Tochter des Windes - Der Fantasy Bestseller - A.L. Knorr - E-Book

Tochter des Windes - Der Fantasy Bestseller E-Book

A.L. Knorr

4,0

Beschreibung

Die Töchter der Elemente - Die preisgekrönte Urban Fantasy Serie aus Kanada jetzt auf Deutsch! Das mächtigste Mädchen von allen. Petra kann Gedanken lesen. Eine Fähigkeit, die sie lieber unterdrückt. Anstatt ihre mysteriösen Kräfte zu erforschen, konzentriert sich auf ihren großen Traum – Saltford zu verlassen und Archäologie in Cambridge zu studieren. Das Geld dafür hat sie beisammen. Jetzt fehlt ihr nur noch eines: Ausgrabungserfahrung. Als sich Petra die Möglichkeit bietet den Sommer über an einer Ausgrabung in der Sahara teilzunehmen, ist sie außer sich vor Freude. Doch bald schon wird klar, dass in der Wüste etwas Seltsames vor sich geht. Wenn Petra sich und ihr Team retten will, dann hat sie keine andere Wahl als ihre wahre Macht zu nutzen und sich ihren Kräften zu stellen. Petra weiß es noch nicht, doch ihr Schicksal ist mit dem unserer vier Freundinnen verbunden. Denn sie ist die fünfte Tochter. Die Tochter des Windes.

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Epilog
Zum letzten Band!

TOCHTER DES WINDES

Die Töchter der Elemente – Band V

von A.L. Knorr

Impresssum:

Titel: Tochter des Windes

Originaltitel: Born of Air

Autor: A. L. Knorr

Verlag: VVM

Cover: Damonza

Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2021

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Epilog

Zum letzten Band!

Prolog

Saltford, Silvester 1997

Die Nacht war klirrend kalt, und die Sterne funkelten von einem schwarzen Himmel herab, der vor Klarheit fast zerbrechlich wirkte. Amin, der seit fast zwanzig Jahren der Hauptverwalter des St. Joseph's Krankenhauses war, zog gerade die Autoschlüssel aus seiner Jackentasche, als er Schritte hinter sich hörte.

„Amin, warte!“ Eine rotgesichtige Krankenschwester lief außer Atem und mit einer Hand über dem Herzen auf ihn zu.

„Immer mit der Ruhe, Irene“, sagte Amin und hielt sie am Ellbogen fest. Seine buschigen grauen Brauen zogen sich besorgt zusammen. Irene war keine junge Frau mehr, und ihr Umfang hatte sich in den zwölf Jahren, in denen sie nun schon zusammenarbeiteten, deutlich geweitet. „Alles in Ordnung?“

Irene und Amin waren zwei von nur einer Handvoll Mitarbeitern des Krankenhauses, die einander beim Vornamen nannten und der Krankenhaushierache keine Beachtung schenkten. Das war der Grund dafür, dass Irene geschickt worden war, um Amin zu holen, und nicht irgendeine andere Krankenschwester.

Irene schüttelte keuchend den Kopf. „Es tut mir leid, ich weiß, du bist auf dem Heimweg und es ist Silvester, aber wir haben eine Situation, bei der wir deine Hilfe brauchen.“

„Natürlich.“ Amin wartete, während die Krankenschwester zu Atem kam.

„Wir haben eine junge Frau in der Notaufnahme, die in den Wehen liegt. Sie spricht kein Englisch. Wir denken sie spricht Arabisch, aber das ist schwer zu sagen. Du sprichst doch Arabisch, oder?“

Amin runzelte die Stirn. „Meine Eltern sprachen es, aber ich habe das meiste vergessen.“

„Das ist mehr als irgendjemand sonst hier von sich sagen kann. Hilfst du uns?“

Amin nickte, und die beiden liefen zurück zum Hintereingang des Krankenhauses, während Irene Amin die Details erklärte: „Ein junges Paar hörte auf dem Heimweg ein verzweifeltes Schluchzen. Sie entdeckten sie in einem Gebüsch.“

„In einem Gebüsch?“, wiederholte Amin verwundert.

„Das haben sie gesagt“, schnaufte Irene, als sie den Eingang erreichten. Amin öffnete die Türen und ließ sie zuerst passieren. „Sie meinten, sie sei kaum hervorzulocken gewesen. Sie konnten sie überhaupt nur hierher bringen, weil ihre Fruchtblase geplatzt ist und sie ihnen nicht länger Widerstand leisten konnte.“

„Ist sie bei klarem Verstand?“ Amins Herz schlug ein wenig schneller, aber nicht vom Joggen über den Parkplatz.

Sie zogen Papierschuhe an und machten sich auf den Weg durch den Flur in Richtung Notaufnahme. Irene senkte ihre Stimme: „Sie ist nervöser als eine Katze in einem Raum voller Schaukelstühle. Aber ihre Ängstlichkeit ist nur ein Problem von mehreren. Ihre Knöchel und Hände sind geschwollen. Wir vermuten, dass sie präeklampsiekrank ist.“

Amin war Hausmeister, kein Arzt, aber er hatte lange genug im Krankenhaus gearbeitet, um genau zu wissen, was das bedeutete. Sein Magen zog sich zusammen. Wenn die junge Frau zu diesem späten Zeitpunkt eine Präeklampsie hatte, konnte nur wenig getan werden, um ihr zu helfen. Der Schwerpunkt würde auf der Rettung des Babys liegen.

