Tochter einer leuchtenden Stadt - Defne Suman - E-Book

Tochter einer leuchtenden Stadt E-Book

Defne Suman

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Beschreibung

Vom Untergang einer Stadt und einer Liebe, die alle Grenzen überwindet  An einem orangegetünchten Abend kommt im September 1905 in der Hafenstadt Smyrna ein kleines Mädchen zur Welt. Sie wächst behütet auf bei ihrer griechischen Familie, umgeben von goldfarbenen Minaretten, dem süßen Duft von Feigen und dem Klang einer Mandoline, die ein verliebter Junge unter ihrem Fenster spielt. Doch die Idylle zerbricht jäh, als nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs aus Nachbarn plötzlich Feinde werden. Während die Stadt von einem verheerenden Feuer heimgesucht wird, retten drei Familien, eine griechische, eine türkische und eine levantinische, was ihnen am meisten am Herzen liegt: ein Mädchen, das einst an einem orangegetünchten Abend zur Welt kam.  Die unvergessliche Geschichte einer mutigen Frau, deren pralles Leben geprägt ist von ihrer Liebe zur Heimat. Einer Frau, die die einmalige Schönheit und den tragischen Untergang ihrer Stadt am eigenen Leib erfährt und ihr leidenschaftliches Vermächtnis mit uns teilt.  

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Tochter einer leuchtenden Stadt

Die Autorin

Defne Suman wurde in Istanbul geboren und wuchs auf der Insel Prinkipo auf. Sie studierte Soziologie an der Bosporus-Universität und arbeitete anschließend als Lehrerin in Thailand und Laos. Später setzte sie ihre Studien in Oregon, USA, fort und lebt heute mit ihrem Mann in Athen.

Das Buch

Vom Untergang einer Stadt und einer Liebe, die alle Grenzen überwindet An einem orangegetünchten Abend kommt im September 1905 in der Hafenstadt Smyrna ein kleines Mädchen zur Welt. Sie wächst behütet auf bei ihrer griechischen Familie, umgeben von goldfarbenen Minaretten, dem süßen Duft von Feigen und dem Klang einer Mandoline, die ein verliebter Junge unter ihrem Fenster spielt. Doch die Idylle zerbricht jäh, als nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs aus Nachbarn plötzlich Feinde werden. Während die Stadt von einem verheerenden Feuer heimgesucht wird, retten drei Familien, eine griechische, eine türkische und eine levantinische, was ihnen am meisten am Herzen liegt: ein Mädchen, das einst an einem orangegetünchten Abend zur Welt kam. 

Tochter einer leuchtenden Stadt erzählt die unvergessliche Geschichte einer mutigen Frau, deren pralles Leben geprägt ist von ihrer Liebe zur Heimat. Einer Frau, die die einmalige Schönheit und den tragischen Untergang ihrer Stadt am eigenen Leib erfährt und ihr leidenschaftliches Vermächtnis mit uns teilt.  

Defne Suman

Tochter einer leuchtenden Stadt

Roman

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Das türkische Original erschien 2016 unter dem Titel Emanet Zaman bei Doğan Kitap.

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH© 2016 by Defne Suman© der deutschsprachigen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Alle Rechte vorbehaltenAutorinnenfoto: © KAAN SAGANAKE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-2957-4

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorwort

I    Die Tore zum Paradies

II    Froschregen

III    Geliehene Zeit

IV    Zufälle

V    Die Vertreibung aus dem Paradies

Epilog

Die Smyrnaer

Glossar der Fremdwörter, die im Buch verwendet werden

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort

Für alle, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden …

Motto

Ob’s dunkeltoder tagt,Jasminbleibt weiß

Y. SeferisDeutsch von Andrea Schellinger

Motto

Es lassen sich viele Geschichten erzählen, die mit Freitags Sprache zu tun haben, doch die eigentliche Geschichte kennt nur der stumme Freitag.

J. M. CoetzeeMr. Cruso, Mrs. Barton und Mr. Foe

Vorwort

Anfang des 20. Jahrhunderts galt Smyrna, das heutige Izmir, als osmanische »Stadt der Städte«. Griechen, Türken, Armenier, Juden und Europäer lebten Seite an Seite in der kosmopolitischen Hafenstadt an der Ägäis. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs sind 1919 die Griechen einmarschiert, um von dort aus den Traum eines »Großen Griechenlands« wahrzumachen und nach Anatolien vorzustoßen. 1922 wird die Stadt von den türkischen Truppen Mustafa Kemals zurückerobert. Am 9. September bricht ein gewaltiges Feuer aus und zerstört die griechischen und armenischen Stadtviertel bis auf die Grundmauern. Der Brand besiegelte den Sieg der Türken im Türkisch-Griechischen Krieg und bedeutet das Ende der einzigartigen Metropole. Alle Nicht-Muslime werden für immer aus ihrer Heimat vertrieben.

I    Die Tore zum Paradies

Als ich der Asche der verlorenen Stadt entstieg,Nannten sie mich Scheherazade.Seit meiner Geburtmag ein Jahrhundert verflossen sein,doch mein Leben,das mich zu ewigem Schweigen verdammt,ist noch nicht zu Ende.Mag meine Zunge auch gehemmt sein,so werde ich doch alles erzählen.Auf dass im Turm dieser baufälligen Villader Tod mich finde …

Der erste September

Meine Geburt fiel auf den warmen, orangeglühenden Abend, an dem Avinash Pillai in Izmir ankam.

Nach dem gregorianischen Kalender schrieb man das Jahr 1905.

Es war September.

Als das Passagierschiff Afrodit mit dem indischen Spion an Bord sich dem Hafen näherte, war ich noch nicht geboren, doch in die dunkle Höhle, in der ich seit Monaten saß, drang ein zarter Lichtschein. Meine Mutter konnte nicht aufstehen, was aber nicht meiner Last geschuldet war, sondern dem Opium, das sie aus einer zwischen Mittel-und Ringfinger gehaltenen Pfeife einsog. Sie blickte zum Fenster, zu den in den Armen des Windes wie trunken tanzenden Gardinen.

Das Jahr zuvor – oder war es schon zwei Jahre her? – hatte sie auf dem Sommerball eines Clubs in Bornova – wie die Türken Bournabat nannten – mit einem englischen Eisenbahningenieur getanzt, der sie übers Parkett gewirbelt hatte wie jene Gardinen. Wie hieß der Mann noch mal? An seine hervorstehenden Wangenknochen konnte sie sich erinnern, an seine gekonnten, doch seelenlosen Tanzschritte, und auch daran, dass er in einem Haus nördlich des Quais wohnte, doch sein Name war ihr entfallen. Mister wie noch mal? Mister Irgendwie. Irgendein seltsamer Name. Sie hob den Kopf und zog wieder an der Pfeife. Vor ihren schwarzen Augen schwammen violette Ringe, und Mister Irgendwie schwebte übers Parkett davon.

Während die elegante Afrodit am Hafeneingang wartete, stand Avinash Pillai auf dem Deck zweiter Klasse. Er wusste weder von meiner Mutter noch von mir und war ganz damit beschäftigt, mit geschlossenen Augen und zum Himmel gerichteter Nase wie ein Wildtier die Luft einzusaugen. Bei Sonnenuntergang stieß die Erde den Atem aus, den sie den ganzen Tag über angehalten hatte, und es lag nicht mehr der Geruch nach Kohle und kaltem Eisen in der Luft, dessen der Inder während der tagelangen Überfahrt überdrüssig geworden war, sondern das würzige Aroma von Blumen und Kräutern. Rose, Zitrone, Magnolie, Jasmin, und aus der Tiefe heraus auch ein wenig Bernstein …

Mit der langen, feinen Nase, die seinem dunklen Teint das Gepräge eines osmanischen Sultans verlieh, vermochte Avinash Pillai die Nuance jedes Duftes zu identifizieren, jede einzelne seiner Schichten, geradeso, als führte er beim Fastenbrechen seinem Mund einen lang entbehrten Leckerbissen zu. Besonders gut gelang ihm das bei Rosen. Mit geschlossenen Augen konnte er eine rote Rose von einer weißen unterscheiden. Irgendwo in der Stadt, an deren Ufer es rot und rosafarben funkelte, wohnte Yakumi Bey. Den Inder interessierten weder die Stadt an sich, in der Milch und Honig flossen, noch ihre legendären Frauenschönheiten, er dachte einzig und allein an jenen halbdunklen Raum, von dem Yakumi Bey in seinen Briefen berichtet hatte … In der Werkstatt hinter seiner Apotheke extrahierte der alte Chemiker aus den seltensten Rosen, die ihm aus dem gesamten Reich geschickt wurden, exquisites Öl.

»Worauf wartet der Kapitän noch?«

»Er muss wohl erst den Frachter dort vorbeilassen.«

Auf dem elektrisch beleuchteten Oberdeck standen, teure Zigarren schmauchend, Herren in Frack und Zylinder und murrten, dabei hatten sie die lange Fahrt von Alexandria nach Rhodos und von dort über Leros und Chios bis nach Izmir geduldig über sich ergehen lassen.

