-Book
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Tochter des Ozeans E-Book

A.L. Knorr

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Beschreibung

Das Geheimnis von Atlantis. Targa und Mira wissen endlich um ihre Vergangenheit. Sie wissen um den Krieg zwischen Meerjungfrauen und Atlantern, und um den Fluch, der die Meerjungfrauen immer wieder ins Meer reißt, und ihnen ihren Verstand raubt. Zusammen fassen die beiden einen kühnen Plan. Sie wollen den Krieg beenden, den Meerjungfrauen ihre Heimat wiedergeben, und den Fluch brechen. Aber wie? Es gibt nur einen Weg. Sie müssen das verschollene Atlantis finden, und das Geheimnis um seinen Untergang lüften. Doch es gibt noch ein weiteres Geheimnis. Eines, das Targa ihrer Mutter verschweigt. Denn Targa spürt, dass sie und die Schöpferin des Fluchs miteinander verbunden sind. Wodurch weiß Targa nicht, doch sie weiß, dass den Fluch zu zerstören, ihr eigenes Leben kosten könnte.

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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
Nachwort des Verlags
Hier geht es zu „Die Töchter der Elemente“ Band 0
Und hier geht es zum neuen A. L. Knorr Buch – Tochter der Blüten

TOCHTER DES OZEANS

Die Töchter der Elemente – Band 12

von A.L. Knorr

Impressum:

Titel: Tochter des Ozeans

Originaltitel: Salt and Sisters

Autor: A. L. Knorr

Verlag: VVM

Cover: Damonza

Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2022

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Nachwort des Verlags

Hier geht es zu Die Töchter der Elemente Band 0

Prolog

Weißer Kies knirschte unter Jozefs Schuhen, als er den langen Fußweg zur Villa seiner Familie hinaufging. Seit vierzig Jahren war er nicht mehr auf diesem Grundstück gewesen, und sein Magen verdrehte sich bei dem Gedanken, was es bedeutete, jetzt einen Fuß hierher zu setzen.

Claudius hatte ihn gefunden. Genauer gesagt, jemand, der im Dienste seines Vaters stand, hatte ihn gefunden und ihm die einzige Nachricht überbracht, die ihn zur Rückkehr nach Gibraltar veranlassen konnte.

Ihr Vater liegt im Sterben.

Die Seeluft ließ die Locken an seinen Schläfen wehen, als er vor der großen Doppeltür stehen blieb und die Augen schloss. Er hielt sich davon ab, den großen Messingklopfer mit dem Löwenkopf zu benutzen, aber nur knapp. Er mochte seinem Vater entfremdet sein, aber dies war immer noch sein Zuhause. Er betrat das Foyer und die Tür schloss sich leise hinter ihm. Trotz der Kluft, die Jozef all diese Jahre von Claudius getrennt hatte, war es ein gutes Gefühl, zu Hause zu sein.

Er hatte schon fast erwartet, dass der Duft von Gabrielas Backwaren ihn begrüßen würde, dass er ihr süßes, molliges Gesicht sehen würde, wie es ihn anlächelte. Aber Gabriela war vor siebenundzwanzig Jahren gestorben. Hin und wieder hatten sie Briefe ausgetauscht, unter der Bedingung, dass sie Claudius oder seinen Kumpanen niemals seinen Aufenthaltsort verriet - bis zu dem Tag, an dem er einen Brief von Gabrielas Tochter mit der traurigen Nachricht erhalten hatte, dass ihre Mutter an einer Lungenentzündung gestorben war.

„Master Drakief?“

Eine brüchige ihm unbekannte mürrische Stimme ertönte.

Jozef schaute zur Treppe, wo ein Mann in einem schwarzen Blazer auf dem Treppenabsatz stand. Die beiden Männer musterten einander.

„Sie müssen Herr Heller sein“, sagte Jozef.

Herr Heller war ein großer, dünner Mann mit schneeweißem, kurzgeschorenen Haar. Heller ging die wenigen Stufen vom Treppenabsatz hinunter ins Foyer und reichte Jozef die Hand.

„Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt“, sagte er mit einem starken Akzent. Er lächelte, aber sein Blick war eiskalt. „Dass Sie Ihren Vater vernachlässigt haben, hat ihm nicht gutgetan, wie Sie sehen werden. Wären Sie früher nach Hause gekommen, würde er vielleicht nicht so leiden.“

Jozef ließ die Hand des Mannes los und wusste nicht, ob er über dessen anmaßende Unverschämtheit lachen oder einen Versuch unternehmen sollte, sich zu verteidigen. Stattdessen verschloss er sein Gesicht. Plötzlich fühlte es sich nicht mehr gut an, zu Hause zu sein. Dieser Mann mochte in den letzten Jahren Claudius’ Betreuer gewesen sein, aber er wusste nichts über Jozef oder über das, was einen Keil zwischen Vater und Sohn getrieben hatte. Er bezweifelte, dass Heller überhaupt die wahre biologische Natur des Mannes kannte, um den er sich kümmerte.

Bei diesem Gedanken überkam Jozef wieder dieselbe kalte Verwunderung, die ihn schon auf dem Hinflug geplagt hatte - warum starb sein Vater? Als Atlanter war Claudius mit einer viel längeren Lebensspanne gesegnet als ein Mensch. Jozef kannte Atlanter, die dreihundert Jahre alt waren. Sein Vater hatte nur etwas mehr als die Hälfte davon erreicht. Jozef war geboren worden, als Claudius siebzig Jahre alt war, und in jeder Erinnerung an seinen Vater sah er immer einen eisenharten, vitalen Mann.