„Ist sie obdachlos?“

Irene blies die Backen auf und schüttelte den Kopf. „Das wirst du dir selbst beantworten müssen, wenn du sie siehst.“

Sie eilten in die Notaufnahme und blieben vor einem Bett stehen. Die Frau, die dort lag, schwang den Kopf in ihre Richtung und keuchte. Selbst in ihrem verschwitzten Zustand war sie eine auffällig schöne Frau. Sie hatte einen langen Hals und große dunkle Augen. Ihre geschwollenen Finger waren über den Bauch gespreizt und teuer aussehende Ringe mit großen, farbigen Steinen schnitten ihr ins Fleisch. Gut möglich, dass die Ringe abgeschnitten werden mussten. Diamantklötze funkelten auch an ihren Ohrläppchen. Amin bezweifelte, dass der Schmuck gefälscht war. Die Frau erinnerte ihn an eine Skulptur, die er einmal in einem Geschichtslehrbuch gesehen hatte. Ihre Wangenknochen waren hoch und ihre karamellfarbene Haut makellos, abgesehen von den Falten ihres schmerzverzerrten Ausdrucks. Ihr dunkles Haar war im Nacken zusammengebunden, aber feuchte Strähnen hatten sich gelöst und klebten auf ihrem schweißnassen Gesicht. Ihre Lippen waren rot und sahen blütenweich aus. Sie schien keinen Tag älter als zwanzig zu sein. Ein weicher schwarzer Umhang aus feiner Wolle lag über ihren Schultern. Die Schuhe, die sie getragen hatte, waren ausgezogen worden. Amin konnte ihre geschwollenen Knöchel über dem Gummiband der Papierschuhe sehen.

Medizinisches Personal eilte um das Bett herum. Drei Ärzte standen mit dem Rücken zur Wand und bereiteten sich auf den Fall eines Kaiserschnitts vor.

„Min 'anat?“, fragte die Frau in levantinischem Arabisch. Wer sind Sie? Ihre Stimme zitterte, und Mitgefühl sank über Amin wie ein schwerer Mantel.

Er trat näher und zog sich die graue Strickmütze vom Kopf. „Mein Name ist Amin“, sagte er langsam. „Mein Arabisch ist alt“, entschuldigte er sich, „und ein wenig anders als Ihres.“

„Von wem wurden Sie geschickt?“ Sie schob die Arme schützend über ihren Bauch.

Amin war angesichts dieser Formulierung verwirrt und dachte, er habe sie vielleicht missverstanden. Sein Arabisch war fürchterlich eingerostet. „Schwester Irene hat mich geholt, weil ich Ihre Sprache spreche.“ Er streckte die Hand aus. „Ich bin hier Hausmeister. Wie lautet Ihr Name?“

Ihr Gesicht wurde ein wenig weicher, aber sie antwortete nicht. Dann kniff sie die Augen vor Schmerz zusammen, zog ihr Kinn zur Brust und stöhnte.

„Schwester“, sagte Amin alarmiert. Er war noch nie gut darin gewesen, Menschen mit Schmerzen zuzusehen, besonders Frauen. „Helfen Sie ihr.“

„Wir versuchen es“, antwortete einer der Ärzte. „Deshalb sind Sie hier. Können Sie sie überzeugen, dass wir sie aus ihren Kleidern herausholen dürfen? Wenn wir wenigstens so weit kommen ...“

Amin nickte. „Das Baby will kommen“, sagte er sanft zur Frau. „Das ist Irene.“ Er legte der Krankenschwester eine Hand auf die Schulter. „Sie ist eine gute Krankenschwester. Sie würde Ihnen gern beim Umziehen helfen.“

Zu seiner Erleichterung nickte die Frau, immer noch mit dem Gesicht nach unten. Sie begann zu hecheln wie ein Tier.

„Ich warte draußen“, sagte Amin. Er hielt inne, um dem Arzt zu sagen: „Sie klingt jordanisch.“

Der Arzt nickte. „Danke, ich werde mir eine Notiz machen. Das ist sehr hilfreich.“

Amin duckte sich aus dem Zimmer, damit sie die Frau aus den Kleidern schälen und ihr ein ordentliches Krankenhauskleid anziehen konnten. Er wartete und knautschte seine Mütze in den Händen, bis man ihn wieder hereinbat.

Als er den Raum betrat, ließ das Geräusch eines Hubschraubers, der irgendwo über dem Krankenhaus vorbeiflog, die Frau zusammenzucken. Ihr Blick huschte zum Fenster. Eine der Schwestern nahm ihr Blut ab und legte eine Hand auf ihre Schulter, um sie ruhig zu halten. Das gesamte Personal schaute ernst drein. Während Amin kurz draußen gewesen war, hatte man der Frau mehrere IV-Leitungen gelegt, die sich vom Bett aus in verschiedene Beutel mit Flüssigkeit schlangen.

„Es ist alles in Ordnung. Es ist nur ein ...“ Amin musste nachdenken, bevor er sich erinnerte, dass es kein arabisches Wort für Hubschrauber gab. Er sagte das englische Wort mit einem arabischen Akzent, hilykubtr. Er näherte sich dem Bett so weit, wie er meinte, dass sie es ihm erlauben würde.