»Nein, der Frachter läuft gar nicht aus, sehen Sie nicht, an den fährt erst ein Lastkahn heran, da ist Kohle drin. Der wird erst beladen.«

»Den meine ich doch gar nicht, sondern den anderen, zu dem sie die Tabakballen hochhieven. Der steht schon seit zwanzig Minuten da.«

»Meine Herren, diese Schiffe fahren in den Hafen gar nicht hinein, dort ist das Wasser nicht tief genug. Ein unerfahrener Kapitän fährt da leicht auf Grund. Es hilft nichts, wir müssen auf Ruderboote warten.«

Durch die vom Quai herüberdringenden Klänge, das Klingeln der Trambahn, das Rattern von Rädern und das Klappern von Pferdehufen wurden die Herren an Vergnügungen erinnert, die sie auf See fast vergessen hatten. Manche hätten gar schwören können, aus den Nachtclubs am Quai Frauenlachen zu hören. Während im fayenceblauen Wasser Lotsenboote, gesprenkelte Segelschiffe, Frachter und Passagierschiffe an ihnen vorbeizogen, sahen die Männer minütlich auf ihre Taschenuhren.

»Jetzt sind wir so nah am Festland und können es doch nicht betreten, das ist ja unerträglich. Wo bleiben nur die Boote?«

Avinash ging aufs Hinterdeck, vergewisserte sich, dass niemand ihn sah, und faltete die Hände vor der Brust. Da er nunmehr für das Vereinigte Königreich tätig war, musste er zwar so europäisch wirken wie möglich, doch andererseits war er der Enkel eines heiligen Mannes, der in einem Kloster am Fuße des Himalajas darauf wartete, in Gottes ewige Gnade einzugehen. Es war nun Zeit, dem Allmächtigen dafür zu danken, dass er Avinash auf seinem Weg von Colombo nach Port Said, auf der Fahrt in einem dunklen Zug nach Alexandria und während der Schiffspassage auf der Afrodit sicher durch mühselige Tage und stürmische Nächte geleitet hatte.

Der Inder wandte das Gesicht der Sonne zu, die wie eine rote Eiskugel ins Meer hineinschmolz, und schloss die Augen.

»Om Namah Shivaya. Mächtiger Shiva, Dir sei Dank dafür, dass Du uns vor Unfällen und vor Missgeschick, vor Katastrophen und Krankheiten bewahrt und uns heil an die Gestade dieser herrlichen Stadt geführt hast …«

Plötzlich kam auf dem Deck ein heftiger Wind auf. Jener war bekannt dafür, dass er in der Dämmerung einsetzte und selbst an heißesten Tagen für Abkühlung sorgte. Manchmal war er sich seiner Kraft nicht recht bewusst und blies wie ein gutmütiger Riese alles über den Haufen, sodass er unwillkürlich Fischerboote zum Kentern brachte und sich einen Sack Flüche zuzog. An jenem Abend war er von harmloser Natur. Erst streichelte er das Eisengestänge, von dem die grüne Farbe abblätterte, dann wehte er dem jungen Mann die Melone vom Kopf und fegte sie zwischen die leeren Liegen an der Treppe. Avinash reagierte nicht sogleich. Sein Großvater hatte ihm beigebracht, selbst in Momenten größter Aufregung – und sogar gerade dann – ein Gebet nicht zu unterbrechen, sondern es gebührend zu Ende zu bringen. Sich irdischen Dingen zuzuwenden, ohne sich von den Göttern zu verabschieden, bringe Unglück. Rasch führte er die gefalteten Hände zwischen die Augenbrauen, an die Lippen und zuletzt an die Brust.

»Allmächtiger, Du bist groß und bewirkst Wunder. Wir liegen in Deiner Hand. Om Namah Shivaya.«

Dann erst eilte er seiner Melone hinterher. Er fühlte sich schuldig, weil er sein Gebet nicht ganz zu Ende gesprochen hatte.

Als wollte der Wind ihn daran erinnern, dass das Leben zu kurz und zu schön war, um es mit Schuldgefühlen zu vergeuden, blies er den Hut noch einen Schritt weiter und fuhr dem Mann zwischen die rabenschwarzen Locken. Die aber waren so dicht und üppig wie bei den armenischen Mädchen, die beim Wäscheaufhängen immer Lieder sangen. Boote magst du zum Kentern bringen, aber solche Haare verwirrst du nicht! Pfeifend glitt der Wind den Hals hinunter in das seidene Hemd des Mannes. Avinashs Haut mochte so samtbraun sein wie die der orientalischen Sklaven, doch den Europäern, denen es an der Uferpromenade den Hut vom Kopf wehte, war er mit seinem Auftreten überlegen. Nun, ein Maharadscha war er nicht, schließlich reiste er zweiter Klasse, doch in seinen spitzen Schuhen trat er selbstbewusster auf als die Herren auf dem Oberdeck. Im rechten Ohr trug er, wie die Levantiner, einen smaragdenen Ring, und in der Westentasche ein grünes Taschentuch aus derselben Seide wie seine Krawatte.

Der Wind fuhr noch einmal um Avinash herum, brauste ihm in den Ohren, dann trug er seinen würzigen Atem zum anderen Ende der Bucht, zur Terrasse der Villa, in der meine Mutter und ich die letzten Stunden unseres innigen Zusammenlebens verbringen sollten. Meine Mutter blinzelte argwöhnisch zu den tanzenden Gardinen. War da jemand? Doch die gläserne Welt im obersten Geschoss der Villa war an jenem Abend fern von der Afrodit und außerhalb des Blickfelds des jungen Inders.

Über einen Zufall zwinkert Gott uns manchmal zu, und so sollte ich – Jahre später – die Umstände meiner Geburt ausgerechnet von dem indischen Spion erfahren, der damals in der Stadt ankam. Und als er durch ein altes Foto auf mein Geheimnis kam, blickte er wiederum – wie am Abend meiner Geburt – von einem Schiffsdeck auf die Stadt.

Auch damals war es September.

Jedoch ein ganz anderer September …

Anders insofern, als die Stadt, die zum Zeitpunkt meiner Geburt mit ihren Kuppeln, ihren Minaretten, ihren kleinen Häusern mit den Ziegeldächern golden glänzte, siebzehn Jahre später Feuer speien wird wie ein wütendes Ungeheuer. Und der Wind, der dem jungen Spion schelmisch den Hut vom Kopf wehte, wird an jenem anderen Abend beißende Gerüche auf das Schiffsdeck treiben. Es wird nach Petroleum riechen, nach verglühenden Reifen, nach allem, was ein Raub der Flammen wird: jahrhundertealte Platanen, Feigenbäume, die ihre milchigen Früchte abwerfen, einstürzende Kirchen, Klaviere, mit Goldschnitt verzierte Bücher.

Der Wind, der heute Avinash lehren möchte, sein kurzes Leben nicht mit Schamgefühlen zu vergeuden, wird in jener Nacht ungeheuer anschwellen, und die Tausenden von Armseligen, die sich am Quai entlangdrängen, werden bezeugen können, dass nicht nur Wasser den Menschen ersticken kann, sondern auch Luft.

Aber bis dahin ist es noch lang …

Verbleiben wir vorerst an dem sanften orangefarbenen Abend, an dem ich geboren bin. Während ich damit beschäftigt bin, den Gebärmutterhals meiner Mutter zu dehnen, geht Avinash wie ein Schüler, der gleich aufgerufen wird, die Dörfer und Stadtviertel durch, die er bisher nur aus Büchern gelernt hatte. Das da vorne ist Kokaryalı, dahinter kommen Göztepe, Karantina, Salhane, Karataş, Bahribaba. Von der Afrodit aus noch nicht zu sehen ist das hufeisenförmige neue Gebäude jenseits des Zolls: die Hümayun-Kaserne, im Volksmund Gelbe Kaserne genannt. Avinash wusste, dass dort sechstausend modern ausgebildete Soldaten stationiert waren.

Das war von Bedeutung.

Zu seinen Aufgaben gehörte es, das Vertrauen solcher Soldaten zu gewinnen. Der Secret Service überwachte in allen osmanischen Städten von Saloniki bis Smyrna die dort kasernierten Truppen. Avinash sollte sich im Türkenviertel niederlassen und sich in Kaffeehäusern und auf Märkten unter Soldaten mischen. Wo sich Europäer trafen, musste er sich zu ihnen gesellen, um den Machenschaften der Franzosen und Italiener auf die Spur zu kommen. Ihm schnürte es den Magen zu.

Und wenn er seiner Aufgabe nicht gerecht wurde?

Und wenn er mit den mühsam erlernten Fremdsprachen doch nicht zurechtkam?

»Du bist befähigt, du bist tatkräftig, und du bist jung. Keine zwei Monate, und du redest besser als die Einheimischen.«

So hatte sein Lehrer in Oxford ihn motiviert.

»Nicht umsonst haben wir uns für dich entschieden. Vertrau uns. Du bist für diese spezielle Aufgabe wie geschaffen.«

Fürs Erste lag ihm die Aufgabe schwer im Magen.

Unter den Achseln seines Seidenhemds hatten sich zwei dunkle Schweißflecke gebildet. Er warf einen Blick aufs leere Deck, dann roch er an sich und verzog das Gesicht.

Als Erstes musste er irgendwo unterkommen und sich waschen. Er spähte über die Reling. Man hatte schon damit begonnen, das Gepäck der Reisenden in die Ruderboote hinabzulassen, die das Schiff umzingelt hatten wie Piratengefährte. Sobald er an Land war, musste er einen Hamam aufsuchen.