„Ich bringe Sie in sein Zimmer.“ Herr Heller drehte sich um und führte Jozef die Treppe hinauf. Er hielt inne und warf Jozef wieder einen eiskalten Blick über die Schulter zu, als würde er ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf schütten wollen. Er sprach mit einer kaum verhohlenen Verachtung, seine Oberlippe kräuselte sich. „Es sei denn, Sie möchten sich lieber etwas frisch machen, vielleicht einen Tee trinken?“

„Ich kenne den Weg, danke.“

Jozef ließ ihn auf der Treppe stehen. Dieser Empfang war kein gutes Vorzeichen für die Begegnung mit seinem Vater. Claudius hatte Heller wohl nichts Gutes über ihn erzählt.

Als er durch die große Villa zur persönlichen Suite seines Vaters ging, merkte er, dass er seine Erinnerungen sorgfältig voneinander trennte. Claudius war ein wunderbarer Vater gewesen, als Jozef noch ein Junge war. Er hatte ihn streng, aber liebevoll erzogen und ihn auf seinen Weg zum Ozeanographen vorbereitet. Er hatte seine eigene Hoffnung, Jozef in seine Investitionstätigkeit einzubeziehen und seinen leidenschaftlichen Wunsch, die Ruinen der Heimatstadt ihres Volkes zu finden, gebremst. Stattdessen hatte er seinem Sohn erlaubt, der Leidenschaft seines Herzens zu folgen.

Bis Jozefs Leidenschaft die Form einer schönen Sirene namens Bel angenommen hatte.

Er hielt vor der Tür zum Schlafzimmer seines Vaters inne und holte tief Luft. Dann schob er sich hinein und ging lautlos über den dicken Teppichboden auf das Himmelbett zu.

Claudius schlief, und das war auch gut so, denn Jozef hätte eher die Flut aufhalten können, als den Schock über seinen Anblick zu verbergen. Wie sehr war sein Vater gealtert, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten!

Claudius hatte den größten Teil seiner Haare verloren. Die rosafarbene Haut seines Schädels zog sich dünn über seine Kopfhaut und die Knochen seines Gesichts. Seine Wangen und seine Stirn waren mit Altersflecken übersät, und die Hände, die auf der roten Bettdecke ruhten, waren knochig und knotig von Arthritis. Seine Augen waren geschlossen, und sein Gesicht war leicht abgewandt.

Jozefs Augen quollen über vor Tränen und er legte eine Hand auf den Mund, um das Geräusch seines Atems zu dämpfen. Seine Brust fühlte sich eng an, als eine Flut der Trauer in ihm aufstieg wie eine Blase in einem Sumpf. Jozef gab ein Geräusch von sich, das wie ein erstickter Husten klang.

Bei dem Geräusch hoben sich Claudius’ Augenlider. Langsam drehte er den Kopf, als ob er auf einer rostigen Achse säße, die dringend Öl bräuchte. Seine ehemals leuchtenden Augen waren wässrig, das Weiße gelblich gefärbt. Doch was Jozef in ihnen sah, verursachte einen weiteren lähmenden Schmerzanfall.

Sie waren voller Liebe.

„Mein Sohn.“ Seine Stimme war brüchig vor Alter. Er hob eine Hand und streckte sie aus.

Jozef kniete neben dem Bett nieder und ergriff die Hand seines Vaters. Claudius war immer kräftig, breitschultrig und unzerstörbar gewesen. Er hatte immer gerade gestanden, die Brust herausgestreckt, die Schultern zurückgenommen und ein ehrgeiziges Funkeln in den Augen gehabt. Jetzt erkannte Jozef die abgemagerte Gestalt kaum wieder, die einen dünnen Klumpen unter dem Bettzeug bildete. Jozef presste seine Stirn auf den Handrücken seines Vaters.

Claudius gab ein leises Geräusch von sich und legte seine andere Hand auf Jozefs Locken.

„Du bist nach Hause gekommen.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Seufzen. „Dann kann ich als glücklicher Mann sterben.“

Schuldgefühle durchfluteten Jozefs Körper, so dass er sich zittrig und schwach fühlte. Er hob den Kopf, um seinen Vater anzusehen, und merkte, dass er wegen der Enge in seinem Hals nicht sprechen konnte. Es war falsch von ihm gewesen, so lange wegzubleiben. Sein Vater hatte etwas Unverzeihliches getan, und doch... Er konnte nicht mehr wütend sein. Die Verbrechen seines Vaters waren alt, und sie spielten in diesem Augenblick keine Rolle mehr. Sein Vater lag im Sterben. Jozef wusste es jetzt auf eine Art und Weise, wie er es nicht hatte wissen können, als er in seinem ehemaligen Büro in Danzig gestanden und nur die Worte in Hellers handgeschriebenem Brief gelesen hatte.

„Du wärst ein hervorragender Geheimagent geworden“, sagte sein Vater mit dieser papiertrockenen Stimme. „Es war fast unmöglich, dich aufzuspüren.“

Jozef schnäuzte sich und fand Teile seiner Stimme wieder. „Ich weiß, wie ich nicht gefunden werden kann.“

Erst als er sich entspannt und zugelassen hatte, dass sein Name in einem Artikel über die Bergung der Sybella erwähnt wurde, hatten Claudius’ Mitarbeiter ihn ausfindig machen können - er war jetzt der ansässige Ozeanograph einer der besten Bergungsfirmen Europas.

Er hatte alle Versuche von Claudius’ Anwälten ignoriert, mit ihm über sein Erbe zu sprechen. Aber Hellers Brief hatte er nicht ignorieren können: Claudius lag im Sterben und...

...wenn Sie nicht den Rest Ihres Lebens in Reue leben wollen, müssen Sie sofort nach Gibraltar zurückkehren.

Jozef war in jener Nacht dabei gewesen, als Mira in die Ostsee gegangen war und ihre Tochter weinend am Strand zurückgelassen hatte. Mit angehaltenem Atem hatte er von den buschigen Bäumen aus zugesehen, wo der goldene Sand auf das dichte Gestrüpp traf, das den Strand von der Landstraße trennte. Er hatte sich wie ein Verbrecher gefühlt. Scham hatte in ihm gebrannt, weil er diesen privaten Moment zwischen Mutter und Tochter - beobachtet hatte, aber er musste es wissen: War die Frau, die Bel so ähnlich sah, aber charakterlich so anders war, seine Sybella?