„Würden Sie uns bitte Ihren Namen sagen?“, fragte Amin die Frau erneut.

Sie verdrehte keuchend die Augen. Einen Moment lang dachte er, sie würde nicht antworten. „Tala“, sagte sie schließlich.

„Ihr Name ist Tala“, sagte Amin zum Personal. Er lächelte die junge Frau ermutigend an.

„Danke“, sagte eine der Krankenschwestern.

„Tala“, hallte Irene wider und rieb Tala den Rücken. „Alles gut. Wir werden uns um dich kümmern.“

Ermutigt durch den Erfolg, ihren Vornamen erfahren zu haben, bemühte Amin sich um weitere Informationen. „Wie lautet Ihr Familienname? Gibt es jemanden, den wir für Sie kontaktieren können? Vielleicht den Vater?“

„Kein Vater!“, rief die Frau. Eine weitere Wehe ließ sie zusammenfahren. Sie öffnete ihre Augen, um ihn anzustarren. „Es gab keinen Vater! Nie einen Vater! Kein Vater!“

Amin blickte verwirrt zu Irene. „Sie sagt, es gäbe keinen Vater.“

„Kein Vater“, echote Irene. „Das wäre ja mal was Neues.“

„Eines der Symptome der Eklampsie ist Verwirrung“, meinte eine andere Schwester.

„Entweder das oder mein Arabisch ist schlechter als ich dachte.“ Amin schluckte hart, schaute die junge Frau an und fühlte sich hilflos.

„Am besten gehen Sie jetzt“, sagte Irene. „Wir wollen sie nicht noch mehr aus der Fassung bringen als sie bereits ist.“

Als Amin sich verabschiedete, folgten ihm die Schreie der Frau den Flur hinunter. Amin schritt im Wartezimmer auf und ab, genau wie es Tausende von werdenden Vätern vor ihm getan hatten. Siebeneinhalb Stunden verstrichen langsam, bevor Irene auftauchte. Mitternacht war vergangen, und das neue Jahr hatte begonnen. Amin hatte es kaum bemerkt. Er stand von seinem Stuhl auf, als Irene durch die Doppeltür kam, und sein Rücken protestierte mit einem Knarren.

„Ich dachte, du wärst nach Hause gegangen“, sagte Irene. Ihr Gesicht war blass und gezeichnet, ihre Schultern vor Erschöpfung gebeugt.

„Ich hatte gehofft, dass ich nach der Geburt wieder helfen könnte.“

„Vielen Dank, Amin. Das war sehr freundlich.“ Irene rieb sich über die Stirn. „Aber wir haben sie verloren.“

Amin setzte sich wieder hin, er fühlte sich plötzlich zu schwer für seine Beine an.

„Es war nichts zu machen. Wir versuchen jetzt ihre Papiere zu finden und in Erfahrung zu bringen, ob sie irgendwo anders eingeliefert wurde oder möglicherweise einen Arzt in der Stadt hatte.“

„Und das Baby?“

„Untergewichtig, aber ansonsten in Ordnung. Sie wird noch eine Weile auf der Intensivstation liegen.“

„Sie? Ein Mädchen?“

Irene nickte und holte ein zerknittertes Stück Papier aus ihrer Brusttasche. „Tala bat uns mit Gesten um ein Stück Papier und einen Stift, kurz nachdem du gegangen bist.“

Sie reichte ihm das Papier. „Was bedeutet das?“

Amin entfaltete die Seite, um die eleganten Strudel aus arabischer Schrift zu enthüllen, die von einer unruhigen Hand geschrieben worden waren. „Tala schrieb das gleich, nachdem ich ging?“

Irene nickte. „Das Letzte, was sie der Welt mitgeteilt hat.“

„Sie wusste, dass das Baby ein Mädchen ist. Es ist ein Name.“ Er las der Krankenschwester den Namen laut vor.

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„Petra Kara. Was für ein Vergnügen“, sagte Noel und stand hinter seinem Schreibtisch auf. „Ich habe mich gefreut, als ich sah, dass du einen Termin gebucht hast.“ Er richtete seine Anzugsjacke und wippte ein wenig auf den Zehenspitzen.

Ich lächelte meinen alten Therapeuten an. „Schön Sie zu sehen, Mr. Pierce.“

Sein Büro hatte sich nicht verändert. Alte Holztäfelungen, bedeckt mit staubigen Schiffsmalereien, säumten die Wände überall dort, wo es keine Bücherregale voller Fachliteratur gab. Hohe, verzogene Fenster mit kleinen, rautenförmigen Scheiben klapperten wegen des Regens, der von draußen auf sie einschlug. Der waldgrüne Teppich war nach etlichen Jahren von Schritten so abgenutzt, dass ein hellgrüner Weg von der Tür aus entstanden war, der zwischen den Sofas und Stühlen hindurch, um seinen Schreibtisch herum und wieder zur Tür hinaus führte.