»Damit du am Zoll keine Unannehmlichkeiten hast, wird dich am Pasaport-Pier einer unserer Leute in Empfang nehmen. Danach aber bist du auf dich allein gestellt, das ist zweckmäßiger so. Sobald du aus dem Hafen bist, gehst du in Richtung Basmane-Bahnhof und fragst in der Kuyumcular-Straße nach der Herberge Yemişçizade. Dort wartest du auf Nachricht von uns.«

Während Avinash das neue Leben, das er in der Stadt beginnen sollte, auf den Magen drückte, wand meine in Smyrna geborene und aufgewachsene Mutter sich vor Wehenschmerzen und wimmerte verzweifelt. Das Opium hatte seine Wirkung eingebüßt. Das Baby in ihrem Bauch hatte sich in ein wildes Tier verwandelt, das ihr mit spitzen Krallen den Bauch aufkratzte. Meine Mutter stand mühsam auf und wälzte sich wie ein trunkenes Fass zur Tür des verglasten Raums, in dem sie seit exakt drei Monaten, einer Woche und fünf Tagen eingesperrt war. Von der Terrasse hallte ihr Wehklagen hinunter ins Gästezimmer, in dem die armenische Hebamme Meline mit einem Beutel voller Goldstücke in der Hand gesenkten Hauptes bereit saß.

Der Hebamme gegenüber thronte in einem Samtsessel meine Großmutter. Ohne ihre Kaffeetasse abzustellen, zeigte sie mit ihrem spitzen Kinn an die Decke.

Es war so weit.

Und mein geheimnisvolles Leben, das sich über ein ganzes Jahrhundert erstrecken sollte, begann.

Der Gott der flüchtigen Zeit

Die Menschen, die mir den Namen Scheherazade verliehen, fanden mich eines frühen Morgens in ihrem jasminduftenden Garten ohnmächtig unter einem Maulbeerbaum, die Haare in seinen mächtigen Wurzeln verfangen. Meine Beine standen unter dem angesengten Rock hervor wie eine einzige nässende Wunde, und dennoch spielte um meine Lippen unverkennbar ein leises Lächeln. Die Menschen dachten sich, hinter meinen geschlossenen Augen müsse ich etwas Schönes träumen. Wie ich durch das verriegelte Gartentor hatte hereinkommen können, war ihnen allerdings ein Rätsel.

Ich kann mich an all das erinnern. Auch damals war September. Die Akazien blühten, die Schulen öffneten wieder. Ich war siebzehn Jahre alt. Seit meinem Geburtstag war noch keine Woche vergangen. Im Maulbeerbaum steckte ein Drachen fest – auch er rot, wie alles in jener Nacht –, er regte sich im Wind, der von den Bergen zum Meer herabwehte. Der Boden unter mir war einladend, weich und feucht. Über meine Wange fuhren Engelsfinger. Irgendwo schlug eine Tür zu. Ich hörte, wie der Lauf einer Doppelflinte abgekippt wurde und wieder einrastete. Die Doppelflinte würde mir bestimmt das Gehirn zerschießen. Sollte sie nur. In jener Nacht schoss jeder auf jeden. Das Meer war voller Leichen. Alle aufgedunsen wie Luftballons.

In jenen Tagen waren wir mit dem Tod so vertraut, dass wir ihn nicht mehr fürchteten.

Verwunderlich war eher das Leben an sich. Mir fielen die Kinder ein, die zwischen den Leichen im Wasser zappelten, die kleinen Körper hinabgezogen von den vollgesogenen roten und grünen Kleidern. Die Jungen, die mit letztem Hauch den Kapitän eines europäischen Schiffes anflehten, an dessen Ankerkette sie hingen, die Mädchen mit Algen in den Haaren … Wie sehr sie sich ans Leben klammerten! Ich dagegen hatte keine Kraft mehr.

Die Doppelflinte war auf mich angelegt.

Ich schloss die Augen.

In der Ferne weinte ein Kind.

Hinter meinen zusammengekniffenen Augen sah ich eine Frau auf dem schmalen, langen Deck eines Schiffes stehen. Ihr Haar war in zwei dicken Zöpfen um den Kopf geflochten, ihre gerunzelten Brauen von Schmachtlocken bedeckt. Dicht hinter ihr stand Avinash Pillai, die dunklen Arme um die schlanke Taille der Frau geschlungen, die er fest an sich zog. Auf den Wellen hüpfte der goldgelbe Widerschein der Flammen. Weinend lehnte die Frau ihr unbedecktes Haupt an die Schulter des Inders.

Sie hieß Edith Sofia Lamarck und war meine Mutter.

Das wusste ich damals allerdings noch nicht.

Edith war als jüngstes Kind Charles Lamarcks in Bornova aufgewachsen, in einem steinernen Herrenhaus inmitten eines riesigen Anwesens. Der an einem Hang angelegte Garten mit seinen Kamelien, Bougainvilleas und unzähligen Rosensorten reichte bis zu einem Zypressenhain. Als Kind wähnte Edith sich dort im Paradies. Bornova war von Bergen umgeben, deren Gipfel mit dem Himmelsblau verschmolzen. Die Kirsch- und die Granatapfelbäume im Garten schienen den Passanten zuzuwinken.

Ihrem Großvater lagen besonders die blauen, violetten und rosafarbenen Hortensien am Herzen, die er eigenhändig gepflanzt hatte. »Das sind meine Enkel«, pflegte er über die Blumen zu sagen, zwischen denen die kleine Edith gerne lag und zu den Wolken emporschaute. Eine der Wolken trug auf ihrem Rücken Kairos , den Gott der flüchtigen Zeit. Jener war in die Amazone Smyrna verliebt, die Gründerin der Stadt Smyrna. Jeden Tag schwebte er auf einer Wolke über den blauen Stadthimmel und grüßte zu den Urenkeln der schönen Amazone hinab. Smyrna war nicht nur schön, sondern auch stark und gerecht. Im Bogenschießen war sie unübertrefflich. Um beim Spannen des Bogens nicht behindert zu werden, hatte sie sich wie die anderen Amazonen die rechte Brust abgeschnitten. Edith stellte sich vor, wie Smyrna über einen goldfarbenen Strand ritt und ihr die langen schwarzen Haare im Wind flatterten. Sollte sie einmal ein Mädchen gebären, würde sie es Smyrna nennen.

Manchmal lief sie bis zum Küchengarten am Waldrand, wo die Wäscherin Sıdıka Rosmarin und Bergthymian ausgesät hatte, und sog den Blütenstaub der Heilkräuter ein, bis sie niesen musste. Der Garten stand voller Obstbäume, und am Gestänge der Weinlaube war eine Schaukel angebracht, die ihr Vater zusammen mit dem Gutsverwalter Mustafa in der Schreinerei gebastelt hatte. Ihre Seile waren geflochten wie die Taue auf den Schiffen im Smyrnaer Hafen. Wenn Edith hoch hinaufschaukelte, pflückte sie immer wieder eine sonnenwarme, vom eigenen Zucker trunkene Traube aus dem mannigfaltigen Weinstock ihres Großvaters und steckte sie trotz des Verbots der Mutter ungewaschen in den Mund. Nachdem ihr Großvater Louis Lamarck die Geschäfte an seinen Sohn übergeben hatte, hatte er sich leidenschaftlich mit der Züchtung von Weintrauben beschäftigt.

Direkt vor Ediths Zimmer stand ein Maulbeerbaum und ließ seine Früchte auf ihren Balkon hängen. Neben ihrem Bett hatte sie aus Blättern des Baumes ein kleines Nest für Seidenraupen gebaut. Ihr Kindermädchen aus Bursa hatte ihr ein griechisches Schlaflied für die Raupen beigebracht, denn etwas anderes als Griechisch verstünden die Tiere nicht. Abend für Abend sang Edith den Raupen das Lied vor, und am Morgen hob sie die Blätter an und spähte neugierig darunter. Im Hochsommer spannten die griechischen Dienstmädchen unter dem riesigen Baum ein Tuch, und Edith sollte vom Balkon aus die Äste schütteln. Sie beugte sich vor, zog mit ihren dünnen Ärmchen an den Zweigen, und schon knatterten die süßen weißen Maulbeeren auf das Tuch. Es hörte sich an wie ein sommerlicher Platzregen.

Als sie einmal eine unreife Feige vom Baum pflückte, spritzte ihr eine weiße Flüssigkeit auf die Hand, so weiß wie die Milch aus den Zitzen der Katze Grischa, die im Garten geworfen hatte. Sıdıka sagte ihr, das sei das Blut der Feige, das jene brauche, um anzuschwellen wie eine Brust. Sıdıka war eine schmale, hochgewachsene Kreterin, mit blauen Augen und blondem, fast weißem Haar. Mit ihrem Mann, dem Gutsverwalter Mustafa, sprach sie ein Griechisch, das sonst niemand verstand, nicht einmal ihre Söhne. Wenn Edith sich mit den Gästen ihrer Mutter langweilte, lief sie zu Sıdıkas Unterkunft am Ende des Gartens und ließ sich von ihr mit Zimtkringeln und Kräuterpasteten verwöhnen.