Sie sah aus wie Bel, hatte das richtige Aussehen und ihre Größe, aber sie war von der Persönlichkeit her ganz anders. Sie sprach mit einem anderen Akzent, sie behauptete, erst in den Dreißigern zu sein, und schien sich an ihr Leben vor Kanada überhaupt nicht zu erinnern.

Der erste Schritt war, sich selbst zu beweisen, dass sie eine Meerjungfrau war. Sie war es. Er hatte es mit eigenen Augen gesehen, aber zu spät.

Als Jozef sich emotional mit der Tatsache abgefunden hatte, dass Mira fort war - wahrscheinlich für Jahre - ignorierte er den Brief nicht mehr. Er kündigte bei Novaks Bergungsunternehmen und nahm den ersten verfügbaren Flug nach Gibraltar.

„Wenn du deinem alten Vater verzeihen kannst“, sagte Claudius, „dann kann er ein friedliches Ende finden. Kannst du das tun?“

Jozef nickte und wischte sich die Tränen von den Wangen. „Ich vergebe dir, wenn es dir wichtig ist.“ Er sagte nicht, dass es Bel und ihr Volk waren, die Claudius um Vergebung bitten musste. Die Zeit für verletzende Worte war vorbei. „Verzeih mir, dass ich so lange weggeblieben bin.“

Claudius hustete leise. „Es ist gut, dass wir ein langes Leben haben. Wenn wir Menschen wären, hätte ich ein halbes Leben lang keinen Sohn gehabt. So aber bin ich dankbar für die jahrzehntelangen glücklichen Erinnerungen, die ich mit dir habe.“ Seine Finger umklammerten Jozefs Hand mit einer Heftigkeit, die ihn überraschte. „Wir haben zu spät gelernt, Jozef. Du musst vorsichtig sein.“

Einen Moment lang fühlte sich Jozef völlig verloren. Hatte Claudius auch einen Teil seines Verstandes verloren, als sein Körper versagte?

„Vater?“

„Loukas, er ...“ Claudius machte eine Pause, um Luft zu holen, und es war offensichtlich, dass ihn das Reden ermüdete. „Er hat die Entdeckung so spät gemacht. Zu spät für uns alle.“

Jozef runzelte die Stirn und fragte sich, warum sie über Loukas sprachen. „Was hat er herausgefunden?“

„Es ist nicht gut für uns, unser ganzes Leben an Land zu verbringen. Du musst mir versprechen, dass du im Meer schwimmen wirst. Salzwasser, es muss Salzwasser sein.“ Claudius hob den Kopf halb aus dem Kissen.

„Reg dich nicht auf.“ Jozef legte eine Hand auf Claudius’ Schulter. „Ich gehe oft schwimmen, Vater. Das habe ich immer getan. Ich liebe das Meer.“ Es war ein seltsames Gefühl, seinen eigenen Vater an seine Leidenschaft für das Wasser und alles Leben darin erinnern zu müssen.

„Loukas ist tot.“ Claudius ließ seinen Kopf wieder auf dem Kissen ruhen. „Und was ihn getötet hat, tötet jetzt mich.“

„Was meinst du?“

„Loukas nannte es eine auszehrende Krankheit. Ein menschlicher Arzt würde sie als MS diagnostizieren.“

„Multiple Sklerose?“

Claudius nickte. „Sie hat ähnliche Symptome, aber eine andere Ursache. Loukas begann sie gegen Ende seines Lebens zu erforschen, aber er wurde zu schwach, um seine Forschungen zu beenden. Seine frühen Forschungen zeigten, dass zu wenig Sonnenlicht unser Immunsystem schwächt. Wir fühlten uns berechtigt, wie Menschen zu leben. Aber ...“

Claudius hielt inne und holte ein paarmal tief Luft.

„Lass dir Zeit“, sagte Jozef und half ihm, einen Schluck aus dem Glas Wasser auf dem Nachttisch zu trinken.

Als Claudius fortfuhr, sprach er langsamer. „Aber er hat herausgefunden, dass zu wenig Salzwasser uns auf eine andere Weise zerstört.“ Sein Lachen wurde von einem Husten unterbrochen. „Was ist das für eine Ironie? Früher haben wir diejenigen verachtet, die ausschließlich im Meer lebten. Damit ist es jetzt vorbei.“

Jozef kam ein unangenehmer Gedanke. Wenn es stimmte, was sein Vater sagte, konnten die Atlanter weder an Land noch im Meer leben, sie brauchten immer beides - wie Amphibien. Jozef konnte sich an den selbstgefälligen und überlegenen Tonfall von Claudius' Freunden erinnern, als sie Loukas für seine Entdeckungen lobten und sich noch fester in ihr Leben an Land in Opulenz und Reichtum einlebten. Jozef fragte sich, wie viele dieser Mitglieder des inneren Kreises seines Vaters jetzt selbst an der Krankheit litten. Oder tot waren.

„Du musst dich ausruhen.“ Sanft drückte er die Hand seines Vaters. „Ich verstehe, dass ich auf mich aufpassen soll, damit ich nicht so leide wie du, aber glaube mir, Vater, du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen.“

„Ich werde mich bald ausruhen.“ Claudius schloss langsam die Augen und öffnete sie wieder. Seine Finger umklammerten Jozef mit einer neuen Energie und seine alten Augen brannten. „Ich habe bessere Nachrichten, mein Sohn.“

„Sollen wir später reden? Nachdem du zu Mittag gegessen hast?“

„Es gibt kein Später. Es gibt nur das Jetzt. Wir haben es gefunden, Jozef.“ Claudius lächelte seinen Sohn an, wobei sich tiefe Falten in seinen Augenwinkeln bildeten.