Der Geruch seines Kölnischwassers erinnerte mich an das junge, verängstigte Kind, das ich gewesen war, als ich Noel Pierce zum ersten Mal getroffen hatte. Er war mein zugeteilter Therapeut während meiner Jahre in der Pflegefamilie gewesen, und obwohl ich mich anfangs gegen ihn gewehrt hatte, war er geduldig mit mir umgegangen. Er war darauf aus gewesen, sich mein Vertrauen zu verdienen, und wenn ich ehrlich sein sollte, hatte ich ihn vermisst, seit ich volljährig geworden war und nicht mehr kommen musste.

Er winkte mit der Hand und umkreiste seinen Schreibtisch, wobei er mir bedeutete, ich solle mich auf einen der Polsterstühle setzen. „Bitte keine Förmlichkeiten. Wir haben zu viel durchgemacht, als dass du mich noch Mr. Pierce nennen solltest.“

Er legte ein Bein über das andere und faltete die Hände im Schoß, wie ich es von ihm kannte.

„Sicher, Noel“, sagte ich und versank im weichen Polster meines Lehnstuhls. Dieses Treffen fühlte sich ein wenig anders an als früher, als ich noch minderjährig gewesen war. Anstatt als eine von der Regierung finanzierte Patientin und Mündel des Kinderbetreuungssystems kam ich nun als Erwachsene zu Noel und bezahlte die Sitzung mit meinem eigenen Geld. Ich hoffte sehr, dass es sich lohnen würde.

Ich fühlte, wie ein Papier in der Hintertasche meiner Jeans zerknitterte. Drei Dinge, die ich heute besprechen wollte, waren darauf notiert.

„Du bist jetzt seit über einem Jahr aus deiner Pflegefamilie raus“, sagte Noel. „Du bist nicht mehr verpflichtet, mich zu besuchen.“ Er schaute mich über das Drahtgestell seiner Brille hinweg an.

„Ich weiß.“ Ich schluckte und räusperte mich. „Aber ich brauche Hilfe, und Sie sind die einzige Person, mit der ich reden kann.“

„Nun.“ Er breitete seine Hände aus. „Ich fühle mich geschmeichelt. Was ist passiert?“

Ich hakte meine Finger ineinander. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte.

Noel spürte mein Zögern: „Warum bringst du mich nicht erstmal auf den aktuellen Stand? Wie erging es dir in den letzten achtzehn Monaten? Wie ich höre, arbeitest du im Museum für Meeresgeschichte?“

Ich nickte. „Ja.“

„Nun, das ist wunderbar. Gut gemacht, Petra.“

„Danke“, sagte ich. „Ich hatte mich an der Universität Cambridge beworben ...“

„Ich erinnere mich“, murmelte Noel.

Ich nickte. Natürlich tat er das. Er war derjenige, der mich am Telefon hatte weinen hören, nachdem ich zum Archäologiestudium zugelassen worden war und nicht hatte hingehen können, weil ich es mir nicht leisten konnte. Selbst mit dem Stipendium und den Ersparnissen, die Beverly, meine Pflegemutter, vor ihrem Tod für mich zurückgelegt hatte, war ich immer noch knapp bei Kasse.

„Ich habe mir das Jahr freigenommen, um zu arbeiten und zu sparen, und ich werde mich im Oktober erneut bewerben“, erklärte ich.

Noel runzelte die Stirn und stützte sein Kinn in die Hand. „Wir haben doch auch hier in Kanada gute Universitäten.“

„Ich weiß. Aber ...“

„Du willst auf die beste.“

Ich nickte. „Ich habe von Cambridge geträumt, seit ich ein kleines Mädchen war. Stephen Hawking, David Attenborough, Alan Turing.“ Ich zählte die berühmten Absolventen von Cambridge an meinen Fingern ab. „Prinz Zeid Bin Ra'ad, der jordanische Prinz und UN-Hochkommissar für Menschenrechte ging dorthin.“

Noel nickte. Er wusste, dass meine leibliche Mutter Jordanierin gewesen war. Sein Gesichtsausdruck sagte allerdings, dass er immer noch nicht überzeugt war.

„Außerdem waren Gertrude Caton-Thompson, Dorothy Garrod und Winifred Lamb auf Cambridge“, fuhr ich fort, und meine Stimme wurde lauter bei dem Gedanken, in die Fußstapfen dieser Pionierinnen der Archäologie zu treten – diese Frauen waren meine Heldinnen und Vorbilder.

„Vergiss nicht mindestens sechs bekannte sowjetische Spione“, sagte Noel grinsend.

„Sehr witzig.“

„Aber warum, Petra?“ Noel richtete sich auf. „Warum ist es so wichtig, in Cambridge zu studieren? Du könntest bereits jetzt, wo wir sprechen, an einer beliebigen Anzahl sehr guter kanadischer Universitäten studieren. Deine Noten sind erstklassig, zumindest ab der neunten Klasse. Ich bin sicher, wenn du einen Antrag auf ein Stipendium stellst ...“

„Es muss Cambridge sein. Wenn es eine Sache gibt, die mir Beverly beigebracht hat“, sagte ich, und meine Stimme brach beim Namen meiner verstorbenen Pflegemutter und des einzigen wirklichen Elternteils, den ich je gehabt hatte, „dann ist es, dass ich tun muss, was ich tun will, und zwar nach bestem Wissen und Gewissen.“

„Ich glaube nicht, dass sie meinte, du müsstest auf die teuerste Universität gehen“, widersprach Noel sanft.