Wegen des großen Altersunterschieds zu ihren größeren Geschwistern wuchs Edith nicht mit ihnen zusammen auf und wusste sich daher allein zu beschäftigen. Ihre Schwester Anna und ihre Brüder Charles Jr. und Jean-Pierre verbrachten acht Monate des Jahres in einem Internat in Frankreich. In dieser Zeit war Edith das einzige Kind im Haus. Freunde hatte sie dennoch, Bornova war damals ein Kinderparadies. Wenn es abends bei Sonnenuntergang nach Mandarinen duftete, fuhren die Kinder auf der Straße mit dem Fahrrad um die Wette, spielten Murmeln, Verstecken, Fangen, und mehr als nach ihren Vätern, die mit dem Abendzug eintrafen, hielten sie nach dem Helva-Verkäufer Kosta Ausschau, der aus seinem kleinen Dorf in der Nähe jeden Abend vorbeikam, den Kindern Leinsamen-Helva reichte und den beim Kaffee sitzenden Damen Tüten mit Nüssen, Lokum und Bonbons feilbot.

Ediths bester Freund war der Nachbarsjunge Edward Thomas-Cook. Gemeinsam kletterten sie auf das schmiedeeiserne Gartentor, jagten in den weitschweifigen Herrenhäusern nach Gespenstern und spielten an unendlich langen Sommerabenden im Schatten Szenen aus ihren Lieblingsromanen nach. Edward entstammte einer vielköpfigen Familie und wurde zwischen seinen beiden größeren Brüdern und der kränklichen kleinen Schwester oft übersehen. Sein Haus war stets voller Verwandter und Gästen, die er mit Onkel und Tante anredete. Er war anders als die anderen Jungen. Anstatt Fußball zu spielen, saß er lieber neben Edith und las. Neben der Schatzinsel und Tom Saywers Abenteuer hatte er auch Ediths Lieblingsbuch gelesen, Little Women, und sich von Edith sogar breitschlagen lassen, ihr die beiden langen Zöpfe abzuschneiden, damit sie aussah wie die Buchheldin Jo.

Außer Edward hatte Edith noch einen engen Freund, ihren Vater Charles Lamarck. Monsieur Lamarck hätte vom Alter her ihr Großvater sein können, vielleicht war ihre Beziehung deshalb von so viel Liebe und Verständnis geprägt. Dass Edith von ihrem Vater so verwöhnt wurde, gab ihrer Mutter Juliette immer wieder Anlass zur Klage. Wenn die Stunde des Abendzugs herannahte, setzte Edith sich auf den Rand des steinernen Zierbeckens, tauchte die Hand bis zum Ellbogen ins Wasser zu den Seerosen und Goldfischen und schielte zum Gartentor, das auf die Straße hinausging. Juliette machte sich oft schon zu einem Abendtee in einem benachbarten Herrenhaus auf und rief ihrer Tochter im Vorbeitrippeln zu: »Edith, Schatz, wasch dich bitte und lass dir die Haare kämmen, bis ich zurück bin. Ich habe dem Kindermädchen gesagt, es soll dein Kleid mit den blauen Kordeln bereitlegen. Zum Abendessen haben wir Gäste, da möchte ich, dass alle mit froher Miene bei Tisch sitzen.«

Die Worte entfleuchten ihrem Mund, als hätten sie es eilig. Um Atem zu holen, ließ sie ihre wassergrünen Augen eine Sekunde lang Bestätigung heischend auf Ediths Gesicht ruhen, wandte aber den Blick sogleich wieder ab, als hätte sie etwas Beschämendes gesehen. Die schwarzen Augen des Mädchens mussten in Juliettes Seele eine dunkle Ahnung auslösen, denn sobald sie Edith anblickte, erschien zwischen ihren Brauen eine tiefe Falte. Als Edith noch keine zwölf war, trat die gleiche Falte auch bei ihr auf, was die Mutter mehr betrübte als die Tochter. Gegenüber den Damen, die bei ihr Tee tranken, klagte sie oft: »Sehen Sie bloß, Madame Levon, wie faltig ihr Gesicht in dem Alter schon ist. Ich predige ihr, sie solle sich abends mit Rosenwasser und Myrrhensalbe einreiben, aber sie hört ja nicht auf mich.« Als würde durch die ständige Wiederholung ihres Lamentos die ärgerliche Falte schließlich verschwinden.

Wenn Monsieur Lamarck abends sein träumerisch veranlagtes Töchterchen am Brunnenrand warten sah, nahm er es in den Arm, streichelte es und sagte: »Mein Winzling!« Sie war ja wirklich ein winziges Geschöpf, die Züge wie mit einem feinen Messer perfekt konturiert, das Gesicht wie ein Wassertropfen. Bis zur Pubertät war sie in ihrer Klasse stets die Kleinste. Ihre Zähne waren aufgereiht wie Granatapfelkerne, nur zwischen den beiden Schneidezähnen tat sich eine kleine Lücke auf, durch die sie vollends reizend wurde. Sıdıka zufolge war jene Lücke ein gutes Omen und bewahrte sie vor dem bösen Blick. Wenn Monsieur Lamarck nach einem langen Tag in der Reederei überdrüssig nach Hause kam, genügte ein Blick in die kohlenschwarzen, dicht bewimperten Augen seiner Tochter, um ihn aufzuheitern. Arm in Arm gingen Vater und Tochter durch den weiten Garten, betrachteten die Spinnen, die zwischen den verstaubten Weintrauben des Großvaters ihre Netze woben, und sprachen über die hinter dem Berg Nif aufsteigenden Sterne und über den Mond, der die Veilchen silbern färbte.

Monsieur Lamarck schlug seiner Tochter keinen Wunsch aus und beschenkte sie mit fein gearbeiteten Spieldosen, diamantenbesetzten Kämmen und aus Paris importierten Puppen mit echten Haaren. Zum zehnten Geburtstag bekam sie ein weißes Pony aus London, und zum dreizehnten Geburtstag ein reinrassiges Araberpferd, dessen schwarzes Fell glänzte wie ein Spiegel. Gemeinsam ritten Vater und Tochter in Ausflugsorte in der Nähe von Bornova, nach Narlıköy und Kokluca, oder zu einer der Vergnügungsgaststätten an der Kervan-Brücke. Einmal ließ ihr Vater ein Lamm rösten und das Fleisch an dort zeltende Nomaden und an Ausflügler verteilen.

So war es kein Wunder, dass Monsieur Lamarcks plötzlicher Tod am meisten Edith erschütterte. An einem so entsetzlich heißen Sommertag, dass sogar die Zeit langsamer verrann, hatte Charles Lamarck im Restaurant des Hotels Kraemer alleine zu Mittag gegessen, als sein Herz ihm mit einem Mal den Dienst versagte. Sein Kopf sackte auf den Teller mit dem zarten, blutigen Filet, und die Joghurtsauce ergoss sich über die aufgeschlagen auf dem Tisch liegende Kartause von Parma, die er stets in der Westentasche mit sich führte.

Das liebevolle Verhältnis zwischen Vater und Tochter, das Juliette Lamarck zu Lebzeiten ihres Gatten nicht sonderlich goutiert hatte, kam ihr im folgenden Jahr zugute. Edith, die eigentlich in die Abschlussklasse hätte eintreten sollen, verließ die Schule und wurde den ganzen Sommer über nicht mehr gesehen. Nunmehr war sie nur noch Haut und Knochen, lief mit bleichem Gesicht und schwarz geränderten Augen herum, tat aber keinen Schritt aus dem Herrenhaus. In geschickter Wortverdreherei gab Juliette dies als Folge der Krise aus, in die das Mädchen nach dem Tod des geliebten Vaters geraten war.

»Wo Edith ist? Ach, ma chérie, wenn Sie wüssten, wie sehr Charles’ Tod ihr zugesetzt hat … Sie war so geschwächt, dass sie die Schule verlassen musste. Der Arzt war der Ansicht, die Sommerhitze hier würde ihr nicht guttun, da blieb mir nichts übrig, als sie auf Kur nach Baden-Baden zu schicken. Dort hat sie den ganzen Sommer verbracht, jetzt ruht sie sich hier aus. Deshalb zeigt sie sich nicht in Gesellschaft. Selbstverständlich waren wir alle von dem entsetzlichen Ereignis erschüttert, aber man muss doch zurück ins Leben, n’est-ce pas? Die Jungen haben sich zum Glück sofort um die Geschäfte gekümmert. Und unsere Anna ist wieder guter Hoffnung … Ja, genau! Diesmal sind es sogar Zwillinge! Mon Dieu! Sie sind in ein kleines Palais in Buca gezogen, hatte ich das schon erzählt? Mein Schwiegersohn ist ein sehr vornehmer Mensch, ein englischer Adeliger. Ach, du kennst ihn ja … Tja, und Edith … Sie ist eben sehr sensibel. Noch dazu hing sie ungeheuer an ihrem Vater. Was soll man machen? Ich habe mit einem berühmten Nervenarzt gesprochen, der im Hotel Huck logiert. Er meint, wir sollen sie einfach in Ruhe lassen. Wir haben ihn neulich bei einem Empfang der Thomas-Cooks kennengelernt. Und wissen Sie, was er da gesagt hat? …«

Irgendwann glaubte sie sogar, was sie erzählte, denn mehr als ihre Freunde wollte sie sich selbst überzeugen. Um eine Geschichte zu erfinden, brauchte sie nur einen Funken Wahrheit. Fest stand, dass Charles gerade zur rechten Zeit gestorben war. Selbst wenn Juliette sich bemüht hätte, hätte sie keinen so günstigen Zeitpunkt wählen können. Wäre ihr Mann noch am Leben gewesen, hätte er mit seinem weichen Herzen die durch Edith verursachte Schande nicht gelassen zu bewältigen vermocht, sondern die Familie mit Sicherheit ins Unglück gestürzt. Juliette dagegen hatte es geschafft, nicht nur die Ehre ihrer Tochter zu retten, sondern die der ganzen Familie. Demnächst würde Edith ihre Krise überwinden und eine vorteilhafte Ehe eingehen. Sobald der Nachbarssohn Edward sein Studium in New York beendete, mussten die beiden ohne Umschweife miteinander verlobt werden.