„Was gefunden, Vater?“

„Wonach ich mein ganzes Leben lang gesucht habe. Wir haben Atlantis gefunden.“

Jozef schenkte seinem Vater ein sanftes Lächeln, von dem er hoffte, dass es nicht zu bitter wirkte. „Das war Okeanos, das du gefunden hast, Vater, oder hast du das vergessen? Du hast bereits alles Wertvolle von ihm genommen. Es gibt kein Orichalcum mehr. Nach dem, was ich von deinen Anwälten gehört habe, gibt es dort vielleicht nicht einmal mehr irgendwelche Kunstwerke.“

Claudius schüttelte den Kopf. „Ich spreche nicht von Okeanos. Okeanos liegt auf den Azoren, wie du sehr wohl weißt. Atlantis liegt in Afrika. Es war einmal eine Küstenstadt, aber die Sahara hat ihre Ruinen im Laufe der Jahrhunderte verschluckt. Man kann es sogar vom Satelliten aus sehen!“ Er stieß ein weiteres trockenes Lachen aus, diesmal mit echtem Humor darin. Er schlug Jozefs Hand mit seiner eigenen, ein sanfter Schlag der Kameradschaft, und fuhr fort: „Es war die ganze Zeit über direkt vor unserer Nase!“

Jozefs Zweifel verringerten sich ein wenig, aber nicht sehr. „Woher weißt du, dass es Atlantis ist?“

Claudius wies mit der Hand auf eine Kiste auf dem alten Holztisch neben dem Fenster. „Dort, meine Akten.“

Jozef holte die lederbezogene Holzkiste heraus und setzte sich auf die Bettkante. Als er den Deckel öffnete, kam ein Stapel von Aktenordnern zum Vorschein. Er nahm den ersten in die Hand, öffnete ihn und blätterte durch die Unterlagen. Der Ordner war voll mit Artikeln, darunter sowohl getippte als auch handgeschriebene Seiten. Auf die Ränder der meisten Seiten waren Notizen gekritzelt, und es gab Fotos von sandig aussehenden Steinen und uninteressanten Trümmern.

„Der über Mauretanien.“ Claudius hustete leise, aber er lächelte. „Die Richat-Struktur.“

Jozef hielt beim Durchblättern der Seiten inne und starrte seinen Vater an. „Das Auge Afrikas?“

Er kannte diese Anomalie. Wissenschaftler hatten jahrzehntelang versucht, ihre Natur und Entstehung zu ergründen.

„Genau das“, sagte Claudius.

Jozef nahm das Satellitenbild mit der Aufschrift „Mauretanien” und „Richat-Struktur” in die Hand, legte die Schachtel beiseite und schaute das Bild an.

„Siehst du es?“, fragte Claudius nach einer Weile.

Jozefs Kehle schnürte sich zu, als er auf die bräunliche Einöde der Sahara und das unbestreitbar kreisrunde, in die Wüste geprägte Bauwerk starrte. „Aber so weit vom Meer entfernt …“ Er ließ seinen Blick über das Ödland zwischen den Ruinen von Atlantis und der Westküste Afrikas schweifen.

Claudius gab einen Laut von sich, der sowohl belustigt als auch ärgerlich sein konnte. „Wir haben Tausende von Kilometern Küstenlinie untersucht, aber nie daran gedacht, im Landesinneren oder gar in einer Wüstengegend nachzuforschen. In so vielen Jahrtausenden kann sich viel verändern. Aber alles in allem ist es gar nicht so weit vom Atlantik entfernt - nur fünfhundertfünfundachtzig Kilometer.“

Jozef konnte die konzentrischen Kreise, für die Atlantis berühmt war, erkennen. Es war eine Form, die nicht natürlich vorkam. Er erinnerte sich an Platons Beschreibung von Atlantis, denn sein Vater hatte sie ihm als kleiner Junge oft vorgelesen. „Abwechselnde Zonen von Meer und Land, größere und kleinere, die einander gegenseitig umschließen“, rezitierte Jozef. „Zwei aus Land, drei aus Wasser...“

Er und sein Vater beendeten das Zitat gemeinsam. „Wie auf einer Drehbank gedrechselt, wobei der Umfang in jeder Hinsicht gleich weit vom Mittelpunkt entfernt ist.“

„Siehst du die Bergkette auf der Nordseite?“

Jozef nickte. „Und auch die Spuren der Flüsse und Wasserfälle.“ Seine Kehle war eng. Seine Zweifel lösten sich auf.

„Und die Quellen?“ Jozef erinnerte sich an Platons Beschreibung, dass zwei Quellen die zentrale Akropolis von Atlantis speisten, eine mit heißem und die andere mit kaltem Wasser. „Hast du Hinweise auf diese Quellen gefunden?“

„Ja, wir haben Hinweise auf Süßwasser im Herzen und Salzwasser in der Umgebung.“

Jozef holte tief Luft und ließ sie langsam wieder los. Die Beweise reichten aus, und er wusste, dass sein Vater sie sehr sorgfältig zusammengetragen hatte. „Du hast es geschafft.“

„Mein zweitgrößtes Bedauern ist, dass ich es nie persönlich sehen werde“, sagte Claudius.

Jozefs Blick wanderte zu seinem Vater. „Und das größte Bedauern?“

Claudius hielt seinen Blick fest. „Das kennst du schon.“ Er klopfte Jozef sanft auf den Unterarm. „Du kannst damit machen, was du willst. Die Forschung gehört jetzt dir. Du hast hier die größte Entdeckung des Jahrhunderts auf dem Schoß, mein Sohn. Ich kann mir keinen Besseren vorstellen, um dieses Wissen zu verwalten.“ Seine Finger klammerten sich an Jozefs Arm. „Atlantis wird offiziell anerkannt werden müssen. Man kann es nicht länger als Mythos oder schlimmer noch, als Pseudogeschichte bezeichnen.“

„Ich freue mich darauf, das alles durchzugehen.“ Jozef klappte den Deckel der Schachtel zu und klopfte darauf. „Aber jetzt möchte ich, dass du dich ausruhst.“

Claudius’ verdrehte Finger griffen erneut nach Jozefs Hand. „Da ist noch etwas anderes, etwas...“ Er schien nach Worten zu suchen.