„Aber ich habe die notwendigen Noten“, sagte ich und schob mich auf meinem Stuhl nach vorne. „Ich wurde angenommen. Das Geld ist nahezu mein einziges Problem.“

„Schon gut, schon gut.“ Noel tätschelte die Luft, so wie er es immer tat, wenn ich mich zu sehr aufregte. „Ich verstehe.“

„Danke“, sagte ich.

„Und was jetzt? Wie sieht dein Plan aus?“

„Ich habe gespart. Ich habe während meines freien Jahres im Museum gearbeitet.“ Und ich lebe in einer winzigen, zugigen Wohnung auf der zwielichtigen Seite der Stadt, fügte ich in meinem Kopf hinzu.

„Wie viel brauchst du?“

„Etwa 20.000“, sagte ich.

„Oh, wow“, machte Noel.

Ich wusste, was er dachte. Beverly hatte mir fast zehn Riesen hinterlassen. Da ich ein Jahr lang gearbeitet und gespart hatte, waren die Unigebühren keine unerreichbare Summe mehr. „Pfund“, fügte ich hinzu.

„Oh.“ Diesmal war sein Tonfall nicht mehr beeindruckt, sondern enttäuscht.

„Jährlich“, beendete ich mit einem leichten Zwinkern.

Er schloss seine Augen. „Petra“, begann er. „Wenn du dein Grundstudium und deinen Master auf Cambridge machst, könntest du dich über zehn Jahre und länger verschulden.“

„Ich habe bereits eineinhalb Jahre Studiengebühren zusammengespart“, warf ich ein.

Sein Gesicht war ausdruckslos. „Also was ist das andere Problem?“

„Wie bitte?“

„Du sagtest, Geld sei fast das einzige Problem“, erinnerte er mich.

Es konnte vorkommen, dass Noel einige Zeit brauchte, um die wichtigen Dinge aufzugreifen, aber es war sicher, dass er sie irgendwann aufgreifen würde.

Ich begann mit den ausgefransten Fäden am Riss in meiner Second-Hand-Jeans zu spielen. „Ich wurde an Cambridge zugelassen. Aber um dort ein Archäologiestudium beginnen zu können, ist Grabungserfahrung erforderlich. Eine Ausgrabung in der Alten Welt würde sich perfekt in meinem Lebenslauf machen. Das Problem ist, um an einer Ausgrabung mitmachen zu dürfen, muss man meistens zahlen. Das konnte ich mir nie leisten. Im Idealfall finde ich also eine Ausgrabung, an der ich mich freiwillig und kostenlos beteiligen kann.“

„Ist das so schwierig?“ Noel hob die Augenbrauen. „Du warst schon als Freiwillige bei Ausgrabungen, wenn ich mich recht erinnere.“

„Das war ich, aber diese Ausgrabungen wurden von Mr. Hatley organisiert, im Museum.“

Noel lachte. „Das klingt, als hättest du dich zu Tode gelangweilt. Was ist so schlimm daran, dass Mr. Hatley die Ausgrabungen organisiert hat?“

„Mr. Hatley arrangiert prähistorische Ausgrabungen in der Neuen Welt. Er ist nicht wie ... David“, sagte ich langsam.

Ich beobachtete, wie die Einsicht sein Gesicht überzog wie das Sonnenlicht der Morgendämmerung eine Landschaft. „Das kann ich nicht tun, Petra“, sagte er schließlich.

„Aber ich kenne sonst niemanden“, sagte ich und legte meine Hände zum Gebet zusammen. „Nur ein Anruf, das ist alles, worum ich Sie bitte.“

Noel seufzte und schloss kurz die Augen. Ich konnte ihn fast bis fünf zählen hören. Noels Bruder David war Archäologe, und er nahm an einer riesigen Ausgrabung teil. Ich hätte fast alles gegeben, um ebenfalls dort zu sein. Es war nicht das erste Mal, dass ich darum bat. Als ich sein Zögern spürte, drängte ich stärker: „Ich kann damit leben, wenn er nein sagt. Alles worum ich bitte, ist eine Gelegenheit, um ihn zu fragen.“ Ich holte tief Luft.

Noel schüttelte den Kopf. „Es tut mir aufrichtig leid, Petra, du weißt, ich würde alles für dich tun, was in meiner Macht steht.“

„Das steht in Ihrer Macht.“ Ich versuchte, den flehenden Ton aus meiner Stimme rauszuhalten und scheiterte. Komplett.

Noel faltete seine Hände. „Petra, weißt du, wo David jetzt gerade arbeitet?“

„Östlich von Bagdad“, sagte ich, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Noel wirkte überrascht, dass ich es wusste. „Ja. Und muss ich dich daran erinnern, wo das ist?“ Er schaute mich über den Rand seiner Brille an.

„Irak“, sagte ich. „Er hilft bei der Bergung einer durch den Golfkrieg beschädigten Stätte.“

Noels Stimme wurde atemlos, als ob die Bedeutung klar sein sollte. „Ja.“

Ich wusste, was er meinte. Der Irak war eins der kriegszerrüttetsten und instabilsten Länder, in die man derzeit reisen konnte. Es gab keine Möglichkeit, dass ein Teamleiter, der sein Geld wert war, eine angehende Studentin im letzten Jahr ihrer Teenagerzeit mit auf eine Ausgrabung dorthin nehmen würde. Die Sache war nur, dass mir die Gefahr gleichgültig war.