So mochte gesonnen und geplant werden, doch an einem Wintermorgen, an dem Juliette das Schicksal zu beherrschen wähnte, kroch jenes in seiner Hinterhältigkeit aus der ledernen Aktenmappe eines Athener Anwalts hervor und holte zu einem Schlag aus, durch den das empfindliche Gleichgewicht zwischen Mutter und Tochter erschüttert werden sollte.

Vor der Ledermappe

Edith las Zeitung, als Juliette mit wehendem Morgenmantel das Esszimmer betrat.

Es war einer der seltenen Tage, an denen die Sonne Bornova im Stich ließ. Aus dem verhangenen Himmel grollte es, als könne er jeden Augenblick zerreißen. An den blattlosen Zweigen des Aprikosen- und des Kirschbaums vor dem Fenster ließ der Wind seine Wut aus.

Ungeachtet des Sturmes duftete es im Esszimmer der Lamarcks gemütlich nach Feuerholz und geröstetem Brot. Der Gutsverwalter hatte nach dem Morgengebet den gelben Kachelofen angemacht, und ein Dienstmädchen hatte auf dem Grammofon eine Platte aufgelegt, eine Sonate für Violine und Klavier von Mendelssohn. Seit dem Tod ihres Mannes ertrug Juliette keine Stille mehr und wollte unbedingt gleich beim Aufwachen Musik zu hören bekommen. In allen Zimmern im Erdgeschoss hatte sie ein Grammofon aufstellen lassen, und auch in ihrem Schlafzimmer stand eines.

Edith sah von der Zeitung auf und ließ den Blick über die Mutter hinweg zum Ölporträt ihres Vaters an der Wand schweifen. Ihr Vater pflegte zu sagen, scheue Menschen fänden am ehesten im Winter zu sich. So wie nach dem Abfallen von Blüten, Blättern und Früchten die wahre Form eines Baumes zutage trete, finde in der winterlichen Stille auch der Mensch zu den tiefsten Schichten seiner Seele. Doch der Winter dauerte leider nur sehr kurz in jener Stadt, wo die Bewohner fast immer vor ihren Haustüren oder bei offenen Fenstern das Leben genossen. Wehmütig dachte Edith an die langen Winterabende in der Klosterschule in Paris, an denen die Mädchen gemeinsam vor dem riesigen Kamin in der Bibliothek saßen und lasen. Die Schule war nur mehr eine Erinnerung. Die ehemaligen Klassenkameradinnen hatten im Frühjahr ihren Abschluss gemacht. Ohne Edith.

Seufzend wandte sie sich wieder der Zeitung zu.

Es war darin die Rede, in Smyrna werde die Comédie-Française gastieren. Jules Claretie, der Direktor des größten, ältesten Theaters der Welt, habe dem französischen Konsul zugesichert, im folgenden Jahr werde es zu einer Aufführung im Sporting Club kommen. Die Nachricht war der Zeitung La Réforme eine Schlagzeile auf dem Titelblatt wert, denn sie kündete davon, welchen Status die französische Kultur unter der Elite der Stadt einnahm.

»Bonjour, ma chérie.«

Juliette küsste ihre Tochter auf die Wange, warf über ihre Schulter einen kurzen Blick in die Zeitung und flötete: »Hast du gut geschlafen?«

Edith nickte, ohne aufzublicken. Auf Jamaika hatte es ein Erdbeben gegeben. In den Straßen von Kingston sahen Menschen mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen auf die Verwüstungen. Edith beugte sich vor, um das Schwarz-Weiß-Foto besser zu studieren.

»Schau dir dieses Wetter an!«, rief Juliette. »Ob es heute noch mal hell wird? Als ob eine finstere Armee auf uns zumarschierte. Da wird einem ganz anders gleich am Morgen!«

Sie setzte sich an ihren Platz. Auf ihr Gesicht, das ungeschminkt wie nackt wirkte, produzierte sie ein Lächeln.

»Hast du deine Brüder gesehen? Oder sind sie etwa schon aus dem Haus? Und wo sind Gertrude und Marie? Schlafen sie noch?«

Edith blickte auf die leeren Stühle und zuckte die Schultern. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Schwägerinnen nicht zum Frühstück erschienen waren. Juliette sprach weiter, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Bien sûr, natürlich, jetzt fällt’s mir wieder ein, die wollten ja heute in die Stadt, weil Gertrudes Cousine aus Amsterdam gekommen ist. Sie treffen sich im Café de Paris, da könntest du doch auch hin, Edith? Gertrude und Marie sind jetzt praktisch Schwestern von dir. Das Wetter ist allerdings scheußlich. Krima! Schade. Weißt du was, nach dem Frühstück könnten wir uns doch um das Baby kümmern, was meinst du? Es hat angefangen zu lächeln, wusstest du das schon? Unter uns gesagt, gleicht Daphne ihrem Vater aufs Haar, aber kein Wort davon zu Marie, sonst ist sie beleidigt. Ein bisschen was hat die Kleine sogar von mir, aber dein Bruder sieht mir ja auch ziemlich ähnlich.«

Edith murmelte nur etwas vor sich hin, und Juliette drückte auf die Tischklingel neben der silbernen Gabel. Augenblicklich eilte aus der Küche ein Dienstmädchen mit einer Thermosflasche herbei. Ihr Häubchen war ihr etwas verrutscht, und als sie den kritischen Blick ihrer Herrin bemerkte, rückte sie es eiligst zurecht. Nach dem Tod ihres Gatten hatte Juliette darauf bestanden, sämtliche Hausangestellten in Uniformen zu stecken. In Paradiso, wo sich neuerdings viele Amerikaner niederließen, hatte sie ein Exemplar der Zeitschrift Good Housekeeping erstanden und die darin angepriesene Dienstkleidung in Smyrna nachschneidern lassen. Die weißen Häubchen und Schürzen mussten täglich gewaschen werden, die blauen Uniformen zwei Mal in der Woche.

Zoi mit der Thermoskanne in der Hand hoffte inständig, der Tintenfleck auf ihrer weißen Rüschenschürze würde unentdeckt bleiben. Als sie am Morgen in der Bibliothek Monsieur Lamarcks die Kerzen des Kronleuchters angezündet hatte, war ihr eingefallen, ein paar Zeilen an ihren Schatz auf der Insel Chios zu schreiben, doch kaum saß sie am Schreibtisch, hatte sie aus der Eingangshalle ein Lachen vernommen. Gertrude und Marie bereiteten sich darauf vor, mit dem Acht-Uhr-Zug nach Smyrna zu fahren. Als Zoi hochschreckte, hatte sich über ihre Schürze Tinte ergossen.

Juliette stand allerdings nicht der Sinn danach, sich mit Tintenflecken herumzuärgern. Wenn die Schwiegertöchter nicht mit bei Tisch saßen, trat unweigerlich zutage, was zwischen Edith und ihr für eine Spannung herrschte. Juliette fühlte sich wie ein wildes Tier, das in die Falle gegangen war. Und dann war da auch noch diese Falte zwischen Ediths Augenbrauen! Sie griff zu ihrer Kaffeetasse, als wäre sie ein Rettungsring.

»Merci, Zoi, du kannst mir mein Frühstück bringen. Hast du schon was gegessen, Edith?«

»Nein, habe ich nicht und werde ich auch nicht.«

Endlich sah Edith einmal auf.

»Zoi, schenkst du mir bitte Kaffee nach? Und geh bitte in den Garten und sag Sıdıka, sie soll mir zwei Zigaretten drehen. Dünne, bitte.«

»Selbstverständlich, Mademoiselle Lamarck.«

In der Hoffnung, ihr schwindendes Lächeln wieder zu beleben, stupste Juliette den hölzernen Drehteller in der Mitte des Tisches an. Die Konfitüren – Kirsche, Rose, Erdbeere – sowie der Honig und die Butter kamen an ihr vorbei, doch sie hatte auf nichts Lust.

»Warum das denn, ma chérie? Kaffee auf nüchternen Magen ist ungesund. Iss doch wenigstens ein Croissant. Und was soll das mit den Zigaretten? Was meinst du würde dein Vater dazu sagen, dass du bei Tisch rauchst wie ein gewöhnliches Weib?«

Sie deutete mit dem silbernen Löffel auf das Ölporträt über dem Grammofon. In seinem goldenen Rahmen war Monsieur Lamarck nicht Edith zugewandt, sondern der Ecke mit dem Kachelofen, sodass im Profil sein gewaltiger Bauch hervortrat, der fast die Jackenknöpfe sprengte.

»Er sieht mich aber doch nicht, oder? Also kann ich tun, was ich will.«

Über ihre Porzellantasse hinweg musterte Juliette ihre Tochter. Obwohl Edith dieses Nervöse an sich hatte, auf nüchternen Magen Kaffee trank und rauchte, und trotz jener verfluchten Falte, strahlte sie den jugendlichen Glanz ihrer neunzehn Jahre aus. In Juliette regte sich eine Mischung aus Eifersucht und Stolz. Edith bräuchte nur ein wenig zuzunehmen, sich aufrechter zu halten, ein bisschen Rouge aufzulegen und unter die Leute zu gehen, dann wäre im Nu eine passende Partie für sie gefunden. Vielleicht war es gar nicht nötig, auf Edwards Rückkehr aus New York zu warten, Juliette konnte sich mit ihrer Nachbarin Helene Thomas-Cook verständigen und die beiden Kinder einander versprechen. Ohnehin waren sie damit schon spät dran. Oder wusste Edward über Ediths Fauxpas Bescheid und zierte sich deshalb? Schließlich hatte die Schande gewissermaßen vor seiner Nase stattgefunden.