„Was ist los, Vater?“

„Ich möchte die Vergebung, die du deinem sterbenden Vater gewährt hast, nicht verlieren“, sagte Claudius, „aber es gibt etwas, das du sehen musst. Es ist besser, wenn du es selbst siehst, als dass ich meinen Atem verschwende, um es zu beschreiben...“

Sein Körper krümmte sich, als er von einem trockenen, hackenden Husten geplagt wurde. Für Jozef hörte es sich an, als wären Claudius’ Lungen mit Holz und Sägemehl gefüllt.

„Psssst.“ Jozef griff nach dem Glas Wasser, das neben dem Bett stand, und drückte es seinem Vater in die ausgestreckte Hand. Claudius hob das Glas an seine Lippen, deutete aber auf die Schublade des Nachttisches. Jozef zog die Schublade auf und fand darin einen an ihn adressierten Brief, aber die Adresse war eine Wohnung in Wolgograd, in der Jozef seit vierzehn Jahren nicht mehr gewohnt hatte. Der Umschlag war schwer.

Darin befand sich ein Satz von drei Schlüsseln, aber während zwei von ihnen einfache Messingschlüssel waren, war der letzte ein kleiner zylindrischer Schlüssel aus grauem Metall. Einen der Messingschlüssel erkannte er tatsächlich an seiner ungewöhnlichen, lilienförmigen Schleife - es war der Schlüssel zur Außentür von Loukas’ Laboratorien. Dem letzten Ort, an den Jozef jemals zurückkehren wollte.

Als er den Brief öffnete, fand er das Gekritzel seines Vaters.

Du musst sofort nach Hause kommen. Es gibt kein Duplikat des beigelegten zylindrischen Schlüssels und ein Leben hängt in der Schwebe ...

Die Worte waren manipulativ und wahnsinnig vage.

„Wessen Leben steht auf dem Spiel, Vater? Deines?“ Jozef schluckte einen Kloß im Hals hinunter. Gab es eine Möglichkeit, dass er diesen schrecklichen Tod hätte verhindern können, wenn er früher heimgekehrt wäre, wie Heller es behauptet hatte?

„Du musst es selbst sehen, mein Sohn. Die restlichen Schlüssel, die du brauchen wirst, liegen in meiner Schreibtischschublade.“ Claudius reichte Jozef das Glas Wasser, und seine Augenlider schlossen sich mit einem seltsamen Flattern. Selbst seine Pupillen schienen unterschiedlich groß zu sein.

„Dann ruh dich aus, das ist alles, was du jetzt tun musst.“ Jozef drückte seinem Vater einen Kuss auf die trockene, kühle Stirn.

Er verließ den Raum.

Die Schlüssel, die er in seine Tasche gesteckt hatte, fühlten sich unglaublich schwer an.

Kapitel 1

Antoni stieß einen langen, frustrierten Seufzer aus, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und rieb sich mit den Händen kräftig über die Augen.

„Läuft es nicht gut?“ Ich stellte mich hinter ihn und massierte seine Schultern.

Antoni hatte den größten Teil von zwei Tagen damit verbracht, die Fotos auf dem Tablet durchzublättern, das wir von den Winterthür Männern erhalten hatten. Seine Augen waren glasig und in den Augenwinkeln gerötet. Ein Haufen Papier mit handschriftlichem Gekritzel - seine Übersetzungsversuche - bedeckte den Tisch, als hätte ein kleiner Tornado ein Sammelalbum zerfetzt.

„Ich glaube nicht, dass ich das kann“, sagte er, nicht zum ersten Mal an diesem Morgen. „Ich beherrsche die Sprache einfach nicht gut genug, und wer auch immer diese Fotos gemacht hat, interessierte sich nur für die Position der Edelsteine und was sie bewirken können, nicht für die Geschichte dahinter.“

Ich schaute zu meiner Mutter hin, die in der Tür stand und sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen lehnte. „Bist du sicher, dass du es nicht versuchen willst?“

„Ich habe es dir doch gesagt, Sonnenschein. Die Schrift ist atlantisch, nicht die der Meerjungfrauen. Wir können von Glück reden, dass überhaupt einer von uns sie schon einmal gesehen hat.“

„Glück …“, murmelte Antoni nachdenklich.

Mom und ich sahen ihn an. Er hatte sein Haar zu Stacheln zerzaust und sah aus wie ein gestresster Igel.

„Du siehst aus, als hättest du eine Idee“, sagte ich.

„Lusi.“ Antoni sah zu mir auf, und ich setzte mich auf den Stuhl neben ihn, um seinen Hals zu schonen.

„Lusi?“ Ich wusste, wen er meinte, und ich war mir nicht sicher, warum ich so tat, als wüsste ich es nicht.

„Die Frau, die mir das Wenige, das ich weiß, beigebracht hat. Sie ist die Einzige, die uns helfen kann.“

Mira kam zu uns und setzte sich ihm gegenüber. „Aber wie können wir sie erreichen? Hast du ihre Telefonnummer?“

„Oder vielleicht eine E-Mail-Adresse?“ Meine Fingerspitzen fühlten sich ein wenig kühl an bei dem Gedanken, dass Antoni die Kontaktdaten seiner Ex behalten haben könnte. Ich ignorierte die Eifersucht, die leise an die Tür meines Herzens klopfte. Ich würde sie nicht hereinlassen. Die Sache war zu wichtig, und Antoni verdiente mein Vertrauen.