„Warum sprichst du nicht noch einmal mit Mr. Hatley im Museum“, schlug Noel vor. „Er wird noch andere kanadische Verbindungen haben, die du anzapfen kannst.“ Seine Stimme klang wohlwollend.

„Ich bin nicht daran interessiert, Pfeilspitzen und Lithisches auszugraben.“

„Lithisches?“

„Die Paläoindianer verwendeten Steinwerkzeuge – lithisches Zeug.“ Ich beugte mich vor. „Ich will eine echte Ausgrabung. Eine Hochkultur. Phönizier, Ägypter oder Babylonier.“

„Ich fürchte, ich kann dir dabei nicht helfen.“

Ich schaute auf die Uhr auf Noels Schreibtisch. Die Hälfte meiner Zeit war um, und ich war noch nicht einmal bei den wichtigen Dingen angekommen. Ein Thema erledigt, zwei noch offen. Wenn er mir nicht helfen und mich mit seinem Bruder verbinden wollte, könnte er mich vielleicht bei meinen anderen Problemen unterstützen. Ich räusperte mich. „Es gibt ein weiteres Thema, über das ich heute mit Ihnen sprechen will. Eigentlich zwei, aber sie sind miteinander verbunden. Glaube ich.“

Erleichtert holte Noel ein Tuch aus seiner Jackettasche und wischte sich die Stirn ab. „Sehr gern. Was beunruhigt dich?“

Mein Herz beschleunigte, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich war dabei, ein Geheimnis auszuplaudern, das ich in meinem ganzen Leben noch niemandem erzählt hatte, nicht einmal Beverly, und ich hatte keine Ahnung, wie Noel es aufnehmen würde. Meine Fingerspitzen wurden kühl, obwohl meine Körpertemperatur zu steigen schien. Ich zog am Kragen meines T-Shirts und holte tief Luft. „Ich kann Gedanken lesen.“

Noel schwieg. Dann lachte er und hustete in eine geschlossene Faust. „Kannst du das ein bisschen erklären?“

„Ich meine es genau so, wie Sie es verstanden haben.“

Die Atmosphäre zwischen uns wurde schlagartig angespannt, wie wir so da saßen und einander ansahen, und ich gab dem Drang nach, in seine Gedanken einzudringen. Wie reagierte er hinter seiner höflichen Fassade? Noels Gesicht blieb ausdruckslos. Er vertraute mir und wusste, dass ich keine Lügnerin war, aber er war sich nicht sicher, ob er mir glauben konnte. Mein Herz sank. Es war nicht die Reaktion, auf die ich gehofft hatte.

„Petra“, sagte er, seine Miene ganz still. „Willst du mir sagen, du kannst die Gedanken deiner Mitmenschen erraten?“

„Nicht erraten. Wenn ich will, sehe ich sie deutlich vor mir. Ich habe Nachforschungen angestellt. Telepathie ist das Fachwort, aber es scheint unter Wissenschaftlern eine umstrittene Sache zu sein. Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht Zugang zu Informationen haben, die ich nicht habe. Sie wissen also nicht, wie ich die Telepathie loswerden kann?“

Er schüttelte den Kopf. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Ich hatte mein Geheimnis umsonst verraten.

„Haben Sie Erfahrung mit Telekinese?“, fragte ich dann, womit ich ein weiteres Risiko einging.

„Telekinese ist eine Pseudowissenschaft.“ Er rieb sich den Nasenrücken, wo seine Brille saß, als ob sie ihn zwicken würde. Er glaubte mir nicht. Mein Herz wurde schwer. Der einzige Erwachsene in meinem Leben, von dem ich geglaubt hatte, dass ich mit allem zu ihm kommen konnte, stellte jetzt wahrscheinlich meinen Verstand infrage.

„Standest du in letzter Zeit unter großem Druck?“, fragte er und faltete seine verschränkten Finger über dem Knie.

„Nicht mehr als gewöhnlich.“ Ich seufzte und erhob mich vom Stuhl. „Das war wohl alles.“ Wenn Noel mir keine zusätzlichen Informationen liefern konnte, dann hatte ich hier nichts mehr verloren.

Noel kam ebenfalls auf die Beine, und zwar ziemlich schnell für einen alten Mann. „Petra, bitte setz dich. Du kannst nicht einfach so eine Bombe auf mich abwerfen und es mir nicht erklären. Ich verspreche, ich werde versuchen, dir zu helfen.“

Ich sank zögernd in meinen Sitz zurück und kämpfte gegen die Frustration an, die ich so oft als Kind und als Jugendliche empfunden hatte, wenn ich mich von Erwachsenen nicht ernstgenommen gefühlt hatte. Noel war meine einzige Hoffnung gewesen; es gab sonst niemanden, an den ich mich wenden konnte.

„Ich wusste, es könnte ein Fehler sein, es Ihnen zu sagen“, murmelte ich. „Aber ich dachte, dass Sie eine Idee haben könnten, wie ich … wie ich es verhindern kann. Schließlich sieht man als Therapeut doch alle möglichen Arten von Menschen vorbeikommen. Menschen mit allen möglichen psychischen Problemen.“

Er kicherte. „Nicht auf diese Weise. Warum willst du verhindern, dass du … nun, diese Gabe hast?“ Jetzt suchte er nach Gold. Halten Sie den Patienten am Reden. Psychologie für Einsteiger.