Zoi kam durch die zum Garten führende Tür herein, legte geradezu verstohlen die Zigaretten neben Ediths Teller und zog sich augenblicklich zurück. Sıdıka hatte ihr auch einen Teller mit Orangenmakronen mitgegeben. Edith holte aus der Tasche ihres schwarzen Kleides ein Mundstück aus Elfenbein und steckte eine Zigarette hinein. Sie trug seit zwei Jahren schwarz, und das, obwohl ihre Mutter gleich nach Ablauf der vierzigtägigen Trauerzeit wieder alle Vorhänge und Fenster aufgemacht und das Haus mit Gästen gefüllt hatte.

»Rauch doch wenigstens mal eine amerikanische Zigarette. Muss es unbedingt dieses Kraut sein?«, murrte die Mutter. »Fahren wir nächste Woche nach Paradiso und kaufen dir anständige Zigaretten, wenn du schon unbedingt rauchen willst. Außerdem warst du noch nie dort. Du wirst staunen, was die Amerikaner da hingebaut haben.«

»Und was glauben Sie, Maman, woher die Amerikaner ihren Tabak haben?«

Juliette kniff die Augen zusammen und klopfte mit dem Löffelchen auf ihr weiches Ei. Sie konnte es anfangen, wie sie wollte, nie schaffte sie es, mit ihrer aufsässigen Tochter ins Gespräch zu kommen. Sie hatte es satt. Seit Ediths Kindheit bemühte sie sich, das Kind zu mögen, doch war es ihr nie gelungen, sie zufriedenzustellen. Edith hatte Kleider aus Paris bekommen, diamantenbesetzte Haarspangen und Kämme, sie war zum Kuchenessen im Café Kosti und zu Kutschenfahrten an der Uferpromenade mitgenommen worden, und in den teuersten Spielwarengeschäften durfte sie sich aussuchen, was sie wollte. Ihre Schwester Anna, die in Frankreich zur Schule ging, war einmal in den Ferien nach Hause gekommen und hatte in Ediths Zimmer in einer Ecke Seidenschals und rotbackige Puppen herumliegen sehen, wie sie selbst sie nie bekommen hatte.

»Das ist so ungerecht!«, hatte sie sich empört. »Ich hatte ganze zwei Puppen, und als ich eine dritte wollte, musste ich bis Weihnachten warten. Ins Haar habe ich nicht diamantenbesetzte Kämme bekommen, sondern höchstens rosafarbene Bänder. Das ist unglaublich, Maman. Nur weil ich nicht so schön bin wie Edith? Sie haben keinen Funken Gerechtigkeit im Herzen!«

Sie hatte recht. Es wäre Juliette nicht in den Sinn gekommen, Anna herauszuputzen und sie zum Kuchenessen auszuführen. Anna war ein grobschlächtiges, breitknochiges Mädchen. Ihre Haare fühlten sich an wie ein Rattenfell. Als man Juliette das Kind nach der Entbindung in die Arme gelegt hatte, musste sie losheulen. Ihr Baby war rotgesichtig wie eine bretonische Bäuerin und hatte eine Kartoffelnase. Die Hebamme Meline, damals noch eine blutjunge Frau, fand es rührend, dass der frischgebackenen Mutter beim Anblick ihres Babys die Tränen kamen, und sie ließ die beiden allein. Dabei weinte Juliette, weil sie sich auf eine Ehe mit einem viel älteren und noch dazu hässlichen Mann eingelassen und ihm ein Kind geboren hatte, das genauso aussah wie er.

Damals war sie noch sehr jung. Im Abstand von jeweils einem Jahr kamen ihre beiden Söhne zur Welt, danach war sie ausgelaugt. Erst sieben Jahre nach ihrem jüngeren Sohn Jean-Pierre wurde Edith geboren, und nicht nur war die Kleine ein ausgesprochen hübsches Kind, sondern Juliette hatte alle Zeit der Welt, um mit ihr zu spielen wie mit einer Puppe. Trotz alledem konnte sie sich nicht erinnern, ihr Kind je einmal nach Herzenslust geküsst zu haben. Edith war ein hübsches Ding, doch keineswegs anschmiegsam. »Kinder wollen nicht nur geliebt werden, sondern auch Mitgefühl spüren«, sagte Charles zu ihr. »Wenn das nicht der Fall ist, werden sie widerspenstig.« Juliette begriff nicht, was das bedeuten sollte. Sie gab ihrer Tochter, was sie wollte, nahm sie überallhin mit, was sollte sie denn noch tun?

Stumm saßen die beiden da. Auch die Sonate auf dem Grammofon war ausgeklungen. Das Ticken der Wanduhr war nervenzerreibend. Juliette legte ihr Messer beiseite, stand auf und ging zum Porträt ihres Mannes. Sie spürte die Blicke ihrer Tochter auf sich ruhen, während sie Mendelssohn vom Plattenteller nahm und stattdessen »Nobody« auflegte, eine Platte, die sie die Woche zuvor in Paradiso gekauft hatte. Mit der Kurbel zog sie das Federwerk auf, und nach kurzem Knistern ertönte aus dem tulpenförmigen Trichter das einem Flehen gleichende Lied von Bert Williams.

»Voilà! Passt doch genau zum heutigen Tag. When life seems full of clouds and rain … Stimmt’s etwa nicht?«

Edith sah dem Rauch ihrer Zigarette nach, der sich zur Deckenlampe emporkräuselte. Eines Tages würde sie am Hafen von Smyrna eines der nach Marseille ablegenden Schiffe besteigen und sich von hier davonmachen. Dann ab nach New York … in die Neue Welt. Nur mit einem Koffer in der Hand, ohne Rückfahrkarte, allein. Ohne jemandem Bescheid zu sagen, würde sie sich eines Morgens aus der Villa davonschleichen. Und sich genau wie im Lied unter eine fremde Menge mischen und zu einem Niemand werden. Nobody. Weder eine Lamarck noch eine Levantinerin oder eine Französin. Splitternackt. Sobald man ein Niemand war, konnte alles geschehen.

Juliette säuselte: »Weißt du, wer heute Abend zum Tee kommt?«

Da Edith nicht reagierte, gab Juliette sich eifrig selbst die Antwort, als ob jedes ihrer Worte Fröhlichkeit versprühte.

»Avinash Pillai!«

Scheinbar gleichgültig blies Edith den Rauch ihrer Zigarette aus. Juliette spürte, wie ihr Kinn unwillkürlich zuckte. Wenn Edith als Kind so abweisend dreinblickte, hätte Juliette ihr am liebsten eine schallende Ohrfeige versetzt. Und wie es sie juckte! Meistens beherrschte sie sich jedoch, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und begnügte sich damit, ihre Tochter anzuschreien.

»Jetzt komm mal zu dir, kleines Fräulein! Du lebst hier im Überfluss, da hast du kein Recht, so zu schmollen. Geh doch mal raus und schau dir an, wie die Menschen leben. Schau dir die Babys in den Armenvierteln an, die nicht mal eine Windel am Hintern haben, und dann komm her und schmoll weiter!«

Bis auf ein einziges Mal vermochte sie ihre Wut stets zu bezwingen. Das eine Mal jedoch … nun, da hatte Edith die Ohrfeige wirklich verdient. Und sogar noch mehr! Was hatte Monsieur Lamarck das Mädchen aber auch verzogen! Sie machten so viel mit ihr mit! Mon Dieu!

»Ganz richtig, ich habe Avinash Pillai zum Essen eingeladen. Da bist du hoffentlich dabei. Du weißt doch, wer das ist?«

»Ja, der Juwelenhändler.«

Seit Edith rauchte, klang ihre ohnehin tiefe Stimme noch rauer.

»Tja, das meinst du!«, stieß Juliette aus, froh darüber, dass Edith sich endlich auf ein Gespräch einließ. »Deine Tante Rose hat mir verraten, was wirklich dahintersteckt. Und weißt du, was?«

Sie hoffte, Ediths Interesse geweckt zu haben, doch als deren Schweigen ebenso hartnäckig in der Luft hing wie ihr blauer Zigarettendunst, hielt sie es nicht aus und sprach weiter.