Antoni runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe ihr versprochen, dass ich nichts behalte.“

Ich legte den Kopf schief und sah meinen Liebsten an. „Das war seltsam, ihr das zu versprechen. Habt ihr euch gestritten?“

„Nein, wir haben uns in gutem Einvernehmen getrennt. Sie wollte nur ... nicht in Kontakt bleiben. Ich bin sicher, sie hatte ihre Gründe.“ Antonis Gesicht hellte sich plötzlich auf. „Aber wir brauchen ihre Telefonnummer nicht. Du kannst sie zu uns rufen.“

„Nur wenn ich ihren vollständen Sirenennamen kenne. Kennst du ihn?“

Sein Gesicht verfinsterte sich wieder. „Ich habe sie immer nur unter dem Namen Lusi gekannt; sie hat mir nie einen Nachnamen gesagt.“

„Tja, das war’s dann wohl mit dieser Idee.“ Mira lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und zog ein Knie hoch. Sie verschränkte ihre Finger über dem Knie und stützte ihr Kinn nachdenklich auf die Hände.

Antoni kaute auf seiner Wange, eine Falte erschien zwischen seinen Brauen. Er griff nach dem Tablet und ließ seine Finger über den Bildschirm tanzen. „Vielleicht nicht. Sie hat mir all diese Denkmäler in Warschau gezeigt und mir gesagt, dass sie sie darstellen.“ Seine haselnussbraunen Augen zuckten zu mir und Mom hin, während er Begriffe in die Suchleiste tippte. „Ich dachte natürlich, sie macht Witze.“

Eine Seite mit Text und Bildern erschien auf dem Bildschirm. Der Titel lautete „Die Meerjungfrau von Warschau”.

Ich rückte meinen Stuhl näher an Antoni heran, um besser mitlesen zu können.

Auf der rechten Seite waren zwei Bilder zu sehen. Das obere Bild zeigte ein Wappen mit leuchtend rotem Hintergrund hinter einer blonden Meerjungfrau mit einem erhobenen Schwert in einer Hand und einem Schild in der anderen. Über dem Wappen befand sich eine Krone und die Bildunterschrift lautete: „Das aktuelle Wappen von Warschau”.

„Wow“, hauchte ich. „Mom, komm und sieh dir das an.“

Mom trat an meine andere Seite und wir schauten uns den Artikel an.

Das Bild unter dem aktuellen Wappen war ein anderes, eher antik anmutendes Wappen. Es zeigte ein ähnliches Bild, aber in Grün mit einem Tier, das weniger eine Meerjungfrau als vielmehr ein Mischwesen war: eine Frau mit Schwanz und Drachenflügeln und seltsamen, entenartigen Füßen.

„Sie sagte, dieses sei gemacht worden, bevor man in Warschau einen Blick auf sie werfen konnte“, sagte Antoni und deutete auf das grüne Exemplar. „Hässlich, nicht wahr?“

„1652?“, sagte Mom halblaut, als sie die Überschrift las. „Wie alt ist sie eigentlich?“

„Die Kreatur erschien erstmals im Jahr 1390 auf dem Wappen“, las ich vor und zeigte auf die Stelle, an der das Datum stand. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken und ich starrte meine Mutter an. „Ist das möglich? Kann eine Sirene wirklich so lange leben?“

Mom hob eine Schulter, aber die Verwunderung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Warum nicht?“

„Seht euch all die Denkmäler an.“ Antoni scrollte mit seinem Daumen die Seite hinunter. „Ich kann immer noch kaum glauben, dass sie die Frau darstellen, die ich kannte.“

Auf der Seite waren fünf weitere Kunstwerke zu sehen, drei freistehende Statuen, die alle eine schöne Meerjungfrau mit einem über den Kopf erhobenen Schwert und einem Schild in der anderen Hand darstellten. Eins war ein Wappenschild, das an einer Mauer befestigt war und ebenfalls eine kämpfende Meerjungfrau zeigte. Die letzte war eine jüngere, schlichtere und moderne Statue, die in etwa die Form einer Meerjungfrau hatte, aber ohne Waffen.

„Geh nochmal an den Anfang, lass uns lesen, was da steht.“ Ich klopfte Antoni auf den Arm und er scrollte zurück nach oben.

„Die Legende der Warschauer Meerjungfrau“, las meine Mutter vor, während wir beide den Text überflogen. „Sie besagt, dass sie von einem Händler gefangen wurde, aber von Fischern gerettet wurde, und seitdem ist sie die Beschützerin der Stadt.“

Bei der nächsten Stelle musste ich lachen. „Die Statue der kleinen Meerjungfrau in Kopenhagen ist ihre Schwester!“

„Schaut.“ Antonis Stimme war seltsam atemlos. „Da steht es, schwarz auf weiß.“

Ich las den Text vor und die Haare in meinem Nacken richteten sich auf. „Das polnische Wort syrenka ist mit Sirene verwandt, aber eigentlich ist sie eine Süßwasser-Nixe namens Melusina.“

Antoni und ich tauschten einen ungläubigen Blick aus.

„Lusi“, sagte er und dann: „Melusina. Das muss es sein!“

Mom nickte. „Das ist ihr Name.“ Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber nachdem ich das alles gelesen habe, will ich unbedingt diese sechshundert Jahre alte Meerjungfrauenkriegerin kennenlernen, und das nicht nur wegen ihrer Fähigkeit, atlantisch zu lesen. Was ist mit dir?“

Zur Antwort konnte ich nur nicken.

Um Lusi zu rufen, ging ich hinunter zum Strand und zu dem Steinvorsprung, von dem aus ich auch meine Mutter gerufen hatte. Bei Sonnenuntergang ließ ich mich dort auf den Steinen nieder. Meine Füße baumelten im Wasser. Ich schloss die Augen und stimmte mich auf das Rauschen des Wassers ein. Die Wellen plätscherten sanft gegen die Steine und rauschten leise gegen den Sandstrand hinter mir. Ich ließ meine Gedanken über die Wasserlinie hinaus in die klangreiche Unterwasserwelt schweifen.