Nun, mir sollte es recht sein. Deshalb war ich schließlich gekommen. „Weil es ärgerlich ist“, sagte ich. „In Filmen und Büchern ist Telepathie immer eine Art Superkraft, etwas, das einem einen Vorteil verschafft. Die Realität ist ganz anders, das kann ich Ihnen sagen.“

Noel stützte sich mit einem Ellbogen auf die Armlehne seines Stuhls. „Wie sieht die Realität aus?“

Ich verschränkte meine Arme über der Brust. „Haben Sie eine Ahnung, wie unintelligent der Großteil der Menschheit ist? Wie egoistisch und öde? Ich habe kein Interesse daran, meine Welt mit den idiotischen Gedanken eines anderen zu vermischen. Es hat mich als Kind gequält, bevor ich eine Strategie entwickelt habe, um meinen Geist zu schützen. Die Mauer, die ich errichtet habe, ist gut, aber manchmal dringen willkürliche Gedanken, die nicht von mir stammen, immer noch durch und stören mein eigenes Denken.“ Ich atmete tief durch. „Die Gedanken anderer Menschen sind fast nie aufschlussreich. Sie führen mich immer rückwärts. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, herumzulaufen und den mentalen Müll anderer Leute aufzuheben? Es ist wie ...“ Ich hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. „Lärm, der eine Bibliothek erfüllt, die ruhig und friedlich sein sollte. Als ich ein Kind war, dachte ich, ich sei verrückt. Ich war sieben Jahre alt, als ich endlich herausfand, was mit mir los war.“

Faszination erhellte Noels Gesicht, und fast schien es, als glaubte er mir endlich.

„Was geschah damals?“, fragte er. „Was geschah, dass du es herausfandest?“

„Ich war in der Lage, ein zufälliges Bild, das mir in den Sinn gekommen war, mit den Gedanken der Sachbearbeiterin, die mich befragte, abzugleichen“, erklärte ich. „Wir sollten meine Zeugnisse durchgehen und darüber sprechen, wie gut ich mich in der neuen Schule integriert hatte. Sie stellte mir Fragen und ich beantwortete sie. Aber immer, wenn ich zu sprechen begann, kam mir das Bild eines Mannes in Marineuniform mit schwarzer Hornbrille in den Sinn und lenkte mich völlig ab. Ich wusste nicht, wer er war. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Es war beängstigend.“

Ich verschwieg Noel, dass es noch schlimmer geworden war: Der Mann hatte mich in Gedanken leidenschaftlich zu küssen begonnen und dann von den Füßen gerissen. Irgendwo inmitten des Schocks über all diese Seltsamkeit hatte ich eine unterschwellige Dringlichkeit und Lust empfunden, die nicht zu mir gehörte. Ich war zu jung gewesen, um es zu verstehen.

„Erst als die Sitzung vorbei war“, fuhr ich fort, „und ich sah, wie die Sachbearbeiterin ihren Mann auf dem Parkplatz begrüßte, verstand ich, was ich gesehen hatte.“ Ich faltete die Hände auf dem Schoß, damit ich nicht zappelte. Die Erinnerung war mir immer noch unangenehm. „Er war gerade aus dem Ausland zurückgekommen, und sie hatte ihn schrecklich vermisst. Sie konnte es nicht erwarten, ihn zu sehen, und ihre Gedanken schweiften während unseres Gesprächs immer wieder zu ihm ab.“

„Das ist sehr süß“, murmelte Noel.

„Nicht, wenn man nicht weiß, was zum Teufel los ist“, gab ich zurück.

Er streckte seine Hände aus. „Schon gut. Kommen die Gedanken immer in Bildern?“

„Nicht immer. Manchmal kommen sie als Worte. Ich schätze, es hängt davon ab, wie die Person in diesem Moment denkt.“

„Darf ich dich bitten, es vorzuführen?“

Ich hatte gewusst, dass das notwendig werden würde. „Okay“, sagte ich. „Geben Sie mir einen Moment.“

Das Anheben der Wand, die ich um meine Gedanken gelegt hatte, war ein seltsames, unangenehmes Gefühl. Es war, als wären meine Augen stundenlang auf etwas ganz nah an meinem Gesicht gerichtet gewesen, und nun, da ich zum Horizont aufblickte, erschien mir alles schrecklich verschwommen. Es konnten ein oder zwei Sekunden vergehen, bis ich mich an die neue Weitläufigkeit in mir gewöhnte, und Schwindelgefühl war keine Seltenheit.

Diesmal brauchte ich länger, um die Gedanken meines Gegenübers zu überblicken. Ich schloss meine Augen, als meine Sicht verschwommen wurde. Der alte, vertraute Schmerz pochte in meinem Nacken.

„Sind Sie bereit?“, fragte ich und öffnete die Augen wieder.

Noel wirkte entspannt, interessiert, unbekümmert. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück. „Woran denke ich gerade?“

Sein Bewusstseinsstrom begann sich an den Rändern meiner Wahrnehmung einzuschleichen, und Bilder begannen sich in meinem Kopf zu formen. Sie dehnten sich wie Luftballons in mir aus, vollständig da und zum Anfassen. Anscheinend dachte Noel recht visuell.