»Das mit den Juwelen ist nur ein Vorwand. Er hat zwar tatsächlich einen Diener, der zwischen Smyrna, Alexandria und Bombay hin und her fährt und jeweils kistenweise Edelsteine mitbringt, die herrlichsten Saphire, Smaragde und Rubine! Sogar heilende Steine sollen darunter sein. Wenn er zum Hafen hinuntergeht, um auf eines seiner Schiffe zu warten, ist er daher stets von Hexenmeistern umgeben. Bevor noch die Boote ihre Taue an Land werfen, fangen die schon zu feilschen an, und oft genug geraten sie in Streit. Selbst Muslime kaufen bei ihm ein, und sogar den Leuten des Sultans ist er ein Begriff. Ich habe ihn gebeten, uns ein paar Steine mitzubringen. Wenn dir etwas davon gefällt, kaufen wir es. Er war neulich bei der Teeparty von Tante Rose, dort haben wir uns unterhalten. Ein interessanter Mensch. Stell dir vor, er wohnt in einer Herberge im muslimischen Viertel. Seit einem Jahr soll er schon da sein, und wir erfahren erst jetzt davon. Das hat allerdings seinen Grund. Rate mal, womit der Juwelenhändler sich eigentlich beschäftigt!«

Edith schloss die Augen. Ob es wohl irgendwo auf Erden möglich war, einen Vormittag zu verbringen, ohne reden zu müssen? Vielleicht sollte sie sich in ein Kloster zurückziehen. Haha! Erst aus einem katholischen Gymnasium rausgeworfen werden und dann ins Kloster gehen! Das wäre noch das Allerschönste!

»Edith mu, meine Edith, hör gut zu, der Mann ist Geheimagent! Ein richtiggehender Spion! Begreifst du? Und weißt du auch, für wen er spioniert? Für die Briten! Ich wollte es erst auch nicht glauben, aber anscheinend lassen die Briten Inder für sich arbeiten, und zwar vor allem in muslimischen Ländern, weil sie dort weniger auffallen. Er hat übrigens in Oxford studiert. Ich wusste gar nicht, dass sie dort Inder aufnehmen, aber seit einiger Zeit scheint das so zu sein. Das hat er mir übrigens persönlich erzählt, den Rest weiß Tante Rose aus sicherer Quelle.«

Edith seufzte. Juliette war in Fahrt. Ihre glänzenden Wangen – gleich nach dem Aufwachen rieb sie sich mit Rosenöl ein – waren rot, die blaugrünen Augen von der Wollust des Klatsches geweitet.

»Na, was sagst du? Ist das nicht hochinteressant? Möchtest du den Herrn heute Abend kennenlernen?«

»Nein.«

Ernüchtert blickte Juliette auf die Zigarette, die Edith im Aschenbecher ausgedrückt hatte. Der Appetit war ihr vergangen. Sie wollte nicht mal mehr die Pastete, die Zoi ihr serviert hatte.

»Warum nicht, Edith? Was willst du sonst machen? Wieder droben wie ein Gespenst von Zimmer zu Zimmer wandern? Weil du nie an die Sonne kommst, hat deine Haut schon einen Violettstich, wie bei den Engländerinnen, merkst du das überhaupt? Wenn Leute nach dir fragen, weiß ich gar nicht mehr, was ich sagen soll. Es ist jetzt über ein Jahr her …«

Edith hörte endlich auf, die Lampe anzustarren, und wandte sich zornig ihrer Mutter zu. Ihre mandelförmigen schwarzen Augen funkelten.

»Versuch’s doch mal mit der Wahrheit!«

Mit ihrer spitzen Stupsnase, den hohen Wangenknochen und den von langen Wimpern beschatteten Augen hatte sie üblicherweise etwas Verletzliches an sich, das aber urplötzlich in entschlossene Härte umschlagen konnte, und ihre Stimme klang dann so kehlig, wie man es von den lieblichen Gesichtszügen nie erwartet hätte.

Schnaubend knallte Juliette ihre Tasse auf den Teller. Sie schlug den Ton an, den sie im Umgang mit dem Personal am Leibe hatte, und ihr spitzes Kinn reckte sich noch weiter vor.

»Jetzt pass mal auf, meine Geduld hat ein Ende. Ich bemühe mich, verständnisvoll zu sein, auf dich einzugehen, aber von dir kommt nichts zurück. Was soll dieser Trotz? Ja, wir haben schwere Zeiten durchgemacht, aber …«

Die Augen ihrer Tochter glühten.

»Man stirbt nun mal nicht mit. Und in Gottes Wirken dürfen wir uns nicht einmischen. Es ist höchste Zeit, dass du dich aufraffst und wieder am Leben teilnimmst. Du bist kein Kind mehr. Es ist nur zu deinem Vorteil, wenn du dich in Gesellschaft zeigst. Du hast doch gehört, dass sogar Lucy Gillard sich verlobt hat. In deinem Alter kann es passieren, dass auf einmal keine passenden Männer mehr vorhanden sind. Wir sind schon spät dran. Pass bloß auf, dass du nicht auf einmal alleine dastehst. Komm jetzt, lach ein bisschen!«

Sie rückte den Stuhl nach hinten, wischte sich mit der Leinenserviette den Mund ab und ging mit ausgestreckten Armen auf Edith zu. Die aber sprang auf wie eine Katze. Sie wusste, was kommen würde, ihre Mutter würde sie in die Wangen kneifen, um sie zum Lachen zu bringen, wie damals, wenn sie als Kind schmollte. Edith schnappte sich die zweite Zigarette, das Mundstück und das goldene Feuerzeug, und bevor ihre Mutter um den Tisch herum war, entwischte sie in die Eingangshalle. Die Makronen blieben unangetastet auf dem Tisch zurück.

Als Edith auf der Treppe war, klingelte es an der Tür. Edith blieb stehen und spitzte die Ohren. Eine fremde Stimme sagte: »Könnte ich bitte zu Mademoiselle Edith Sofia Lamarck? Ich habe etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen.«

Katinas Traum

Der Krämer Akis tat einen letzten Schluck aus der Kaffeetasse. Seine Wasserpfeife war ausgegangen. Sogleich stand der Lehrling mit der Zange bereit, um Kohlen nachzulegen.

»Nicht nötig, ich muss los.«

Sobald er aufstand, wurde im Kaffeehaus Protest laut.

»Komm, eine Runde noch, vre Akis! Dein Laden läuft dir nicht davon. Aller guten Dinge sind drei. Vielleicht wendet sich das Blatt.«

Akis blickte auf das Tavla-Spiel neben seiner Tasse mit dem schwarzen Kaffeesatz darin. Zwei Mal hatte er schon verloren. Er strich sich über den schwarzen Bart, tat einen Schritt aus dem Kaffeehaus und blickte in Richtung Englisches Krankenhaus. Außer einem Helva-Verkäufer, der mit seinem Tablett vorbeiging, war niemand zu sehen. Er ging wieder hinein, ließ sich vom Stimmengewirr einlullen. Es roch nach verbranntem Kaffee, Apfelschalen und Füßen.

»Endaksi, in Ordnung, aber nur noch eine Runde, dann habe ich zu tun.«

»Malista, Akis mu, natürlich, mein Lieber. Wir haben alle zu tun. Die eine Runde noch, dann brechen wir auf.«

Hristo, der neben Akis saß, rief den Lehrling herbei.

»Los, Pavli, bring Akis einen Kaffee und kümmere dich um seine Wasserpfeife, aber rasch!«

Akis küsste die Hand, in der er die Würfel hielt.

»Ade! Los! Auf gut Glück.«

Als eine halbe Stunde später Katina mit dem Baby auf dem Rücken auf dem Platz erschien, hatte Akis die dritte Runde gewonnen und ging die vierte an. Seine Frau stand schließlich unter der Laube und klopfte an die angelaufene Scheibe, doch Akis hörte sie nicht. Katinas Kopftuch war in den Nacken gerutscht, die regennassen Haare klebten ihr an der Stirn, Wangen und Nase waren vor Kälte ganz rot. Die Männer hinter der Scheibe schwangen ihre Würfel, als hätten sie die Welt draußen vergessen. Da nahm Katina ihren Ring vom Finger und schlug damit an die Scheibe, auf die Gefahr hin, das Baby zu wecken. Pavli ließ den Kaffee auf der Holzkohle und trat unter die Laube hinaus.

»Kalimera, Kirya Katina. Guten Morgen! Wie geht es Ihnen?«

Katina gab keine Antwort. Pavli eilte hinein.

»Kirye Akis, draußen ist Katina.«

Diesmal beschwerte sich niemand, als Akis aufstand. Es war halb elf. Der Regen würde nicht so bald aufhören. Zusammen mit Akis verließen drei Bauarbeiter das Kaffeehaus, die in der Menekşe-Straße Kopfsteinpflaster verlegten. Vorneweg marschierte Akis, daneben die zierliche Katina, die zusammen mit dem Baby in seine Westentasche gepasst hätte, dahinter die Saisonarbeiter von der Insel Chios mit ihren geschulterten Schaufeln. Sie überquerten den kleinen Platz des Viertels, wo es dank einer Bäckerei an der Ecke immer nach frischem Brot duftete, sodass er einfach der Bäckerplatz genannt wurde. Sobald es einigermaßen warm war, stellten die Anwohner Stühle und Bänke hinaus und machten es sich bequem. Unter einer jungen Platane stand ein Brunnen, daneben war eine Polizeiwache, und umgeben war der Platz von einer niedrigen Mauer, vor der die Mädchen Seil sprangen und Sonnenblumenkerne kauten.

Wegen des Regens war der Platz an dem Morgen leer. Die in der Woche zuvor verlegten Pflastersteine glänzten unter den Füßen wie Spiegel. Die Rinnen, die man am Gehsteig entlang gegraben hatte, liefen längst über, und die Nebenstraßen wurden zu einem Meer aus Schlamm. Um von der Straße ins Haus zu gelangen, mussten sie über einen Wassergraben springen. Das Baby auf Katinas Rücken gab keinen Ton von sich.