Melusina.

Mein Geist sandte das Wort wie eine stille Schockwelle durch das Wasser.

Zuerst war nichts zu hören. Nichts als das Klicken, Schnappen und Plätschern der Unterwasserwelt.

Melusina.

Mein Ruf wurde dringlicher.

Ich konnte nicht sagen, wie lange ich wartete oder wie oft ich um ihre Aufmerksamkeit bat, aber als sie endlich reagierte, wehrte sie mich heftig ab. Ihr Widerstand überraschte mich. Als ich Mom gerufen hatte, war sie nicht in der Lage gewesen, sich zu wehren. Vielleicht war Lusi stärker, weil sie so alt war. Alt und stark. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich schon bei den ersten Rufen gehört und schlicht ignoriert hatte. Wie fühlte es sich wohl an, wenn ein fremder Geist in jemandes Gedanken eindrang und ihn beim Namen rief? Ich schob den Gedanken beiseite und konzentrierte mich wieder. Anstatt sie einfach zu mir zu rufen, versuchte ich, ein wenig tiefer in unsere Verbindung einzudringen.

Wir brauchen dich.

Ich spürte ihre hartnäckige Weigerung, meine Anwesenheit auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

Ich werde nicht weggehen, dachte ich. Entschuldigung, fügte ich nach einer Weile hinzu.

Diese Art der Kommunikation war nebulös und kompliziert. Ich wünschte, ich könnte ihr genauer erklären, warum ich sie störte, aber ich wusste, dass ich sie nur weiter verwirren und verärgern würde.

Ich bat sie, herzukommen, und hörte nicht auf, sie zu bitten, bis sie zähneknirschend zustimmte. Sie war nicht glücklich darüber. Ich konnte ihren Unmut ebenso deutlich spüren wie meinen eigenen Widerwillen, ihr Leben zu stören.

Aber sie würde kommen, und das war alles, was zählte.

Als ich die Augen öffnete, brach die Welt wieder über mich herein. Geräusche drangen an meine Ohren und der Wind zerrte an meinem Haar. Es war dunkel, und am indigoblauen Horizont blinzelten ein paar Sterne. Ich stand auf, fühlte mich steif und machte mich auf den Weg nach Hause.

Auf der Straße, auf halbem Weg zwischen dem Felsvorsprung und dem hinteren Tor, das zur Ecke des Hofes führte, sah ich Antoni. Als er mich entdeckte, blieb er stehen und ließ mich zu sich kommen.

„Ich habe mir schon Sorgen gemacht.“ Er gab mir einen Kuss auf die Lippen, legte einen Arm um meine Schultern und drehte sich mit mir zum Haus um.

„Es hat eine Weile gedauert.“

„Aber du hast es geschafft? Du hast sie erreicht?“ Antoni schaute auf mich herab, während wir gingen, sein Gesicht wurde von den Lichtstrahlen einer nahen Straßenlaterne halb erhellt. Er sah besorgt aus.

„Ich habe sie erreicht.“

„Weißt du, wie lange es dauern wird, bis sie da ist?“

„Bald. Tut mir leid, das ist das Beste, was ich tun kann.“

„So kryptisch.“ Antoni versuchte zu lächeln.

„Worüber machst du dir Sorgen?“, fragte ich, obwohl ich es schon zu wissen glaubte.

Antoni atmete aus und sein Lächeln verschwand. „Es ist komisch, oder? Eine Ex zu treffen? Ich will nicht, dass es peinlich wird.“

„Das wird es sein.“ Ich war wie immer ehrlich. „Aber das ist nicht deine Schuld. Du hast eine Ex, sie ist zufällig eine Sirene, eine, die wir brauchen. Ich bin dankbar, dass du sie getroffen hast. Hättest du sie nicht getroffen, wären wir an diesem Rätsel gescheitert.“

Er räusperte sich, als wir das Tor erreichten, und hob den Riegel an, um das Tor aufzuschwingen und mich zuerst durchzulassen.

„Kann ich irgendetwas tun, um es dir leichter zu machen?“, fragte er.

Diese Frage war schwierig zu beantworten. Ich wollte, dass sie wusste, dass ihre Beziehung vorbei war und nie wieder aufleben würde. Ich wollte, dass Antoni mir in ihrer Gegenwart liebevolle Blicke zuwarf, dass er mich heimlich - und nicht so heimlich - mit seinen Fingerspitzen berührte. Ich wollte, dass sein Blick flach und emotionslos war, wenn er sie ansah.

Das alles war natürlich Unsinn. Mein Verstand wusste das. Ich glaubte irgendwie nicht, dass ich so empfinden würde, wenn Lusi eine menschliche Frau gewesen wäre. Aber Lusi war kein Mensch. Sie war eine Meerjungfrau, und zwar eine sehr alte und erfahrene.

„Du machst doch schon alles“, sagte ich schließlich. „Es ist eine Beziehung, die du an der Uni hattest, du musst nichts tun. Es ist ein Glück, dass du sie überhaupt kanntest, auch wenn du nicht wusstest, was sie war.“

Antoni sah immer noch unglücklich aus. „Ich komme mir dumm vor.“

„Warum?“ Ich hielt ihn auf und legte meine Hände auf seine Arme.

„Weil sie mir gesagt hat, wer sie ist. Schlicht und ergreifend. Sie zeigte mir die Kunstwerke in der Stadt und brachte mir sogar ein paar Brocken einer Sprache bei, die ich für erfunden hielt. Aber es war alles echt! Sie wusste, dass ich ihr nie glauben würde, also fügte sie immer wieder etwas hinzu, das wie ein Märchen klang.“ Er verzog schmerzlich das Gesicht. „Das ist peinlich.“

Ich streckte mich und umarmte ihn. In diesem Moment verflüchtigten sich all die widersprüchlichen und irrationalen Gefühle - die Eifersucht, die Unsicherheit, die Unbehaglichkeit. Nichts war wichtig, außer dass es ihm gut ging.