„Ich sehe einen Rosengarten.“ Ich schloss die Augen und konnte nicht anders, als über das schöne Bild zu lächeln. „Sieht aus wie Teerosen, die meisten in Pastellfarben. Sie sind auf der Höhe ihrer Blüte und müssen unglaublich duften. Am Rand des Gartens ist ein altes steinernes Geländer mit geschwungenen Spindeln, auf denen geschnitzte Gesichter zu sehen sind. Etwa ein Dutzend von ihnen. Dahinter liegt ein sehr blaues Meer.“ Ich öffnete meine Augen. „Einige der Gesichter sind rissig und abgenutzt, ihnen fehlen die Nasen.“

Noel war blass geworden. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er musste mir jetzt glauben. Er war eindeutig erschüttert.

„Es ist ein wunderschöner Ort“, fügte ich lächelnd hinzu. „Wo befindet er sich?“ Ich versuchte, nicht selbstgefällig zu reagieren. Zumindest gab es jetzt keinen Zweifel mehr daran, dass ich die Wahrheit sagte.

Er versuchte zu antworten, aber er brachte nur einen trockenen Wortfetzen heraus. Er hustete, räusperte sich und versuchte es erneut: „Ravello, Italien. Die Terrasse der Unendlichkeit. Sie gehörte einst dem Dichter Beckett.“

„Reizend“, murmelte ich. Ich wollte ihn gerade dafür loben, wie beständig seine Vorstellungskraft den Ort darstellte. Die Gedanken der meisten Menschen schweiften von scheinbar zufälligen Bildern zu zufälligen Sorgen ab, die wie ein Zirkuselefant außer Kontrolle gerieten. Doch gerade als ich den Mund öffnete, flog mir das Bild einer schwarzen Pistole in den Sinn und schien an meiner Stirn abzuprallen. Die Waffe wurde von einer fleischigen Männerhand ergriffen. Ein roter Blitz flammte auf. Obwohl ich keine körperlichen Schmerzen verspürte, zuckte ich erschrocken nach hinten, als ich die Erinnerung an die Gewalttat von Noel aufgriff.

„Was war das?“ Ich umklammerte die Armlehnen meines Stuhls. Furcht durchsetzte das Bild mit Wellenlinien, wie Hitze, die an einem Sommertag in der Ferne flackerte. Sogar Noel hatte also Schwierigkeiten, seine Gedanken zu kontrollieren, denn das war definitiv etwas, von dem er nicht gewollt hätte, dass ich es sah.

Gedanken waren seltsam. Wenn man versuchte, nicht an eine Giraffe zu denken, war sie das Erste, was einem in den Sinn kam. Offensichtlich glaubte Noel mir jetzt, und die Angst, ich könnte eine seiner schlimmsten Erinnerungen kennen, drängte sie gerade in den Vordergrund.

„Stopp, stopp!“ Er streckte eine Hand aus. Seine Augen waren weit aufgerissen.

Ich schlug das Tor zwischen meinem und seinem Verstand zu. Das Gefühl war so heftig, dass meine Backenzähne zu wackeln schienen. Die nebligen Bilder, die in meinen Geist drangen, hörten auf. Der dumpfe Schmerz an meiner Schädelbasis ließ nach und verschwand, aber mein Herz pochte schwer.

Dieser letzte Gedanke, den ich aufgeschnappt hatte, war der schockierendste, beunruhigendste, den ich je gesehen hatte. Warum wurde mein sanftmütiger Therapeut von einem Mann mit einer Waffe geschlagen? Wut loderte heiß und hart in mir auf, und ich musste tief einatmen. Noel würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Das war ein weiterer Grund dafür, dass ich nicht gerne die Gedanken anderer Menschen kannte, besonders wenn es jemand war, der mir etwas bedeutete. Wenn sie in irgendwelchen Schwierigkeiten steckten, konnte ich nicht anders, als mich einzumischen. Soweit ich es einschätzen konnte, war Noels Erinnerung an die Gewalttat schon dreißig Jahre alt. Ich hoffte, das Problem war inzwischen längst gelöst. Trotzdem fragte ich: „Stecken Sie in Schwierigkeiten?“

Er schüttelte den Kopf, als er an seiner Krawatte zog, und löste sie von seinem Hals. „Mach dir keine Sorgen um mich“, keuchte er. Als ob er derjenige wäre, der Gedanken lesen könnte, fügte er hinzu: „Es ist eine sehr alte Erinnerung. Lange vorbei.“ Er war ein wenig außer Atem und wollte mir nicht in die Augen sehen. „Es tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe“; sagte er, während er sein Jackett ablegte. Schweißringe verdunkelten den Stoff seines violetten Hemdes darunter. „Möchtest du etwas trinken? Ich brauche Wasser.“

„Ja, bitte.“ Nun, da mein Geist wieder versiegelt war, wurde mein Herzschlag langsamer.

Noel ging zur Anrichte unter dem Fenster und goss Wasser aus einem Krug in zwei Gläser. Ich sah, wie seine Hand zitterte und das Wasser in den Gläsern schwappte. Er kehrte zu unserem kleinen Kreis von Möbeln zurück und reichte mir ein Glas.