Akis’ Krämerladen lag in der vom Platz abgehenden Menekşe-Straße, im Erdgeschoss eines schmalen, zweistöckigen Steinhauses. Ihre Wohnung war im Obergeschoss, hinter dem Haus hatten sie ein Warenlager, eine Wasserpumpe und einen kleinen Hof, in dem Katina ihre Wäsche zum Trocknen aufhängte.

Akis kramte in seinem Gürtel nach dem Schlüssel.

»Hast du die Jungs in die Schule gebracht?«, fragte er.

»Ja, schon lang.«

»Was hast du dann bis jetzt gemacht?«

»Was soll ich schon gemacht haben? Ich bin nach Fasula gegangen, auf den Markt, und habe für heute Abend Fleisch gekauft. Ich habe mir gedacht, ich mache ein Ragout. Mir ist der Safran ausgegangen, leg also welchen beiseite, ich lasse nachher den Korb hinunter. Dann bin ich zu Kirye Yakumi und habe Lavendelöl von ihm bekommen, damit soll ich unserer Tochter die Sohlen einreiben, damit sie besser schläft. Für die Jungs hat er mir Weihrauchperlen mitgegeben, für die Konzentration. Von dort bin ich zum Bäcker Berberyan gegangen, anders hätte ich das Kind nicht zum Schlafen gebracht. Sie schläft nur ein, wenn ich mit ihr herumgehe. Wie die Frauen auf dem Dorf muss ich mit einem Baby auf dem Rücken herumlaufen.«

Akis sah auf das Baby, das, den weiß bemützten Kopf auf den Rücken der Mutter geschmiegt, mit roten Wangen, roter Nase und offenem Mund tief und fest schlief. Er freute sich schon auf den Abend, wenn er das Kind in den Armen halten würde.

»Geh schnell rauf in die Wohnung, damit sich die Kleine nicht erkältet. Was bist du auch bei dem Wetter auf die Straße?«

»Was sollte ich denn machen? Hätte ich sie im Kaffeehaus lassen sollen? Zu Hause hat sie gebrüllt wie am Spieß, aber kaum waren wir am Französischen Krankenhaus, schlief sie schon. Übrigens hat Frau Hayguhi dir Pasteten schicken lassen, die bring ich dir zum Kaffee runter. Oder willst du warten, bis der Sübye-Verkäufer kommt?«

»Bei dem Regen geht der nicht aus dem Haus. Bring mir den Kaffee.«

Akis kurbelte den Rollladen seines Geschäfts hoch, und Katina trat durch die blaue Holztür daneben ins Haus. Damit die Stufen nicht knarzten, ging sie auf Zehenspitzen in die Wohnung hinauf. Auf dem Treppenabsatz zog sie die Schuhe aus und schob sie an die Wand. Der Ofen mitten im Zimmer war ausgegangen, doch es war noch warm in der Wohnung, und es duftete nach der frischen Wäsche, die sie am Morgen gebügelt hatte. Sie löste ihr Kopftuch und sah im Spiegel hinter der Ikone auf ihr Baby. Es schlief immer noch. Hoffentlich blieb das so, bis sie das Mittagessen gekocht hatte.

Sie legte das Baby in die Wiege vor dem Erkerfenster, dabei öffnete die Kleine kurz ihr rotes Mündchen. Katina durchfuhr ein ehrfürchtiger Schauer. Jedes Mal, wenn sie ihr Baby ansah, glaubte sie ein Wunder vor sich zu haben. Sie deckte das Kind zu und tippte dabei jedes einzelne der kleinen weißen Fingerchen an, die winzigen, halbmondförmigen Fingernägelchen. Bevor sie in die Küche ging, bekreuzigte sie sich dreimal.

»Lieber Jesus, liebe Mutter Gottes, bitte beschützt meine Panayota vor dem bösen Blick und vor allem Unheil. Amen.«

Akis hatte sie es nicht sagen wollen, aber nachdem sie die Jungs in die Schule gebracht hatte, war sie in die Katharinenkirche gegangen. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ihre Tochter heil auf die Welt gekommen war, und so suchte sie seit einem Jahr jeden Morgen die Kirche auf und betete zur heiligen Katharina, der Schutzpatronin der jungen Mädchen, und natürlich zur Jungfrau Maria, damit sie ihre schützenden Hände über Panayota hielten. Für eine Weihgabe hatte sie goldene Armreife aus ihrer Aussteuer verkauft. Akis wiederum glaubte nicht, dass Panayotas Geburt ein Wunder und eine Gnade der Heiligen Jungfrau sei. Mit der Weihgabe hatte er sich murrend abgefunden, doch hätte er erfahren, dass Katina jeden Morgen etwas in den Opferstock der Katharinenkirche warf, wäre er aus der Haut gefahren. So hielt Katina ihre Kirchenbesuche vor ihrem ungläubigen Ehemann lieber geheim.

Während der Entbindung glaubte Katina schon, sowohl Panayota als auch sie würden sterben. Was heißt glauben, sie hatte nicht den mindesten Zweifel. Zwischen ihren Beinen ergoss sich das Blut wie ein roter Fluss, und sie selbst schwebte federleicht zum Himmel empor. Unten, rund ums Bett, hielten Frauen sie an den Beinen fest, und wie ein Gebet, an das sie selbst nicht glaubten, riefen sie im Chor: »Press, Katina, streng dich an! Ela, los, Katina mu. Gleich ist es so weit!« Das Baby drückte mit ganzer Kraft, Katina presste, die Frauen zogen an ihren Beinen, doch der Kopf des Kindes erschien nicht.

Inmitten des roten Flusses kniete die junge Hebamme Marika mit vor Angst und Verzweiflung verzerrtem Gesicht. Sie war seit achtundvierzig Stunden zugegen. Beim Prüfen des Muttermundes murmelte sie: »Das verfluchte Ding ist so versiegelt wie der Schatz des Sultans.« Sie hätten von vornherein ins Krankenhaus gehen sollen. Die Oberhebamme Meline hätte gewusst, was zu tun war, doch fatalerweise war sie zu einer Hausgeburt bei einer reichen Frau außerhalb der Stadt gefahren und noch nicht zurückgekehrt. Ein Mädchen war ins Türkenviertel geeilt, um die alte Aybatan zu holen. Ungeachtet der nächtlichen Stunde war die Frau sofort aus dem Bett gestiegen, hatte ihr Bündel vorbereitet, ihren Umhang umgeworfen und sich in die Menekşe-Straße aufgemacht. Die nächsten vierundzwanzig Stunden hatte Katina dann auch nur überstanden, weil Aybatan ihr immer wieder einen Sud aus in Alkohol eingelegten Heilkräutern einträufelte.

Als sie nach achtundvierzig Stunden abgelöst von ihrem blutbesudelten Körper über den Dingen schwebte, sah sie, wie Aybatan der Hebamme etwas ins Ohr flüsterte. Sie vernahm die Worte nicht, wusste aber, was sie zu bedeuten hatten: »Das Baby können wir nicht retten, aber wenigstens die Mutter.« Das Baby war tot. Sie wollte etwas sagen, doch wie in einem Albtraum entrang sich ihrem geöffneten Mund kein Laut. Sie hätte sonst gebeten, man solle sie sterben lassen. Sie wollte sich dem süßen Todesschlaf ergeben wie eine Erfrierende. Vor ihr tat sich ein Tunnel aus weißem Licht auf, der wie ein Regenbogen zum Himmel aufstieg. Vom anderen Ende her winkte ihre kleine Tochter ihr zu. Sie glich ihrer Mutter aufs Haar, was Katina sehr freute. Ihre Söhne waren nach der Familie von Akis geraten, es waren dunkelhaarige, kräftige Jungen mit breiten Knochen. Das kleine Mädchen dagegen war zierlich und hatte rote Haare und Sommersprossen wie sie selbst. Sie tat einen Schritt in den Lichttunnel, auf das Mädchen zu.

Unten, um ihren verlassenen Körper herum, tat sich etwas. Aus weiter Ferne klang an ihr Ohr, dass Marika sagte: »Halt aus, Kirya Katina, wir bringen dich ins Krankenhaus.« Ach, wenn sie das nur bleiben ließen! Ohne Körper war man herrlich frei! Alles schien nur noch Licht zu sein. Als Katina beim Durchschreiten des Tunnels die Wände berührte, wurden auch sie zu Licht und tropften ihr wie Meeresleuchten von den Fingern. Wie alles andere bestand ihr neuer Körper nur aus Licht. Ihre Hände, ihre Arme, ihr ganzer Leib wurden eins mit allem, was sie berührte. Katina war Licht, der Tunnel selbst und ihre am Ende wartende Tochter waren Licht, und alles ging ineinander über. Während sie weiterging, beobachtete sie verzaubert, wie alles an ihr sich weiter in Licht verwandelte.

Zweifellos war sie auf dem Weg ins Paradies.

Ihr Leben lang hatte sie sich bemüht, eine gute Christin zu sein, war an allen Sonn- und Feiertagen in die Kirche gegangen, und wenn ihre Gebete erhört wurden, hatte sie stets die versprochenen Opfergaben dargebracht. Des Weiteren hatte sie vor Weihnachten, vor Ostern und vor Mariä Himmelfahrt je eine vierzigtägige Fastenzeit eingehalten und nicht einen Tag vergessen zu beten. Sie war sicher, dass am Ende des Tunnels die heilige Maria auf sie und ihre Tochter warten würde.

»Bringt mich nicht ins Krankenhaus«, wollte sie sagen, doch fehlte ihr dazu der Atem.