„Du musst dich nicht dumm fühlen. Du hast nur so reagiert, wie jeder Mensch reagieren würde. Die Welt weiß nicht, dass wir existieren.“

„Nun, irgendjemand in Warschau weiß es, warum sonst würden all diese Künstler Lusi - eine echte lebende Meerjungfrau - auf ihren Wappen und in ihren Parks abbilden?“

Ich ließ Antoni los und trat einen Schritt zurück. „Wir können sie fragen, wenn sie ankommt.“

„Ich liebe dich“, sagte er plötzlich.

„Ich weiß.“

Schweigend überquerten wir den Hof und betraten das Haus, um den anderen zu sagen, dass sie sich auf einen sehr wichtigen Gast vorbereiten sollten.

Kapitel 2

Die rumpelnden Töne eines Motorrads wurden lauter, als sich eine Maschine näherte, die sich anhörte, als sei sie unsanft aus einem Nickerchen geweckt worden.

Als eine schlanke Gestalt auf einem antiquierten Motorrad durch das offene Tor des Novak-Anwesens einbog, stand ich von meiner Stufe auf der Eingangstreppe auf. Hinter mir öffnete sich die Eingangstür des Anwesens und meine Mutter trat heraus. Sie kam die Treppe hinunter und wir gingen gemeinsam auf den runden Platz vor dem Anwesen, wo die Fahrerin ihr Motorrad anhielt. Sie kippte den Ständer nach unten und stützte das Motorrad damit ab.

Die Zeit stand still, als die Frau zuerst zu Mom und dann zu mir hinschaute.

Es war unmöglich, ihr Gesicht hinter dem glänzenden blaugrünen Helm mit der schwarzen Gesichtsplatte zu erkennen. Sie war in dunkelbraunes Leder gekleidet. Ihre Stiefel waren bis zur Mitte des Schienbeins geschnürt. Die schwarzen Lederhandschuhe, die ihre Hände bedeckten, sahen weich und gut abgenutzt aus. Sie zog sie zuerst aus, ihre Finger waren lang und dünn und ihre Haut so blass wie meine. Ihre Hände wanderten hinauf zum Riemen ihres Helms, der seitlich unter ihrem Kinn befestigt war.

Als sie den Helm abnahm, fiel eine Strähne blonden Haares heraus, jedoch nicht weit, da sie bis knapp unter die Ohren abgeschnitten war. Entweder war ihr Haar von der langen Reise extrem zerzaust, oder sie hatte es selbst mit einer stumpfen Klinge geschnitten, sodass die Kanten rau und ungleichmäßig waren. Es hatte die Farbe von Weizen, aber als das Sonnenlicht durch die Bäume fiel, schimmerte es eher silbern als golden. Es fiel ihr so weit ins Gesicht, dass ich ihre Gesichtszüge nicht deutlich erkennen konnte. Sie stieg von ihrem Motorrad, drehte uns den Rücken zu und hängte den Helm über einen der Lenker. Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare und schien erst einmal durchzuatmen, bevor sie sich uns zuwandte.

Zum ersten Mal konnte ich einen Blick auf die älteste Meerjungfrau werfen, von der ich je gehört hatte, möglicherweise die älteste, die überhaupt am Leben war.

Sie sah nicht glücklich aus.

Zwei gerade Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie uns anschaute. Die Augen darunter waren so grün wie Smaragde und genauso hart. Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke, und ich sah das Aufblitzen von Metall unter einem Arm. Ich warf einen Blick auf Mom, hatte aber keine Zeit zu fragen, ob sie es ebenfalls gesehen hatte, bevor Lusi uns erreichte.

Sie war größer als wir beide, schlank, langbeinig, breitschultrig für eine Frau und mit kräftig aussehenden Schenkeln, über denen sich ihre Lederhose spannte. Ihr Gesicht war wunderschön, das war nicht zu leugnen, aber irgendetwas daran machte es mir schwer, sie anzuschauen. Ich schaute nicht weg, aber es kostete mich Anstrengung. Lusis Haut hatte das Aussehen von poliertem Marmor, als würde sie sich kalt und hart anfühlen, wenn ich den Mut hätte, sie zu berühren. Abgesehen von einer geraden Narbe auf ihrer Oberlippe und einer weiteren am Hals war ihre Haut glatt und makellos. Dennoch konnte ich ihr Alter hinter ihren Augen sehen.

Sie blieb vor uns stehen und schaute von mir zu meiner Mutter und wieder zurück.

„Ich habe schon viele ungewöhnliche Tage erlebt“, sagte sie, und mein Mund öffnete sich vor Überraschung. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Raspeln trockener Luft, die durch eine enge Kehle strömte. Erschrocken schaute ich auf ihren Hals, und da bemerkte ich eine dritte Narbe. Eine dünne, weiße Linie verlief über ihre Luftröhre.

„Aber der hier ist wirklich mal etwas anderes“, fuhr sie in diesem heiseren Ton fort. Ihr Blick fiel auf Mom, die rechts neben mir stand. „Die Herrscherin.“ Ihr Blick wanderte zurück zu mir. „Und ein Element.“

Sie trat einen Schritt näher und schaute auf mich herab. Unsere Blicke trafen sich und blieben haften, ihrer war furchtsam und doch neugierig. Sie fletschte ihre Zähne, als sie sprach.

„Du hast mich gerufen.“

Endlich fand ich meine Stimme. „Ich entschuldige mich dafür, dass ich dich gestört habe bei ... was auch immer du gerade getan hast, aber wenn du den Grund erfährst, wirst du es hoffentlich verstehen.“